Schneekristallküsse - Elisabeth Marienhagen - E-Book

Schneekristallküsse E-Book

Elisabeth Marienhagen

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Beschreibung

Nora, die aus unerfindlichen Gründen panische Angst vor Eis und Schnee hat, und ihr Chef Paul geraten kurz vor Weihnachten in einen Schneesturm. Sie finden zwar einen Unterschlupf, müssen sich dort aber ein Zimmer teilen. Während es zwischen den beiden knistert, kommt Nora dem Ursprung ihrer Ängste auf die Spur und deckt ein streng gehütetes Familiengeheimnis auf.

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Kurzbeschreibung:

Nora, die aus unerfindlichen Gründen panische Angst vor Eis und Schnee hat, und ihr Chef Paul geraten kurz vor Weihnachten in einen Schneesturm. Sie finden zwar einen Unterschlupf, müssen sich dort aber ein Zimmer teilen. Während es zwischen den beiden knistert, kommt Nora dem Ursprung ihrer Ängste auf die Spur und deckt ein streng gehütetes Familiengeheimnis auf.

Elisabeth Marienhagen

Schneekristallküsse

Roman

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2018 Edel Germany GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2018 by Elisabeth Marienhagen

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Ashera

Covergestaltung: Anke Koopmann, Designomicon, München

Lektorat: Dr. Rainer Schöttle

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-232-1

www.facebook.com/EdelElements/

www.edelelements.de/

Inhalt

Die Bitte

Nichts Reizvolles

Sahneschnittchen

Zimtsternkatastrophe

Noch eine Battle

Ein schwer zu erreichendes Level

Koffer packen

Gemeinsamkeiten

Ein Hotel in den Bergen

Kalte Schauer

Tatkräftige Hilfe

Der Traum

Stadtbummel

Dr. Rehn

Wintermenü

Gstanzl

Sarah

Alles abgelehnt

Das Angebot

Schneetreiben

Der Unfall

Die Hütte

Das Satellitentelefon

Ein Bett für zwei

Kleine Spiele

Komplikationen

Ein reizvoller Tag

Eine Frage der Vernunft

Eine verzauberte Nacht

Im Krankenhaus

Das Unglück

Die Wahrheit?

Begegnungen

Schneeschippen

Pauls Zeichnungen

Der Sturz

Marsch im Schnee

Gerettet

Entlassen

Zusammenstoß

Krankenbesuch

Abschied

Hilfreiche Seelen

Weihnachtsfeier

Heiligabend

Silvester

Die Bitte

Nora Brandt legte Stift und Zeichenbrett beiseite und hob und senkte die Schultern, um ihre verspannten Muskeln zu lockern. Meist saß sie im Eifer des Gefechts viel zu verkrampft vor dem Computer. Sie wandte den Kopf und sah aus dem Fenster der ehemaligen Dorfschule. Sie mochte den Ausblick auf die von Bänken umrahmte alte Linde neben der Hauptstraße. Männer und Frauen aus dem Dorf schwatzten sogar mitten im Winter dort.

Gerade hielt ein Wagen bei zwei älteren Herrschaften und der Fahrer plauschte in aller Gemütsruhe, während der Motor weiterlief. Verräterische weiße Wölkchen stiegen aus dem Auspuff. Sie selbst fror lieber, als die Umwelt unnötig zu verpesten. Nora überlegte, ob sie das Fenster öffnen und ihm etwas zurufen sollte, aber er fuhr bereits davon.

Der verhangene Himmel zeigte ein bedrohliches Schiefergrau. Bisher hatte es noch keinen nennenswerten Schneefall gegeben, weder im November noch im Dezember. Jetzt sah es unheilvoll danach aus. Nora wusste nicht warum, aber sie verabscheute Schnee soweit ihre Erinnerungen zurückreichten.

Die beängstigenden weißen Flächen …

Schon im Kindergarten, wenn die anderen Jungen und Mädchen ihrer Gruppe die Nase am Fenster platt drückten und jauchzend den ersten Schneeflöckchen zuschauten, floh Nora unglücklich in die hinterste Ecke. Ihre Freundin Emily, die am Nebentisch eifrig auf die Tastatur hämmerte, hatte von Kindesbeinen an miterlebt, wie sehr Nora die kalte Jahreszeit hasste. Damals wie heute. Das war gleich geblieben. Sie zog ihre blaue Strickjacke enger über der Brust zusammen und seufzte laut.

Emily reagierte prompt. „Nora, Schatz, um was wetten wir, dass es heute nicht schneit?“

„Wenn ich die Wahl habe: um gar nichts. Du gewinnst sowieso immer.“

„Tja, Glück im Spiel …“

Pech in der Liebe, ergänzte Nora unwillkürlich.

„Aber du brauchst dir wegen des Schnees wirklich keine Sorgen zu machen. Vertrau meinem Riecher oder wenigstens dem Wetterbericht. Außerdem, selbst wenn es schneit, kannst du auf mich zählen. Also Kopf hoch!“

„Ich werde mich bemühen, Emi.“ Vor dem ersten Schnee des Jahres wuchs Noras Panik weit über das normale Maß hinaus, das wusste ihre Freundin.

Ablenkung half. Nora griff nach ihrem Eingabestift und überlegte, welche Datei sie anklicken sollte. Die Baba Jaga, ihre Hexe, oder den Skorpion, an dem sie seit ein paar Tagen arbeitete. Spontan wählte sie das Spinnentier. Nur das leise Schaben des Stifts auf Noras Grafiktablet und das Klappern von Emilys Computertastatur unterbrachen die Ruhe um sie herum. Der Raum war hervorragend ausgeleuchtet.

Paul Gaspary, ihr Chef, sorgte nicht nur für Lampen mit Tageslichtspektrum, sondern auch für ein gutes Betriebsklima. Sie waren ein junges Team, alle duzten einander. Dass es in der Firma so familiär und lässig zuging, hatte Nora besonders gefreut, als sie zum Team gestoßen war. Nun ja, eine Spieleschmiede konnte man wohl nicht mit einem traditionellen Unternehmen vergleichen.

Ob es in den Zimmern der alten Dorfschule jemals so leise gewesen war? Wie viele Schüler hier wohl auf Schiefertafeln gekritzelt hatten? An Mathematikaufgaben und Deutschdiktaten verzweifelt waren? Genügend vermutlich. Das Haus hatte über hundert Jahre auf dem Buckel. Nora kniff die Lider ein wenig zusammen.

Kritisch musterte sie die Umrisse des Skorpions. Er stellte eine lebende Waffe dar, deshalb ragte der Stachel unrealistisch groß und bedrohlich spitz in die Höhe. Sie dirigierte den Stift zur Farbauswahl. Sollte sie Sandbraun für den Panzer wählen? In allen Nuancen eine optimale Tarnfarbe, aber ihr Skorpion durfte auffallen. Schließlich gehörte er in ein Spiel. Nora rollte den Schreibtischstuhl zurück und begutachtete ihr Werk aus einem etwas größeren Abstand.

„Emi, schau mal, ich glaube, so ist er perfekt.“

„Als ob was Männliches perfekt sein könnte“, antwortete Emily belustigt.

„Warte erst einmal, bis du den umwerfenden Kerl hier siehst.“ Ihre Freundin saß am Nebentisch und Nora drehte den Monitor so, dass Emily den Skorpion in Augenschein nehmen konnte.

Endlich ließ ihre Freundin die Hände sinken und betrachtete das Werk eingehend. „Du hast recht, der Kerl da ist echt super, abgesehen von seinem Sixpack.“

Verwirrt drehte Nora den Monitor zurück und starrte von der Grafik zu ihrer Freundin. „Wie bitte?“

„Na, er hat keins.“ Emily prustete los und Nora lachte mit.

„Da hast du mich ganz schön drangekriegt.“

„Was tut man nicht alles, um dich von deinem Kummer abzulenken.“

Die Tastatur klapperte unter Emilys Fingern munter weiter. Das Geräusch nahm Nora bald nicht mehr wahr, während sie leere Flächen ihres Skorpions mit grellem Gelb füllte, Schattierungen anbrachte und weiße Highlights setzte, um den Glanz zu markieren. Ein Räuspern ließ sie auffahren. Ihr Chef, Paul Gaspary, stand im Türrahmen und grinste.

„Ich muss schon sagen, der Anblick gefällt mir: Ihr zwei so tief in eure Arbeit versunken, dass ihr mein Kommen nicht bemerkt.“

Im ersten Moment stockte Nora der Atem. Pauls Lächeln bezauberte sie. Und nicht nur sein Lächeln. Der Mann besaß eine geradezu unanständige Vorliebe für eng geschnittene Sakkos, die seine perfekte Figur betonten. Lange Beine, schmale Hüften, breite Schultern. Dazu besaß er ein Übermaß an Charme, das ihm aus jeder Pore drang. Seine Art zu reden, seine Art, sie anzusehen. Sie begriff ehrlich gesagt nicht, dass es Frauen gab, die kein Interesse an ihm hatten. Emily etwa, die in Pauls Nähe vollkommen unbefangen und gelassen blieb. Umso besser für Nora.

„Was führt dich zu uns, Paul?“, hörte sie ihre Freundin neugierig fragen, während Nora noch gegen die Verlegenheit ankämpfte, die sie jedes Mal überfiel, wenn sie ihrem Chef begegnete.

So unvermittelt tauchte er zum Glück nur selten in den Zimmern seiner Mitarbeiter im Erdgeschoss auf. Was es zu erledigen gab, besprachen sie bei Team-Sitzungen. Ansonsten stand ihnen sein Büro im ersten Stock offen. Zu Noras Erleichterung schlenderte Paul geradewegs zu Emily, die ihm lächelnd entgegensah.

„Darf ich mir anschauen, was du machst?“, fragte er höflich.

Nora beobachtete die beiden. Und sie hätte etwas darum gegeben, genauso locker mit Paul umgehen zu können wie ihre Freundin.

Emily saß mit ausgestreckten Beinen vollkommen entspannt da. „Sieh her, ich arbeite an der Outline für den Charakter, der diese Waffe tragen soll. Einen Moment bitte, hier ist sie.“

Sie drehte den Monitor so, dass Nora die Bilder gleich mit ansehen konnte. Emily minimierte das Fenster mit dem Text, den sie tippte, und rief ihren aktuellen Entwurf auf. Paul betrachtete das futuristische Gewehr, neigte den Kopf vor und fragte nach der Belegung der Knöpfe im Spiel.

Nora kannte die Grafik und sie gefiel ihr. Nicht, weil sie von der Materie viel verstand. Davon hatte sie im Gegensatz zu Emily keine Ahnung. Aber die Zeichnung war technisch brillant und detailreich umgesetzt.

„Kein Wunder, dass du nichts von der Welt mitkriegst, wenn du an so etwas sitzt, Emi“, meinte Paul voll ehrlicher Bewunderung.

„Unrettbar verloren in den Klauen von Evillive.“ Emily lachte.

„Böses Leben“ bedeutete der englische Titel übersetzt, und vorwärts wie rückwärts gelesen lautete er gleich. Und er traf es. Mit dem Spiel hatte Paul den Durchbruch geschafft. Nora missfiel allerdings das blutige Schlachtfest, das Emily begeisterte. Dabei gönnte sie jedem die Lust am Horror. Nur für sie war das nichts. Außer ihrer Freundin arbeiteten inzwischen Heerscharen von Designern und Programmierern sozusagen rund um die Uhr an dem Online-Spiel, dessen virtuelle Welt permanent erweitert wurde.

„Wann lädst du das Bild auf die Cloud?“, wollte Paul von Emily wissen.

„In zwei, drei Stunden, es fehlen nur noch ein paar Kleinigkeiten, und die Skizze ist bereit für Kritik.“

„Skizze? Was willst du daran noch verbessern, Emi?“

„Darüber reden wir, wenn die anderen ihren Senf dazugegeben haben“, wehrte die Freundin jedes Lob im Vorfeld ab.

Paul trat hinter Noras Stuhl und stützte seine Hände lässig auf die Lehne. Seine Finger streiften den Stoff ihrer Bluse. Er zog sie sofort zurück, aber sie hatte die Berührung gespürt. Allein die Vorstellung, dass er ihre nackte Haut berühren könnte, jagte kleine Schauer von ihrem Rücken über den Nacken bis zu ihrer Kopfhaut hoch. Er neigte den Oberkörper weiter vor und sah über ihre Schulter. Nora spürte Pauls Wärme und seine Nähe löste immer neue, wohlige Schauer aus.

„Eindrucksvoll, besonders der Stachel. Ich habe eine Bitte: Würdest du mir die neuesten Versionen deiner Baba Jaga zeigen?“, fragte er schließlich.

Nora schob die Maus auf den entsprechenden Ordner und klickte Dateien an, die Paul eingehend betrachtete, ohne etwas zu sagen. Unruhig suchte Nora Emilys Blick. Aufmunternd lächelte die Freundin ihr zu.

„Hier, für die Dateien brauchst du eine 3-D-Brille.“ Nora drehte den Stuhl zu ihrem Chef herum und reichte ihm ihre eigene, die er ohne Weiteres aufsetzte.

„Deine Hexe hat Klasse.“ Paul zog das futuristische Teil vom Kopf, fuhr mit den Händen durch seine verstrubbelten Haare und trat ein paar Schritte zurück.

Er kannte die Bilder zum größten Teil. Bis auf ein paar Details gab es bei der Baba Jaga nichts Neues zu entdecken. Nervös nestelte sie mit den Fingern an einem Knopf ihrer Strickjacke. Als sie es bemerkte, hielt Nora sie ruhig im Schoß und sah abwartend zu ihm auf.

„Mir gefällt die Art, wie deine Hexe in den 3-D-Bildern ihre Hände bewegt. So grazil. Das hat sie von dir.“

„Unbedingt!“, warf Emily lachend ein. „Ein echter ‚Nora Brandt‘. Eigenhändig, jeder Strich.“

„Ja, das stimmt. Ich muss noch mit dir sprechen, Nora“, erklärte Paul.

„Was haben wir denn bisher getan?“

Er lachte. „Höflich Konversation getrieben.“

Was um alles in der Welt wollte er von ihr? Verblüfft beobachtete sie Paul, der zum nächsten freien Stuhl griff und ihn heranrollte. Zurzeit fehlten etliche Leute. Ein paar Kollegen machten Urlaub, und soweit Nora wusste, ging auch eine üble Grippewelle um. Er nahm ihr gegenüber Platz und beugte den Oberkörper vor, bis er ihrem Gesicht ziemlich nahe kam.

Noras Wangen glühten auf einmal so heiß, dass sie ihre flauschige, dunkelgrüne Strickjacke keine Sekunde länger ertrug. Sie zerrte das Kleidungsstück hinunter und kämpfte mit den widerspenstigen Ärmeln. Dass Paul sie bei dieser alltäglichen Bewegung beobachtete, machte ihren Versuch nicht besser. Endlich geschafft. Hastig hängte sie die Jacke über die Lehne, von der sie prompt herunterrutschte. Er sprang auf, griff danach und drapierte sie so über ihren Stuhl, dass sie oben blieb.

Worüber wollte er mit ihr reden? Mit einer geschmeidigen Bewegung nahm er Platz. Die Probezeit geht noch bis Ende Dezember, schoss es ihr durch den Kopf. Bevor Paul eine Dauerstelle vergab, wollte er sicher sein, dass der Neuzugang in das Team passte, daher reizte er die Sechsmonatsbestimmung voll aus.

„Ich lass euch dann mal allein.“ Emily wollte den Raum verlassen.

„Kann sie dableiben, Paul? Oder geht es um etwas, das sie nicht wissen soll?“

„Nein, wenn du es erlaubst, spricht von meiner Seite nichts dagegen, dass sie zuhört. Sagt dir Irving & Bellardi etwas?“

Emily sank zurück auf ihren Stuhl.

„Sicher. Das sind deine amerikanischen Geschäftspartner. Sie produzieren Crystal of Artica …“

„Sie produzieren es mit, richtig. Die beiden kommen nächste Woche nach Deutschland und schlagen ihre Zelte in Garmisch-Partenkirchen auf. Sie planen ein Treffen mit mir und der Schöpferin der Baba Jaga, also dir. Sie bestehen quasi darauf, dich persönlich kennenzulernen. Und ich wäre dir überaus dankbar, wenn du mich für die drei Tage begleiten könntest.“

„Ich? Soll mit dir …?“, murmelte Nora.

„Für alle Kosten kommt selbstverständlich die Firma auf. Die beiden haben uns vorgegriffen und Zimmer reserviert. Der Termin wurde kurzfristig angesetzt, ich weiß. Trotzdem hoffe ich auf deine Unterstützung … Falls du absagen musst, weil du etwas Dringendes vorhast, teilst du es mir wegen der Stornierung bitte so schnell wie möglich mit.“

Noras Herz klopfte vor Aufregung. Was gab es da groß zu überlegen? Sobald sie an seinen Vorschlag dachte, stieg ein unglaublich warmes Gefühl in ihr hoch. Und kribbelnde Aufregung. Klar wollte sie.

„Natürlich begleite ich dich.“

„Danke!“ Er griff ihre Hand, drückte sie kurz und verließ den Raum.

„Habe ich das richtig mitbekommen?“ Emilys Stimme klang ehrlich amüsiert. „Du willst mit ihm in den Winter fahren? Eis und Schnee, wo du hinguckst. Stundenlang mit ihm zusammen sein, obwohl du vor Verlegenheit den Mund kaum aufkriegst, wenn er in deiner Nähe ist? Na dann viel Spaß.“

Nora war schon bei den ersten Worten ihrer Freundin wieder zur Besinnung gekommen. Was war nur los mit ihr? Hatte sie den Verstand verloren? Unangenehm spürte sie einen kühlen Luftzug im Nacken. Hastig schlüpfte sie in ihre Jacke und versuchte, weiterzuarbeiten.

Du fährst mit ihm zusammen weg! Nora schielte zu Emily, die offensichtlich nicht unter den Temperaturschwankungen litt, und streifte das flauschige Kleidungsstück ab. Dieses Mal brauchte sie nicht an den verflixten Ärmeln zu zerren. Nora hängte die Jacke grimmig über die Lehne. Weiterarbeiten? Jetzt? Die Wippfunktion ihres Stuhls fand sie viel zu verführerisch. Das Vor und Zurück mochte rastlos wirken, aber es beruhigte sie. Wie auch das Hin und Her beim Drehen.

Nichts Reizvolles

Nur noch fünf Tage. In Gedanken ging sie das Gespräch mit Paul durch und die Worte klangen in ihr wie Musik. Würdest du mich begleiten? Eine vier- bis fünfstündige Fahrt mit ihm in seinem Auto. Sie hatte es gegoogelt. Es gab nur einen Wermutstropfen: Warum musste der Ausflug ausgerechnet im Winter stattfinden? Diese Jahreszeit war für sie wie ein bleiches Leichentuch. Schnee, Eis und Kälte boten ihr nichts Reizvolles.

Weite weiße Flächen lösten bei Nora Panikattacken mit Herzklopfen und zitternden Händen aus. Sie wusste nicht warum. Sie war ihres Wissens nie in einem Schneehaufen versunken, aus dem man sie in letzter Sekunde befreit hätte, oder gar von einer Lawine verschüttet worden.

Inzwischen beherrschte sie ihre Ängste einigermaßen und ein paar Flöckchen ertrug sie klaglos. Nora drückte ihren Rücken fest gegen die Lehne und kippte prompt nach hinten. Auf der Decke konnte sie mühelos die Erhebungen, Flecken und Kratzer ausmachen.

„Oh je.“ Emily musterte Nora aufmerksam. „Hast du Angst vor der eigenen Courage? Garmisch-Partenkirchen und ein paar Schneeflocken. Das schaffst du, Süße.“

„Sie haben einen Wetterumschwung angekündigt“, erklärte Nora so missmutig, wie es in ihr aussah.

„Das heißt doch noch lange nicht, dass du von Schneeflocken umzingelt wirst!“ Die Stimme ihrer Freundin klang mitfühlend. „Vor allem nicht, wenn der heißeste Mann der Stadt dir Gesellschaft leistet. Einem wie Paul Gaspary würden die meisten Frauen blind in die Hölle folgen. Ja ich weiß, dort liegt absolut kein Schnee. Könnte es sein, dass das ein Ort ist, der dir zusagt?“

Nora versuchte, tapfer zu lächeln. Obwohl ihr eigentlich nicht danach war, ging sie auf Emilys lockeren Ton ein. „Das geplante Höllenlevel hat dich offensichtlich ziemlich beeindruckt.“

„Oh ja, es wird rattenscharf. Voller Rätsel und Geheimnisse.“ Emily strich mit den Fingern eine kinnlange Strähne zurück. Wenn Licht darauf fiel, besaßen die braunen Haare einen leichten Stich ins Rötliche und in der Sonne glänzten sie wunderschön. Nur ein leiser Seufzer kam über Noras Lippen. Emily reagierte prompt. „Ist noch etwas? Wo liegt der Hase begraben …? Oder liegt er im Pfeffer? Den Blick, den du aufsetzt, kenne ich. Hör sofort auf damit, dich selbst fertigzumachen. Deine Hexe ist perfekt. Kein Grund für überflüssige Sorgen! Niemand wird dich feuern. Und schon gar nicht eine Woche vor Weihnachten. Alles ist gut, versprochen.“

„Nein, die von Irving und Bellardi mögen meine Arbeit nicht.“

„Das ist gequirlter Affenmist! Deine Baba Jaga ist so hässlich, dass man zu Stein erstarrt, wenn man sie anguckt. Zumindest in der Welt von ‚Crystals of Artica‘. Einfach perfekt für die Rolle der bösen Hexe.“

„Die letzte Version war ihnen zu sexy, die davor sah ihnen zu harmlos aus, die nächste zu jung, die hier ist ihnen vermutlich zu alt.“ Noras Stimme zitterte. „Fast drei Monate Arbeit nur an Skizzen und Entwürfen und nichts passte ihnen. Wenn das so weitergeht, wird Paul mich feuern.“

„Nein, das wird er nicht. Ihm gefallen deine Entwürfe und dich findet er umwerfend.“

„Nicht so laut! Wenn er uns hört.“

„Kein Grund, rot zu werden.“

„Diese Typen sind ganz große Fische.“ Nora drehte ihren Stuhl zurück.

Sie hatte ihrer Hexe eine enge, glänzende Hose verpasst – natürlich in Schwarz. Darüber trug sie einen langen Rock, ebenfalls in Schwarz, der in drei Stufen von der Taille hinunterfiel. Vorne war er ungefähr bis zum Schritt offen, sodass man bei jeder Bewegung ihre enge Hose sah. Kein nacktes Bein wie bei der Sexy-Version, und ein einigermaßen züchtiger Ausschnitt.

„Jetzt übertreib nicht, die arbeiten auch nur einem Studio in Amerika zu. Stell dir mal vor, wie es wäre, wenn dein Name irgendwo im Abspann eines Sechzig-Millionen-Dollar-Projekts liefe.“

„Ich würde im Kino laut Da, das bin ich kreischen, wenn ich ihn entdecke. Oh, Emi, ich will nicht in der Probezeit rausfliegen.“

„Das wird nicht passieren. Hauptsache du wirfst jetzt nicht das ganze Konzept um und kritzelst auf den letzten Drücker etwas Neues in den Computer! Wenn, dann änderst du höchstens ein paar Kleinigkeiten, okay? Deine Baba Jaga gefällt uns allen, verstanden?“

„Zu Befehl!“

„Na, das werden wir ja dann sehen.“ Emily schaute auf ihren eigenen Bildschirm.

Nora griff nach der VR-Brille und dachte an Paul, der sogar mit diesem Ding auf dem Kopf attraktiv aussah. Anziehend, aber auch ein wenig geheimnisvoll mit dem undurchdringlich schwarzen Visier, bei dem man überlegte, ob der Rest des Gesichts hielt, was die kantige Kinnpartie und der fein geschnittene Mund versprachen.

Die futuristische Brille lieferte virtuelle Realität vom Feinsten. Absolut perfekte 3-D-Ansichten mit Panoramabildern, die Nora nach einer kurzen Eingewöhnungszeit das Gefühl vermittelten, im Spiel tatsächlich durch eine reale Gasse zu gehen. In der ein Hund knurrte, dem sie nicht begegnen wollte. Schon war sie mittendrin, rechnete mit einer Attacke und bog hastig in eine belebtere Straße ab.

Auf meisterhafte Art vermittelte die Umgebung den Leuten die Illusion, keinem vorgefertigten Weg folgen zu müssen. Dabei bestand alles in der Welt von Crystal of Artica aus Pixeln und war eigens für dieses Spiel am Computer programmiert. Sie betrachtete ein paar Ansichten ihrer Baba Jaga und zog die Brille vom Kopf.

Noras Blick fiel auf die Vase mit den Tannenzweigen, die Emily auf eines der Fensterbretter gestellt und stilsicher mit roten Kugeln und eher extravagant mit einem gläsernen Weihnachtsmann in Badehose geschmückt hatte. Alle Jahre wieder …

Das passte. Crystal of Artica sollte in zwei Jahren rechtzeitig zum Start des Weihnachtsgeschäfts in mehreren Varianten auf den Markt kommen. Für die exklusive Version benötigte man einen Anzug mit Drucksensoren, der dem Träger Sinneseindrücke vorgaukelte, Spezialhandschuhe und eine VR-Brille. Ob Zauberer, Krieger oder Monster, jedes Wesen wirkte real und handelte im Spiel seinem Charakter entsprechend täuschend echt. Eine Entwicklung, die deutlich an Fahrt aufgenommen hatte, seit die Leute von Irving & Bellardi bei LikeLeips mit im Boot saßen.

Emily hustete. Nora warf ihr einen kurzen Blick zu und schmunzelte. LikeLeips … Von ihr hatte sie erfahren, wie Paul zu dem ausgefallenen Namen für seine Firma gekommen war. ‚Like‛ stand für mögen. Das machte bei einer Spielefirma Sinn. Aber nur dieses eine Wort? Unmöglich! Also tüftelte er stundenlang. Aber alles, was ihm zusagte, war bereits vergeben. Bis ihm ein Einfall kam und er das Wort Spiel von hinten aufzäumte. Kurz darauf ging LikeLeips in die Startlöcher und gleich das erste Produkt schlug wie eine Bombe ein.

Nora startete eine Suche mit dem Stichwort Hexe. Ein Zeitvertreib, der inzwischen fast zu einer Sucht geworden war. Immer neue Bilder klickte sie an. Grausige Hexen, sexy, sogar nette.

Sei optimistisch, flüsterte eine leise Stimme in Noras Kopf. Warum sonst wollen sie dich persönlich dabeihaben? Eine Mitarbeiterin zu einem Treffen einzuladen, um ihr dabei zu kündigen, machte eigentlich keinen Sinn. Das sagte einem schon die Vernunft. Aber gegen ihre irrationale Furcht kam Nora nicht an.

Sie klickte eine Datei im Baba-Jaga-Ordner an und betrachtete ihre Hexe, die sie aus giftgrünen Augen herausfordernd anfunkelte. Vielleicht sollte Nora den Blick proben? Ihre Iris besaß einen Farbton, der zwischen Blau, Grün und Grau changierte, je nachdem, wie sie gekleidet war. Momentan trug Nora ein tannengrünes Twinset, Shirt und Strickjacke.

Als Ergebnis hatte sie heute Morgen in der Bäckerei von einer ihr völlig unbekannten alten Dame ein Kompliment über ihr Lächeln und ihre hübschen grünen Augen bekommen. Gestern in der blauen Bluse war ihrem Kollegen Andreas das Blau aufgefallen, und Emily gefiel das Grau in ihren Augen, als Nora einen schiefergrauen Pulli anhatte. Vielleicht konnte sie diese Sorte Chamäleon-Augen bei ihrer Hexe anbringen?

Nora drehte das 3-D-Bild der Baba Jaga einmal im Kreis herum. Sie war ihr inzwischen vertraut wie kein anderer Charakter des Spieleuniversums von LikeLeips. Die Frau war eitel, hochmütig, hinterhältig und skrupellos. Sie tötete mit einem Fingerschnippen, besaß einen bösartigen Humor und duldete keinen Widerspruch. Wenn es nach Nora ginge, liebte die Hexe nichts und niemanden. Bis auf Skorpione, Spinnen, Motten und die giftigen Schmetterlinge, die sie ihr gezeichnet hatte. In ihrer Vorstellung dienten sie der Baba Jaga gleichzeitig als Haustiere und Waffen. Sie musterte eine Vogelspinne, die im 3-D-Spiel schockierend realistisch rüberkommen würde.

Für Waffennarren gab es trotzdem noch genug Pistolen, Revolver und Gewehre in der Planung. Abgesehen von Pfeil und Bogen, Buschmessern, Wurfsternen und was der menschliche Erfindungsgeist sonst noch an Waffen auf den Weg gebracht hatte. Spätestens hier fing Emilys Revier an. Sie liebte die Arbeit mit Waffen. Die lag ihr sozusagen im Blut.

Nachdem irgendwann feststand, dass Emily das einzige Kind ihres Vaters, eines passionierten Jägers, bleiben würde, hatte er sie so früh wie nur irgend möglich in einem Sportschützenverein angemeldet. Aus ihr war eine ausgezeichnete Schützin geworden, die etliche Ringe in der Landesliga geschossen hatte und ihre Waffen im Schlaf auseinandernehmen und zusammenbauen konnte. Mit allem, was dazugehörte: Sichern und prüfen, ob eine Patrone im Lauf steckte. Sie wusste, wie stark der Rückstoß bei welchem Modell war, und plante ihn so realistisch in die ‚Virtual Reality‘ ein, dass man mit Schmerzen rechnen durfte, wenn man die Waffe nicht richtig festhielt.

Nora betrachtete die lange Liste mit Dateien. Sie hatte mehr als genug Model-Sheets ihrer Hexe gemacht: Bilder, Zeichnungen und Dateien der Figur in 2-D und 3-D. Lächelnd ging sie an die Arbeit. Noch ist es nicht so weit, dass sie deine Figur auseinandernehmen! Zeig es ihnen, kämpfe.

Sahneschnittchen

Noch am gleichen Nachmittag wollte Nora ihre Idee mit den Chamäleon-Augen umsetzen, aber dieses Noch fünf Tage und du fährst mit ihm … funkte ihr ständig dazwischen. Emily sagte etwas.

Nora antwortete mit einem fragenden „Ja?“.

„Du bist nicht bei der Sache“, tadelte Emily sie.

Dass ihre Freundin damit vollkommen richtiglag, machte Noras Versunkenheit nicht besser. Sie musste aufhören, an Paul und sein Lächeln zu denken, sonst klopfte ihr das Herz bis zum Hals. Dabei hatte er nichts weiter getan als einen Stuhl heranzuziehen, die Hände gefaltet und sie forschend betrachtet. Bevor er mit seiner dunklen Stimme das Wort an sie richtete. Sie ging ihr durch und durch und hallte immer noch in ihr nach …

„Du Glückliche, wenn ich nicht deine allerbeste Freundin und zu praktisch hundert Prozent selbstlos wäre, müsste ich dir vor Eifersucht den Kopf abreißen. Du tust immer so unschuldig, dabei hast du es faustdick hinter den Ohren. Du auf einer Fahrt mit ihm.“ Emily kicherte entzückt. „Oh, wie süß, du wirst ja ganz rot.“

„Nichts da, Emi! Eine Affäre am Arbeitsplatz? Das fehlt mir gerade noch.“ Nora reckte ihren Kopf vor und starrte auf den Bildschirm. Und das meinte sie absolut ernst. Aus so etwas erwuchs nichts Gutes. Man verbrachte ein paar Tage im Liebesrausch und dann …?

„Ist dir entgangen, was für ein Schnuckel er ist? Der süßeste Chef seit Menschengedenken. Du weißt ja, ich stehe auf dem Standpunkt, dass kein Mann ein Sixpack haben muss, wenn nur seine Bauchmuskeln ordentlich trainiert sind.“ Emily zwinkerte ihr zu.

„Du bist unmöglich.“ Nora schüttelte den Kopf.

„Er ist aber auch so ein Sahneschnittchen.“

Sie hielten kurz inne und lauschten energischen Schritten, die rasch näherkamen.

„Wo sind die Sahneschnittchen?“ Andreas Rehn schaute bei ihnen zur Tür herein. Abgesehen von ihnen beiden war er momentan der einzige anwesende Animator, ein talentierter Zeichner. Derzeit aber mit einem anderen Projekt als Crystal of Artica befasst. Er war ein erklärter Fan von Evillive und arbeitete mit Hingabe an dem Splatterspiel.

„Hallo, Andy.“ Nora winkte ihm zu.

Nach Emilys Auffassung müsste ihr Besucher selbst ein Sahneschnittchen sein. Wie Paul war Andreas gut gebaut, dabei ziemlich groß und schlank. Seine bernsteinbraunen Augen waren auch nicht zu verachten, vor allem, weil er meist freundlich dreinschaute. Außerdem gehörte er eindeutig zu den Männern im Haus, die ihrer Freundin bewundernde Blicke nachschickten.

Nora beobachtete ihre Freundin aufmerksam. Emily tat unbeteiligt, zog aber ihre Bluse vor ihm zurecht, obwohl es nicht nötig gewesen wäre. Heute trug sie eine schwarze Hose, dazu ein tailliert geschnittenes buntes Oberteil mit geometrischen Mustern, das sie letzte Woche auf einer gemeinsamen Shoppingtour gekauft hatten.

Es hatte Nora ziemliche Mühe gekostet, ihre mit üppigen weiblichen Rundungen gesegnete Freundin davon zu überzeugen, dass Kleidung in Form von Kartoffelsäcken nicht zur Lösung eines Figurproblems beitrug. Mit nicht so weit geschnittenen Kleidern kamen die Kurven ihrer Freundin deutlich besser zur Geltung und sie sah zudem noch schlanker aus.

„Wie wäre es mit einer Begrüßung, bevor es zum Kuchenschnorren geht?“, schlug ihre Freundin spitz vor.

„Aber immer. Dann sag ich hallo, schön euch beide zu sehen. Zurück zu den Sahneschnittchen …“

Er sah sie erwartungsvoll an. Für Emily war er eine Art rotes Tuch. Mit seinen dunklen Locken und den braunen Augen ähnelte er ihrem Ex Lucas. Allerdings sah Andy um Klassen besser aus. Angeblich verübelte Emily ihm, dass man ihm seine Leidenschaft für Süßes absolut nicht ansah. Es stimmte. Der Mann futterte ohne Ende und nichts setzte am Bauch oder sonst wo bei ihm an. Das wurmte, erbitterte und empörte ihre Freundin. Durchaus nachvollziehbar.

„Mag eine von euch einen Kaffee?“

Nora schüttelte den Kopf. Manchmal tat er ihr leid. Besonders Emily konnte garstig werden, wenn er versuchte, freundlich zu sein. Also nahm er nur noch Bestellungen an, statt ihnen unaufgefordert Kaffee zu bringen.

„Nein, danke.“ Auch Emily lehnte ab.

Er trat den Rückzug an. Nora lächelte ihm aufmunternd zu. Sie schätzte nicht nur seine Arbeit, sondern auch ihn sehr.

„Musst du immer so kurz angebunden zu ihm sein, Emi?“

„Ja“, lautete die knappe Antwort.

Meist saß Andreas oben im ersten Stock hochkonzentriert an seinem Computer, tief in die Welt von Evillive versunken. Anfangs dachte sie, dass er nichts von der Außenwelt mitbekam, wenn er arbeitete. Sobald man aber Wörter wie Kuchen, Pralinen oder Schokolade auch nur hauchte, schoss er vom Computer hoch und suchte nach der Quelle. Die er mit schlafwandlerischer Sicherheit entdeckte. Insgeheim war Nora von seiner Fähigkeit fasziniert, zielstrebig das Richtige zu finden.

Schon war er verschwunden. Vermutlich in die Küche am anderen Ende des Gangs, wo ein Kaffeeautomat stand, für dessen Bedienung man geradezu ein Diplom brauchte. Andreas kam damit zurecht wie ein gelernter Barista. Was er einem seiner studentischen Aushilfsjobs in einem Café zuschrieb. Netterweise fragte er immer nach, ob noch einer außer ihm etwas wollte.

„Du behandelst ihn unmöglich. Dabei ist er ein anziehender Mann.“ Ihr Typ war er nicht. Aber Nora wusste eins: Dass Emily theoretisch vollkommen verrückt nach ihm sein müsste, weil er genau in das Beuteschema ihrer Freundin passte.

„Willst du ihn? Bitte sehr, du kannst ihn haben“, gab Emily frostig zurück.

„Hoffentlich ist er nicht wirklich an dir interessiert. Sonst würde er bei deinem Ton einen Kälteschock kriegen und zu einem Eisblock gefrieren.“

„Sein Pech.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, lenkte Emily das Thema in Bahnen, die ihr zusagten. „Zurück zu dir, Nora. Du schaffst es vielleicht, alle anderen zu täuschen. Ihn eingeschlossen.“

„Andreas?“, fragte sie im Unschuldston, obwohl sie genau wusste, wen ihre Freundin meinte.

„Das glaubst du selbst nicht.“ Emily verdrehte die Augen. „Nur, dass du es weißt: Du bist für mich wie ein offenes Buch. Dein Gesicht sagt alles.“

„Emi, mir wäre es lieber, du würdest dich um dein eigenes Liebesleben kümmern, wenn es darauf hinausläuft.“

„Du magst ihn mehr, als du zugibst. Aber wenn du ihn nicht willst, ich nehme ihn mit Kusshand.“ Emily spitzte die Lippen, hob ihre Hand und hauchte sanft Richtung Tür. „Stell dir das mal vor. Eine Woche mit mir in einem Hotel in den Bergen. Ein Aperitif vor dem Skifahren, statt des Skifahrens, und nach dem Skifahren – und er wäre verloren."

„Du verrücktes Huhn. Selbst, wenn du einen vierfachen Salto rückwärts aus dem Stand machst, kann ich dir die drei Tage mit ihm nicht abtreten.“

„So fasst du das auf? Ich will doch gar nichts von Paul. Wirklich nicht!“

„Das überzeugt mich jetzt nicht. Da musst du dich schon ein bisschen mehr ins Zeug legen.“ Nora lachte und Emily fiel ein.

„Das war gut. Wann fahrt ihr eigentlich genau? Dienstag? Am Vor- oder Nachmittag?“

„In der Früh, nehme ich an. Vielleicht hat Paul mir eine Nachricht geschickt?“ Nora zog ihr Handy aus der Hosentasche und entsperrte es.

„Hast du die Info schon? Wenn du nämlich am Vormittag fährst, werde ich den Dienstag schwänzen und endlich Geschenke einkaufen gehen. Langsam wird es Zeit. Nur noch zwei Wochen … Hast du eigentlich schon etwas für deine Mutter besorgt?“

„Ja, ich schenke ihr einen Gutschein. Im Frühling kann sie ihn einlösen und ich begleite sie zu einer kleinen Gärtnerei, die spezielle Tomatensorten führt.“

„Lohnt das den Aufwand für ihren kleinen Balkon?“

„Sie ist derart wild danach, dass ich ihr als Vorgeschmack auf die Pflanzzeit schon einmal ein Päckchen Samen von schwarzen Tomaten mit Töpfchen und Erde zum Selbstziehen gekauft habe. Das überreiche ich ihr zu Weihnachten, dann hat sie was in der Hand. Außerdem kriegt sie noch ein paar Kleinigkeiten. Ihren Lieblingstee, etwas Süßes …“

Nora scrollte die Nachrichten rauf und runter.

„Und, hat er dir den Starttermin geschickt?“

„Nein, bis jetzt noch nicht.“

„So ein unzuverlässiger Patron.“ Emily seufzte. „Na ja, eigentlich geht es mir gar nicht darum, wann ihr fahrt.“

„Das hätte mich auch schwer gewundert.“

„Du kennst mich eben. Deshalb weißt du auch, dass Weihnachten Stress für mich ist. Ich habe einfach keine Ahnung, was ich meinen Eltern schenken soll. Ein Enkelkind von mir können sie vergessen – wie auch, ohne einen Kerl? Was anderes wollen sie nicht. Und jedes Mal ist es die gleiche Leier: Sei bloß nicht so wählerisch, mein liebes Kind. Du wirst schließlich nicht jünger. Lucas wäre der perfekte Schwiegersohn gewesen. Aber nein! Ihr jungen Leute gebt immer gleich auf, wenn euch mal etwas quer geht, statt dass ihr durchhaltet und kämpft. Wir wollen Enkelkinder. Wann heiratest du endlich? Ich kann es nicht mehr hören. Ich bin achtundzwanzig Jahre alt und soll immer noch so tun, als ob ich ihren Lebensentwurf toll finde. Ehe? Liebe? Wer braucht so einen Mist? Du kennst sie ja. Sie sind immer ganz aus dem Häuschen, wenn ich etwas selber mache, bei dem ich hausfrauliche Fähigkeiten zeige. Ich fürchte, sie glauben daran, dass so etwas in der Art meine Chancen erhöht, einen Mann zu ergattern. Und zwar bevor ich jenseits von Gut und Böse bin. Um dem entgegenzusteuern wären ein paar Enkel-Plätzchen perfekt.“

„Zwei Fliegen mit einer Klappe?“

„Genau!“

Schritte auf dem Flur kündeten von einem Besucher. Es war Andreas, der sie erwartungsvoll anschaute. „Wer von euch beiden backt Plätzchen? Du, Emi? Oder du?“

„Ich habe es nicht so mit dem Backen.“ Nora unterdrückte nur mit Mühe ein Lachen.

Emily sah von ihrem Schreibtisch auf, den sie mit winzigen Feen und mehr oder weniger gruseligen Figuren aus dem LikeLeips-Universum geschmückt hatte, und musterte Andreas von oben bis unten. „Na gut, wenn ich schon mal dabei bin, backe ich ein paar Butterplätzchen mehr.“

Andreas grinste frech. „Schön, ich bringe auch welche mit. Zehn Sorten.“

„Soll das eine Herausforderung sein?“ Emily hob die Brauen. „So was wie eine Challenge? Die nehme ich an. Ich bringe zwölf verschiedene Sorten, aber meine sind von mir höchstpersönlich selbst gebacken.“

„Für was hältst du mich? Meine auch.“

„Du backst?“

„Wieso nicht? Männer können das auch. Also gut, machen wir eine Plätzchen-Battle. Von mir gibt es auch zwölf Sorten. Möge der Bessere gewinnen.“

„Die Bessere“, berichtigte Emily ihn prompt.

„Hey, ihr beiden. Ich dachte, dass Weihnachten das Fest der Liebe ist.“

Die Kontrahenten funkelten einander an.

„Hast du dir das gut überlegt, Emi?“, fragte Nora leise.

„Gibt es Probleme?“ Andreas zog die Brauen hoch.

„Nein, ich weiß, was ich tue.“

„Wie du meinst.“ Nora kapitulierte. Im Hauswirtschaftsunterricht hatte ihre Freundin regelmäßig Schwierigkeiten gehabt, wenn es um Süßspeisen ging. Sie mochte nur Deftiges und bereitete Gulasch und Pizza oder in letzter Zeit auch gerne Vegetarisches perfekt zu. Besonders ihr Curry mit Cashewkernen fand Nora phänomenal.

Wie auch immer, ein As schüttelte ihre Freundin bestimmt noch aus dem Ärmel. Einen Online-Backkurs, von dem Nora nichts mitgekriegt hatte? Am besten sie hielt den Mund und ließ Emily machen. Schließlich erinnerten alle Rezepte, ob herzhaft oder süß, ein wenig an die Mysterien des Chemieunterrichts. Man vermengte Stoffe und Aromen miteinander und schaute, was dabei herauskam.

Sie färbte das Oberteil der Hexe blau.

„Wie gefällt dir das neue Outfit für die Hexe, Emi, und was hältst du von dem Schimmer in ihren Augen?“ Dass ihre Freundin die Debatte um die Plätzchenbattle in die Küche verlagert hatte, war Nora entgangen. Emilys Schreibtischstuhl war leer. Stattdessen stand ihr Chef im Türrahmen.

„Den blauen?“ Paul lächelte. „Mir gefällt er. Wie wäre es, wenn du unseren Geschäftspartnern die Entscheidung überlässt?“

Nora schluckte, bevor sie antworten konnte. „Ja, natürlich, ich nehme alle Entwürfe mit.“

„Die haben dort das komplette Equipment. Computer, die gleichen Programme wie wir hier, die Brillen. Es dürfte reichen, wenn du das ganze Material in die Cloud schiebst, damit sie darauf zugreifen können. Vieles davon haben sie ohnehin schon.“

„Ja, das ist richtig.“ Nora konnte einfach nicht aus ihrer Haut. „Aber ich werde zur Sicherheit ein paar der Bilder auf einen Stick ziehen und auch Ausdrucke mitnehmen. Falls das Internet in den Bergen Zicken macht. Außerdem mag ich es, etwas in der Hand zu haben.“

Paul nickte verständnisvoll. „Alles klar. Sicher ist sicher.“

Deswegen entwarf und kolorierte Nora die Vorzeichnungen praktisch immer altmodisch auf Papier.

„Damit bist du vermutlich noch eine Weile beschäftigt.“ Er machte Miene zu gehen. „Ich hole dich dann am Dienstag gleich in der Frühe ab. Spätestens um sieben? Ginge es auch etwas …“

„… eher? Wäre dir halb sieben lieber?“

„Eigentlich ja. Je nach Wetter und Verkehr fahren wir vier bis fünf Stunden, wenn es gut läuft. Wo soll ich dich abholen? Bei dir zu Hause?“

Er, lässig an den Türrahmen gelehnt, sie, im Negligé, bat ihn auf einen Kaffee herein … Schluss mit den Flausen! Nora verzichtete auf den Von-der-Haustür-Abhol-Service, der ihre Fantasie gerade viel zu sehr ankurbelte.

„Ich möchte lieber hierherkommen, das ist einfacher für dich. Schon wegen der Parkplätze.“

„Ja, klar, wenn dir das lieber ist, treffen wir uns hier. Bis dann, falls wir uns vorher nicht mehr sehen.“

Er machte kehrt. War da eben so etwas wie Enttäuschung in seinem Blick aufgeflackert? Nora hätte Paul am liebsten zurückgerufen, um ihm zu versichern, dass er sie gerne auch zu Hause abholen konnte.

Nein, nichts davon würde sie tun!

Der Teil von ihr, der noch ein Mindestmaß an Vernunft besaß, beglückwünschte sie zu ihrer Weitsicht. Keine Affäre am Arbeitsplatz und schon gar keine mit dem Chef. Alles im Vorfeld abblocken. Punkt. Der Rest von ihr wollte dummerweise nichts anderes, als in der Nähe dieses Mannes sein, seine markanten Gesichtszüge betrachten, mit den Fingern durch seine Haare fahren und seine Lippen küssen.

Sie hatte den Verstand verloren, so etwas auch nur zu denken. Trotzdem hielt sie inne und schnupperte. Lag da noch eine Spur seines Dufts in der Luft? Ein Hauch von Zitrone, Moos und Gräsern? Schluss mit dem Irrsinn, sie hatte zu arbeiten. Viel zu fest packte sie die Maus, die ergonomisch geformt und trotzdem hart war.

Zimtsternkatastrophe

Nora lag, in eine kuschelige Decke gewickelt, gemütlich auf dem Sofa und zappte durch das Programm. Unzählige Sender, leider nichts dabei, das sie interessierte. Tierdokus gingen sonst immer, aber den Film, den sie heute zeigten, kannte sie schon. Ebenso die Liebeskomödie in einem anderen Programm. Sie schaltete ab und legte die Fernbedienung auf den zierlichen Holztisch.

Kurz nach ihrem Einzug hatte sie das Möbelstück auf dem Flohmarkt ergattert. Die Erben einer alten Dame hatten es ausrangiert und für einen moderaten Betrag verkauft. An die hundert Jahre war es nach den Schilderungen der Verwandtschaft sicher alt. Begeistert über den Fund war Nora darangegangen, die Platte und die sanft geschwungenen Beine abzuschmirgeln, alles zu verleimen und neu zu lackieren.

Auf dem schmucken dunklen Nussbaumtisch stand passend zur Jahreszeit ein kleines Sträußchen aus Tannenzweigen mit winzigen roten und silbernen Kugeln, die Nora daran aufgehängt hatte. Die Äste nadelten nach zwei Wochen in der Wärme, doch sie dufteten immer noch intensiv nach Harz, Wald und ein wenig nach Vanille, Bratapfel und Zimt.

Statt ihre Geschenkeliste zu ergänzen, klickte Nora ungeduldig auf einen Kugelschreiber. Spitze rein, Spitze raus. Sie brauchte einen Geistesblitz, eine zündende Idee für Emilys Geschenk. Das Überlegen half ihr dabei, sich von den hartnäckigen Gedanken an Paul abzulenken. Unentwegt kreisten sie in ihrem Kopf, wo ihr Chef erschreckend selbstverständlich herumspukte.

Jetzt schon wieder. Zu gerne hätte sie gewusst, ob er bei der unerwarteten ‚Einladung‘ für sie seine Hände im Spiel gehabt hatte. Nein! Stopp! Es war viel besser für ihren Gemütszustand, wenn sie darüber nachgrübelte, was sie Emily schenken wollte.

Seufzend legte Nora den Stift beiseite und blätterte in einem Reklameheftchen. Es wurde ihr regelmäßig zugestellt, obwohl ein Bitte-keine-Werbung-Sticker an ihrem Briefkasten klebte. Sie überflog den Programmteil. Vielleicht Kinogutscheine? Emily besaß eine Schwäche für kleine Programmkinos und schräge Filme. Aber Eintrittskarten in einer entsprechenden Box hatte Nora letztes Jahr schon gehabt. Ob das die Freude wirklich schmälern würde?

Nora stapfte zum Fenster und sah vom dritten Stock auf einen kleinen Park hinunter. Die großen Gärten auf der anderen Straßenseite gehörten zu Häusern, die um die vorletzte Jahrhundertwende gebaut worden waren. Sie lagen im Schein der Straßenlaternen und sahen bei dem Licht und von oben wie eine perfekte Straßenzeile in einem Spiel von LikeLeips aus.

Viele Gärten waren mit Lichterketten geschmückt. Aber ein enthusiastischer Weihnachtsfan hatte seinen Garten so hell illuminiert, dass die Bemühungen unweigerlich auffallen mussten. Nora schmunzelte. Sie lebte noch nicht lang in diesem Viertel, aber sie kannte den alleinstehenden älteren Herrn, dem Haus und Garten gehörten, von kurzen Plaudereien.

Soweit das Wetter es zuließ, werkelte er draußen, unterbrach die Arbeit aber gerne für kurze Schwätzchen. Und sie hätte nicht gedacht, dass ausgerechnet er solche Freude an Rentieren mit Schlitten, Weihnachtsmännern, Wichteln und unzähligen Sternen und Kugeln jeder Größe hatte. Sie lächelte, als sie die warmen Lichter sah, und beschloss, nach einer besonders hübschen Weihnachtsdeko für ihn zu suchen. Der Garten des alten Herrn sah mit ein wenig Abstand richtig zauberhaft aus. Hoffentlich hielt der Schmuck dem ersten richtigen Wintereinbruch stand. Nora ging zurück zum Sofa und nahm Platz.

Zu ihrem Leidwesen kündigte der Wetterbericht seit Tagen heftige Schneefälle an, die besonders in höheren Lagen wegen stürmischer Winde zu chaotischen Verkehrsverhältnissen führen könnten. Sie warf einen Blick auf ihr Handy und die entsprechenden Apps. Amtliche Warnungen gaben die Verantwortlichen jetzt natürlich noch nicht heraus, aber die unheilverheißenden Symbole auf dem Monitor sagten alles.

Ob sie Paul anrufen sollte? Und ihm klipp und klar sagen, dass sie nicht mitkommen wollte, wenn Schneechaos drohte? Sie grübelte hin und her und verwarf die Idee schließlich.

Nicht nur wegen des merkwürdigen Bildes, das er in dem Fall von ihr bekommen würde. Schließlich sollten die Stürme frühestens am Freitag einsetzen. Es gab noch einen weit wichtigeren Grund. Sie legte das Handy zur Seite. Wenn sie ehrlich war, wollte sie gegen jede Vernunft mit Paul zusammen sein. Ihn besser kennenlernen. Und dann …? Dem Sehnen nachgeben und eine Affäre mit ihm beginnen? Unsinn! Es gab so viele andere Möglichkeiten. Sie würde fahren und locker bleiben wie Emily.

Das war das Stichwort.

Bei ihrer Rückkehr blieb gerade noch eine Woche bis Weihnachten. Nicht mehr viel Zeit, nach einem Geschenk für ihre Freundin zu suchen. Besser, sie ging es gleich an. Sie griff nach dem Kugelschreiber und klickte wieder. Vielleicht wurde sie im Schreibwarengeschäft fündig. Dort lag schon das neue Programm der Volkshochschule aus. Ein veritabler Katalog, der ihr zu groß für die Tasche gewesen war.

Schon voriges Jahr hatte Nora mit dem Schnupperkurs Tanz dich fit als Geschenk für ihre Freundin geliebäugelt, und je länger sie jetzt über die Idee nachdachte, desto besser gefiel sie ihr vor. Als Teenager war sie mit Emily auf Partys gegangen, wo sie ausgelassen getanzt hatten, und natürlich zu den Kursen in der Tanzschule. Was hatten sie gegluckst und gekichert, wenn es mit den Schritten und den großen Füßen der Jungs nicht geklappt hatte. Der arme Tanzlehrer. Lächelnd füllte Nora die Maske am Computer mit den gewünschten Daten aus und schickte die Anmeldung für ihre Freundin und sich selbst ab. Das war es! Genau das Richtige.

Als das Handy klingelte, fuhr Nora zusammen, nahm das Gespräch aber ohne zu zögern an. Emilys spezieller Klingelton. Als ob ihre Freundin geahnt hätte, dass Nora gerade an sie dachte.

„Hallo, Nora? Du musst mir helfen! Ohne dich bin ich aufgeschmissen. Ich schaffe das einfach nicht. Wie kann man so was nur mögen? Das war eine vollkommen bescheuerte Idee von mir!“

„Worum geht es denn?“

„Na, ich hab den ganzen Nachmittag von nichts anderem geredet.“

„Also geht es um Paul und mich?“, hakte Nora nach.