Schöbeli ab em Guggisbärg - Alex Gfeller - E-Book

Schöbeli ab em Guggisbärg E-Book

Alex Gfeller

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Beschreibung

Das Lied vom Vreneli ab em Guggisberg (auch vereinfacht Guggisberglied genannt, weitere Bezeichnungen Guggisbergerlied, Altes Guggisbergerlied) ist wohl das älteste noch bekannte schweizer Volkslied. Es wurde erstmals 1741 erwähnt, die älteste erhaltene Textvariante stammt von 1764. Das traurige Lied basiert vermutlich auf einer wahren Handlung aus den Jahren zwischen 1660 und 1670. Es handelt von einem «Vreneli» (schweizerdeutsch für «Verena») aus Guggisberg, ihrem Auserwählten aus schlechteren Verhältnissen und seinem Nebenbuhler von einem besseren Hof. Die beiden Männer haben eine Schlägerei. Weil der «Simes Hans-Joggeli» (Simons Hans-Jakob) glaubt, seinen reicheren Kontrahenten im Handgemenge umgebracht zu haben, flieht er und tritt, wie damals üblich, in fremde Kriegsdienste ein. Als er nach Jahren vernimmt, dass sein Gegner doch überlebt hat, kehrt er nach Hause zurück, doch ist sein Vreneli aus Kummer («das Mühlrad gebrochen, das Leiden ein End») schon gestorben.

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Ein brütend heißer Hochsommer mit seinem hellen, klaren Licht herrscht zwar über das ganze Land, doch heute ziehen dichte Nebelschwaden über das Bollwerk bis zum ungewöhnlich belebten Bahnhofplatz hoch. Langsam und majestätisch schweben sie von der Heiliggeistkirche wieder hinunter auf die Schützenmatte und verdecken dabei all die roten, schwarzen und blau-weißen Fahnen, aber auch die spärlichen, flüchtig gemalten Spruchbänder und die hastig gebastelten Banderolen aus alten Leintüchern, die rot und schwarz verkünden: „Nieder mit der Junta!“ und „Nieder mit Pattakos!“ oder „Nieder mit der Militärdiktatur!“

Das beißende Tränengas hat die erschrockenen Demonstranten schnell in die engen Neben- und schmalen Seitengassen der oberen Altstadt vertrieben, denn nur noch die ungewöhnlich zahlreichen Polizisten in ihren martialisch wirkenden Kampfmonturen und Gasmasken und die beiden hochbeinigen Wasserwerfer, sowie einige hilflos am Boden liegende Jugendliche, die nicht rechtzeitig haben weglaufen können und auf die jetzt mit harten Knüppeln von allen Seiten heftig eingedroschen wird, bevölkern das breite Bollwerk zwischen Bahnhofplatz und Schützenmatte, wo früher die wuchtige Stadtmauer gestanden hat, um den von überall zusammengestohlenen Reichtum der ausnehmend räuberischen Stadt zu beschützen und zu verteidigen. Zudem sehen wir überall zivile Schläger der Polizei herumrennen, die sich ganz besonders gerne vereinzelte, verirrte und verwirrte Demonstranten oder auch mal unbeteiligte Zuschauer, die etwas Unpassendes dazwischengerufen haben, schnappen und auf den breiten Trottoirs völlig grundlos zusammenschlagen, aber auch einige mittels langer Damenperücken und grüner US-Army-Jacken auffällig als hippiehafte Demonstranten verkleidete, dicke und vor lauter Anstrengung heftig keuchende Polizisten, die völlig schweißgebadet Jagd auf einzelne Jugendliche machen, denen sie es noch einmal so richtig zeigen wollen, diesen gottverdammten, linken Saugofen.

Dieses ungewohnte Ausmaß der behördlich organisierten Aggression überrascht und verwundert vor allem diejenigen Demonstranten, die bereits einige Demonstrationen mitgemacht haben und deshalb wissen, wie der Hase hier läuft, denn der schreckliche Grund für dieses überbordende Ereignis des Sommers 1967 ist längst bekannt: Das griechische Militär hat in Griechenland die Macht an sich gerissen und rächt sich jetzt gewaltsam, blutig und gnadenlos an all den linken Schweinen, also an all den Gewerkschaftern, an all den aufsässigen Studenten, an all den kritischen Journalisten und an all den anständigen Juristen, aber auch an all den griechischen Künstlern und – vor allem und ganz besonders vehement – an all den langhaarigen Musikern, also an überhaupt all jenen, über die sich auch die hiesigen, also auch die einheimischen Offiziere, Polizisten, Lehrer, Pfarrer, Eltern, Spießer, Hinterwäldler und mit ihnen überhaupt die gesamte inländische Rechte, also das tonangebende Bürgertum mitsamt seinem angehängten Mitläufer- und angeschlossenen Kleinbürgertum fast bis zur Weißglut empören.

Hinzu kommt jetzt hier in Bern zusätzlich der provokative Besuch einer griechischen Obristen-Delegation, der die bernische Behörde wie immer allzu voreilig die Schuhe geleckt hat oder gleich ganz in den Arsch gekrochen ist. Wozu also die Aufregung? fragen sich die biederen Bürger achselzuckend am Straßenrand und die Spanner an den hohen Fenstern der oberen Etagen der sandsteinernen Frontfassaden, wozu das laute, hysterische Geschrei in den Gassen der oberen Altstadt?

Was die griechischen Obristen gemacht haben, wäre doch auch hier bei uns schon längst fällig geworden, nicht wahr? Ist es nicht so? fragen sich die Zuschauer untereinander scheinheilig, wenn niemand Unbefugtes zuhört, und sie nicken darauf wissend, denn darin sind sie sich alle einig: Auch hierzulande gehört das linke Dreckpack eindeutig und so schnell wie möglich versorgt oder am besten gleich an die Wand gestellt, genau wie in Griechenland. Bravo Pattakos! Gut gemacht! Nur ein sauberes und von den Linken gereinigtes Griechenland ist ein gutes Griechenland! So sauber und linkenrein wie die Schweiz muss jetzt auch Griechenland endlich werden! Endlich linkenfrei! Nehmt die schöne Schweiz ruhig als Vorbild, zögerliche Nationen! Wir haben doch allen gezeigt, wie’s geht? So linkenrein, wie die Schweiz heute ist, war doch nicht einmal Nazideutschland!

Das heftige und lautstarke Geschehen direkt vor den Eingängen zur Altstadt ergibt somit ein durchaus eindrückliches, wenn auch recht unerfreuliches und unvorteilhaftes Bild der biederen Hauptstadt eines der saubersten, reichsten und makellosesten Länder der Erde; es ist gewiss nicht geeignet für die Gäste- und Besucherinformationen auf Hochglanzprospekten, wie sie z. B. in der prunkvoll ausgestatteten Reception des noblen „Hotel Schweizerhof“ aufliegen, oder für die schönfärberische Parteienpropaganda, die jedermann immer kurz vor den Wahlen im Briefkasten vorfindet. Gewiss eignet sich das laute Durcheinander auch nicht für die schicken Kataloge der emsigen und auf Makellosigkeit bedachten Tourismusförderung, und schon gar nicht für die prächtigen Kalender, wie sie als praktische und gefällige Firmengeschenke zu Weihnachten oder zum neuen Geschäftsjahr stolz in alle Welt versendet werden und meist auch in den repräsentativen Ambassaden des Landes in aller Welt zu finden sind. Selbige zeigen die Schweiz ausschließlich von ihrer leckersten Schokoladenseite, versteht sich; da trübt gewiss kein verlauster Demonstrant das Bild einer heilen und idyllischen Welt voller sicherer und intakter Banken, die schalten und walten können, wie immer ihnen beliebt, und denen scheinbar niemand auf der Welt jemals dreinreden oder gar etwas anhaben kann, nur weil ihnen nahezu alles gehört in diesem Land. Zudem streicht der brutal starke Wasserstrahl der beiden Wasserwerfer unablässig von der einen Straßenseite des Bollwerks zur andern, als gelte es, die vielbefahrene, mehrspurige Fahrbahn ein für alle Mal vom dreckigen Ungeziefer zu reinigen, von den lausigen Mikroben und lästigen Bakterien, und die zahllosen bezahlten Schläger, Spitzel und Denunzianten der öffentlich-rechtlichen Ordnungsmacht und ihrer soliden parlamentarischen Mehrheit brüllen, zusätzlich zum ganzen Lärm und lauten Geschrei, andauernd herum, als gelte es, die doch bereits sehr verängstigten Teilnehmer der behördlich und polizeilich bewilligten, also korrekt angekündigten und somit völlig legalen Demonstration noch zusätzlich massiv einzuschüchtern, oder um die vielen, sehr belustigten und hocherfreuten Zuschauer, allesamt freiwillige Zeugen des üblen Geschehens, also die zahlreichen faszinierten Gaffer und die vielen neugierigen Zaungäste von den Rändern des Spektakels zu vertreiben, aber sicher auch, um sich selbst Mut zu machen, den Mut zum öffentlichen Verfassungsbruch nämlich – und genau das ist der wunde Punkt.

Eine derart heftige polizeiliche Kampfbereitschaft und Gewaltanwendung hat man in Bern noch gar nie gesehen, müssen die Teilnehmer der behördlich, polizeilich und juristisch einwandfrei bewilligten Demonstration allmählich perplex einsehen und annehmen; es sieht ganz danach aus, als gelte es heute, einen richtigen Krieg zu gewinnen – was hier in der Tat soeben irgendwie lautstark vor sich geht, womöglich einen richtigen Stellvertreterkrieg, nämlich die kleinräumi-ge Version des weltweiten Krieges der Mächte gegen die Ohnmächte, wie immer und überall. Wir erleben heute im ansonsten ausgesprochen gemütlichen und sehr beschaulichen, ja, verschlafenen und sonst eigentlich richtig verschnarchten Bern kurzfristig einen veritablen Kriegszustand, wie er gegenwärtig auch in Griechenland stattfindet; nur wird hier zum Glück nicht gleich geschossen, erwürgt, erschlagen, gefoltert und ermordet wie momentan in Athen und in all den anderen griechischen Städten mit ihrer so bedeutsamen Vergangenheit; hier, im völlig unbedeutenden Bern ohne jede nennenswerte Geschichte, abgesehen von ein paar Räuberpistolen, wird vorerst nur fachmännisch verprügelt und verkloppt. Der Sommer zeigt sich in seinen angenehmsten Farben und Temperaturen; der Sechstagekrieg ist zu Ende, die arabischen Armeen sind fast ohne fremde Hilfe schneller vertrieben worden, als man sich dies jemals hätte vorstellen und ausdenken können, der Vietnamkrieg steht gemäss amerikanischen Angaben kurz vor dem definitiven Endsieg, in New Jersey haben sich Kossygin und Johnson erstmals zu Friedensgesprächen getroffen, in Newark bei New York brechen unerwartet schwere Rassenunruhen aus, und der weltberühmte Boxer Muhammad Ali, alias Cassius Clay, weigert sich in aller Öffentlichkeit, nach Vietnam zu gehen, weil ihm die kleinen Vietnamesen noch nie etwas zuleide getan haben, wie er betont. Die Leute, die ihn mit Gewalt dorthin schicken wollen, allerdings schon. Was für Sensationen allerorten! Alle in- und ausländischen Medien überbieten sich – zusammen mit den diversen Regierungen – im spektakulären Heucheln und Frömmeln, im eifrigen Erfinden und Erträumen, im schlauen Hintergehen und Betrügen, im hemmungslosen Lügen und Verdrehen, im offensichtlichen Vertuschen und Verschleiern, im betrügerischen Erdichten und Ersinnen, im bewussten Irreführen und im Ausflüchten, im heimlichen Vertuschen und Verstellen, kurz, im Verheimlichen und Verschweigen und nicht zuletzt auch im ganz banalen Fälschen, so dass man als erschrockener Betrachter des völlig übergeschnappten Weltgeschehens längst nicht mehr weiß, wem man überhaupt noch glauben soll und weiterhin trau-en kann.

Auch die Aufregung in den Gassen Berns ist gegenwärtig sichtlich groß, denn die kriminelle Energie steht heute eindeutig und vollumfänglich auf Seiten der Ordnungsmacht und der hektischen Abschreckungspolitik einer ganz offensichtlich heillos überforderten, sozialdemokratischen Behörde. Sie ist wirklich erstaunlich, weil ungewohnt heftig, diese blamable Reaktion, zudem völlig unverständlich und gleich auf den ersten Blick ziemlich ungewöhnlich, denn die hemmungslos entfesselte behördliche Aggressivität bleibt trotz allen späteren politischen Beschwichtigungen, trotz allen polizeilichen Verleugnungen und behördlichen Verdrehungen und trotz allen üblichen und geschmeidigen Kleinredens durch die überaus gefügigen Medien im Moment für jedermann unüberhörbare und unübersehbare Tatsache. Schon morgen wird dieser für hiesige Verhältnisse ungewohnt brutale Krafteinsatz in den deutlich zustimmenden bürgerlichen Tagesblättern als „hart, aber entschlossen“ bezeichnet werden, oder als „entschieden, aber gerecht“, wenn nicht gar als „zwingend, aber nötig“, wiewohl es sich hierbei ursprünglich, wie schon erwähnt, nur um eine behördlich bewilligte, relativ kleine bis kleinste Winzigdemonstration von anfänglich etwa zwanzig bis dreißig Leuten handelt, die im Grunde genommen verfassungsmäßig absolut rechtens ist, nun mal ganz grundsätzlich gesehen, und deshalb von Rechts wegen eigentlich polizeilich beschützt, und nicht polizeilich bekämpft werden müsste, um diese Vorgänge mal korrekt darzulegen und endlich ins richtige Licht der verfassungmäßig garantierten Rechtlichkeit zu stellen. Die politische Logik aber, beziehungsweise die politische Unlogik, vor allem aber das diesbezüglich stets etwas windschiefe Folgerungsunvermögen der Behörden und die meist sehr peinliche, ja, hanebüchene politische Argumentation der Parteien im Stadtparlament, aber auch die üblichen, stets etwas peniblen medialen Kommentare zum gewöhnlichen Tagesgeschehen schlagen in ihrer generellen Rückständigkeit meist recht komische und immerzu sehr opportunistische Kapriolen, wie wir alle bestens wissen und trotzdem immer wieder verwundert zur Kenntnis nehmen müssen, denn die städtischen Behörden, das heißt, die sozialdemokratisch dominierte Stadtregierung und ihre diversen wichtigtuerischen Departemente und Abteilungen mit ihren viel zu vielen ultrarechtsgerichteten Beamten und ultrarechtsgewickelten Anverwandten haben bislang, wie immer, nur ganz wenig Mut gezeigt oder gleich überhaupt keinen, und dazu haben sie praktisch keinerlei Unerschrockenheit bewiesen. Dieser blamable Zug zeichnet ihr ganzes Unvermögen in solch mulmigen Situationen ständig aus, muss man immer wieder bedauernd feststellen und festhalten, denn die brenzligen, also rechtlich und politisch heiklen Momentansituationen gehen hier eindeutig nicht von den Demonstranten aus, sondern von der völlig übergeschnappten Polizei. Die aktuelle Behörde bildet halt wahrscheinlich doch nicht die Administration für alle Bevölkerungsteile, wie sie indes immerzu selbstsicher verlauten lässt, so muss man befürchten, trotz aller Wahlresultate, denn die Sozialdemokraten wollen eigentlich nur eines nicht: dass man ihnen gleich anschließend von Seiten ihrer eigenen Wähler, aber vor allem auch von Seiten ihrer politischen Widersacher und auch von Seiten ihrer übrigen internen Neider und externen Gegnerschaft und auch aus dem Lager ihrer zahlreichen Rivalen und Konkurrenten würde vorwerfen können, sie hätten im Kampf gegen das linke Gesindel und das langhaarige Dreckpack zu wenig Entschlossenheit und politische Reife gezeigt.

Nein, solche Vorwürfe möchten die Genossen, die ja nur regieren wollen, und sonst nichts, tags darauf gewiss nicht auf sich sitzen lassen müssen, denn das wäre pures Gift für ihren sorgfältig aufgebauten Ruf als politische Saubermänner und zuverlässige Administratoren, für ihr leider noch allzu labiles Ansehen als entschlossene und tatkräftige Exekutive und somit für ihre eigene Wiederwahl, fürchten sie, und vielleicht haben sie ja sogar recht damit – wer weiß das jeweils schon im Voraus?

Es gilt in einer demokratisch legitimierten Politik einzig, einer möglichst sicheren Mehrheit zu Gefallen zu sein – und sonst gar nichts. Das müssen wir uns als deutliche Außenseiter-Demonstranten und Extremextremisten mit einer gewissen Bitterkeit im Herzen ein für allemal merken.

Schöbe steht mit Ruiz und dem Zwerg orientierungslos in der engen Aarbergergasse herum. In den Lauben, in den Eingängen und in den Passagen herrschen immer noch Aufregung und Ratlosigkeit. Die drei waschen sich, wie viele andere Jugendliche auch, am öffentlichen Brunnen das Gesicht ab, um Reste des ekelhaft brennenden Gases allmählich wegzukriegen, und Schöbe weiß tränenden Auges immer noch nicht recht, wie ihm soeben geschehen ist und recht eigentlich geschieht. Ruiz hat ihn erst vor fünfzehn Minuten gerade noch rechtzeitig aus dem dichtesten und hässlichsten Schlachtgetümmel gezerrt, und er trägt immer noch das kleine Bündel Flugblätter unter dem Arm, das ihm jemand am frühen Nachmittag hastig in die Hand gedrückt hat, Flugblätter auf Griechisch, handgeschrieben und fotokopiert, die er fast nicht hat loswerden können, nur weil hier in Bern kaum jemand Griechisch versteht. Immerhin hat er sich damit gleich zu Beginn der Demonstration bis zu den verblüfften griechischen Geheimdienstleuten und zu den dicken Gorillas unter den Arkaden vor dem „Schweizerhof“ vorgedrängt, in der etwas naiven Meinung, wenigstens die verstünden wahrscheinlich Griechisch, und hat ihnen die Blätter einfach in die Hand gedrückt, trotz seiner fast unüberwindlichen Abneigung gegen Mörder und Schlächter und seiner eindeutigen Abscheu vor Killern und Gangstern aller Art. Er hat nicht ahnen können, dass die griechischen Geheimdienstleute allein beim Anblick der Flugblätter gleich in Panik ausbrechen würden, aber das sei man den griechischen Genossen, die jetzt in Griechenland eingekerkert, gefoltert und ermordet würden, schuldig gewesen, hat Ruiz dazu entschlossen befunden, und deshalb hat Schöbeli nicht zurückstehen mögen. Hiezu gibt es eigentlich nichts anzufügen, findet er. Doch woher diese griechischen Blätter gekommen sind, weiß im Moment niemand von den Dreien genau zu sagen, und was eigentlich darauf steht, sowieso nicht.

Die Gorillas allerdings sind deutlich zusammengezuckt, als sie diese Blätter gesehen haben, und am liebsten hätten sie wohl gleich die Knarre gezückt, diese Killerbanditen und Verbrecherkonsorten. Aber hier, im friedlichen und friedliebenden Bern, in der neutralen Schweiz also, direkt vor dem Nobelhotel „Schweizerhof“, haben sie das nun wirklich nicht bringen können. Ein Blutbad wäre aufgefallen.

Aber Griechen hat es unter den Demonstranten, unter den vielen Mitläufern oder unter dem Publikum wahrscheinlich überhaupt keine gehabt, also Leute, die vielleicht hätten Auskunft geben können, wenn man mal von der vornehmen, griechischen Reisegesellschaft aus den höchsten Obristenkreisen mitsamt den teuer bepelzten Gattinnen, den vielen flinken Geheimdienstlern und den trotz der Hitze dick vermummten Bodyguards absieht, der die hiesige Behörde wie immer allzu eilfertig händereibend und beschämend unterwürfig den roten Teppich vor dem „Schweizerhof“ ausgebreitet hat, wie schon erwähnt. Die saubere griechische Delegation hat sich nämlich heute zwecks möglichst favorabler Bankkontakte und günstiger Kontobedingungen soeben im teuren „Schweizerhof“ einquartiert; ihr gilt ja die ganze behördliche Aufmerksamkeit, aber auch der ganze tumultartige Aufmarsch mitsamt der unproportionierten polizeilichen Reaktion in einem unerwartet heftigen Schlachtgetümmel.

Kurz und nicht gut: Der Gesamtgemeinderat kocht und tobt in seinen dunkel getäferten Gemächern. Ist schwer beleidigt. Fühlt sich schmählich hintergangen. Sieht sich unvorteilhaft überrumpelt und bis auf die Knochen entlarvt, denn das aktuelle Geschehen ist höchst peinlich für Bern, oberpeinlich sogar, findet er, völlig zu Recht, wütend und richtig außer sich. Eine schlechte Reklame für die Hauptstadt der geordneten Steuerhinterziehung und der systematischen Gelderversteckung.

Auch das lokale Bürgertum rast bereits mit Hundert, wie voraussehbar, mit viel Schaum vor dem Mund, denn die städtische Ruhe, die bernische Beschaulichkeit, die typische Gemütlichkeit, die politische Glaubwürdigkeit und die zuverlässige Unerschütterlichkeit sind, zumindest kurzfristig, eindeutig dahin, und der übliche Dauerdämmerschlaf der Stadt ist unübersehbar gestört. Das bislang nahezu unbefleckt gebliebene Ansehen einer bombensicheren Schweiz mit ihren bombensicheren Banktresoren ist wahrscheinlich auch bereits leicht angekratzt, zumindest vorübergehend beschmutzt, muss man befürchten. Und genau das befürchtet man!

Was das wieder an propagandistischer Aufbauarbeit kosten wird! Der gute Ruf muss erst einmal hergestellt und bar bezahlt werden! Was das zudem auf Dauer an Negativem für Bern bewirken kann, so ein unvorhergesehener Radau und Krawall, darf man sich gar nicht erst vorstellen! Welche professionellen Reklamekampagnen für eine saubere, zuverlässige und sichere Schweiz das wieder unausweichlich auslösen muss und bewirken wird! Was das beschädigt am guten Ruf der Banken!

Die immens teure public relation ist wieder einmal richtig herausgefordert, und wehe, wenn jetzt auch noch von Seiten der lokalen Geschäftswelt wegen so genannt riesiger Einnahmeausfälle, verschmierter Fassaden und zerschlagener Fensterscheiben Schadenersatz gefordert wird!

Die drei Freunde ziehen orientierungslos in einem Pulk durchnässter Demonstranten bis auf den Waisenhausplatz hinüber und merken nicht, dass sie geradewegs in eine Falle der Polizei tappen, denn die Uniformierten haben bereits alle schmalen Ausgänge des Platzes abgesperrt. Sie treiben dort laut schreiend die furchtbar erschrockenen jungen Leute auf der Höhe des neuen Metroparkings mittels ihrer großen Schilder und harten Knüppel wie eine Herde störrischer Kälber zusammen.

Schöbe, der von alledem nichts merkt, ja, nicht einmal zu sehen scheint, gesteht Ruiz, dass er solche Demos richtig hasse; dieses brutale Treiben auf der Straße sei gewiss nicht sein, also Schöbes Ding, weil es seiner Ansicht nach überhaupt nichts zum internationalen Geschehen beitrage und auch nichts davon wegnehme, noch jemals den Lauf der Dinge beeinflussen und die echten Bösewichter von ihrem Tun und Treiben abhalten könne. Doch Ruiz erklärt ihm ruhig und beneidenswert selbstbewusst, dass man etwas gegen die Faschisten unternehmen müsse, und sei es nur eine öffentliche Kundgebung des Missfallens; das sei eine Frage der Ehre und des Anstandes, denn man dürfe die Mörder der darbenden Völker nicht einfach machen lassen, das gehöre sich nicht, das wäre unverzeihlich, unehrenhaft und undemokratisch.

Auch der Zwerg scheint richtig verängstigt zu sein; er ist ganz ungewohnt unruhig geworden. Unablässig schaut er sich um, als suche er jemanden im Gedränge der Zuschauer am Rande des Platzes, vielleicht jemanden unter den gepflegten Geschäftsleuten in ihren eleganten, grauen Anzügen, oder jemanden unter den erschrockenen Passanten, vielleicht jemanden unter den biederen Ladenbesitzern in ihren kurzen Schürzen, also unter den zahlreichen Gaffern und Maulaffen, die jetzt aus ihren Restaurants, Cafés, Geschäften und Büros in die Lauben und auf die Strasse hinausgetreten sind und wie von Sinnen aus relativ sicherer Entfernung „Ab nach Moskau!“ und „Moskau einfach!“ auf die Gassen hinaus brüllen. Das haben sie drauf, die Banausen; das ist das typische Niveau ihrer primitiven politischen Argumentation. „Haut ab, ihr linken Sauhunde!“ kreischen einige gepflegte Herren, die ansonsten ihre anspruchsvolle Kundschaft mit Engelsstimmen bezirzen können, oder aber sie brüllen schlicht und einfach, völlig außer sich und wie von Sinnen: „Vergasen müsste man euch alle, ihr Dreckschweine! Endlich vergasen, ihr verlausten Affen!“

Andere rufen kurz und bündig: „An die Wand stellen und mit dem Flammenwerfer draufhalten!“ „Ja, an die Wand mit euch und abknallen!“ bestätigen all die übrigen übergeschnappten Geschäftsleute mit Verve, die ansonsten ihre pingeligen Kunden mit ausgesuchter Höflichkeit und auserlesener Zuvorkommenheit zu bedienen wissen, denn wenn’s ums Geld geht, dann wird der Einheimische sofort stinkfreundlich; das hat er nämlich drauf, der gemeine Krämer, Schmeichler, Arschlecker und Schleimer.

Aber gegen die tückische Strategie der Polizei ist für heute kein Kraut gewachsen, und es gibt auch kein Entkommen mehr: Etwa hundert Demonstranten sind auf dem Waisenhausplatz restlos eingekesselt. Ruiz nimmt Schöbe die restlichen griechischen Flugblätter aus der Hand und wirft sie entschlossen in einen öffentlichen Abfalleimer, bevor sie der Polizei in die Hände fallen können, und der aufgeregte Zwerg drängt sich voller Angst ungewohnt dicht an die beiden Freunde heran, an den untersetzten, kräftigen Ruiz und an den schmächtigen, hochgeschossenen Schöbeli, dem es natürlich alles andere als wohl ist, einzig um nicht an den gefährlichen Rand des ganzen Geschehens zu geraten und doch noch zusammengeknüppelt zu werden.

In der Mitte der aufgeregten Menge, so merken die drei schnell, ist es eindeutig sicherer, weil sie sich dadurch außerhalb der Reichweite der Polizeiknüppel befinden, denn unter einem Hagel von Schlägen gelangt der Haufen jetzt zur altertümlichen Turnhalle des Städtischen Progymnasiums unten am kahlen Waisenhausplatz. Genau dorthin werden alle Verhafteten jetzt energisch getrieben, gedrängt, gedrückt, gestoßen und geschoben, als seien sie störrisches Vieh, das auf die Schlachtbank geführt werden soll. Eine erschreckende Massenverhaftung findet soeben statt, wie sie Bern seit den armen Wiedertäufern nie mehr gesehen hat, als die widerspenstigen Bauern aus dem Emmental und von anderswo, die zum ersten Mal selbst die Bibel lesen konnten und endlich wussten, was eigentlich und wirklich darin steht – und was eben nicht – zur Strafe und zur öffentlichen Abschreckung wegen sträflicher Missachtung obrigkeitlicher Verfügungen und kirchlicher Erlasse so lange öffentlich geköpft, verbrannt, gehängt, gerädert, ertränkt, erwürgt und gevierteilt wurden, bis das Wasser beim Läuferbrunnen unten blutrot aus der Röhre geflossen kam und von den stets anwesenden Überwachern der äußerst blutigen Vorgänge, den höchst abergläubischen Stadtgeistlichen, die das schreckliche Massaker ja überhaupt erst angezettelt hatten, auf Grund der Kenntnis der Offenbarungen des Johannes prompt und eindeutig als schlechtes Omen gewertet wurde. Denn auch Bern hatte einst seine religiösen Fanatiker, seine hasserfüllten Bilderstürmer, seine obrigkeitlichen Fundamentalisten und seine klerikalen Mörder und Verbrecher – und wie!

Schöbe, Ruiz und der Zwerg versuchen, in diesem Rummel möglichst dicht beieinander zu bleiben, denn das Geschiebe, Gemenge und Gezerre am Eingang zur Turnhalle ist naturgemäß heftig, zumal viele der jungen Leute instinktiv versuchen, bockend, blockend und stockend Widerstand zu leisten. Viele von ihnen stehen verdammt nahe an einer Panik, wie man aus ihren jugendlichen Gesichtern deutlich herauslesen kann, und deshalb versucht Ruiz immer wieder, Ruhe in das heftige Geschehen zu bringen, vorerst allerdings ohne viel Erfolg, denn Angst, Panik, Wut, Hass und Empörung machen sich schnell mal in einer geschockten Menge breit, zumal viele der Jugendlichen noch erstaunlich jung sind, also recht unerfahren aussehen, weil sie in ihrem unschuldigen Leben wahrscheinlich noch gar nie haben verhaftet werden können. Wie auch? Und wo kommen die nur alle her? muss sich Schöbe unwillkürlich fragen. Haben die heute alle schulfrei? Es ist doch nicht Mittwoch? Oder haben wir schon Mittwochnachmittag?

Ihre allererste illegale Verhaftung geschieht im Andenken an die Opfer der blutigen griechischen Militärdiktatur, die heute, gut zwanzig Jahre nach Kriegsende, Tausende, wenn nicht gar Zehntausende griechischer Bürger illegal verhaften, einsperren, foltern und töten lässt. Eigentlich könnten sie alle stolz auf sich sein, diese verängstigten Buben und Mädchen hier auf dem eng gewordenen Waisenhausplatz, findet Schöbe, und auch ihre besorgten Eltern müssten im Grunde genommen sehr zufrieden mit ihren tapferen Kindern sein, die sich für die gerechte Sache persönlich und mit Mut eingesetzt haben, nämlich für die Freiheit und die Demokratie. Wenn das nicht ehrenhaft ist, dann gibt es nichts Ehrenhaftes mehr.

Doch Stolz ist im Moment unter den Verhafteten gewiss nicht gefragt; sie sind höchst beunruhigt und bereits richtig verstört – und dies ziemlich deutlich. Ihre Eltern werden sich zudem sicher bald besorgt fragen, was sie wohl falsch gemacht hätten, dass ausgerechnet ihre eigenen Kinder derart schnell auf die schiefe Bahn des politischen Radikalismus und des kriminellen Landfriedensbruchs geraten seien. Sie werden sich folglich nicht nur vor sich selbst schämen müssen, sondern ganz besonders auch vor ihren Nachbarn und nicht zuletzt vor ihrer schadenfreudigen Verwandtschaft, die es ja später schon immer gewusst und angeblich schon immer gesagt haben will, und das ist rundweg das Schlimmste überhaupt, was besorgten Eltern hierzulande zustoßen kann. Der gute Ruf und die saubere Weste sind womöglich ohne ihr Dazutun bereits dahin; es fehlt nur noch, dass es morgen auch noch in der Zeitung steht, womöglich mit Bildern und Namen, wie es von einem echten Denunziantenland mit seiner reinen Denunziationspresse und seiner lauteren Denunziationskultur erwartet wird.

In der kleinen, etwas gar muffigen und zudem schlecht beleuchteten Turnhalle verteilen sich die Leute unsicher und höchst misstrauisch. Ruiz richtet sich an sie und erklärt ihnen mit lauter und fester Stimme, es werde ihnen nichts geschehen, denn die Demonstration gegen das griechische Terrorregime sei vom Gemeinderat ganz offiziell bewilligt worden und somit völlig legal; sie, die Demonstranten, hätten also nichts Illegales getan und bestimmt auch nichts falsch gemacht. Deshalb werde man ihnen gar nichts vorwerfen können, selbst wenn man es versuchen würde – was man sicherlich tun werde; man werde ihnen allerhand Unsinn anhängen wollen, wie üblich, Blödsinn, den es einfach kategorisch abzustreiten gelte, und zwar vom Anfang bis zum Schluss. Lediglich die ungewöhnlich hohe Zahl der Verhafteten sei ein Problem, aber nur für die Polizei, ein Problem nämlich, das sie sich heute selbst eingebrockt habe. Man werde wohl erst morgen mit den Routine-Verhören beginnen können, zumal die engen Zellen des engen Untersuchungsgefängnisses im Amthaus drüben bestimmt bereits überfüllt seien, denn sonst hätte man sie ja gar nicht erst hier in diese blöde Turnhalle gesperrt. Warum aber all die Demonstranten überhaupt verhaftet worden sind, sei allerdings ein Rätsel, fährt er fort, das wohl nicht einmal die Polizei selbst lösen könne; es müsse sich wohl um eine reine Panikreaktion des neuen Polizeidirektors Bratschi oder seines giftigen Polizeikommandanten handeln. Die Verhafteten sollen sich jetzt beruhigen und sich vorderhand auf eine unbequeme Nacht vorbereiten und sich möglichst gemütlich einrichten. Schon morgen würden sie bestimmt wieder freigelassen werden müssen, denn man dürfe sie nicht einfach einsperren und festhalten; das sei illegal und somit strafbar.

Diese klärenden Worte, in ruhigem Ton vorgetragen, scheinen ihre Wirkung zu zeigen; einige Leute zerren jetzt die schweren, ledernen Sprungmatten aus dem dunklen Geräteraum, und die Jugendlichen verteilen sich damit in der engen, kleinen, düsteren Halle und setzen oder legen sich darauf.

Schöbe aber ist unterdessen richtig ins Jammern gekommen; er gesteht dem Zwerg, dass er jetzt lieber zu Hause bei Lena wäre, die wahrscheinlich längst auf ihn warte und sich sicher bereits frage, was denn jetzt schon wieder los sei. Sie mache ihm neuerdings ständig Vorwürfe wegen seiner vielen unvorhergesehenen Abwesenheiten und frage sich bereits, ob er, Schöbe, eigentlich anderen Weibern hinterherlaufe, ausgerechnet er, der doch einzig Lena liebe und ihr zudem treu ergeben sei! Und überhaupt: Ihr ehemaliger Dialog sei eindeutig zum Monolog verkümmert, der nur noch aus einer nie enden wollenden Quengelei, Zänkerei, Stänkerei und Nörgelei ihrerseits bestehe.

„Wo liegt also das Problem?“ fragt Ruiz, der mit einem Ohr zugehört hat, knapp.

Seitdem sie eine Stelle als Sekretärin und Sachbearbeiterin für Schwedisch und Finnisch gefunden habe, sei sie ganz anders geworden, erzählt Schöbe den beiden verbittert, nämlich noch distanzierter, noch kühler und noch unzugänglicher, also deutlich nordischer und somit noch schwedischer als jemals zuvor. Zum ersten Mal in ihrem Leben beziehe sie jetzt einen richtigen Lohn, einen durchaus beachtlichen Zapfen übrigens, und all dies schöne Bargeld schade ihrem Charakter ganz eindeutig und ganz offensichtlich.

Doch Ruiz und der Zwerg scheinen sich nicht für Schöbes private Sorgen zu interessieren; der Zwerg hat sich längst weggedreht, und es sieht fast so aus, als beobachte er intensiv die Leute ringsum, warum und wozu auch immer. An diesen deutlich müden und sprichwörtlich niedergeschlagenen Jugendlichen gibt es gemäß Schöbes unmaßgeblicher Ansicht gar nichts Besonderes zu beobachten, zumal die erstmals in ihrem jungen Leben Verhafteten sich jetzt tatsächlich beruhigt haben. Einige rauchen, viele plaudern möglichst gelassen mit ihren Nachbarn, und andere haben sich längst hingelegt und scheinen sogar bereits zu schlafen.

Alle Verhafteten lagern schließlich erst mal still auf den dunkelbraunen Sprungmatten aus schwerem Leder, und man hat an den Sprossenwänden, wo ansonsten von militärisch erprobten und martialisch ausgeformten Turnlehrern kleine Buben halbnackt gefoltert werden, die mitgebrachten Banderolen mit den unbeholfenen Aufschriften aufgehängt:

„Nieder mit dem griechischen Militär!“

„Weg mit der griechischen Diktatur!“

„Demokratie für Griechenland!“

„Freiheit für alle Gefangenen!“

Andere falten aus mitgebrachten Flugblättern Papierflugzeuge und lassen sie in der Turnhalle herumfliegen; einige sind an die Oberlichter der niedrigen Halle geklettert und werfen ihre Papierflieger aus den Kippfenstern in die abendliche Stadt hinaus, das heißt, auf den menschenleeren Pausenplatz des Städtischen Progymnasiums.

Einige wiederum schwenken rote und schwarze Fahnen und griechische Nationalflaggen sinnlos in die unbelebte Hodlerstraße hinein, wo sich, außer einigen verlorengegangenen, vergessenen, verirrten oder versprengten Polizeirekruten, gegenwärtig kein Schwein aufhält. Auf zwei auffälligen, allerdings nur ganz kleinen Spruchbändern, die zwei Sponti-Spaß-vögel mühselig von innen her außen an die Fassade des alten Gebäudes zu hängen versuchen, steht:

„Sokrates dreht sich im Grabe um!“

„Kein griechischer Wein für Papadopoulos!“

Einer meint etwas nachdenklich, es sei schon komisch, dass auch hier die Linken und Langhaarigen verhaftet würden, genau wie in Griechenland, nur weil sie gegen die willkürlichen Verhaftungen von Linken und Langhaarigen in Griechenland protestieren. Wer demonstriere denn für ihre Rechte hierzulande? Und wo? fragt er ironisch. Andere schlichten die angeblichen Widersprüche, indem sie betonen, dass hier, im Gegensatz zu „dort unten“, niemand gefoltert oder gar getötet werde; das sei doch unbestreitbar ein Vorteil, oder nicht? Dass man hier zumindest am Leben gelassen werde, auch wenn man hier schlimmstenfalls von der Schule gewiesen werde, seinen Arbeitsplatz oder seine Lehrstelle verliere, sei doch ein unverkennbarer Vorteil gegenüber den griechischen Genossen, die jetzt einfach kaltgemacht werden? Doch man ist völlig einig mit dem Typen, der erklärt, dass sich das Militär hier und das Militär dort erschreckend gleichen, denn es herrsche sowohl hier, als auch dort unten nach wie vor der genau gleiche faschistische Sinn und Geist in der Truppe, und genau dies sei das Problem.

Diese bittere Feststellung kann nun tatsächlich keiner abstreiten, denn fast jedermann, der bereits über Zwanzig ist, kennt das innermilitärische Klima aus eigener Anschauung und somit aus eigener Erfahrung, und das ist wirklich repressiv, zudem in keiner Weise der Landesverteidigung förderlich und vor allem wenig ermunternd oder gar landesverteidigungsmäßig motivierend. Wie kommt das hin? fragt man sich unwillkürlich ziemlich mut- und ratlos, woher kommt es, dass sich all die verdammten Scheißarmeen und all die Scheißpolizeien in ihrem markanten politischen Extremismus überall auf der Welt derart gleichen? Warum können die nicht auch demokratisch ausgerichtet sein wie alle andern?

„Und worin besteht eurer Ansicht nach der Unterschied zwischen griechischen Polizisten und den hiesigen Polizisten?“ fragt ein anderer keck und setzt damit noch einen drauf.

Der Unterschied bestehe wohl nur darin, wird ihm geantwortet, dass die Polizisten in Griechenland die verhafteten Linken und Langhaarigen jetzt endlich totschlagen dürfen, worauf sie schon lange gewartet hätten, hier aber dürfen sie das nicht tun – noch nicht, müsse man aber gleich einschränken, obschon auch die hiesigen Ordnungshüter die Linken und Langhaarigen bestimmt liebend gerne auch gleich totschlagen möchten – wenn sie nur dürften. Das höre man auf jeder Parteiversammlung der Bürgerlichen, in jedem militärischen Wiederholungskurs, in jedem Lehrerzimmer, in jeder Arbeitspause und, vor allem, an jedem Wirtshaustisch; da dürfe man sich gewiss nichts vormachen. Dann man lese das auch in den Blättern, wo sich die Kommentatoren in ihren Rachefeldzügen geradezu überbieten.

Die Leute nicken nachdenklich, und einer ergänzt, man würde auch hier bei uns bestimmt jederzeit genügend frustrierte Polizisten finden, aber auch viele gnadenlose Juristen und ausreichend rechtsgerichtete Ärzte, zudem fanatisierte Offiziere direkt aus den Offiziersschulen und ausnehmend viele brutale Totschläger vom Lande, die auf einen Befehl von oben an den Folterungen Verhafteter anstandslos teilnehmen möchten und auch bedenkenlos aktiv teilhaben würden und sich daran sogar freiwillig beteiligen möchten und auch könnten; da dürfe man sich nichts vormachen.

Die jungen Leute nicken erneut nachdenklich, denn das scheint ihnen allen klar zu sein. Derart sei nämlich das politische Klima auch hierzulande gestrickt, das wisse man längst, faschistisch bis in die Knochen, denn selbst diese erschreckende Erkenntnis lasse sich nicht abstreiten.

„Schöne Aussichten!“ meint einer dazu trocken.

Schöbe gerät erneut ins Dauerjammern. Er und Lena hätten sich schleichend, aber unwissentlich auseinandergelebt, erklärt er des Weiteren einem völlig desinteressierten Zwerg. Als er noch in Stockholm am Fließband gestanden habe, erzählt er frank und frei, sei es durchaus in Ordnung gewesen, dass er die Kohle herangeschafft habe, Krone um Krone, damit Lena endlich fertig studieren konnte, Schwedisch und Finnisch. Zurück in Bern, so die ehemalige Abmachung unter ihnen, hätte sich die Aufgabenverteilung einfach umkehren sollen, so dass auch er fertig studieren kann. Dies habe ihre klare Vereinbarung gelautet. Doch als Lena hier erstmals als Korrespondentin beim Bankverein einen richtigen Zapfen erhalten habe, da sei es für sie plötzlich nicht mehr attraktiv gewesen, die Knete mit ihrem Partner zugunsten eines gemeinsamen Lebens zu teilen, also mit Schöbeli, der nun seinerseits sein viel zu langes Studium endlich beenden will, dessentwillen er ja überhaupt erst für vier ausnehmend langweilige Semester an die Stockholmer Uni gegangen sei. Wenn er jetzt schon wieder wegbleibe, dann werde sie einen weiteren Grund finden, ihn zu beschuldigen, nicht beziehungsfähig zu sein oder gar heimlich fremdzugehen.

„Nicht beziehungsfähig?“ fragt Ruiz verblüfft und ungläubig. „Was ist jetzt das wieder für eine Kacke?“

Er hat den merkwürdigen Begriff noch nie ge-hört, denn er interessiert sich überhaupt nicht für Liebesbeziehungen und all den Kram, den man neuerdings derart ungenau und vor allem unzutreffend als lebenswichtig und identitätsstiftend zu bezeichnen pflegt. Nichts als romantischer Schmus und sentimentaler Schrott sei das für ihn, erklärt er allen, denn eheliche und eheähnliche Beziehungen seien nichts anderes als abgestandener bürgerlicher Juristendreck, meint er jeweils äußerst abschätzig, wenn die Diskussion auf die Ehe und ihre Pflichten zu kommen beliebt, nichts als kapitalistischer Etikettenschwindel und bourgeoiser Scheißkram, einzig zur Unterdrückung der Frauen und zur Verhinderung einer politischen Gleichberechtigung und rechtlichen Gleichstellung derselben geschaffen und somit ausschließlich zu deren Unterdrückung bestimmt. Da sei gewiss nichts anderes vorhanden als das, wenn von Beziehungen die Rede sei, denn da sei in Tat und Wahrheit gar nichts anderes dran an diesem juristischen Gerümpel, schon gar nicht an diesem romantischen Schmus, an diesem ausgesprochenen Hollywood-Kitsch, also an dieser ganzen Liebeskonfitüre, wie er betont. Davon gelte es folglich tunlichst die Finger zu lassen und Abstand zu nehmen, will einer seine unbezahlbare Freiheit behalten und rechtlich unabhängig bleiben. Das gelte auch und ganz besonders für die Tussen selbst, nur damit das auch einmal gesagt sei, auch und besonders dann, wenn sie es nicht einmal wirklich einsehen können oder aber nicht einsehen wollen. Die einzige Beziehung, die in seinen Augen eine Bedeutung habe, sei die Beziehung zur Revolution – und sonst nichts.

Ja, Beziehungsunfähigkeit werfe sie ihm auch vor, bestätigt Schöbe zerknirscht, als ob es sich bei der Liebe um eine geradezu furchtbare und absolut unheilbare Krankheit handle; doch er, Schöbe, stehe bekanntlich mitten in seinen Prüfungsvorbereitungen, und da könne er jetzt nicht einfach irgendwo arbeiten und Geld verdienen gehen; er müsse gegenwärtig all seine Zeit für diese verdammten Abschlussprüfungen aufwenden, die seien enorm umfangreich und zudem anstrengend genug, denn falls er diese beschissenen Prüfungen verpasse oder gar versiebe, werde er später überhaupt keinen Beruf haben und wahrscheinlich nie mehr auf ein angemessen geruhsames, also gemütliches Leben mit ausreichend Kies und Kohle hoffen dürfen; so direkt und offen lägen für ihn die Dinge, so brutal offen, seine eigene und übrigens einzige Zukunft betreffend, falls überhaupt vorhanden, nur dass dies mal gesagt sei.

Doch ehrlicherweise muss man als neutraler Zuhörer hierbei gleich ergänzend anfügen, dass sich wirklich niemand in der Halle für Schöbes Probleme interessiert; man sitzt gegenwärtig in Gruppen und Grüppchen in dieser uralten Kinderfolterhalle fest und wartet verdrossen auf eine längst angekündigte polizeiliche Einvernahme, von der ja momentan noch niemand sagen kann, wie sie aussehen, wie sie sich ausnehmen, wie sie ausgehen, was sie mit sich bringen und wie lange sie überhaupt dauern wird. Man redet sich immer wieder gegenseitig eindringlich ein, dass man der Schmier außer Name, Geburtsdatum, Heimatort und Wohnadresse rein gar nichts zu sagen brauche, absolut nichts; insbesondere soll man ihr keinerlei Auskünfte über eventuelle Mitgliedschaften geben und absolut nichts über allfällige Mitglieder aussagen, auch nicht nebenbei, nicht zufällig und schon gar nicht gezielt.

Genau das sei es nämlich, was die Polizei von ihnen liebend gerne hören möchte: heiße, hochaktuelle Auskünfte über kommunistische Komplotte, über kommunistische Rädelsführer, über geheime, kommunistische Untergrundorganisationen und, vor allem, über geheime kommunistische Finanzierungen aus Russland. Auf Informationen über verdeckte Zahlungen aus Moskau oder sogar über Bargeld aus der russischen Botschaft seien sie ganz besonders scharf, die blöden Tschugger; darauf seien sie richtig gierig aus, die bekackten Arschlöcher, erklärt man kennerhaft.

Alle Anwesenden lachen laut heraus. Sie haben solcherlei Schwachsinn seit ihrer Kindheit ständig gehört. Die rote Gefahr, die gelbe Gefahr und all der Kram. Politische Propaganda halt. Geistige Landesverteidigung von vorgestern, genau genommen seit Goebbels mit seinen jüdisch-bolschewistischen Verschwörungstheorien, denn falls die jungen Verhafteten etwas Spannendes über russische oder kubanische Agenten, über chinesische Spione oder ganz generell über so genannte Ostkontakte aussagen würden, führt einer aus dem Haufen den belustigenden Gedanken fort, also über etwas ganz Heißes, das sich mit den bürgerlichen Angstträumen und Panikvorstellungen nach den längst bewährten historischen Vorlagen von Adolf Hitler, Joseph McCarthy, Bundesrat Eduard von Steiger, Joseph Goebbels und J. Edgar Hoover decke, dann wäre auch das hiesige Bürgertum endlich richtig erleichtert, endlich bestärkt und sogar begeistert, denn das brächte sie politisch letztlich einen weiteren, wichtigen Schritt in die sichere Nähe des mächtigen Amerika, das ihm ungerechterweise immer noch die allzu verdächtig enge Nachbarschaft zu den deutschen Nazis vorwerfe. Damit also könnte man sie zu guter Letzt richtig glücklich machen und fröhlich stimmen, die hiesigen Bürgerlichen, mit fetten Hinweisen auf Rubel aus Russland, denn dies sei es, was die Freisinnigen heute wollen: den Amerikanern ums Verrecken zu Gefallen sein und somit politisch endlich wieder auf der sicheren Seite stehen zu können, indem sie die hiesige Linke gnadenlos verfolge, um den Amis ihren guten Willen, ihre guten Absichten und ihre Treue zu Amerika zu zeigen und zu beweisen, was sie überdies bereits seit gut zehn oder fünfzehn Jahren systematisch tun, so wie sie seinerzeit auch Hitler und Mussolini haben zu Gefallen sein wollen, indem sie die damalige Linke und somit die einzigen antifaschistischen Kräfte dieses ängstlichen und anpasserischen Landes einfach in die Zuchthäuser und später in die eigens dafür geschaffenen Concentrationslager gesperrt haben, die sie inzwischen überall im Lande an abgelegenen Orten aufgebaut hatten – wenn sie sie nicht gleich auf offener Straße haben erschiessen lassen, wie seinerzeit in Genf unten, zum Beispiel.

Wiederum lachen alle Anwesenden, die den Gesprächen gefolgt sind, laut und hämisch auf, obschon viele von ihnen diese unschönen Einzelheiten zum ersten Mal beklommen hören und sich darunter verständlicherweise gar nichts vorstellen können, denn all dies wird natürlich nicht an die große Glocke gehängt, weil bestenfalls niemand etwas davon wissen soll.

Diese wichtige staatspolitische Aufklärung geht indes gleich weiter: Ruiz erzählt, die Polizei würde die Verhörten mit Vorliebe völlig frei erfundener Straftaten bezichtigen, und andere, die bereits Erfahrung mit den brachialen und dummdreisten Verhörmethoden der hiesigen Behörde gesammelt haben, ergänzen vorsorglich, dass die Schmier die Leute mit allen Mitteln einzuschüchtern versuchen werde, um sie gefügig, also gesprächig zu machen. Sie gehe dabei mit System vor: Sie drohe und schmeichle im Wechselgesang, mal so, mal so, verspreche allerhand, was sie nachher niemals einhalten würde. Man sollte also gefälligst auf all die schäbigen Tricks gefasst sein und auf plumpe Angebote ja nicht hereinfallen, denn darauf müsse man morgen unbedingt ein Auge werfen und deshalb kategorisch alles abstreiten, was einem jemals angehängt werden soll. Man dürfe bei der ganzen Sachlage nicht vergessen, dass man als Teilnehmer einer bewilligten Demonstration nichts Illegales getan habe, also nichts Strafbares, auch nichts Verbotenes, nichts Unerlaubtes und gewiss nichts Verwerfliches. Die Polizei allerdings schon, und wie!

Man habe nur gegen den faschistischen Militärputsch in Griechenland protestiert und demonstriert, das sei alles, wiederholt man immer wieder, um sich gegenseitig Mut zu machen. Das sei gestattet, das sei Verfassungsrecht; jedermann habe das Recht zu demonstrieren, das gehöre ganz selbstverständlich zur Versammlungsfreiheit und zur Meinungsfreiheit und somit auch zur Redefreiheit, das seien seit bald hundert Jahren verfassungsmäßig festgehaltene Menschenrechte, die auch hier bei uns gälten, zumindest theoretisch, also sogar in diesem unseren politischen Klima der behördlich verordneten Repression und des polizeilich überwachten Duckens und Stillehaltens, des kriminellen, administrativen Versorgens und verordneten Verlochens, des typischen, politisch motivierten Totschweigens und des wirtschaftlich bedingten Kriechens, Schleimens, Arschleckens und Katzbuckelns, das hierzulande und ganz besonders in Bern derart heftig grassiere und längst zu einem typischen Charakterzug dieses korrupten Landes geworden sei.

Einige werfen ein, dass diese idiotischen Vorwürfe, von wegen Moskau und so, ja so oder so an den Haaren herbeigezogen seien, das wisse doch jeder; das könne man doch gar nicht ernst nehmen. Niemand sei hier im Dienste des Kommunismus oder werde gar von Moskau bezahlt und solcherlei Blödsinn, den man immer wieder höre und lese; das seien ja bloß die politischen Ammenmärchen der bürgerlichen Angstmacher, das seien die freisinnigen Albträume und die feuchten Wunschträume einer bürgerlichen und immer noch deutlich faschistoid geprägten Mehrheit, die man doch längst durchschaut habe, denn davon habe man ja von klein auf mehr als genug gehört, und daran glaube doch gewiss kein Schwein mehr in diesem Land.

So gehen all die gewagten Behauptungen, die waghalsigen Meinungen und die aufklärerischen Gespräche unter den jungen Leuten gemächlich hin und her, doch wiederum muss man ernüchtert einsehen, dass selbst die abenteuerlichsten Grundsätze, die halsbrecherischsten Aufgliederungen und auch die kühnsten Behauptungen kaum jemanden noch wirklich zu interessieren vermögen. Die jungen Leute sind einfach müde, sorgen sich um die durchaus verständliche Ängstlichkeit ihrer Eltern, haben Hunger und Durst und wollen baldmöglichst möglichst unbehelligt nach Hause gehen können – das ist verständlicherweise alles. Mehr wollen sie gar nicht, zumindest nicht heute.

Auch Schöbe will das. Er hat sich noch nie sonderlich für Politik interessiert, auch wenn er damals in Schweden zu seiner beträchtlichen Überraschung selbst als gewöhnlicher Zeitungsleser und TV-Konsument weitaus umfassendere und bessere Informationen über das Weltgeschehen erhalten hat, als man hierzulande aufgrund der unglaublich engen und vorwiegend nationalistisch geprägten Weltsicht jemals erhalten könnte, also um Klassen bessere Informationen und weitaus klügere Analysen und Kommentare, als er jemals hier in der biederen Schweiz gehört hat. Doch nur allmählich erkennt Schöbeli diese blamable Tatsache angesichts der zahllosen politischen Tabus, unzähligen moralischen Hemmnisse, massenhaften kulturellen Hindernisse, ungezählten wirtschaftlichen Verbote und legalistisch angehauchten Gebote, unermesslichen geistigen Behinderungen und politischen Bevormundungen, also angesichts all der unerschöpflichen Beeinflussungsversuche, ängstlichen Behinderungen und Verhinderungen im Banne vieler einschränkender Hindernisse und sonstiger unergründlicher Einengungen und konstanter Drohungen aller Art in diesem geistig so engbrüstigen und engherzigen Land. Es lässt im Grunde genommen nur eine einzige, allerdings sehr verdächtige Ansicht gelten, nämlich die „schweizerische“ – was immer das sein mag. Aber „Der schweizerische Standpunkt“ ist der Einfachheit halber ausschließlich mit dem rechtsbürgerlichen Standpunkt gleichzusetzen, denn das ist in jedem Falle einzig, eindeutig und ausschließlich die bürgerliche Version des politischen Geschehens; das muss Schöbe nach seiner schwedischen Erfahrung unumwunden eingestehen, eine ausnehmend unbefriedigende Lesart, eine viel zu kurz geratene Auffassung und eine viel zu kurz geschorene Version eines spürbar geschrumpften Weltbildes und eines deutlich verkürzten Vorstellungsvermögens ohne richtige Informationshintergründe, ohne wichtige, informelle Ausführungen, das zudem seit den Nazizeiten immer noch einen verdächtig braunen Anstrich hat.

Nur Ruiz und dem Zwerg zuliebe habe er heute Nachmittag mitgemacht – das sei alles, redet er sich jetzt verärgert ein. Man habe ihn gestern Mittag dazu überredet, entschuldigt er sich, denn für ihn persönlich ist Politik eigentlich etwas von der eher abstoßenden Art, also etwas, das ganz tief im Schlamm der Geschichte, im Sumpf der Gegenwart und im Dreck der Zukunft einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht von Schmierfinken zu Hause sei und wo man sich, sobald man sich damit nur entfernt zu beschäftigen trachte, bestenfalls schmutzige Hände oder schlimmstenfalls eine üble Seuche hole. So jedenfalls sieht es Schöbes Vater, und so sieht es eigentlich auch der unpolitische Germanistikstudent in seinem letzten, in seinem vierzehnten Semester. Er habe leider kein so ausgeprägtes politisches Bewusstsein wie sein stets aufbrausender Freund Ruiz, meint er jeweils entschuldigend, wenn er danach gefragt wird.

Der gestrige Nachmittag ist in seinen Augen somit nur ein dummer Ausrutscher gewesen, und genau diese blamable Tatsache bereut er jetzt, mitten in der Nacht, zutiefst und bitterlich, denn er müsste eigentlich längst wieder an seinen umfangreichen Prüfungsarbeiten sitzen und nahezu endlos richtig abseitige germanische Vokabeln aus dem Früh-, Hoch- und Spätmittelalter büffeln. Ganze Nachschlagewerke hat er seinen Professoren zuliebe wie ein Bekloppter auswendig zu lernen, etwa so, wie einige Patienten in der Waldau oder in Münsingen zwanghaft den gesamten SBB-Fahrplan oder das ganze Telefonbuch der Stadt Bern auswendig lernen müssen, einzig aus einem inneren Zwang heraus, dem sie nicht widerstehen, noch ausweichen können.

Er aber, also Schöbeli, fragt sich dabei nicht einmal, warum das so ist und offenbar sein muss. Es sei nun mal so; es sei halt so, wie es ist, und fertig.

So einer ist er, unser Schöbeli, brav bis in die Knochen. Keine einzige fundamentale Frage stellt er sich als wackerer und folgsamer Student in Tat und Wahrheit; er will da nur noch durch, einzig durch, wie der Soldat im Stacheldraht, das ist alles, was er will, er will sich nur noch durchkämpfen, sonst nichts, und er schaut dabei weder nach links, noch nach rechts, denn er will zu guter Letzt nach einer anspruchsvollen und vor allem viel zu langen Ausbildung zum staatlich anerkannten Germanisten einen einträglichen Beruf zu ergreifen in der Lage sein; er will zu diesem Behufe abschließend ein amtliches Papier vorlegen können, ein beschissenes Diplom oder was es auch immer sein wird, eine bekackte universitäre Lizenz also, eine amtliche Befähigung meinetwegen, eine staatliche Bescheinigung, einen eidgenössisch anerkannten Fähigkeitsausweis, nur um endlich ausreichend Geld verdienen und seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können.

Das sei alles. Ist denn das zu viel verlangt? Ist das übertrieben? Ist das vielleicht unstatthaft? Ein zu hoher Anspruch gar? Das kann doch nicht sein?

Natürlich bedauert er die Ereignisse in Griechenland, wie alle anständigen Leute, das versteht sich von selbst, und ganz besonders bedauert er die anständigen Griechen, die jetzt von ihren blutigen Häschern gejagt, gequält und getötet werden, das ist selbstverständlich. Dieses Mitfühlen gehört sich einfach, das spürt er tief in sich drinnen, ohne dass ihn jemals jemand darauf hingewiesen hätte. Die Opfer der Junta sind ausnahmslos anständige Leute, die jetzt dort unten wahllos verfolgt und verhaftet werden, das ist ihm klar, ausgerechnet in der Wiege der Demokratie, und dass man ihnen irgendwie helfen muss, dass man sie unterstützen muss, dass man sie wenn möglich wieder aufrichten und in ihrer tapferen Haltung bestärken und bekräftigen muss, dass man sie also irgendwie solidarisch mittragen muss, dass man ihnen, so gut es eben geht, beistehen muss, ist Schöbe durchaus klar, und dagegen kann er gewiss nichts einwenden, nur: Was hat er, der kleine Schöbeli aus Guggisberg, Kanton Bern, aufgewachsen in der hinteren Länggasse bei seinen Eltern, gegenwärtig wohnhaft im Monbijou, also im Mattenhof, eigentlich damit zu tun? Er ist noch nie in Griechenland gewesen, noch hat er sich jemals für Griechenland sonderlich interessiert.

Nicht einmal für das antike Griechenland hat er sich damals warmmachen können, obwohl man ihn bereits im Progymnasium in viel zu langen und äußerst langweiligen Geschichtsstunden überaus ausführlich darauf hingewiesen hat, dass das antike Griechenland die Wiege unseres ganzen Denkens sei. „Wir denken griechisch“, hat sein Geschichtslehrer im Progymnasium immer wieder betont, etwas, was er damals noch gar nicht verstehen konnte, denn damals war ihm noch nicht bewusst, wie und was man so denkt im Leben, und das, was er damals dachte, war ganz bestimmt nicht griechisch.

Die wilde Gruppe „Revolutionärer Aufbau“ – andere behaupten, sie nenne sich jetzt „Revolutionärer Aufbruch“ – bestehend aus drei sehr jungen, ziemlich entschlossen wirkenden und scheinbar zu allem bereiten, trotz ihres jugendlichen Alters bereits vollbärtigen Personen, die zudem alle persönlich in der Turnhalle anwesend sind, schlägt den schläfrigen Anwesenden ernsthaft einen gemeinsamen Hungerstreik vor, beginnend ab jetzt, mit ungewissem Ausgang und mit der Bereitschaft zum Sterben, versteht sich. Sie erntet jedoch nur Gelächter, weil es hier eh nichts zu essen gibt, nicht einmal zu trinken, obschon alle Anwesenden deutlich hörbar Hunger und Durst anmelden. Man schlägt der Gruppe im Gegenzug vor, sie solle doch lieber für Pizzas sorgen, oder zumindest für einige Hot Dogs oder fette Fritten aus der EPA, und einer will gar ein komplettes Menu geliefert bekommen, am liebsten aus dem nahegelegenen „Schweizerhof“, aber ohne zu bezahlen. Auch er erntet Gelächter.

Schöbe aber sollte dringend Wasser lassen, aber daran hat hier und heute in dieser ungewohnten Situation niemand gedacht, denn alle Ausgänge sind verrammelt und definitiv abgeschlossen, und auf sein anhaltendes Klopfen reagiert niemand, denn die beamteten Bewacher der unrechtmäßig Verhafteten haben, pünktlich wie immer, also um genau achtzehn Uhr null-null, Feierabend gemacht und sind angeblich unverzüglich nach Hause zu ihren Liebsten gegangen; so geht zumindest das Gerücht.

Die winzige „Sozialistische Studentenfraktion“, die mit ihren zwei Mitgliedern ebenfalls vollzählig anwesend ist, will auf der Stelle eine solidarische Geldsammlung für darbende, bedürftige und mittellose Demonstranten durchführen. Doch man wirft ein, dass hier doch nahezu alle darbend, bedürftig und mittellos seien, und die „Sozialistische Studentenfraktion“ könne ihr Geld somit am besten gleich hier drinnen verteilen. Man lacht ausgelassen über diese Wortmeldungen.

Der „Kommunistische Jugendverband“, vollzählig vertreten durch drei dünne, bescheidene Lehrlinge aus den Städtischen Lehrwerkstätten, die offenbar trotz ihrer offensichtlichen Schüchternheit keinerlei Hemmungen kennen, wollen „als politisch motivierte Protestaktion“ ganz einfach die alte Turnhalle anzünden. Doch alle anderen Anwesenden haben berechtigte Angst vor unabsehbaren Folgen; man sei ja hier selbst eingeschlossen und könnte einem Feuer nicht einmal entkommen. Man findet diese Idee deshalb erschreckend debil, weil sie buchstäblich selbstmörderisch angelegt sei, und Selbstmord sei eindeutig konterrevolutionär. Aber einige besonders kecke Leute beginnen trotzdem, Papier, Karton und allerlei Stoffresten zu verbrennen, doch der dichte Qualm wird bald einmal derart unangenehm, dass sofort nach der Feuerwehr gerufen wird. Ein paar Mutige bieseln über den kokelnden Haufen beim Eingang und können ihn auf diese Weise zum Glück rechtzeitig löschen, aber danach riecht es in der ganzen Halle eine Weile tierisch übel, und man muss schleunigst alle Oberlichter weit öffnen, um frische Luft zu bekommen.

Das sei nun keine gute Idee gewesen, diese bescheuerte Selbstverbrennungsaktion, finden die Eingeschlossenen einhellig und recht empört, so dass der „Kommunistische Jugendverband“ seinen Vorschlag ganz offiziell zurückzieht und die Anwesenden um Entschuldigung bitten muss.

Die biedere „Sozialdemokratische Hochschulgruppe“, die sich ansonsten vorwiegend mit Babynahrung und der Verkaufsstrategie der Chemiekonzerne in der Dritten Welt befasst, sowie mit der allgemeinen Trinkwasserversorgung in den Wüsten und in den Tropen, mit dem Export von Rüstungsgütern nach Saudiarabien und mit dem Leben der Grasfrösche im Seeland und anderswo, möchte im Stadtrat eine Protestpetition einreichen, die zuvor alle Anwesenden zu unterschreiben hätten. Aber die sechs jungen, durchaus ernsthaften Sozialdemokraten werden von allen andern prompt als Idioten angesehen, wie immer; man wolle doch einer schadenfreudigen Öffentlichkeit nicht freiwillig die Namen der Verhafteten preisgeben?

Einige Spaßmacher wünschen dringend, nach Leros, nach Gyaros oder nach Gyoura versetzt zu werden, auf die Inseln der griechischen Konzentrationslager, zu den darbenden griechischen Genossen, um ihnen vor Ort beizustehen. Nur das wäre echte Solidarität, finden sie selbst. Aber sie stehen mit ihrer Meinung allein da; man verwirft den Vorschlag als undurchführbar, zudem ist heute keiner für eine Ferienreise ins Ungewisse zu haben.

Einige Spontis zerren die vielen Turngeräte hervor, diese Folterwerkzeuge für kleine, unschuldige Buben, und stellen sie überall in der Halle auf, als begänne soeben eine typisch qualvolle und überaus langweilige Turngeräte-Turnstunde, also ein äußerst schrecklicher Kunstturnerkrampf, eine schmerzvolle Gerätequal und ein fürchterliches Gymnastikelend. Einige Kecke beginnen tatsächlich, ungeschickt an den eher zufällig aufgestellten Geräten herumzubaumeln, aber man sieht sofort und deutlich, dass sie keine begabten Kunstturner sind. Sie haben aber trotzdem Spaß an ihren Kapriolen und somit etwas Zerstreuung, und dies ist im Moment wohl das wichtigste überhaupt: Ablenkung.

Schöbe aber muss immer dringender pissen. Doch alle Ausgänge bleiben fest verschlossen, und niemand antwortet auf sein verzweifeltes Klopfen. Er hastet gekrümmt von Tür zu Tür, während die andern munter an den Geräten herumturnen und einander Kunststücke vormachen. Schöbe darf gar nicht hinsehen, wie sie an den Ringen plampen, sonst muss er gleich in die Hose brunzen.

Doch bald einmal schiebt man die sperrigen Turngeräte gelangweilt in ihre Geräteräume oder in ihre Ecken und somit in ihre angestammten Ruhepositionen zurück, und einer schnappt sich einen Ball. Es werden mehrere Mannschaften gewählt, denn man will Völkerball spielen; ein richtiges Völkerball-Turnier ist angesagt.

Schöbe hat inzwischen einen offenen Schrank mit lauter fetten, schweren Medizinbällen gefunden und pisst lange und erleichtert hinein, bieselt gleich literweise über all die medizinischen Lederbälle hinweg, mittels derer die dünnen Knirpse ihre Bizepse zu Kruppstahl stählen müssen, denn auch sie sollen später einmal zäh wie Leder und schnell wie Windhunde werden; dieses Thema hat sich hierzulande noch lange nicht von selbst erledigt. Dazu erklärt er sich auf Anfrage bereit, in der Mannschaft mit der „Sozialdemokratischen Hochschulgruppe“ mitzumachen, mit der niemand sonst spielen will, weil unter den echten, also den harten Revolutionären die Sozialdemokraten in der Regel mit Verachtung gestraft werden müssen und als politische Weicheier gelten – warum auch immer. Schöbe indes findet sie sympathisch, diese ernsthaften und schüchternen Musterstudenten, wenn auch leicht verklemmt und im Großen und Ganzen ein bisschen dämlich – genau wie er selbst.

Ruiz und der Zwerg schauen dem rasanten Völkerballspiel eine Weile gelassen zu, das zudem immer lauter und intensiver wird. Man merkt jedoch bald, dass es einen neutralen Schiedsrichter braucht, der die richtigen und somit die gerechten Entscheide fällen kann und die ständig aufflammenden, unschönen Auseinandersetzungen über die korrekte Interpretation und die richtige Auslegung der allgemein verbindlichen Völkerball-Regeln, beziehungsweise Völkerschlacht-Regeln schlichtet oder am besten gleich beendet. Ruiz stellt sich nach einigem Zögern als Schiedsrichter zur Verfügung, denn er hat in einem kleinen Schrank tatsächlich eine Trillerpfeife gefunden. Aber er will ausdrücklich nicht neutral sein, sondern Partei ergreifen, erklärt er den beiden überraschten Völkern gleich zu Beginn. Er sei als wahrer Anarchist für die Völker und gegen die Regeln, das müsse man einfach respektieren. Also gut; man akzeptiert achselzuckend seine recht ungewöhnliche Haltung, aber sie scheint den Leuten irgendwie einzuleuchten, gerade im Völkerball, auch wenn niemand genau sagen kann, warum und wozu und wie und was damit eigentlich gemeint sei. Man munkelt dazu nur sibyllinisch: „Ein echter Schiedsrichter muss nun mal für das Volk Partei ergreifen; das ist seine Pflicht.“

Das klingt in der Tat gut, besonders hier, besonders jetzt, beim Völkerball also, wo zwei richtig bekackte Völker aufeinander losgelassen werden sollen, wenn auch nur innerhalb ihrer winzigen Begrenzungen. Doch niemand weiß mit Sicherheit zu analysieren, was für bescheuerte Völker damit in Wirklichkeit gemeint sind und ob das für diese beschissenen Völker überhaupt gut sei, so ein vernichtender Volkskrieg, oder nicht, denn am Schluss gibt es ja jeweils weder einen Geländegewinn, noch fette Beute – nur Tote überall am Rande des kriegerischen Geschehens. Wie immer.

Aber was wollen Sie? Das wird sowieso immer so bleiben; das können wir drehen und wenden, wie wir wollen. Die Völker selbst werden nie gefragt, ob sie sich eventuell vernichten lassen möchten, ja, ob sie überhaupt Völker sein wollen, ob sie vielleicht Länder oder Nationen gar zu sein wünschen, oder, viel schlimmer noch, „Vaterländer“. Nein, derart pervers denkt kein normales Volk, denn die Völker an sich sind ja nicht bekloppt; diese Begriffe sind in der Tat nichts als bürgerlicher Schrott und Moder aus dem neunzehnten und ultrafaschistischer Scheißdreck aus dem zwanzigsten Jahrhundert.

Nach den vielen lauten und bewegten Spielen sind alle müde und eigentlich recht niedergeschlagen, wenn man sie scharfäugig beobachtet. Die alte Turnhallenuhr zeigt vier; man liegt jetzt still und beklommen auf den schweren, braunen Ledermatten herum, und einige Leute sind schon wieder eingeschlafen. Die meisten fragen sich, was wohl heute – es ist ja bald Morgen – auf sie zukommen werde. Andere beschwichtigen erneut und immer wieder wie in einem alten Sermon: Die Polizei habe nichts in den Fingern, die Demo sei legal gewesen, und alles sei auf Seiten der Teilnehmer korrekt abgelaufen – außer der brutale Polizeieinsatz, versteht sich. Der jedoch sei augenscheinlich und ganz offensichtlich illegal gewesen; das lässt sich nicht schönreden. Immerhin hat sich der Schrank mit den Medizinbällen als praktisches Pissoir herumgesprochen; alle nutzen ihn mittlerweile als improvisierte Vespasienne, außer die wenigen jungen Frauen, die anwesend sind, das ist verständlich. Die pissen lieber in den dunklen Geräteraum, irgendwo hinter die Pauschenpferde, wo sie niemand sehen kann, und zwar direkt auf den Boden, faute de mieux. Der sozialdemokratische Schulhausabwart, ein stadtweit bekannter Wüterich, wird toben.

Die Verhöre an nächsten Morgen sehen alle gleich aus, verlaufen alle ähnlich banal und sind eigentlich überaus kurz, erstaunlich beiläufig und de facto völlig überflüssig. Man hat es auf Seiten der Polizei deutlich eilig, die unbequemen, jungen Leute endlich loszuwerden, je schneller, desto besser; man möchte die Wahnsinnigen also ohne weiteren Ärger so rasch wie möglich entlassen können und loswerden, bevor die cleveren Anwälte der Kinder reicher Eltern auftauchen und furchtbare Drohungen ausstoßen. Monatelange, hässliche Auseinandersetzungen und üble Konflikte mit der strengen Schulleitung und der unnachgiebigen Schuldirektion wegen der ungeplanten und unangekündigten Turnhallennutzung und dem zuvor natürlich nicht abgesprochenen, also nicht überlegten, noch korrekt ausgearbeiteten, noch bewilligten und und schon gar nicht offiziell genehmigten Turnhallenendreinigungsverfahren, also nach dem abschließenden und obligatorischen Übergabeverlauf und dem ordentlichen, amtlichen Rücknahmeprozedere bei Schlüsselübergabe bahnen sich an und drohen schon von ferne unheilvoll in der wenig versprechenden Gestalt des jetzt endgültig übergeschnappten Schulhausabwarts und berüchtigten Parlaments-Abgeordneten mit den allermeisten sinnlosen Eingaben des Jahrhunderts, der schon jetzt nahe am finalen Durchknallen zu stehen scheint, und dies ist für die örtliche polizeiliche Ordnungsmacht ganz generell eindeutig gravierender und weitaus schlimmer als geheime russische Zahlungen, kubanische Infiltrationen oder verdeckte chinesische Spione, das steht schon mal fest.

Trotzdem werden einige besonders renitente Leute gleich zwei- oder sogar dreimal drangenommen. Ein kleiner, viereckiger Tisch, drei Stühle, eine altertümliche Schreibmaschine der Marke Remington, ein Tischtelefon an einem ellenlangen Kabel, zwei ausgesprochen streng blickende Beamte und ein müder, ungewaschener Demonstrant im langen, kahlen und muffigen Korridor zwischen den Umkleideräumen, der ad hoc zum Verhörraum umfunktioniert worden ist, und immer wieder dieselben, ermüdenden Fragen: Name? Adresse? Alter? Heimatort? Beruf? Schule? Verbindungen? Politische Ziele? Absichten? Finanzen? Kontakte? Mitgliedschaften? Geheime Pläne? Geheime Drahtzieher? Geheime Maulwürfe? Geheime Agenten fremder Mächte?

Gleich der erste zu verhörende und extrem verdächtige Demonstrant erklärt den überraschten Beamten ganz ernsthaft, er heiße Karl Marx, und sein revolutionärer Deckname sei Friedrich Engels. „Engels, wie mit Engelszungen“, präzisiert er freundlich. Er habe seinerzeit das „Kommunistische Manifest“ geschrieben und sei damit gleich in die Weltgeschichte eingegangen. Ob sie dieses wahrhaft umwerfende Stück deutscher Literatur schon mal gelesen hätten? Nein? Tatsächlich nicht? Das könne doch nicht sein? Das müssen sie unbedingt nachholen, meint er vertrauensvoll, und wenn sie dazu Fragen hätten, dürfen sie sich zuversichtlich an ihn, den Verfasser selbst, wenden. Er stehe ihnen gerne weiterhin zur Verfügung, denn er habe viel Zeit, und er habe es gewiss nicht eilig. Sein nächster Termin sei die kommunistische Revolution in der Schweiz, und das könne noch einige Wochen dauern.

Die beiden zutiefst erschrockenen Vernehmungsbeamten, die nach einer erfrischenden Dusche, frischer Unterwäsche und einem ausführlichen Frühstück mit Birchermüesli und warmer Ovomaltine noch kaum mit dem Nachdenken haben anfangen können, sind schon nach diesem ersten fehlgeschlagenen Verhör bereits ziemlich unschlüssig geworden, ob ihre polizeiliche Aufgabe überhaupt angemessen sei und einen höheren Sinn habe. Richtig demotiviert sind sie bereits jetzt, noch bevor alles angefangen hat, denn heute scheint einfach nicht ihr Tag zu sein; das steht schon mal fest. Wie soll das nur weitergehen, wenn das schon jetzt so verrückt anfängt? Werden sie das angekündigte Verhörkarussell lebend überstehen können? Werden sie heute Mittag gesund und unversehrt aus diesem Irrenhaus nach Hause entfliehen können?

Der nächste langhaarige Demonstrant, der verhört werden muss, behauptet, ohne mit der Wimper zu zucken, er sei nur zufällig auf dem Waisenhausplatz gewesen. Er habe sich vorher einen spannenden Film im Sexkino am Bollwerk drüben angeschaut, das sei alles. „Leichte Mädchen auf Hamburgs Straßen“. Und wie er aus dem intimen Kinodunkel wieder auf die gleißende Strasse hinausgetreten sei, sei um ihn herum bereits die Hölle losgebrochen. Aber diesen Streifen könne er ihnen, den beiden peinlich berührten Beamten, lebhaft empfehlen, denn da gebe es sicher auch für sie etwas Interessantes zu sehen. Er sei nämlich ein zukünftiger Cinéast und wolle an die Filmhochschule in München, um endlich das Filmhandwerk gründlich zu erlernen, was man ja hier in der Schweiz gar nicht machen könne. Die Schweiz sei kinematografisches Ödland und Niemandsland, wie sie vielleicht wüssten. Eine kulturelle Todeszone. Nur deshalb schaue er sich auch die Sexfilme aus rein beruflichem Interesse an, zudem verstehe er etwas von der Sache, vom Sex nämlich. Er selbst sei als praktizierender Sexualist Experte in diesem Fach, wenn auch nur im solitären Handbetrieb, wenn die beiden Ordnungshüter verstünden, was er damit meine. Doch immerhin informiere er sich gründlich in der Sache, und er hoffe, dass auch sie sich gründlich informieren würden.

Der folgende Demonstrant auf dem Stuhl vor dem Tischchen weiß angeblich gar nicht, was hier los ist und worum es überhaupt geht. Er komme aus Zürich und habe sich Bern, ehrlich gesagt, eigentlich ganz anders vorgestellt. Er habe gestern nur seine kranke Großmutter in Bümpliz besuchen wollen, aber wegen dieser Verhaftung habe er sich jetzt um einen ganzen Tag verspätet, und er wisse jetzt gar nicht, ob seine Großmutter inzwischen nicht doch schon verstorben sei. Sie sei seit vielen Jahren bettlägerig und müsse ununterbrochen und intensiv gepflegt werden. Allein deswegen sei er selbst bereits richtig traumatisiert und psychodelisiert, und er behalte sich eine saftige Klage gegen die bernische Polizei wegen dieses psychologischen Polizeiterrors vor.

„Was heißt traumatisiert? Wie schreibt man traumatisiert?“ wird er sachlich gefragt.