Schülerinnen und Schüler mit herausforderndem Verhalten -  - E-Book

Schülerinnen und Schüler mit herausforderndem Verhalten E-Book

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  • Herausgeber: Kohlhammer
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Inklusion und Integration sind die Schlagworte, die die Sonderpädagogik derzeit beherrschen. In der schulischen Praxis verschärfen sich allerdings die Integrations- und Inklusionsfragen angesichts einer wachsenden Schülerpopulation, deren herausforderndes Verhalten Lehrer und Lehrerinnen und andere erzieherisch Tätige zunehmend an die Grenze ihrer Möglichkeiten bringt. Die in ihrer emotionalen und sozialen Entwicklung beeinträchtigten Schüler sind im Schulalltag wie auch im Unterricht ein Problem. Das Buch beschäftigt sich mit der Frage, wie die Schule und damit die Lehrer mit herausforderndem Schülerverhalten umgehen können, und liefert hilfreiches Wissen für die Bewältigung der schulischen Praxis.

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Seitenzahl: 462

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Inklusion und Integration sind die Schlagworte, die die Sonderpädagogik derzeit beherrschen. In der schulischen Praxis verschärfen sich allerdings die Integrations- und Inklusionsfragen angesichts einer wachsenden Schülerpopulation, deren herausforderndes Verhalten Lehrer und Lehrerinnen und andere erzieherisch Tätige zunehmend an die Grenze ihrer Möglichkeiten bringt. Die in ihrer emotionalen und sozialen Entwicklung beeinträchtigten Schüler sind im Schulalltag wie auch im Unterricht ein Problem. Das Buch beschäftigt sich mit der Frage, wie die Schule und damit die Lehrer mit herausforderndem Schülerverhalten umgehen können, und liefert hilfreiches Wissen für die Bewältigung der schulischen Praxis.

Professorin Dr. Kerstin Popp lehrt Verhaltensgestörtenpädagogik am Institut für Förderpädagogik der Universität Leipzig. Andreas Methner ist dort wissenschaftlicher Mitarbeiter.

Kerstin Popp Andreas Methner (Hrsg.)

Schülerinnen und Schüler mit herausforderndem Verhalten

Hilfen für die schulische Praxis

Verlag W. Kohlhammer

Alle Rechte vorbehalten © 2014 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Umschlag: Gestaltungskonzept Peter Horlacher Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart Printed in Germany

Print: 978-3-17-022247-2

E-Book-Formate

pdf:

978-3-17-023849-7

epub:

978-3-17-025621-7

mobi:

978-3-17-025622-4

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Herausfordernde Verhaltensweisen

Subjektorientierung und Kooperative BeratungMonika A. Vernooij & Manfred Wittrock

Herausfordernde Verhaltensweisen in Anbetracht weiterer Förderschwerpunkte

Gestaltungsbedingung der Erziehungshilfe unter integrativen BedingungenKerstin Popp

Herausfordernde Verhaltensweisen im Kontext »geistiger Entwicklung«Saskia Schuppener

Herausforderndes Verhalten im Kontext körperlicher und motorischer EntwicklungIngeborg Hedderich & Jürgen Tscheke

Herausforderndes Verhalten im Kontext sprachlicher EntwicklungMarkus Spreer & Christian W. Glück

Lehreraufgaben konkret – Lehren

Prävention und Integration im Anschluss an den Response-to-Intervention-Ansatz (RTI): Das Rügener Inklusionsmodell (RIM)Bodo Hartke, Kirsten Diehl, Kathrin Mahlau & Stefan Voß

Die Herausforderungen sind mannigfachWalter Schledde & Jörg Schlee

Lernumgebungen erfolgreich gestaltenDiethelm Wahl

Lehreraufgaben konkret – Erziehen

SchoolSoccer®Oliver Rybniker

Wie man durch hundegestützte Pädagogik erzieherische Ziele erreichtViola Liebich

Lehreraufgaben konkret – Beraten

Universitäre Angebote sonderpädagogischer Beratung für die schulische PraxisRoland Stein

Kooperatives CoachingAndreas Methner

Beratung von Menschen mit MigrationshintergrundChrista Thau-Pätz

Lehreraufgaben konkret – Diagnostizieren

Sonderpädagogische Diagnostik in inklusiven SettingsPeter Jogschies

Diagnostik emotional-sozialen Förderbedarfs – inklusive Gutachten?Christian Eichfeld

Lehreraufgaben konkret – Beurteilen

Soziometrie in der SchulklasseAngela Gutschke

Beurteilen von Verhaltensauffälligkeiten im schulischen KontextAndrea Bethge

Lehreraufgaben konkret – Fördern

Evidenzbasierte Förderung emotional-sozialer Kompetenzen zur PräventionThomas Hennemann

Voneinander Lernen!Tobias Hagen, Marie-Christine Vierbuchen & Clemens Hillenbrand

Kooperative FörderplanungConny Melzer

Kunstpädagogische Potenziale im Hinblick auf heterogene SchülergruppenFrederik Poppe & Nora Bernhardt

Autorenverzeichnis

Vorwort

Ein Buch mit dem Titel »Herausfordernde Verhaltensweisen« zu versehen ist eigentlich eine Herausforderung. Jeder hat einen persönlichen Bezug zu diesem Titel. Als theoretisch nicht ganz präzise wird der Begriff im deutschsprachigen Raum betrachtet. Im angloamerikanischen Sprachraum ist er aber durchaus als »challenging behavior« (»herausforderndes Verhalten«) weit verbreitet. Hier werden »herausforderndes Verhalten« und Verhaltensstörung häufig synonym gebraucht: »Any repeated pattern of behavior or perception of behavior that interferes with or is at risk of interfering with optimal learning or engagement with prosocial interactions with peers or adults« (Smith & Fox 2003, zit. n. Nilsen 2010, 143).

Nach Theunissen (2008, 17) stellt die Bezeichnung »herausforderndes Verhalten« grundsätzlich eine Parallelbezeichnung zu den bereits bestehenden Begriffen wie Verhaltensauffälligkeiten, Verhaltensstörung oder Problemverhalten dar. Mit Begriffen wie abweichendes Verhalten aus der Soziologie, seelische Behinderung im SGB, Störung u. a. des Sozialverhaltens und der Emotionen aus dem ICD-10 oder dem Förderbedarf im Bereich des emotionalen Erlebens und sozialen Handelns der KMK haben wir weitere Versuche, ein Phänomen zu erfassen, das ein »von den zeit- und kulturspezifischen Erwartungsnormen abweichendes maladaptives Verhalten« (Myschker 2008, 49) beschreibt. Die skizzierte Begriffsvielfalt könnte (fast) beliebig erweitert werden. Die begrifflichen Fassungsversuche unterscheiden sich zunächst, wie bei den aufgezeigten Beispielen deutlich wird, durch die Fachrichtung, in der sie gebräuchlich sind (vgl. Mutzeck 2000, 15). Werden die einzelnen Bereiche in sich detaillierter betrachtet, wird offensichtlich, dass weitere Begrifflichkeiten synonym nebeneinanderstehen. So sind neben dem KMK-geprägten Begriff des Förderbedarfs der emotionalen und sozialen Entwicklung Begriffe wie Verhaltensstörung, Verhaltensauffälligkeit, Gefühls- und Verhaltensstörung derzeit im schulischen Bereich gebräuchlich. »Begriffe könnte man als unwichtig abtun, aber sie sind ein Ausdruck des dahinter stehenden Denkens und Verstehens – und sie wirken unter Umständen auf das Verständnis dessen, was der Begriff bezeichnet, zurück« (Stein 2002, 5). Damit einhergehend unterliegt nicht nur das zu beschreibende Verhalten selbst einem zeitlichen Faktor, sondern der gewählte Begriff für die Abweichung in gleicher Weise.

Trotz dieses Risikos wurde der Begriff bewusst gewählt! Denn sie fordern uns heraus, die Kinder und Jugendlichen, die mit unterschiedlichsten Handlungsabläufen reagieren. Herausforderung ist positiv und negativ belegt. Führt man sich vor Augen, dass das TV-Format »Die strengsten Eltern der Welt« auf einen Marktanteil von 7,7 % und mehr bei der Zielgruppe der 14- bis 49-jährigen Zuschauer kommt (vgl. Quotenmeter GmbH) und der Suchbegriff »Erziehungsratgeber« bei dem Online-Warenhaus Amazon mit 11 288 Ergebnissen generiert wurde (12. 09. 11), wird die Beschäftigung mit der Problematik deutlich. Offensichtlich ist das abweichende Verhalten von Kindern und Jugendlichen für viele Erwachsene ein ernst zu nehmendes Thema. Diese als abweichend wahrgenommen Verhaltensweisen stellen (meist) zunächst nur aufgrund ihrer Komplexität und ihres Schweregrades noch keine Verhaltensstörung dar. Diese Kinder und Jugendlichen bringen uns an die Grenzen unserer Belastbarkeit, aber sie fordern uns auch, fordern uns, nach neuen Wegen und Inhalten zu suchen. Mit der Bezeichnung »herausforderndes Verhalten« wird eine Ressource geschaffen, da diese eine positive Konnotation hervorruft (vgl. u. a. Theunissen 2008, 17; Stein 2011, 324) und damit diese Verhaltensweisen eine neue Bewertung erhalten (können). Im Kontext von Beratungstheorien würde bei diesem Vorgehen von »Reframing« gesprochen werden (vgl. Stumm & Pritz 2009, 587). »Oft nimmt das Leiden unter der Problematik alleine durch diese Umdeutung stark ab« (Büttner & Quindel 2005, 131) und Widerstände können überwunden werden (vgl. Miebach 2010, 135 f.). Gleichzeitig können Etikettierungsprozesse, durch stigmatisierende Begrifflichkeiten wie Verhaltensstörung, frühzeitig unterlaufen werden (vgl. Mühl 2009, 7).

Diese Ressource im Hinterkopf, wird in einem ersten Teil des vorliegenden Buches näher auf den Begriff der »herausfordernden Verhaltensweisen« in unterschiedlichen sonderpädagogischen Kontexten eingegangen werden. Die Einleitung bildet ein Aufsatz von Vernooij & Wittrock, die den Begriff des herausfordernden Verhaltens aufgreifen und nach den Veränderungen auch unter inklusiven Bedingungen suchen. In der neuen Herausforderung für die Kooperative Beratung haben sie einen möglichen Anknüpfungspunkt gefunden und geben einen Ausblick auf die Herausforderung an die Sonderpädagogik, an die Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen.

Im nachfolgenden Abschnitt wird das herausfordernde Verhalten im Blickwinkel unterschiedlicher sonderpädagogischer Professionen betrachtet. Der Beitrag von Kerstin Popp knüpft direkt an die Überlegungen von Monika A. Vernooij und Manfred Wittrock an, indem die Entwicklungen auf dem Gebiet der Pädagogik bei Beeinträchtigungen der emotionalen und sozialen Entwicklung und die Herausforderungen im inklusiven System beleuchtet werden. Es folgen Betrachtungen zu herausforderndem Verhalten im Kontext der geistigen Entwicklung (Saskia Schuppener), der körperlichen und motorischen Entwicklung (Ingeborg Hedderich & Jürgen Tscheke) sowie der sprachlichen Entwicklung (Markus Spreer & Christian W. Glück). Die Beiträge zeigen, dass diese Erscheinung in allen Förderschwerpunkten präsent ist, aber auch die unterschiedlichen Sichtweisen auf die Problematik.

Was wäre ein Buch über herausforderndes Verhalten, das nicht auch auf den konkreten Umgang mit diesen Verhaltensweisen eingehen würde? Dies kann natürlich nur exemplarisch geschehen. Grundlage der weiteren Themen bilden die klassischen Kompetenzen der Lehrertätigkeit: Lehren, Erziehen, Beraten, Diagnostizieren, Beurteilen, Fördern und Innovieren. Um diese Kompetenzbereiche gruppieren sich die nächsten Beiträge.

Unter der Überschrift Lehren wird ein Konzept (einer) integrativen und präventiven Grundschule vorgestellt (Bodo Hartke, Kirsten Diehl, Kathrin Mahlau & Stefan Voß), an die klassischen Aufgaben des Lehrenden erinnert (Walter Schledde & Jörg Schlee und Diethelm Wahl).

Zum Komplex Erziehen stellen sich zwei alternative Angebote vor: das School-Soccer® (ein Fußballprojekt an Berliner Schulen von Oliver Rybniker) und die hundgestützte Pädagogik, das Team Lehrer-Hund (Viola Liebich).

Unter dem Aspekt Beratung werden Beratungsangebote für die schulische Praxis (Roland Stein), die Möglichkeiten des Kooperativen Coachings (Andreas Methner) und die Besonderheiten der Beratung bei Menschen mit Migrationshintergrund (Christa Thau-Pätz) herausgegriffen.

Kann man herausforderndes Verhalten diagnostizieren? Wie erfolgt Förderdiagnostik in der integrativen Förderung (Peter Jogschies und Christian Eichfeld)?

Unter dem Aspekt des Beurteilens geht Angela Gutschke auf die Arbeit mit Soziogrammen ein und Andrea Bethge auf die Vielfältigkeit der Situationen im schulischen Kontext.

Spezielle Förderansätze stehen im Mittelpunkt des nächsten Abschnitts. Im Überblick bei Thomas Hennemann, als spezielles Programm bei Tobias Hagen, Marie-Christine Vierbuchen & Clemens Hillenbrand, im Sinne der Förderplanung bei Conny Melzer und noch einmal als spezielles Angebot bei Frederik Poppe & Nora Bernhardt.

Auch wenn die große Mehrzahl der Autorinnen und Autoren Sonderpädagogen sind, ist das vorliegende Buch nicht nur für Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen gedacht, sondern auch und vor allem für Regelschullehrerinnen und -lehrer, die nach Anregungen und Antworten auf ihre Fragen im täglichen Umgang mit herausforderndem Verhalten suchen. Wir danken den Mitautoren für ihre Beiträge und wünschen, dass die Verfahren und Methoden dem Leser viele Anregungen, Ideen und Inspirationen liefern.

Wir danken Frau Marie Pichert, Herrn Christian Müller sowie Herrn Marcus Schmalfuß für die Formatierung, das Korrekturlesen der Beiträge sowie für die Illustrationen. Last but not least danken wir dem Lektor des Kohlhammer Verlages Herrn Dr. Klaus-Peter Burkarth für die stete und gute Begleitung.

K. Popp & A. Methner

Literatur

Büttner, C. & Quindel, R. (2005): Gesprächsführung und Beratung. Sicherheit und Kompetenz im Therapiegespräch. Heidelberg.

Miebach, B. (2010): Soziologische Handlungstheorie. Eine Einführung. 3. Aufl., Wiesbaden.

Mühl, H. (2009): Vorwort zur deutschen Ausgabe. In: Heijkoop, J.: Herausforderndes Verhalten von Menschen mit geistiger Behinderung. Neue Wege der Begleitung und Förderung. Weinheim, München, 7–9.

Mutzeck, W. (2000): Verhaltensgestörtenpädagogik und Erziehungshilfe. Bad Heilbrunn.

Myschker, N. (2008): Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Erscheinungsformen – Ursachen – Hilfreiche Maßnahmen. 6. Aufl., Stuttgart.

Nilsen, B. A. (2010): Week by Week. Plans for Documenting Children’s Development. Belmont.

Stein, R. (2002): Pädagogik bei Verhaltensstörungen. Studienbrief Katholische Erwachsenenbildung Rheinland-Pfalz – Landesarbeitsgemeinschaft. Ohne Ort.

Stein, R. (2011): Pädagogik bei Verhaltensstörungen – zwischen Inklusion und Intensivangeboten. In: Zeitschrift für Heilpädagogik, 62 (9), 324–337.

Stumm, G. & Pritz, A. (2009): Wörterbuch der Psychotherapie. Wien, New York.

Theunissen, G. (2008): Positive Verhaltensunterstützung. Marburg.

Herausfordernde Verhaltensweisen

Subjektorientierung und Kooperative Beratung

Monika A. Vernooij & Manfred Wittrock

1 Einleitung

Angesichts der kontinuierlich steigenden Anzahl von Kindern und Jugendlichen mit teilweise gravierenden Verhaltensstörungen bereits im Vorschul- und Primarstufenalter müssen sich die Vertreter einer wissenschaftlichen Pädagogik bei Verhaltensstörungen fragen:

Woran liegt es, dass es uns nicht einmal gelungen ist, die langsame Erosion der kindlichen Psyche zahlenmäßig wenigstens auf dem Level der 80er- und 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts zu halten?

Wäre es nicht eigentlich unsere Aufgabe, Konzepte zu entwickeln, die den Zerstörungsprozess der Psyche bei einem zunehmend größeren Teil unserer Kinder aufhalten, ihnen effektiv-präventiv entgegenwirken könnten?

Befassen sich die Fachvertreter eigentlich wirklich mit dem, was bei Beeinträchtigungen

bzw.

Störungen der emotionalen und sozialen Entwicklung wesentlich ist?

Die Beantwortung dieser Fragen ist sicher sehr komplex. Sie reicht

vom sozialpolitischen Mainstream der Liberalisierung und Bagatellisierung von Fehlverhalten einerseits, der Kriminalisierung und/oder Medizinisierung von entwicklungsbedingten Verhaltensweisen andererseits,

über die Ignorierung oder Negierung menschlicher Grundeigenschaften, wie Aggression,

bis hin zur Euphemisierung (wie »originelles«

bzw.

»herausforderndes Verhalten«) oder Nicht-Benennung (angeblich um Stigmatisierungsprozesse zu vermeiden) von gravierenden Störungsphänomenen in der (sonder-)pädagogischen Wissenschaft.

Auch das lange vertretene sozialpädagogische Prinzip »Elternschutz vor Kinderschutz« hat zusätzlich über viele Jahre hin professionelle Hilfen erheblich eingeschränkt.

Die immer komplexer werdenden Umwelten, in denen Kinder aufwachsen, führen zur parzellierten Betrachtung von Lebens- und Lernsituationen.

Aber auch die Verschiebung sonderpädagogischer Einstellungen und Ziele und damit verbunden eine teils ideologische Überlagerung der sonderpädagogischen Theorie und Praxis lassen manchmal den Eindruck entstehen, dass die jeweiligen individuellen Schwierigkeiten und Probleme des einzelnen Kindes in den Hintergrund treten und Sonderpädagogen, teilweise gezielt entspezialisiert, zu Erfüllungsgehilfen sozial- und bildungspolitischer oder medizinischer Systeme werden.

Es kann daher nicht verwundern,

dass ursprünglich genuin pädagogisch-psychologische Problemfelder (z. B. Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsstörungen, Lese-Rechtschreib- oder Rechenschwäche) in den Zuständigkeitsbereich der Medizin

bzw.

der klinischen Psychologie übergegangen sind;

dass intensive und professionell hochwertige (sonder-)pädagogische Maßnahmen bei Kindern mit Verhaltensstörungen bestenfalls im Bereich der »Symptombehandlung« verbleiben;

dass die Zahl der Kinder mit Entwicklungsstörungen, insbesondere im kognitiven, emotionalen und sozialen Bereich, kontinuierlich zunimmt. Laut KMK 2010 stieg die Zahl der Schüler mit Störungen in der emotionalen und sozialen Entwicklung (ESE) von 1998 bis 2006 auf mehr als das Doppelte, präzise auf 236 % (1998: 23 488/2006: 55 442);

dass Lehrkräfte in der Schule häufig überfordert sind, nicht, weil sie ihr unterrichtliches Handwerk nicht verstehen, sondern weil sie Kinder in großer Zahl in der Klasse haben, die scheinbar

ohne jedes Regelverhalten,

ohne Einsatzbereitschaft und Ehrgeiz,

ohne Interesse und Motivation für den Unterrichtsstoff

jeden noch so gut vorbereiteten Unterricht sprengen.

Hinzu kommen in den nächsten Jahren bildungspolitische Veränderungen, die bereits heute mehr oder weniger ausgeprägt in den einzelnen Bundesländern eingeleitet wurden:

Grund- und Hauptschulen unterliegen in besonderem Maße dem demografischen Wandel, was bundesweit insbesondere im Sekundarbereich I zu anderen schulorganisatorischen Formen führen wird, z. B. zur Bildung einer »Oberschule« bei Verzahnung von Haupt- und Realschule.

Förderschulen

bzw.

die bisherige sonderpädagogische Erziehung und Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen/Beeinträchtigungen sieht sich bildungspolitisch mit unterschiedlichen Formen der Umsetzung von Art. 24 der »Convention on the Rights of Persons with Disabilities« (CRPD), Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen« (UNO 12/2006, von Deutschland ratifiziert 3/2009) konfrontiert.

Dies bedeutet:

Eine mehr oder weniger radikale Hinwendung zur »inklusiven Schule«;

die Entwicklung von Strategien und Konzepten zur Verstärkung der aktiven Zusammenarbeit von Grundschulen und sonderpädagogischen Förderzentren

bzw.

zur Optimierung inklusiver Settings bezogen auf Kinder mit Beeinträchtigungen;

die Weiterentwicklung zukunftsangemessener Konzepte für die sonderpädagogische Grundversorgung (z. B. Regionale Integrationskonzepte, »RIK« in Niedersachsen) und für mobile sonderpädagogische Dienste an allen Schulstufen;

die (Weiter-)Entwicklung von Konzepten und Methoden für Kinder und Jugendliche mit »Verhaltensstörungen« in inklusiven Klassen, insbesondere bei gewaltbereiten, schulaversiven und traumabasierten Verhaltensformen.

Dabei darf von Bildungspolitikern und Fachexperten Art. 7 Abs. 2 der UN-Konvention (CPRD) nicht außer Acht gelassen werden. Ausdrücklich wird dort darauf hingewiesen, dass bei allen Maßnahmen, die Kinder mit Behinderungen betreffen, »das Wohl des Kindes« vorrangig zu berücksichtigen sei!

2 Verhaltensstörungen in Zeiten der Inklusion

Im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (GG) heißt es in Art. 6 Abs. 2:

»Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die ihnen zuvörderst obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.«

Abgesehen davon, dass die staatliche Überwachung ganz offensichtlich nicht hinreichend verlässlich zu gelingen scheint, wie zahlreiche verstörende Beispiele der letzten Jahre beweisen, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren,

dass ein kleiner, aber nennenswerter Teil der Eltern auf ihre Rechte pocht, ohne ihre Pflichten (in der Pflege und Erziehung ihrer Kinder) in ausreichendem Maße zu erfüllen;

dass ein ernst zu nehmender Teil der Eltern die Bedürfnisse von Kindern im Hinblick auf eine positive Entwicklung nicht zu kennen scheint und damit diesen Bedürfnissen auch nicht entsprechen

kann

.

Dies alles ist nicht neu, alle benannten Aspekte sind in unterschiedlichen Zusammenhängen schon einmal beschrieben worden. Das Ausmaß der »Beeinträchtigungen im Verhalten« im Allgemeinen und der »Verhaltensstörungen« im Speziellen steigt allerdings stetig, wird jedoch zum Teil in gravierender Weise geleugnet bzw. bagatellisiert.

Sicher ist aber:

Kein Kind wird mit Verhaltensstörungen geboren!

Verhaltensstörungen sind das Ergebnis eines schwierigen Entwicklungsprozesses innerhalb eines komplexen Umfeldgefüges, dessen wesentlicher Teil – insbesondere in den ersten Lebensjahren – das häuslich-familiale Umfeld ist.

Wenn dieses nicht frühzeitig in Maßnahmen/Konzepte einbezogen wird, können sozial- und sonderpädagogische Maßnahmen nicht wirklich erfolgreich sein, denn nur wenige der in unterschiedlicher Weise gefährdeten Kinder entwickeln aus eigener Kraft die notwendige Resilienz für ein sozial angemessenes Verhalten bzw. Handeln.

Die nicht erst mit der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen aufgeworfene (bildungspolitische) Frage, ob Sonderpädagogik im 21. Jahrhundert nicht ein sonderpädagogisches bzw. förderpädagogisches Handeln in integrativen bzw. inklusiven Settings sein sollte, wird in den Bundesländern zwar unterschiedlich, aber mit einem mehr oder minder klaren »Ja« beantwortet.

Als Fachwissenschaftler kann diesem »Ja« jedoch nur mit Einschränkung zugestimmt werden. Die schulorganisatorische Weiterentwicklung zu integrativen und inklusiven Formen ist sinnvoll und notwendig. Vor dem Hintergrund qualitativ hochwertiger förderpädagogischer Konzepte – in den meisten Bundesländern noch in der Entwicklung – und mit den entsprechenden (sonder-)pädagogischen Ressourcen könnte die »inklusive Schule« dem allergrößten Teil der Schüler und Schülerinnen mit Behinderungen/Beeinträchtigungen und ihren jeweiligen individuellen Förderbedarfen gerecht werden.

In einer Zeit, in der die Entwicklung von Konzepten und Modellen für eine »inklusive Schule«, d. h. für einen non-kategorialen Zugang aller Kinder zur allgemeinen Schule, also für eine gemeinsame Beschulung (»Integration«) behinderter und nicht behinderter Kinder, die (sonder-)pädagogische Diskussion bestimmt, stellt sich die Frage:

Was geschieht mit Schülern und Schülerinnen, die schwere Formen von Beeinträchtigungen im Verhalten aufweisen? Gemeint sind Kinder und Jugendliche

mit schweren Traumatisierungen,

verfestigten selbst- und fremdverletzenden Verhaltensmustern,

Drogen-, Suchtabhängigkeit,

massiv schuldistanzierte Schüler (»Straßen-Kids«),

»entkoppelte« Jugendliche (sogenannte »Systemsprenger«).

Wer nimmt diese Schüler und Schülerinnen, für die das Jugendamt häufig händeringend eine stationäre Unterbringung sucht?

Bisher die Schule für Erziehungshilfe bzw. die Schule mit dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung. In der momentanen schulischen Umbruchsituation scheint deren Bestand allerdings nicht überall gesichert.

Zu einer sonderpädagogischen Grundversorgung gehören jedoch, neben einer klaren Präferenz von Inklusion, Angebote für Kinder und Jugendliche, für die aus unterschiedlichen Gründen inklusive Settings nicht die bestmögliche Erziehung und Bildung darstellen, deren Förderung und Wohlergehen in einer Regelklasse massiv gefährdet wären.

Die seit vielen Jahren in Deutschland kontrovers geführte »Integrationsdiskussion«, aktuell als »Inklusionsdiskussion« fortgesetzt, ist nicht frei von ideologischen Prägungen. Dabei wird ein bedeutsamer Aspekt außer Acht gelassen:

Alle Bemühungen, die Heterogenität der Kinder, aller Menschen als »normal« zu begreifen, alle Bemühungen, die Gruppen der Kinder mit sonderpädagogischen Förderbedarf zu de-kategorisieren, Schulformen umzubenennen, z. B. Sonderschulen zu Förderschulen oder Hauptschulen zu Regionalschulen, um damit bestehende Etikettierungsprozesse aufzuheben, sind zum Scheitern verurteilt, solange nicht in der Gesellschaft das Prinzip der unveräußerlichen Wertschätzung eines jeden Menschen vertreten und gelebt wird oder wie es Wolfensberger (1986/2005) schon vor über 20 Jahren forderte, für die »Valorisation« der Menschen mit Impairments, Handicaps und Disabilities gearbeitet wird.

Fragwürdig erscheinen zudem die Tendenzen zur Dekategorisierung im Zusammenhang mit Behinderungen/Beeinträchtigungen sowie zur Entspezialisierung von sonderpädagogischem Lehr- und Fachpersonal. Ahrbeck (vgl. 2011, 43) bezeichnet vor diesem Hintergrund Inklusion als den (oberflächlichen) Versuch, alle Unterschiede einzuebnen!

Mit Blick auf Kinder und Jugendliche mit Verhaltensstörungen lässt sich feststellen, dass es bis heute in Deutschland kein durchgängiges, gestuftes, dem (sonder-)pädagogischen Förderbedarf der Kinder angepasstes pädagogisches System der Hilfen gibt, wie es bereits seit den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts in Kanada mit dem »gestuften System pädagogischer Hilfen« (»Cascade of Educational Services«, Winzer 1990, 86f.) besteht. Seit Langem werden umfängliche Diskussionen, um den »korrekten« Weg zur »besten« Hilfe für Kinder mit Beeinträchtigungen in der emotionalen und sozialen Entwicklung geführt (vgl. Hinz 2002; Schmidt & Dworschak 2011). Die verschiedenen Teilgruppen der »Kinder in Multiproblemlagen« werden aber nicht präzise expliziert und somit Kinder mit ausagierend-herausforderndem Verhalten häufig im gleichen pädagogischen Präventions- bzw. Interventionskonzept betrachtet wie Kinder mit schwerem kinderpsychiatrischen Störungsbildern. Auch werden wenig empirisch geprüfte Konzepte propagiert. Nach deren Evaluation wird die Zielgruppe wiederum recht allgemein beschrieben (Preuss-Lausitz & Textor 2006). Insofern gibt es kaum empirisch überprüfte und effektive Konzepte für die pädagogische Arbeit bei spezifischen Störungsbildern, wiewohl diese in der schulischen Praxis, sowohl in der allgemeinen als auch in den Förderschulen, dringend gebraucht würden.

Insbesondere die allgemeinen Schulen werden den »special needs« der einzelnen Kinder bisher wenig gerecht, es sei denn in sehr speziellen Projekten, die meist auch wissenschaftlich begleitet werden (Preuss-Lausitz & Textor 2006).

Vor diesem Hintergrund und dem der pädagogischen Verantwortung für das Wohl der Kinder wird deutlich, dass es keine Alternative zum Prinzip des »least restrictive environment« (Prinzip der stets geringstmöglich einschränkenden Settings, Winzer 1990) in der pädagogischen Arbeit mit Kindern »mit Beeinträchtigungen in der emotionalen und sozialen Entwicklung« gibt. Somit muss sowohl das Grundprinzip der Inklusion insbesondere im Hinblick auf die »Partizipation an gesellschaftlichen Vollzügen« (ICF; WHO 2001; UNO 2006) gelten als auch das Prinzip des individuellen Förderbedarfs, der aufgrund seiner hohen Differenziertheit und Komplexität eines gestuften Systems der Hilfen bedarf.

Zusammenfassend lässt sich für die aktuelle Situation konstatieren:

Einerseits nimmt die Zahl der Kinder mit Störungen in der emotionalen und sozialen Entwicklung kontinuierlich zu.

Andererseits führen notwendige schulische Reformprozesse möglicherweise dazu, dass die jeweiligen spezifischen, individuellen Probleme von Kindern mit sonderpädagogischen Förderbedarf nicht mehr differenziert wahrgenommen und die betroffenen Kinder somit auch nicht angemessen gefördert werden.

Die Überwindung dieser gegensätzlichen Tendenzen setzt eine enge Kooperation zwischen einer Schulpädagogik für wirklich alle Schulen und einer sich öffnenden Sonderpädagogik (beide verstanden als Teildisziplinen der Pädagogik) voraus.

3 Kooperative Beratung als Handlungsgrundlage

Mit Blick auf den Titel dieses Beitrages entsteht vielleicht die Frage: Was hat eine solch provokative Situationsanalyse mit der Konzeption der »Kooperativen Beratung« (vgl. Mutzeck 2008 a/b) zu tun? Dieser Ansatz enthält solche Schärfen nicht!

In der Tat erscheint das Konzept auf den ersten Blick als moderat. In Mutzecks Denken, niedergelegt und komprimiert in diesem Beratungskonzept, zeigt sich jedoch, dass er die hier dargelegten Aspekte durchaus mit bedacht hat.

Seine Ausführungen zum Menschenbild (vgl. Mutzeck 2008 b, 221 ff.) zeigen einerseits ein zutiefst humanistisches Menschenbild, das ausgehend von individuellen menschlichen Fähigkeiten allerdings zwangsläufig das Gegenteil bzw. die mangelhafte Ausprägung dieser Fähigkeiten als Möglichkeit akzeptiert.

Er verdeutlichte jedoch überzeugend die strukturelle Gleichheit der handelnden Subjekte:

»Die aufgezeigten Menschenbildannahmen gelten prinzipiell für alle Menschen. So ist der ›Störende‹, zumindest von der Struktur der potenziellen Fähigkeiten eines reflexiven Subjekts her, als ebenso kognitions-, emotions-, handlungsfähig etc. anzunehmen wie der ›Nicht-Auffällige‹. ... es gibt keinen strukturellen Widerspruch zwischen der einen und der anderen Gruppe« (Mutzeck 2008 b, 234).

Diese, seine erkenntnis- und handlungsleitenden Grundlagen werden bereits recht früh sehr deutlich. Im Jahr 1987 angefragt für einen Artikel zum Thema »Forschungsmethoden in der Pädagogik bei Verhaltensstörungen« im Handbuch der Sonderpädagogik, Band 6 (Mutzeck & Berbalk 1989, 120 ff.) entschied er sich, diesen Beitrag zusammen mit einem Koautor (Heinrich Berbalk) zu verfassen und gleichzeitig durch den Mitautor das aus seiner Sicht klassische Verständnis der empirischen Forschungsmethoden kompetent und differenziert darstellen zu lassen, bevor er selbst im zweiten Teil des Beitrages (143 ff.) eine alternative methodische Zugangsweise der »dialog-konsensualen Rekonstruktion«, vor dem theoretischen Hintergrund seiner Menschenbildannahmen und des »Forschungsprogramms Subjektive Theorien (FST)« entwickelt, was zu der Zeit noch weitgehend Neuland in einer Pädagogik bei Verhaltensstörungen war.

Sehr gradlinig finden sich in seinen nachfolgenden Veröffentlichungen stets die Grundannahmen der Humanistischen Psychologie und des Forschungsprogramms Subjektive Theorien wieder.

In der aktuellen Diskussion um eine unbedingte Umsetzung der Inklusion für alle Schüler – und somit explizit auch für Schüler mit gewaltorientierten Verhaltensmustern –, finden sich Unterschiede zwischen dem Bild eines Konzeptes von »Integration« mit dem kennzeichnenden Merkmal einer »Individuumszentrierung« und dem Bild eines Konzeptes von »Inklusion« mit dem kennzeichnenden Merkmal einer »systemischen Orientierung«. Diese Veränderung der Perspektive könnte als Gegensatz verstanden werden. Wäre dies so, käme das nicht nur in der (sonder-)pädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen im Verhalten einer vordergründigen »Einebnung« von Problemsituationen gleich. In diesem Zusammenhang sei noch einmal auf die bereits mehrfach betonten Grundlagen der Arbeit von Mutzeck rückverwiesen. Die Unverträglichkeit einer rein systemischen Perspektive mit den Menschenbildannahmen des Beratungskonzepts sollte die Problematik einer solchen Gegensatzbildung, die hier eben nicht als Gegensatzeinheit bzw. Dichotomisierung verstanden wird, mehr als deutlich machen.

Die »Kooperative Beratung« (nach Mutzeck), entwickelte sich auf eben dieser, stets explizierten Basis, verknüpft mit dem handlungstheoretischen Ansatz, der in einem langjährigen Prozess gleichfalls optimiert wurde.

Wie bereits mehrfach angedeutet, steht im Bezugsrahmen einer Kooperativen Beratung stets die Menschenbildkonzeption an erster Stelle. Ergänzt wird dieser Bezugsrahmen durch die Konstruktion von Wirklichkeit (im Sinne einer von Carl Rogers beeinflussten Richtung des Konstruktivismus). Auf diesen beiden grundlegenden Rahmungen aufgebaut entwickelte Mutzeck seine Konzeption eines Handlungsmodells.

Dieses Handlungsmodell einer Kooperativen Beratung musste somit stringent ableitbar sein aus den zugrunde liegenden Menschenbildannahmen und es wurde exakt so vertreten. Als zentrale Determinanten im Beratungsprozess wird in diesem Ansatz beschrieben:

die Symmetrie und die Akzeptanz,

die Selbstexploration, das dialogische Verstehen und den Dialog-Konsens sowie

das Vertrauen.

Insbesondere im Zusammenhang menschlichen Handelns werden diese Determinanten unter konstruktivistisch-systemischer Perspektive im Konzept expliziert (vgl. Mutzeck 2007b, 74f.).

Ausgehend von der Prämisse, dass menschliches Verhalten wesentlich auf Zielorientierung, Planung, Entscheidung und Sinnhaftigkeit basiert und damit eine Handlung darstellt, weist Mutzeck darauf hin,

dass Zielorientierung und Sinnhaftigkeit von Außenstehenden nur durch Interpretation erschlossen werden können;

dass diese Interpretation auf Auskunft über bewusste mentale Prozesse des Handelnden angewiesen ist;

dass die Zusammenhänge von Zielen, Plänen und Entscheidungen immer auf einer jeweils individuell-subjektiven Konstruktion von Wirklichkeit beruhen;

dass die ungeprüfte Interpretation eines Beobachters sich unter Umständen gravierend von der Selbstinterpretation des Handelnden unterscheidet und daher nie unmittelbar in Richtung auf eine Handlungsentscheidung wirksam werden kann.

»Im Vordergrund der Beschreibung und Erklärung von Handlungen steht somit die Innenperspektive, das Erfassen der subjektiv-individuellen Sichtweise (Konstruktion) von Wirklichkeit« (Mutzeck 2007b, 75).

Jede Handlung einer Person stellt ein kontextgebundenes Geschehen dar, wobei die jeweilige Person, systemisch betrachtet, mehreren Systemen gleichzeitig angehört. Dadurch nehmen die Kontexte an Komplexität zu, ohne die individuellsubjektive Komponente zu mindern.

»Ein Handlungsmodell auf der Grundlage des Menschen als reflexivem Subjekt in seinen systemischen Bezügen stellt keine gradlinige Ursache-Wirkung-Beziehung dar, sondern eher einen zirkulären Rückkoppelungsprozess. Handlung ist ein wechselseitiges inter- und intraaktives Geschehen« (Mutzeck 2007b, 75).

Insofern werden in allen Schritten zur Kooperativen Beratung und zu deren Handlungsmodell einerseits die personenzentrierte Grundhaltung und andererseits die Problemlösung als Struktur des Beratungsprozesses deutlich.

Sehr stimmig entwickelte er daraus ein methodisches Vorgehen, das Klarheit und Halt für alle Beteiligten bietet. Unter anderem deshalb ist das Modell einer Kooperativen Beratung so erfolgreich, nicht nur in der Sonderpädagogik, sondern in nahezu allen pädagogischen Handlungsfeldern (vgl. Mutzeck 2008 a).

Auch wenn sich Mutzeck bei seinen Ausführungen wesentlich auf pädagogischpsychologisches Personal im Zusammenhang mit Kindern mit Verhaltensstörungen bezieht, so gelten seine Ausführungen fraglos für alle handelnden Subjekte, d. h. auch für Eltern, was für die pädagogische (Zusammen-)Arbeit mit ihnen erhebliche Ressourcen und Potenziale vermuten lässt, die bisher in der professionellen Beratungsarbeit wohl zu wenig genutzt wurden.

Betrachtet man diesen eben skizzierten Entwicklungsprozess eines Beratungskonzeptes, so zeigt sich einerseits eine ausgesprochen hohe Stringenz, aber in den Anfängen auch eine etwas andere Schwerpunktsetzung hinsichtlich der Zielgruppe als in der Endfassung. In einem frühen Aufsatz legt Mutzeck die Grundzüge einer »dialogischen Methode« zur Erfassung von Problemsituationen dar. Im Mittelpunkt stehen hier das Kind und sein primäres Umfeld im Zusammenhang mit sonderpädagogisch-schulischer Erziehungshilfe.

»Abschließend und zusammenfassend wird noch einmal darauf hingewiesen, dass trotz vieler Probleme, die Eltern und Lehrer erfahrungsgemäß miteinander haben, eine Zusammenarbeit dieser beiden Gruppen dringend notwendig ist, wenn es darum geht, einen positiven schulischen und familiären Rahmen für die Erziehung der ihnen anvertrauten Kinder zu gestalten« (Mutzeck 1988, 54).

In späteren Fassungen der Kooperativen Beratung trägt er der veränderten schulpolitischen Tendenz Rechnung, indem die Gestaltung einer positiven schulischen Situation vor dem Hintergrund zunehmend integrativer Settings in den Vordergrund rückt. Das Aufgabenfeld Beratung erhält in diesem Zusammenhang eine zentrale Bedeutung, die es zweifelsohne bis heute, z. B. in den Tätigkeiten der Mobilen Dienste im Förderschwerpunkt »Emotionale und Soziale Entwicklung« hat.

»Die Sonderschullehrerinnen und -lehrer, die beratend tätig sind, stehen vor der Aufgabe, mit den Lehrkräften der Regelschulen zu arbeiten. Vor allem bei der Beratungskonstellation »Lehrkraft berät Lehrkraft« ist die bisher oft übliche vertikale Beratung meistens nicht oder nur wenig erfolgreich.« (...) Einer solchen Beratungssituation »angemessen und häufig wirkungsvoller ist eine horizontale Beratungsweise« (Mutzeck 1993, 304f.).

4 Ausblick

Für Mutzeck war eben dies die Methode der »Kooperativen Beratung«, die er zunehmend präzisierte und zum Ausbildungscurriculum erweiterte und Generationen von Sonderpädagogen engagiert und überzeugend nahegebracht hat, im Wesentlichen als professionelle Grundlage zu einer auf Gleichwertigkeit beruhenden kollegialen Beratung, kollegialen Supervision oder zum Kooperativen Coaching (vgl. Mutzeck 2007b, 83).

Dabei müssen alle Lehrerinnen und Lehrer als Ausgangspunkt aller ihrer fachlichen Bemühungen die Grundprinzipien der »Inklusion« und der »Normalität von Heterogenität« erfahren und konkret umsetzen lernen (fachlich-thematisch, didaktisch, methodisch). In der zukünftig so bedeutsamen Zusammenarbeit von Lehrern verschiedener Schulformen bzw. unterschiedlicher Professionen werden Beratungsprozesse und damit Beratungskonzepte und ihre Umsetzung eine immer größere Rolle spielen. Hierbei könnte das Konzept der Kooperativen Beratung (nach Mutzeck 2008 a) eine zielführende Hilfe sein.

Zu wenig genutzt werden hingegen die Potenziale der Kooperativen Beratung für die – möglichst frühe – Elternberatung, um auch einen positiven familiären Rahmen für Kinder und Jugendliche mit Entwicklungs- und Verhaltensstörungen zumindest ansatzweise (mit) zu gestalten.

»Kooperation«, so Mutzeck, »ist auch eine innere Haltung, eine Einstellung zum Ratsuchenden im Sinne eines Gesprächspartners« (2007b, 71).

Genau diese Haltung prädestiniert die Kooperative Beratung auch für Gespräche mit Eltern – horizontal, nicht vertikal – dialogisch, nicht belehrend!

Sicher wäre es im Sinne einer Kooperativen Beratung, wenn sich die im Handlungsfeld der Sonderpädagogik professionell Tätigen auf seinen ursprünglichen Ausgangspunkt zurückbesinnen würden, indem sich ein Teil der Trainingskurse schwerpunktmäßig auf Gespräche mit Eltern/Erziehungsberechtigten konzentrierte, auch oder gerade weil Beratungssituationen mit Eltern häufig in besonderer Weise problematisch sind.

Das schrittweise klientenorientierte Vorgehen in Mutzecks Konzept,

von der Problembeschreibung über den Perspektivenwechsel zur Situationsanalyse,

von der Zielentwicklung über die gemeinsame Suche nach unterschiedlichen Handlungswegen zur autonomen Handlungsentscheidung,

von der Umsetzungsplanung über begleitete Durchführungsversuche bis zur gemeinsamen Reflexion der Ergebnisse (Mutzeck 1992; 1996/2008 a; 2007 b; 2008 b),

kann Eltern in akzeptierend-unterstützender Weise zu verändertem pädagogischem Handeln führen, damit das Beziehungsgefüge innerhalb des Familiensystems verbessern und stärken, und so nicht nur die schulische, sondern auch die familiäre Situation positiver gestalten. Letztere ist in den meisten Fällen die grundlegende Voraussetzung dafür, dass Kinder und Jugendliche in die Lage versetzt werden, ihr Selbstkonzept zu verbessern und in sozialen Situationen angstfrei und annähernd angemessen agieren zu können.

Zu den aktuellen Herausforderungen für theoretisch und für praktisch arbeitende Sonderpädagogen im Bereich der Pädagogik bei Verhaltensstörungen gehören wesentlich:

Die Entwicklung von (sonder-)pädagogischen Standards für alle Formen von Erziehungshilfe (vorschulisch, schulisch, außer- und nachschulisch), unter Beachtung der jeweiligen spezifischen Förderbedarfe des betroffenen Kindes, für dessen angemessene Förderung ein gestuftes pädagogisches System von Hilfen notwendig ist, auch und ganz besonders im schulischen Bereich. Hierbei darf die Zieldimension keine optimale »Schule für Erziehungshilfe« sein, sondern die optimale Schule für alle Kinder! Auf diesem Weg sollte aber den schwerer sozial und psychisch geschädigten Kindern die Chance gegeben werden, ein (schulisches) Setting zu erhalten, das ihren besonderen Bedürfnissen gerecht wird, solange es nötig ist.

Die Vernetzung von Fachexperten unterschiedlicher Profession und deren kollegial-horizontale Zusammenarbeit im Sinne des kooperativen Konzeptes von Mutzeck.

Die Entwicklung eines tragfähigen Konzeptes für die frühzeitige professionelle Zusammenarbeit mit Eltern (bitte nicht unter dem Stichwort: »Elternarbeit«!), das den von Mutzeck so erfolgreichen Weg weiterführt in ein Beratungsmodell für die horizontale Beratung von Eltern.

Am Ende des Buches »Kooperativen Beratung« findet sich die Aussage »... (fast) nichts ist unmöglich, man muss es nur wollen!« (Mutzeck 2008a, 180).

Es ist vielleicht häufiger eine Frage des Erkennens als des Wollens. Insofern sei in Abwandlung des Zitats gesagt:

Das Konzept der Inklusion birgt, ebenso wie das Konzept der Kooperativen Beratung, viele Potenziale, man muss sie nur erkennen und mutig nutzen!

Literatur

Ahrbeck, B. (2011): Der Umgang mit Behinderung. Besonderheit und Vielfalt, Gleichheit und Differenz. Stuttgart.

Drave, W., Rumpler, F. & Wachtel, P. (Hrsg.) (2000): Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung. Allgemeine Grundlagen und Förderschwerpunkte (KMK). Würzburg.

GG (Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland) (2011): München.

Hinz, A. (2002): Von der Integration zur Inklusion. Terminologisches Spiel oder konzeptionelle Weiterentwicklung? In: Zeitschrift für Heilpädagogik, 53. Jg., 354–361.

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Mutzeck, W. (1988): Eine dialogische Methode. In: Goetze, H. & Neukäter, H. (Hrsg.): Disziplinkonflikte und Verhaltensstörungen in der Schule. Oldenburg (3. Aufl. 1991).

Mutzeck, W. (1992): Grundlagen und Methoden der Beratung. Studienbrief der FernUniversität Hagen.

Mutzeck, W. (1993): Kooperative Beratung. In: Neukäter, H. & Wittrock, M. (Hrsg.): Verhaltensstörungen. Erziehung – Unterricht – Beratung. Oldenburg.

Mutzeck, W. (1996): Kooperative Beratung. Grundlagen und Methoden der Beratung und Supervision im Berufsalltag. Weinheim.

Mutzeck, W. (1999): Kooperative Beratung als Ansatz und Methode. In: Dirks, U. & Hausmann, W. (Hrsg.): Reflexive Lehrerbildung. Weinheim, 231–251.

Mutzeck, W. (2007a): Pädagogisches Training als Möglichkeit der Vermittlung von Handlungskompetenzen. Darstellung am Beispiel des Studiengebietes Beratung. In: Mutzeck, W. & Popp, K. (Hrsg.): Professionalisierung von Sonderpädagogen. Weinheim, 405–419.

Mutzeck, W. (2007b): Kooperative Beratung. In: Diouani-Streek, M. & Ellinger, S. (Hrsg.): Beratungskonzepte in sonderpädagogischen Handlungsfeldern. Oberhausen, 71–89.

Mutzeck, W. (2008 a): Kooperative Beratung. Grundlagen, Methoden, Training, Effektivität. 6. Aufl., Weinheim, Basel.

Mutzeck, W. (2008 b): Handlungstheoretischer Ansatz. In: Vernooij, M. & Wittrock, M. (Hrsg.): Verhaltensgestört!? Perspektiven, Diagnosen, Lösungen im pädagogischen Alltag. 2. aktualisierte Aufl., Paderborn.

Mutzeck, W. & Berbalk, H. (1989): Forschungsmethoden in der Pädagogik bei Verhaltensstörungen. In: Goetze, H. & Neukäter, H. (Hrsg.): Handbuch der Sonderpädagogik. Band 6: Pädagogik bei Verhaltensstörungen. 2. Aufl. 1993, Berlin, 120–152.

Preuss-Lausitz, U. & Textor, A. (2006): Verhaltensauffällige Kinder sinnvoll integrieren – eine Alternative zur Schule für Erziehungshilfe. Bericht über eine Evaluationsstudie. In: Zeitschrift für Heilpädagogik, 57 (1), 2–9.

Schmidt, M. & Dworschak, W. (2011): Inklusion und Teilhabe – Gleichbedeutende oder unterschiedliche Leitbegriffe in der Sonder- und Heilpädagogik? In: Zeitschrift für Heilpädagogik, 62, 269–280.

UNO (2006): Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Convention on the Rights of Persons with Disabilities (CRPD) vom 13. 12. 2006. Resolution 61/106 der Generalversammlung der UNO. (In Kraft getreten am 03. 05. 2008, in Deutschland in Kraft getreten 26. 03. 2009).

Vernooij, M. A. (2005): Erziehung und Bildung beeinträchtigter Kinder und Jugendlicher. Paderborn.

Vernooij, M. A. & Wittrock, M. (Hrsg.) (2008): Verhaltensgestört!? Perspektiven, Diagnosen, Lösungen im pädagogischen Alltag. 2. aktualisierte Auflage. Paderborn.

WHO (World Health Organisation) (2001): International Classification of Functioning, Disability and Health: ICF. Genf.

Winzer, M. (1990): Children with Exceptionalities. Scarborough.

Wittrock, M. (2007): Ist die Schule für Erziehungshilfe zeitgemäß? Zur schulischen Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen im Verhalten bzw. in der emotionalen und sozialen Entwicklung. In: Mutzeck, W. & Popp, K. (Hrsg.): Professionalisierung von Sonderpädagogen. Weinheim, 276–283.

Wolfensberger, W. (1986/2005): Die Entwicklung in den USA und in Kanada. In: Thimm, W. (Hrsg.): Das Normalisierungsprinzip. Marburg, 168–186.

Herausfordernde Verhaltensweisen in Anbetracht weiterer Förderschwerpunkte

Gestaltungsbedingung der Erziehungshilfe unter integrativen Bedingungen

Kerstin Popp

Herausforderndes Verhalten treffen wir in allen Schultypen an, wie die Beiträge aus den unterschiedlichen sonderpädagogischen Förderschwerpunkten im ersten Kapitel zeigen. Und dennoch gibt es einen sonderpädagogischen Bereich, in dem es ausschließlich um Kinder und Jugendliche mit herausfordernden Verhaltensweisen geht: den Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung. Der Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung spielt in der Diskussion um Integration daher eine zentrale Rolle.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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