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Am 24. Februar 2022 schickte Wladimir Putin seine Armee gegen die Ukraine in den Krieg und traf damit eine Entscheidung, die das politische und ökonomische Gleichgewicht der ganzen Welt ins Wanken brachte. Der russische Angriffskrieg bringt unzählige menschliche Tragödien und immense materielle Zerstörung mit sich, und er wirft eine zentrale Frage auf: Wer ist Wladimir Putin, dieser Mann, der sich weigert, Lehren aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu ziehen, und der von der Rückkehr zu den Grenzen des Zarenreichs und der Wiedereinsetzung eines Regimes träumt, das sich der totalitären Methoden des Stalinismus bedient?
Wie wurde dieser Mann, der 1952 in Leningrad in einfachen Verhältnissen geboren wurde, ausgebildet? Warum war er schon in jungen Jahren von der »heroischen« Idee fasziniert, für den KGB zu arbeiten? Welche Tätigkeiten übte er dort vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion aus? Wie schaffte es dieser bescheidene Oberstleutnant an die Spitze der Macht? Warum entfachte er mehrere mörderische Kriege? Woher kommt seine Obsession für die Eroberung der Ukraine? Und selbst wenn er eines Tages seine Position verlieren sollte, würde sich sein Regime nicht halten?
Das »Schwarzbuch Putin« liefert Antworten auf diese und weitere drängende Fragen von den renommiertesten internationalen Expertinnen und Experten für Russland und den Kommunismus.
Mit exklusiven Beiträgen von Katja Gloger, Claus Leggewie und Karl Schlögel.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
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© Éditions Robert Laffont, S. A. S., Paris/Éditions Perrin, 2022
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Cover & Impressum
Wie hat sich die Lage seit 2022 verändert?
Der Krieg, ein strategischer Fehler Putins
Neuer antikolonialer Diskurs
Ist Putin geschwächt?
Die Verantwortung der russischen Gesellschaft
Eine an den Krieg gewöhnte Gesellschaft
Russland stilisiert sich als Opfer
Scheitern auf der ganzen Linie und Flucht nach vorn
Einleitung
Teil 1
Chronik einer angekündigten Diktatur
1
Wladimir Putin, ein Homo sovieticus
2
Der KGB kommt wieder an die Macht
3
Putins Flucht nach vorn in die Vergangenheit
4
Wladimir Putin: Einmal Tschekist, immer Tschekist
5
Die Erschaffung des Homo post-sovieticus: Putins »Ingenieure der Seele«
6
Putins Jargon: Markierung einer »Lebenseinstellung«
Teil 2
Eine Politik der Destabilisierung und Aggression
7
Tschetschenien unter Putin
Boris Jelzin und der »erste« Tschetschenienkrieg
Wladimir Putin und der »zweite« Tschetschenienkrieg
Nach dem Mord an Präsident Maschadow
Die Entwicklung der tschetschenischen Diaspora in Europa
Tschetschenen und die Ukraine
8
Putin und Georgien: die Verweigerung der Souveränität
»Georgia on his mind«: Was Georgien für Putin bedeutet
Der Krieg vor dem Krieg: Russlands diplomatischer Druck auf Georgien
Georgien nach der Rosenrevolution: eine zu zerstörende »Anomalie«
Der Fünftagekrieg: Ende eines langen Prozesses
Was aus dem Georgienkrieg nicht gelernt wurde
9
Mentale Militarisierung und Vorbereitung auf Krieg
10
Putins hybride Kriegsführung und die Destabilisierung des Westens
Die Grammatik des Verbrechens
Cyberangriffe, Leaks und Propaganda: Das Ausnutzen von Verwundbarkeiten
Schwächung der NATO?
11
Epochenbruch oder: Zum (vorläufigen) Ende deutscher Russlandpolitik
12
Putin und die Offensive an der Peripherie
Die unsicheren Territorien der ehemaligen Sowjetrepubliken
Die Rebalkanisierung des Balkans
Die Front des Verbrechens gegen die Freiheit und Herrschaft des Rechts
13
Putin und die imaginierte Ukraine
Einen Völkermord benennen
Eine fragwürdige Bruderschaft
Der Weg zur »Endlösung«
Das neoimperiale Modell
Die orange Bedrohung
Putins letzte Chance
14
Waldimir Putin und das ukrainische Geheimdienstfiasko
15
Die Grundpfeiler von Putins Außenpolitik: Rekrutierung, Erpressung und Terror
Das Projekt der Energietokratie
Die Waffen der Apokalypse und die Ausweitung des Terrors ins Ausland
16
Wladimir Putins westliche Netze und ihre Methoden
»Spezialoperationen« sollen Bilderwelten schaffen
Die Kunst als Methode der Einflussnahme, Infiltration und Reputationswäsche
Len Blavatnik und andere Förderer westlicher Universitäten
Infiltrieren und kaufen
Im Visier: die westlichen »Eliten«
Beeinflussung der Diaspora
Teil 3
Wege und Mittel zur Allmacht
17
Die Auslöschung der Völker
Die Vorbereitungsphase: Isolierung des Opfers
Erster Akt: Das Opfer wird als Angreifer dargestellt
Die Phase des Terrors
Der nächste Schritt: die »Transformation des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg«
Die Zeit der Kollaborateure: Wiederauferstehung des Homo sovieticus
18
Scenarios of Power: Putinismus als Stil
Putin auf der Bühne, die die Welt bedeutet
Die Bühne und das Publikum
Szenarien der Macht
19
Die Zerschlagung der Medien, der NGOs und der Opposition in Putins Russland
Die Übernahme der Medien und der ökonomischen Gegenkraft
Die Zuspitzung nach der Geiselnahme von Beslan und der Orangen Revolution in der Ukraine
»Souveräne Demokratie«, Glamour und Versuche einer Opposition
Medwedews Scheinliberalismus
Die Explosion der Demonstrationen 2011/2012
Die langsame Erdrosselung nach der illegalen Annexion der Krim
20
Putin und seine orwellsche Umschreibung der Geschichte
Russland und die UdSSR: Historische Brüche und Kontinuitäten
Von einer in Vergessenheit geratenen Geschichte zu einer Geschichte unter der Kontrolle der Macht
Putins Mythologie des »Großen Vaterländischen Krieges« als totalitäre Grundlage für eine neue russische Identität
Von Putins Geschichtsleugnung zu den Brüchen des europäischen Gedächtnisses
21
Putin, Chef der Oligarchen
Unsichtbare Finanzströme und diskrete innere Transformationen
Die Oligarchen der 1990er-Jahre
Das Auftauchen der putinschen Oligarchen
Wendepunkt Chodorkowski
Putinsche Oligarchen
Die Überlebenden der Neunziger
22
Die orthodoxe Religion als politische Waffe
Die persönliche Verantwortung Wladimir Putins
23
Eine pseudokonservative Gesellschaft auf dem Marsch in die Vergangenheit
Wohin steuert Russland?
Über die Autorinnen und Autoren
Stichwortverzeichnis
Anmerkungen
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Register
Galia Ackerman und Stéphane Courtois
Als wir Ende Februar 2022 entschieden hatten, das Schwarzbuch Putin – unsere einzige sinnvolle Antwort auf den russischen Angriff auf die Ukraine – zu entwickeln, fürchteten wir, dass die Ukraine beim Erscheinen des Buches bereits überwältigt und unsere Initiative nichts weiter als ein Augenzeugenbericht post mortem sein werde. Als wir die Redaktion im September beendet hatten, währte der Krieg bereits sechs Monate, und die Ukrainerinnen und Ukrainer hatten bewiesen, dass sie Widerstand leisten wollten. Und heute, rund 550 Tage nach dem Beginn der russischen »Spezialoperation«, tobt diese noch immer. Für uns der Zeitpunkt, auf das Entstehen eines neuen Charakters innerhalb des Putin-Regimes und sogar bei der Persönlichkeit unseres »Hauptdarstellers« selbst hinzuweisen, der auch bis hinein in die russische Gesellschaft wirkt – die von fast 75 Jahren totalitärem Kommunismus sowie 23 Jahren Putinismus geprägt wurde, dessen Stärken die Propaganda und eine furchterregend effiziente Desinformation sind. Zudem soll in militärischer, politischer und vor allem menschlicher Hinsicht eine erste Bilanz der Aggression vom 24. Februar 2022 gezogen werden, der ein prägendes Datum des 21. Jahrhunderts bleiben wird.
Viele Jahre lang, vor allem nach der Annexion der Krim im Jahr 2014, bereitete das Putin-Regime die russische Gesellschaft auf die Unvermeidbarkeit eines Krieges gegen den Westen vor. Die Propaganda brachte dazu eine ganze Reihe von Gründen in Stellung: die »Farbrevolutionen« in der Ukraine und Georgien, gleichgesetzt mit von den USA beauftragten Staatsstreichen; die Erweiterung der NATO; das Wiedererstarken des »Nazismus« in Europa; die Bedrohung durch die »ukrainischen Neonazis«; der Wunsch des Westens, die Fundamente der »russischen Zivilisation« zu unterspülen; der Drang, die »Mitbürger« der »russischen Welt« zu beschützen, also die russischsprachige Bevölkerung in anderen Ländern; die Notwendigkeit, die natürlichen Reichtümer des Landes zu verteidigen et cetera. Angesichts dieser »Bedrohungen« stellten Männer wie Wladimir Schirinowski, Dmitri Kisseljow und viele andere, die als Sprachrohr der Propaganda dienten, fest, dass die neuen russischen Waffen – »Weltuntergangswaffen« – mühelos mit den Vereinigten Staaten fertigwerden könnten, was gleich im Anschluss daran auch das Ende der Europäischen Union und der westlichen Welt bedeuten würde. Diese »Armageddon-Waffen« führte man bei der traditionellen jährlichen Parade am 9. Mai vor, ohne dass für die Betrachter erkennbar wurde, ob es sich dabei um Attrappen oder im industriellen Maßstab gefertigte echte Waffen handelte.
Wiederholt man dröhnende Propaganda nur oft genug, überzeugt sie meist irgendwann sogar die, die sie selbst lautstark verkünden. Wladimir Putin und seine engsten Vertrauten hielten ohne Unterlass überschwängliche Reden, in denen sie die »ukrainischen Neonazis« beschimpften und die braven Russischsprachigen der Ukraine lobten – jenen Teil des russischen Volks, der angeblich nur darauf wartete, von der in Diensten des Westens stehenden »Junta in Kiew« befreit zu werden. Sie verurteilten den feigen, perversen und korrumpierten Westen, während das russische Regime zugleich seine Bemühungen vervielfachte, die Eliten im Westen zu korrumpieren, insbesondere durch die Abhängigkeit von Gas und Erdöl. Putin und seine Komplizen wollten die Ukraine innerhalb weniger Tage »befreien«, ohne dass dem Westen Zeit für eine Reaktion bliebe, abgesehen von der üblichen Rhetorik und einigen pro forma beschlossenen Sanktionen. Das von seinen imperialistischen Ideen, seinem Hass auf die Ukraine, den Westen und die repräsentative Demokratie vergiftete russische Regime brach im Glauben an die eigene Straflosigkeit einen Krieg vom Zaun, dessen Ende nicht absehbar scheint und der zweifellos nicht mit einem russischen Sieg zu Ende gehen wird. Der Krieg hat eine bis dahin verborgene Seite des Putin’schen Regimes sichtbar werden lassen: die strategische Unfähigkeit der russischen Armee, deren Führung noch immer einem Modell aus Zeiten des Zweiten Weltkriegs anhängt – veraltete Militärausrüstung, sehr hohe Opferzahlen, barbarische Brutalität der Soldaten und, vor allem, völkermörderische Absichten. Seit anderthalb Jahren versuchen Putins Schergen, die Ukraine sowie jene Ukrainerinnen und Ukrainer zu vernichten, die ihren »Befreiern« nicht um den Hals fallen wollen. Das Ergebnis ist eine gewaltige Katastrophe. Die Zahl der menschlichen Opfer ist erschreckend: fast 20 000 getötete ukrainische Zivilisten und noch einmal so viele Verwundete, geschätzt etwa 70 000 gefallene und 130 000 verwundete Soldaten, dazu kommen noch die in Gefangenschaft Geratenen sowie Verschwundene, außerdem mehrere Zehntausend Bewohner von Mariupol, jener Märtyrerstadt in russischen Händen, deren Schicksal ungewiss ist. Mehr als acht Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer haben sich zu einem bestimmten Zeitpunkt einmal ins Ausland geflüchtet, davon neunzig Prozent Frauen und Kinder – die größte Völkerwanderung in Europa seit 1945: 1 500 000 Menschen flohen nach Polen, 1 000 000 nach Deutschland, 480 000 nach Tschechien … und 115 000 nach Frankreich. Zu diesem Blutbad kommt noch die systematische Plünderung ukrainischer Kulturschätze hinzu, etwa der Diebstahl und Abtransport nach Russland von Tausenden Kunstwerken aus dem Museum in Cherson. Etwa 500 historisch bedeutsame Orte wurden beschädigt oder gleich in Ruinen verwandelt: Kirchen, Kathedralen, Theater, Denkmäler, Museen, Bibliotheken, Archive und vieles mehr. Die materiellen Auswirkungen sind nicht weniger desaströs, haben die Russen doch systematisch die Infrastruktur zerstört – Häfen, Flughäfen, Brücken, Straßen, den Staudamm am Dnjepr, Getreidesilos et cetera – und große Gebiete vermint, die fortan für die Landwirtschaft ungeeignet sind. Der Wiederaufbau wird mehr als 500 Milliarden Euro verschlingen und Dutzende Jahre dauern.
Am 17. März 2023 stellte der Internationale Strafgerichtshof einen internationalen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten persönlich aus, dem man die Entführung, die Deportation nach Russland sowie die erzwungene Adoption oder Inhaftierung in Umerziehungslager von mehr als 16 226 ukrainischen Kindern vorwirft, ohne die weiteren 366 als vermisst Gemeldeten mitzuzählen; Taten, die nach der am 9. Dezember 1948 von der UN-Vollversammlung verabschiedeten »Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes« nach Artikel II e als Völkermord verstanden werden – nämlich die »gewaltsame Überführung von Kindern«. Mit der für ihn typischen Fäkalsprache kommentierte der ehemalige »liberale« Präsident Medwedew die Ausstellung des Haftbefehls: »Es versteht sich von selbst, wo man dieses Papier benutzt«, begleitet vom Bild einer Toilettenpapierrolle. Früher oder später läuft Putin doch Gefahr, vor den Anklägern in Den Haag erscheinen zu müssen, während schon heute seine Entourage, sei es persönlich, sei es als Gruppe, das Ziel westlicher Sanktionen und die Wirtschaft seines Landes schwer getroffen ist. Angesichts dieses Fehlschlags versuchte das Regime, eine neue Erzählung seiner historischen Legitimität zu entwickeln.
Vor Februar 2022 legte die russische Regierung den ideologischen Schwerpunkt ihrer Propaganda auf den Sieg im »Großen Vaterländischen Krieg« über das nationalsozialistische Deutschland und auf die »Befreiung« der Hälfte Osteuropas: Sie galten als Prototypen und Vorbild aller zukünftigen Siege des unbezwingbaren und ewigen russischen Volks. Das Scheitern der »Spezialoperation« und die schwache Moral der russischen Armee, die unter der mangelnden Vorbereitung auf einen langen Krieg und endemischer Korruption leidet, erscheinen im Vergleich mit dem Zweiten Weltkrieg allerdings wenig ruhmreich. Das Regime bemüht sich folglich, die aktuellen »Helden« zu glorifizieren, also die im Kampf gefallenen Militärs, seien es die Tausenden Kriminellen, die sich zur Wagner-Miliz gemeldet haben, seien es Soldaten der regulären Armee. Auch die orthodoxe Kirche, die Medien und die Propagandisten, allesamt im Sold des verbrecherischen Regimes stehend, befeuern aktiv diesen Kult um den Tod für das Vaterland.
Nach dem fast vollständigen Bruch mit dem Westen benötigt der Kreml nun mehr denn je die Unterstützung anderer Staaten. Die Länder des globalen Südens lassen sich hingegen kaum für diesen Eroberungskrieg begeistern, der auf die »Vereinigung der historischen russischen Gebiete« abzielt, und verweigern zum Großteil ihre Zustimmung für die überbordende Aggression, die internationale Grenzen und die territoriale Integrität eines Nachbarstaates verletzt. Die russische Regierung musste daher ein Schauspiel erfinden, um den nur aus imperialistischen Gründen geführten Krieg zu rechtfertigen und Argumente vorbringen zu können, für die die Entwicklungsländer womöglich empfänglicher sind. Dieses Schauspiel ist der antikoloniale Diskurs, der noch aus Sowjetzeiten stammt, als die UdSSR, vor allem gleich nach dem Zweiten Weltkrieg, antikoloniale und revolutionäre Bewegungen in Asien – China, Vietnam –, in Afrika – Algerien, Angola, Mosambik, Äthiopien, Südafrika (African National Congress) et cetera – sowie in Lateinamerika – Kuba, Chile – unterstützte. Zu ihnen gehörten auch die sogenannten »Befreiungskriege« und Guerillabewegungen, von denen man sich eine Schwächung des Westens und eine Annäherung jener gerade erst unabhängig gewordenen Länder an die Sowjetunion erhoffte.
Bereits im Oktober 2019 veranstaltete der Kreml in Sotschi einen Afrika-Gipfel, dem 2023 in Sankt Petersburg ein zweites derartiges Treffen folgte, während die Politik der Rückeroberung des afrikanischen Kontinents und der Verdrängung der westlichen, also vor allem französischen, Präsenz vor Ort bereits jahrelang betrieben wurde, insbesondere mithilfe der Wagner-Miliz. Vom russischen Generalstab und den russischen Geheimdiensten ferngesteuert und vom Staat finanziert, war die Gruppe Wagner in rund einem Dutzend Länder aktiv und stellte sich in den Dienst diktatorischer Regime, derweil sie die dort vorhandenen Rohstoffe ausbeutete, die sie angeblich aus »Dankbarkeit« der lokalen Potentaten in ihren Besitz bringen durfte. Mit dem für ihn typischen Zynismus und noch während er einen Expansions- und Assimilationskrieg in der Ukraine führte, stellte sich Putin den Afrikanerinnen und Afrikanern als Beschützer der Opfer des französischen Kolonialismus dar. In seiner Rede vom 30. September 2022 erklärte er, die antikoloniale Befreiungsbewegung entwickle sich überall in der Welt und dass diese Macht, die dem westlichen Diktat und unipolarer Hegemonie entgegenstehe, die künftige geopolitische Realität bestimmen werde.
Für die Kreml-Ideologen ist dieser angebliche »Befreiungskampf« Teil der zivilisatorischen Auseinandersetzung zwischen dem Guten – Russland und den Entwicklungsländern – und dem Bösen – dem Westen. In der erwähnten Rede sprach Putin vom »regelrechten Satanismus« des Westens, dessen Politik nichts anderes als schlecht verkleideter Kolonialismus, Totalitarismus, Despotismus und verkappte Apartheid sei. Er erklärte, Russland stehe in vorderster Reihe, an der Spitze dieses Kampfes, und der Kremlchef posaunte sogar hinaus, dass »der bereits begonnene Zusammenbruch der westlichen Hegemonie unumkehrbar« sei. Im Grunde berief sich der Herrscher in Moskau auf eine neue messianische Idee, die er den Russinnen und Russen versprach: die Verteidigung des »Reichs des Guten« gegen die moralische Verdorbenheit und Habgier des Westens. Die Lehren aus der Vergangenheit beachtete er nicht: Ganz gleich, ob es bei Moskau um das »Dritte Rom«, den Beschützer der christlichen Orthodoxie, um das kommunistische Trugbild einer egalitären Gesellschaft oder um den Kult ums Vaterland ging, das die »historischen russischen Gebiete« zurückgewinnen und die »russische Zivilisation« verteidigen werde, immer handelt es sich um dasselbe Traumbild einer strahlenden Zukunft für eine Bevölkerung, die allerdings weiterhin in Bedürftigkeit und Unterdrückung lebt.
Heute bietet das Regime jungen Russen den »Heldentod« auf den Schlachtfeldern der Ukraine im Namen eines Hirngespinsts an: die Rückkehr des von der Freiheit begeisterten ukrainischen Volkes in den Schoß Russlands sowie den Kampf gegen den Westen im Namen einer neuen Weltordnung, in der Demokratie und Menschenrechte keine allgemein menschlichen Bestrebungen mehr sind, sondern nur ein politisches System unter anderen, gleichrangig mit den Diktaturen und zugleich im Niedergang begriffen. Welch wunderbare Aussichten für die Frauen in Afghanistan, die iranische Jugend, die Syrerinnen und Syrer unter dem Joch Assads, die von den chinesischen Kommunisten einer Völkermordlogik unterworfenen Uigurinnen und Uiguren, für zahlreiche afrikanische Minderheiten und die unzähligen Unterdrückten dieser Erde!
Der Krieg hat nicht nur die russische Führungskaste, sondern auch die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit unvorbereitet erwischt. Bis zum letzten Augenblick glaubten selbst russische Experten nicht an die Möglichkeit eines groß angelegten Krieges, trotz der aufsehenerregenden Äußerungen der Machthaber und der Truppenkonzentration entlang der tausend Kilometer langen Grenze mit der Ukraine. Nachdem er zuvor die letzten oppositionellen Stimmen zum Verstummen gebracht hatte, konnte Putin seinem Land diesen Krieg überstülpen.
Diese »Spezialoperation« sollte nur wenige Tage dauern und sich durch die vollständige Besetzung des Landes und die wirtschaftliche Ausbeutung seiner Reichtümer, insbesondere der wertvollen Weizen- und Maisfelder, bezahlt machen. Fast zwei Jahre später tobt sie noch immer, fordert jeden Tag zivile wie militärische Opfer und führt zu weiterer Zerstörung. Doch dank westlicher Hilfe und technologischer sowie taktischer Innovationen, beispielsweise dem massenhaften Einsatz von Drohnen, ist die ukrainische Armee inzwischen in der Lage, Stellungen hinter der russischen Front zu treffen, ja sogar die Krim – Putins »heilige Kuh« – und Ziele in Moskau. Damit wurde der Konflikt auch auf russisches Territorium getragen, und der Kreml und seine Schmeichler sind gezwungen anzuerkennen, dass es sich um einen Krieg handelt, den zu legitimieren ihnen die Argumente fehlen.
All diese unvorhergesehenen Schwierigkeiten haben einen deutlichen Bruch quer durch die russische Führung verursacht, der von der »Affäre Prigoschin« symbolisiert wird. Noch vor wenigen Monaten war den wenigsten Experten klar, welche Rolle dieser Mann im informellen Organigramm der Machthaber spielte – einem System, in dem ein ehemaliger Judotrainer oder ein Ex-Bodyguard dieselbe Bedeutung für den Machthaber besitzt wie seine Minister und andere Funktionäre. Jewgeni Prigoschin, der wie Putin aus Sankt Petersburg stammte, war ein exemplarisches Produkt der Sowjetzeit. Aus einer einfachen Familie stammend und mit einem Großonkel, der als Veteran im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatte und mit dem Leninpreis ausgezeichnet worden war, erhielt Prigoschin nach seinem 18. Geburtstag mehrfach Haftstrafen wegen Diebstahls und Einbruchs als Mitglied einer organisierten Bande. 1981 wurde er zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt, wo er die Kultur der (unpolitischen) Strafgefangenen und ihre besondere Vulgärsprache, das Mat (mat), kennenlernte – das auch von Putin praktiziert wird und nicht nur skatologisch, sondern auch äußerst derb ist und in unserem Buch von Yves Hamant ausgezeichnet erklärt wird. Es war also dieser abgehärtete ehemalige Strafgefangene, der nach seiner vorzeitigen Freilassung 1990 in das Fastfood-Geschäft einstieg, bevor er zu »Putins Koch« wurde. Tatsächlich lud er den Präsidenten wiederholt in eines seiner Luxusrestaurants ein und erhielt fantastische Aufträge zur Belieferung von Schulmensen, Kasernenküchen und für die Organisation von Staatsbanketten des Kremls, die aus ihm einen milliardenschweren Oligarchen machten.
Prigoschin, dessen absolute Loyalität zu Putin sich ab 2011 entwickelte, nahm die Rolle des großen Bösewichts an und wurde mit der »Drecksarbeit« des Regimes beauftragt. Zunächst kümmerte er sich um die Überwachung der Oppositionellen. Dann entwickelte er ein mächtiges System zur Verbreitung von fake news und stellte Trollfabriken auf die Beine, die gegen das Ausland eingesetzt werden – was bis zur Einmischung in Wahlen reicht, vor allem in den Vereinigten Staaten – und darüber hinaus Propaganda in Russland sowie prorussische Propaganda in Afrika verbreiten. Schlussendlich und vor allem schuf er mithilfe seines Gehilfen Dmitri Utkin – eines ehemaligen Obersts des Militärnachrichtendienstes GRU und notorischen Neonazis – die Gruppe Wagner mit Tausenden gut bezahlter Söldner. Die Miliz wurde unter politische, materielle und finanzielle Aufsicht der Geheimdienste und damit des Kremls gestellt, auch wenn Putin 2022, ohne mit der Wimper zu zucken, gegenüber dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron behauptete, Russland habe nichts mit Wagner zu tun. Die Söldner griffen militärisch zunächst in Syrien ein, dann in mehreren afrikanischen Ländern, wo sie als Leibwache der jeweiligen Diktatoren fungierten und prorussische Propaganda betrieben. Die Miliz erhielt im Gegenzug entscheidende Vorteile bei der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen vor Ort, wobei sie auch vor Massakern an Oppositionellen nicht zurückschreckte. Ab 2014 kämpfte die Gruppe Wagner zudem im Donbass, bevor sich zahlreiche Kämpfer an der »Spezialoperation« beteiligten und in russischen Gefängnissen mehr als 40 000 Strafgefangene rekrutierten, die als »Kanonenfutter« eilig die russischen Verluste an der ukrainischen Front ausgleichen sollten.
Prigoschin gehörte somit zum engsten Kreis um Putin, ebenso wie die Chefs der verschiedenen Geheimdienste, Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow. Im vorliegenden Buch betonen wir immer wieder die Tatsache, dass das russische Regime nach mafiösen Prinzipien organisiert ist und Putin dabei den Platz des »Paten«, des Chefs der kriminellen Bande einnimmt. Er muss folglich den Wohlstand und den Schutz der »Seinen« garantieren, zugleich aber auch die Differenzen zwischen den verschiedenen Clans regeln, aus denen die besagte Bande besteht.
Obgleich die Konkurrenz und der Hass zwischen Prigoschin und Schoigu schon lange bestanden und sich hartnäckig hielten, war Putin doch auf beide Männer angewiesen: Ersterer sorgte für die Mittel der hybriden Kriegführung – Söldner und Desinformation –, Letzterer repräsentierte die Armee und verbrachte mit Putin gemeinsam den Urlaub in der Taiga, wo sie, so hört man, an schamanischen Ritualen teilgenommen haben. Der von seiner Autorität überzeugte Präsident ließ den Konflikt derart lang eskalieren, bis der Chef der Gruppe Wagner öffentlich die Versorgung seiner Männer durch das Verteidigungsministerium als unzureichend kritisierte und zudem die Strategie der Armee, die in ihren Reihen grassierende Korruption und sogar den Zweck des Kriegs bemängelte. Anfang Juni 2023 kam der neue Zar Russlands zur Ansicht, Prigoschin sorge für mehr Störungen, als dass er Probleme beseitige, und autorisierte Schoigu, der Gruppe Wagner am 10. Juni ein Ultimatum zu stellen: Entweder gliedere sie ihre Männer in die reguläre Armee ein oder schicke sie zurück ins zivile Leben. Als Deadline wurde der 1. Juli gesetzt.
Prigoschin stand vor einer drastischen Entscheidung – unterwerfen oder aussteigen. Getrieben von seinem Temperament als größenwahnsinniger Abenteurer, angesteckt von seinen eigenen kriegstreiberischen Reden und ermutigt durch seine Kommandeure, die nicht nur durch ihren ultranationalistischen Wahn verblendet waren, sondern zugleich auch fürchteten, ihre komfortablen Privilegien zu verlieren, ging Prigoschin aufs Ganze: Er wagte einen Gewaltstreich, organisierte am 24. Juni 2023 die Besatzung der Stadt Rostow und kündigte den »Marsch der Gerechtigkeit« auf Moskau an, von dem er die Absetzung des Oberkommandos der Streitkräfte erhoffte. Augenblicklich reagierte Putin mit einer dramatischen Fernsehansprache, in der er den Geist des Bürgerkriegs der Jahre 1917 bis 1921 wachrief. Noch am selben Nachmittag bekam die Angelegenheit einen Dreh ins Burleske und entschieden sich die Wagner-Söldner für eine überstürzte Flucht, während der unkündbare Außenminister Sergej Lawrow den afrikanischen Diktatoren die unerschütterliche Unterstützung durch Russland zusicherte.
Wem kann man in diesem Regime mit seiner Geheimhaltung glauben und wie diese Affäre erklären? Im Juni und in Hinblick auf die militärische Lage war Putin nicht mehr auf die Dienste Wagners in der Ukraine angewiesen, wo sich der nach Monaten härtester Kämpfe errungene, vermeintliche Sieg in Bachmut als Niederlage herausstellte, da es den Ukrainern gelang, das Gebiet rund um die Stadt zurückzuerobern. Zudem war in der Zwischenzeit die russische Armee reorganisiert worden, hatte im gesamten Donbass defensive Stellungen eingerichtet und die Front stabilisiert, wodurch eine schnelle Offensive des Feindes unmöglich gemacht wurde. Gleich anschließend hatte sich Schoigu das Monopol auf die Rekrutierungen in den Gefängnissen gesichert – was Wagner seiner Rekrutierungsquelle beraubte – und einige neue, private Militärgruppen gegründet, die die verschiedenen Aktivitäten der Miliz übernehmen konnten.
Dabei dürfte noch ein weiterer Faktor eine wichtige Rolle gespielt haben. Wegen der Anklage vor dem Internationalen Strafgerichtshof konnte Putin nicht zum Gipfeltreffen der BRICS-Staaten reisen, das vom 22. bis 24. August in Südafrika stattfand, obgleich die Führungsriege dieses Staatenbundes ihm zugeneigt ist. Was wäre geschehen, hätte Prigoschin, durch den Verlust seiner Machtposition wütend geworden, einige streng gehütete Geheimnisse an die US-Amerikaner verraten oder, schlimmer noch, sich nach Den Haag abgesetzt, um gegen den russischen Präsidenten auszusagen? Es war aus Putins Sicht folglich dringend nötig, sich dieses besonders störenden Zeugen zu entledigen, war dieser doch für die auf Befehl des Kremls durchgeführte »Drecksarbeit« verantwortlich gewesen. Der sicherlich in eine Falle gelockte Prigoschin und seine engsten Mitarbeiter starben beim Absturz ihres Flugzeugs am 23. August 2023. Das ähnelt verblüffend genau den Methoden Stalins: Dieser hatte dem Chef des NKWD Nikolai Jeschow die Ausführung des Großen Terrors der Jahre 1937 bis 1938 befohlen – mehr als 700 000 Ermordete in vierzehn Monaten, mehr als 700 000 in Gulags Verbannte – und ließ ihn anschließend mitsamt seinen Vertrauten verhaften und 1940 ermorden, um somit den Mantel des Schweigens über dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit auszubreiten. Es wurde erst nach dem Ende der Sowjetunion und der Öffnung der Archive in seinem ganzen Ausmaß deutlich.
Ein weiterer Hinweis auf die »juristische« Unruhe Putins war die Verhaftung von Igor Girkin, auch als »Oberst Strelkow« bekannt, Mitte Juli 2023. Der Ex-Geheimdienstoffizier stand dem ultranationalistischen Milieu sehr nahe, insbesondere Alexander Dugin, der ab 2014 dafür warb, alle Ukrainerinnen und Ukrainer auszulöschen. Girkin/Strelkow, als Spezialist für die hybride Kriegsführung zunächst in Bosnien, dann in Tschetschenien aktiv, war ein sehr umtriebiger Vertreter des Kremls vor Ort – zu Beginn in Kiew, als dort Anfang 2014 die Revolution auf dem Maidan ausbrach, dann bei der Abspaltung des Donbass und der Besetzung der Krim. Er wird vom Internationalen Strafgerichtshof gesucht wegen seiner Rolle als Befehlshaber der russischen Geschützbatterie, von der aus am 17. Juli 2014 ein Flugzeug der Malaysia Airlines (Flug MH17) mit 298 Menschen an Bord über dem Donbass abgeschossen wurde. Schon von Beginn der »Spezialoperation« an äußerte sich Girkin/Strelkow ausgesprochen kritisch über den Feldzug und nannte den Krieg einen »totalen Misserfolg«. Seine neueste Provokation gelang ihm am 31. August 2023, als er aus dem Gefängnis heraus seine Kandidatur für die russische Präsidentschaftswahl 2024 ankündigte. Putin wollte sich vermutlich auf einen Schlag von den mit der »Drecksarbeit« befassten Kriminellen befreien – die auf internationalem Niveau zu kompromittierend geworden waren –, zugleich aber auch die ultranationalistischen und neonazistischen Extremisten loswerden, die nicht nur seine Operation gegen die »ukrainischen Neonazis« unglaubwürdig machten, sondern auch dem Kreml gefährlich werden und womöglich eine von ultrachauvinistischen Propagandisten aufgeheizte öffentliche Meinung auf ihre Seite hätten ziehen können. Darüber hinaus lässt sich dies auch als Drohung gegenüber dem Westen verstehen: Falls ihr mich stürzt, werden meine Nachfolger noch schlimmer sein als ich! Erste vorsichtige Warnungen in diesem Sinne waren nicht nur in Frankreich nach Prigoschins verrückter Unternehmung vom 24. Juni 2023 zu hören.
Letzterer wurde in größter Heimlichkeit am 29. August im Großraum Sankt Petersburg beerdigt, ohne die Anwesenheit von Offiziellen und ohne Militäreskorte, -kapelle oder Salutschüsse, die ihm eigentlich zugestanden hätten, hatte Prigoschin doch aus den Händen Putins persönlich den Orden als »Held Russlands« entgegengenommen. Dies dürfte eines Tages bei einem weiteren »Helden Russlands« womöglich anders verlaufen, beim GRU-General Andrej Awerjanow, dem Kopf einer geheimen Einheit zur Liquidation von »Verrätern« – von 2014 bis 2018 heimlich im französischen Savoyen untergekommen! – der, nach Auskunft britischer Geheimdienstquellen, den Absturz von Prigoschins Flugzeug organisiert haben dürfte. Das größte Sakrileg in diesem Zusammenhang dürfte indes gewesen sein, dass die Behörden der an der Wolga gelegenen Millionenstadt Samara mit Bulldozern die Gräber von Wagner-Soldaten auf dem städtischen Friedhof abgeräumt haben. Man könnte sagen, dass Wladimir Putin, ganz nach dem berühmten Orwell’schen Modell und von Stalins Vorbild inspiriert, bereits dabei ist, die Vergangenheit umzuschreiben und aus der Geschichte all das zu tilgen, was womöglich an Prigoschin und Wagner erinnert. Er hat dem unheimlichen Abenteurer den wahnsinnigen Vormarsch gen Moskau nicht verziehen und möchte eine klare Botschaft an alle richten, die versucht sein könnten, ihn nachzuahmen. Das Verschwinden Prigoschins steht dabei symptomatisch für den zwischen dem Inlandsgeheimdienst FSB und der Armee wiederkehrenden Konflikt und kündigt für die Zukunft weitere Schwierigkeiten für dieses imperialistische Regime an, das von einem Mann geleitet wird, der die Büchse der Pandora öffnete, aber nicht in der Lage ist, sie auch wieder zu verschließen.
Eine der wichtigsten Lehren aus dem Krieg betrifft den Zustand der russischen Gesellschaft. In ihrer Quasi-Totalität ist sie, genau wie die Mehrheit der Oppositionellen, nicht bereit, die moralische Verantwortung für den Angriffskrieg gegen die Ukraine zu übernehmen. Es bleibt zwar dabei, dass die Entscheidung für den Gewaltausbruch des Konflikts allein von Putin und seinem engsten Kreis getroffen wurde, ja nicht einmal die Armee war auf einen großen Eroberungskrieg vorbereitet, schließlich war der Angriffsplan geheim gehalten worden. Und doch wählten die einfachen Russinnen und Russen, genau wie die Eliten, im Jahr 2000 mit großer Mehrheit den ehemaligen Chef des FSB und einstigen Oberstleutnant des KGB zum Präsidenten. Sie waren es auch, die den zweiten Tschetschenienkrieg umfassend befürworteten, der 1999 von derselben Person, damals als Ministerpräsident, nach dem altbekannten und heute auch in der Ukraine wieder genutzten Muster des verbrecherischen Kolonialkrieges erneut in Schwung gebracht wurde. Sie waren es auch, die die offizielle Version für die Sprengstoffanschläge auf Wohnhäuser im September 1999 »schluckten« – mit fast 300 Toten und 1700 Verletzten –, welche tatsächlich aber vom FSB organisiert worden waren, um den Krieg in Tschetschenien zu rechtfertigen. Die nicht gegen die Übernahme der beiden großen Fernsehsender ORT und NTV durch die Machthaber protestierten. Die nicht gegen die willkürliche Verhaftung und den höchst ungerechten Prozess gegen Michail Chodorkowski demonstrierten, das Zeichen des Zur-Ordnung-Rufens der großen Vermögenden, die fortan gezwungen waren, Putins Projekte zu unterstützen. Die den ersten ukrainischen Maidan der Jahre 2004 und 2005 – eine umfassende Protestbewegung gegen die gefälschte Wahl von Viktor Janukowitsch, Putins Wunschkandidaten – nicht ermutigten. Die nicht auf die Straßen gingen, um 2008 gegen die Besatzung von rund zwanzig Prozent des georgischen Staatsgebietes zu protestieren. Die, schaut man landesweit, nur zu sehr wenigen gegen die gefälschten Duma-Wahlen 2011 und die dritte Wahl Putins zum Staatspräsidenten 2012 demonstrierten, zu der es nach dem »Reise nach Jerusalem«-Intermezzo von Dmitri Medwedew kam. Die sich 2014 begeistert über die Besatzung und Annexion der Krim zeigten und in ihrer großen Mehrheit den Kampf des imaginierten »Volks vom Donbass« für seine Unabhängigkeit unterstützten, der doch vollständig von Moskau aus gesteuert wurde. Die sich nicht für die Ermordung von Boris Nemzow, dem Oppositionsführer und erbitterten Gegner des Ukrainekrieges, 2015 vor den Mauern des Kremls interessierten. Die 2018 Wladimir Wladimirowitsch im ersten Wahlgang und mit einer satten Mehrheit zu seiner vierten Amtszeit als Präsident verhalfen. Und die 2020 für die Verfassungsänderung stimmten, die es ihm erlaubt, bis 2036 an der Macht zu bleiben, so es ihm gefällt.
Diese Aufzählung ließe sich noch fortsetzen und ausbreiten: Die russische Gesellschaft hat in den letzten zwei Jahrzehnten die Freiheiten, die sie während der Perestroika und unter Jelzin genoss, gegen eine falsche Neubewertung von Würde, gegen eine obsolet gewordene und giftige nationalistisch-imperialistische Idee eingetauscht, vor allem aber gegen eine gewisse Verbesserung ihres Lebensstandards, die durch den Anstieg der Rohstoffpreise auf dem internationalen Markt möglich geworden war. Zweifelsohne hat sich die russische Gesellschaft in die sowjetische Schablone zurückfallen lassen, die im Gegenzug für vollständige Passivität und totalen Gehorsam einen sicheren Studienplatz und eine sichere Arbeitsstelle garantierte. Der derzeitige mafiöse Staat übernahm die Kontrolle über die entscheidenden Wirtschaftssektoren, zerstörte einen Großteil der kleinen und mittleren Unternehmen zugunsten des Großkapitals und erlaubte Putins Entourage, den Oligarchen und lokalen Größen sich zu bereichern. An die Bevölkerung, vor allem aber an die Silowiki, die Sicherheitsorgane – Armee, Polizei, Geheimdienste etc. – und all jene, die das reibungslose Funktionieren des Regimes sicherstellen, wurden »Krümel« verteilt.
Schlimmer noch ist, dass diese ohnehin schon sehr konformistische Gesellschaft sich an den Krieg gewöhnt hat und auf ihn ausgerichtet ist. Sie nimmt aktiv oder passiv an der Aggression gegen das Nachbarland teil oder hält doch zumindest einen Schein der Normalität im eigenen Land aufrecht, das einen somit akzeptabel gewordenen Krieg mit Völkermord führt. Eine im Juni 2023 durchgeführte Umfrage des Instituts Levada hat ergeben, dass 73 Prozent der Russinnen und Russen die »Spezialoperation« befürworten – auch wenn solche Umfragen aufgrund der Repressionen nicht unbedingt unter freie Meinungsäußerung fallen können … Dank der tief verwurzelten und durch eine nachdrückliche und wirksame Propaganda verstärkten Herrschaftsmatrix unterstützt die Gesellschaft mehrheitlich den Krieg oder unternimmt nichts, um sich ihm zu widersetzen, auch wenn fast eine Million junger Männer, die für eine Mobilisierung infrage kamen, ins Ausland geflohen sind. Das Leben geht weiter, als wäre nichts geschehen. Die Intellektuellen publizieren weiter und treten unvermindert in den Talkshows auf, die Schriftstellerinnen veröffentlichen, Künstler zeigen ihre Kunst. Die Restaurants und Cafés in Moskau sind gut besucht, und man umgeht die Sanktionen wo immer möglich. Selbst extreme Maßnahmen wie die Einführung von verpflichtenden allwöchentlichen Schulunterrichtsstunden über die »militärische Spezialoperation« rufen kaum Reaktionen hervor. Einige Dutzend Grundschullehrerinnen weigerten sich, das zu unterrichten, einige Lehrer haben gekündigt, doch die gut geölten Zahnräder der Propagandamaschine greifen weiterhin ungehindert ineinander.
Warum unterstützt die Gesellschaft den Krieg? Einige Russinnen und Russen sind überzeugt, die Ukraine und der Westen seien an den Kämpfen schuld, andere glauben, die Führung des Landes wisse besser als sie selbst, was richtig ist, wieder andere sind der Meinung, dass es ihre Pflicht sei, ihr Vaterland zu unterstützen, was immer es auch tue, genau wie »unsere Jungs an der Front« Unterstützung verdient haben et cetera. Es lassen sich auch wirtschaftliche Gründe finden: Der Staat bezahlt all jene großzügig, die einen Vertrag mit der Armee abschließen – wodurch vermieden wird, Wehrpflichtige an die Front schicken zu müssen –, und die Familien der im Krieg Gefallenen erhalten Summen, die über das hinausgehen, was ein normaler Arbeiter im Laufe seines gesamten Lebens verdienen kann. Für viele Russen mit bescheidenem Einkommen wird der Kriegseinsatz somit zu einer wirtschaftlich interessanten Option. Und jeder Bürger, der an die Front aufbricht, spinnt ein Netz der Solidarität mit Dutzenden von Angehörigen, Freunden und Kolleginnen.
Vor dem Hintergrund der unnachgiebigen Unterdrückung jeglicher Antikriegsaktivitäten und der allgegenwärtigen Zensur wirkt der Staat, gestützt durch eine zu Diensten stehende orthodoxe Kirche, auf Föderations- wie auf lokaler Ebene darauf hin, dass die Unterstützung für den Krieg weiter gesteigert wird. Es entstehen Bücher und Filme, man zeigt Ausstellungen, organisiert Konzerte und sammelt Geld für die Armee sowie zur Unterstützung der russischen »Kriegsopfer«, darunter die Zivilbevölkerung im Donbass und anderen annektierten Gebieten. Selbst Kinder und Jugendliche werden zunehmen militarisiert – all das, um die Gesamtheit der Gesellschaft in einen barbarischen und ungerechten Krieg hineinzuziehen. Nach der Annektion der Krim lauteten weitverbreitete Slogans etwa »Wir schämen uns nicht!« und »Wir können es wiederholen!«. Die furchtbare Bedeutung dieser Losungen wird erst heute vollumfänglich deutlich.
Aggressive und vor allem totalitäre Regime greifen systematisch zu einer Rhetorik, die sie die Opferrolle einnehmen lässt. So prangerte Hitler die Ungerechtigkeit des »Diktatfriedens« von Versailles an, der die deutsche Nation in die Knie zwingen solle, wo sie von den »perfiden« Juden dann »beraubt« und »bestohlen« werde. Das Sowjetregime wiederum warf inneren wie äußeren Feinden vor, an seinem Untergang zu arbeiten, und die Propaganda wiederholte immer wieder, dass die gesamte Welt, und insbesondere der Westen, den Tod der »jungen sowjetischen Republik« zu erreichen suche. Dabei rief sie selbst unentwegt zur Zerstörung des Kapitalismus und der »bürgerlichen« demokratischen Regierungen sowie zur Weltrevolution auf. Ab September 1939 begann die mit Hitler verbündete Sowjetunion, die östliche Hälfte Europas einzunehmen und zu sowjetisieren, bevor sie später eine ganze Reihe weiterer Länder unter ihre Kontrolle brachte. Putin hat nun ebenfalls eine viktimisierende Rhetorik entwickelt, die teilweise den sowjetischen Diskurs aufgreift: Europa sei seit Langem »faschistisch« gewesen und würde es bleiben; die ethnischen Russen seien die wahren Opfer des deutschen »Völkermords« – womit er nebenbei erneut dafür sorgt, dass wie zu Sowjetzeiten der Genozid an den Juden verschleiert wird –; der westliche Imperialismus verhindere die Errichtung einer gerechten internationalen Ordnung; die Russlandfeindlichkeit – insbesondere das angebliche Verbot der russischen Kultur in den westlichen Ländern – sei auf ihrem Höhepunkt angelangt, angesichts des legitimen Wunschs des russischen Volks, seine »historischen Gebiete zurückzugewinnen«; und natürlich hätten die Ukrainer den Krieg gegen ihre »russischen Brüder« begonnen, und zwar aus Hass und auf Befehl ihrer westlichen Herren, die versuchten, Russland über die Sanktionen zu »ersticken«, während die bösartige NATO Russland »einkreisen« und »zerstören« wolle und so fort.
Dieser Diskurs stößt in der Bevölkerung auf ein ausgeprägtes Echo. So lassen sich den Menschen die Schwierigkeiten mit der »militärischen Spezialoperation« erklären, die auf die geballte Stärke des Westens treffe: Letzterer mobilisiere gegen das arme Russland, das doch nichts anderes tue, als seine Werte und seine Sicherheit zu verteidigen. So wird auch der durch die Sanktionen und Einschränkungen sinkende Lebensstandard gerechtfertigt, unter dem vor allem Reiche und der gehobene Mittelstand leiden, etwa wenn sie versuchen, in die Länder des Westens zu reisen oder ihre Neuanschaffungen mit Dollar oder in Euro zu bezahlen. In ihrer großen Mehrheit empfindet die Bevölkerung keinerlei Mitleid mit den Ukrainerinnen und Ukrainern, die unter der russischen Armee unsagbar leiden, dafür beschweren sie sich aber leidenschaftlich über die Unannehmlichkeiten, die dieser Krieg für sie selbst mit sich bringt. Diese Haltung ist die direkte Folge aus dem Russozentrismus und dem jahrhundertealten Imperialismus, den das Putin’sche Regime zu reaktivieren und verstärken wusste. Die Abwesenheit von Empathie ist sicher intrinsisch in einem Großteil der Bevölkerung verankert, der so sehr unter dem kommunistischen Joch gelitten hat und dann das vom Zusammenbruch der Sowjetunion provozierte Chaos überstehen musste, dass er angesichts des Leidens »desensibilisiert« wurde und die Fähigkeit verlor, den anderen ebenso zu lieben wie sich selbst. Der vielfach ausgezeichnete russische Regisseur Andrej Swjaginzew belegte dies 2017 auf sehr überzeugende Art und Weise mit seinem Film Loveless (Nelyubov).
Dieser Kontext erklärt, warum die russische Gesellschaft nicht gegen die hohen militärischen Verluste aufbegehrt, die auf 120 000 Gefallene und mehr als 200 000 Verwundete und Verstümmelte geschätzt werden – deutlich mehr als die 15 000 toten russischen Militärs während der zehnjährigen Auseinandersetzung in Afghanistan! Die Propaganda befeuert dabei sowohl eine gewisse Gleichgültigkeit dem Tod gegenüber als auch eine Heroisierung des Tods auf dem Schlachtfeld. So erklärte Putin im November 2022 bei einer Begegnung mit Müttern, deren Söhne angeblich an der Front gefallen sind, dass in Russland jedes Jahr fast 30 000 Menschen durch Verkehrsunfälle und noch einmal so viele an den Folgen von Alkoholismus sterben, und fuhr dann fort: »Wichtig ist, dass wir alle sterblich sind, alle dem Herrn unterstehen. Und irgendwann werden wir diese Welt verlassen, das ist unvermeidlich. Die Frage ist, wie wir gelebt haben.« Die orthodoxe Kirche bleibt ebenfalls nicht untätig, da Patriarch Kyrill I. die Gläubigen häufig aufrief, keine Angst vor dem Tod für das Heimatland zu haben, und den Helden das ewige Leben an der Seite Gottes zusagte.
So erstaunlich es auch klingen mag, doch Opferdiskurs und fehlende Empathie sind auch für eine Mehrheit der Regimekritiker charakteristisch. Eines der markantesten Phänomene der jüngsten Zeit war die Emigration einiger Menschen, die »den Geschmack von Blut nicht im Mund schmecken« konnten, so der Philosoph Sergej Medwedew, und die Ausreise von noch deutlich mehr jüngeren Russen, die allein oder mit ihren Familien der Einberufung entgehen wollten. Unter dieser Million Russen ist nur eine kleine Minderheit politisch aktiv. Und die Zahl derjenigen unter ihnen, die den Ukrainerinnen und Ukrainer ihr Mitleid aussprechen oder tun, was sie können, um der Ukraine zu helfen, ist noch einmal kleiner.
Die Diskussionen unter Russinnen und Russen, die sich in sozialen Netzwerken aufregen, zeigen, dass die Ausgewanderten sich beispielsweise über ihre Probleme beschweren, Papiere zu bekommen, eine Arbeit zu finden, sich an das neue Land zu gewöhnen – an Georgien, Armenien, Kasachstan, das Baltikum und andere europäische Staaten, die Emirate et cetera – sowie über mangelnde Beachtung, eine kulturelle »Russophobie«. Im Klartext: Sie selbst sind die Bemitleidenswerten, nicht die Ukrainerinnen und Ukrainer, die von Bomben zerfetzt werden, nicht die ukrainischen Frauen und Kinder, die zu Millionen nach Europa flüchten, während ihre Männer und Väter für das Heimatland kämpfen. In den sozialen Medien zeigt sich auch ein Ressentiment gegen die Ukrainerinnen und Ukrainer, die in der westlichen Welt freundlicher aufgenommen werden. Die Synthese dieses Gefühls von Groll hat eine der einflussreichsten Politologinnen Russlands, Ekaterina Schulmann, die seit April 2022 in Deutschland lebt und in ihrer Heimat zur »ausländischen Agentin« erklärt wurde, brillant zusammengefasst. In einer Replik, die im Internet ein großes Echo ausgelöst hat, formulierte sie: »Das Haus unserer Nachbarn hat gebrannt, während bei uns der Abwasserkanal geplatzt ist. Jedem sein eigenes Problem, wie man so schön sagt. Nur mit dem Unterschied, dass das Haus des Nachbarn natürlich von der ganzen Welt gemeinsam wieder aufgebaut werden wird, während man uns sogar verbietet, Reparaturen zu planen, unter dem Hinweis, es sei schon immer so bei uns gewesen und dass man ganz grundsätzlich doch zuerst einmal verstehen sollte, woher das kommt und was da über unseren Boden treibt.« Damit ist alles gesagt. Es sind nicht »wir«, die das Haus des Nachbarn angezündet haben, sondern das Schicksal hat es so gewollt. Die ganze Welt steht auf der Seite »unseres« Nachbarn, während »wir« genauso von einem Unglück getroffen wurden. Obendrein zwingt man »uns« noch, die Ursache für »unser« Unglück zu suchen, anstatt Anteil zu nehmen und »uns« einfach mal zu helfen. Denn auch »wir« sind schließlich Opfer.
Die Weigerung, die moralische Verantwortung für den Krieg zu übernehmen, führt selbst in Kreisen der russischen politischen Opposition zu außergewöhnlichen Erklärungen, zeigt sie sich doch überzeugt, dass die Machtposition des russischen Präsidenten »usurpiert« wurde. Die Oppositionellen vergessen dabei, dass dies mit dem Einverständnis eines Großteils der Gesellschaft geschah. Die Opposition behauptet, man müsse nur den »Usurpator und Verbrecher« von der Macht entfernen, um den Krieg beenden und ein »freies und glückliches« Russland aufbauen zu können. Diese Überzeugung wird von oppositionellen Politikern wie ein Mantra wiederholt, etwa von Ilja Jaschin – im Dezember 2022 zu achteinhalb Jahren Gefängnis wegen der Verbreitung von Falschinformationen über die »militärische Spezialoperation« verurteilt – oder von Alexej Nawalny, erst kürzlich erneut wegen »Terrorismus« abgeurteilt, obgleich er doch im Gefängnis sitzt – wo er bis Ende der 2030er-Jahre wird bleiben müssen, sofern man nicht einen weiteren Prozess gegen ihn anstrengt.
Äußerungen jener, die verstanden haben, dass ein Ende Putins nicht die moralischen Probleme der russischen Gesellschaft lösen würde, sind kaum zu hören. Und auch nur wenige – wie etwa der ehemalige Schachweltmeister Garri Kasparow – beteuern deutlich vernehmbar, dass ein vollständiger militärischer Sieg der Ukraine sowie eine Rückkehr zu den internationalen Grenzen des Jahres 1991 notwendig ist, und kaum jemand versteht, dass die Kinder und Enkel von heute die schwere Bürde der Reparationszahlungen an die Ukraine und die moralische Verantwortung für Abertausende von Toten, Hunderttausende von Verletzten und Millionen von aus der Ukraine Vertriebenen zu tragen haben werden. Und noch seltener sind jene, die bereit sind anzuerkennen, dass die beste Lösung für die Zukunft Russlands und den Frieden auf der Erde der Zusammenbruch der Russischen Föderation wäre. Die Künstlerin und politische Aktivistin Katia Margolis, die in Venedig lebt und diese Ideen öffentlich vertritt, wird von »angepassten« Russinnen und Russen über die sozialen Netzwerke massiv angegriffen.
Natürlich darf man dabei nicht vergessen, dass in Russland Tausende für ihre Opposition gegen den Krieg zu politischen Gefangenen gemacht wurden und dass Zehntausende aus demselben Grund mit Geldbußen belegt oder unterdrückt wurden. Russische Vereine im In- wie im Ausland helfen ukrainischen Flüchtlingen und nehmen an Veranstaltungen gegen den Krieg und gegen Putin teil. Einige Dutzend bekannte Vertreter der russischen Opposition im Exil, wie etwa Michail Chodorkowski, Garri Kasparow, Lew Ponomarjow und andere, haben gemeinsame Aufrufe veröffentlicht, doch all das ist im Moment noch zu wenig. Man könnte sagen, dass die Anti-Putin-Opposition auf den Sturz des Regimes wartet, in der Hoffnung, im sich dann anschließenden Vakuum eine Rolle spielen zu können.
Nach rund zwei Jahren Krieg sieht die Bilanz für Russland verheerend aus. Militärisch gesehen ist die »Spezialoperation«, die die gesamte Ukraine innerhalb weniger Wochen erobern, in Kiew ein »Kollaborationsregime« einsetzen und dabei helfen sollte, die industriellen und landwirtschaftlichen Reichtümer der Ukraine auszubeuten, auf ganzer Linie gescheitert. Die ukrainische Armee hat lange widerstanden – in Mariupol, in Bachmut – und ist inzwischen sogar zum Gegenangriff übergegangen – in Charkiw im Norden, in Cherson im Süden. Sie ist heute vor allem dank des Einsatzes von Drohnen in der Lage, den Krieg weit ins russische Hinterland zu tragen, Militärflughäfen, Munitionsdepots und Treibstofflager zu treffen und sogar Moskau beziehungsweise den Kreml zu treffen. Es gelingt der Ukraine immer besser, ihren Luftraum zu schützen.
In geopolitischer Hinsicht ist die Isolation Russlands offensichtlich geworden: Das Land wurde aus der Runde der G8 ausgeschlossen und muss sich anstrengen, die Unterstützung der von China dominierten BRICS-Staaten zu gewinnen. Putin war sogar gezwungen, sich Ratschläge des chinesischen Präsidenten Xi Jinping anzuhören, als dieser im März 2023 Moskau besuchte: »Alle mit Atomwaffen ausgerüsteten Staaten sollten auf den Einsatz solcher Waffen im Ausland verzichten« – die Begegnung der beiden Staatschefs endete nicht einmal mit einem gemeinsamen Kommuniqué. Und was die NATO betrifft, so war sie niemals zuvor derart präsent an der russischen Grenze, da die lange Zeit neutralen Staaten Finnland und Schweden sich angesichts der neuen Bedrohungslage dem Bündnis angeschlossen haben. Die Ostsee, seit 1945 eine Art »sowjetisches Meer«, droht für Russland unzugänglich zu werden. Und die Europäische Union zeigt sich geeinter denn je und sich der russischen Bedrohung bewusst, und ein Großteil ihrer Mitgliedsstaaten hob als Reaktion in aller Eile finanzstarke Militärprogramme aus der Taufe.
Im Gegenzug übt Putin maximalen Druck auf einen weiteren autoritären Machthaber aus, der in seinem Land Oppositionelle rücksichtslos unterdrückt, auf seinen devoten Alliierten Alexander Lukaschenko, den illegitimen Präsidenten von Belarus, damit dieser russische Atomwaffen auf seinem Staatsgebiet stationiert, obwohl dies der Verfassung des inzwischen atomwaffenfreien Landes widerspricht. Zudem unternimmt Putin alles in seiner Macht Stehende, damit Georgien sich nicht weiter an die Europäische Union annähert. Doch die Potentaten der ehemaligen Sowjetstaaten Zentralasiens scheinen sich immer weniger einer völlig bedingungslosen Treue zu Putin hinzugeben. Das geht so weit, dass Putin sich zum Verrat an Armenien gezwungen sah, dessen Schutzmacht Russland traditionell war, um sich durch den Seitenwechsel den Export seines Erdöls über Aserbaidschan zu sichern. Die Folge: 150 000 Armenierinnen und Armenier aus Bergkarabach waren von ethnischen Säuberungen bedroht und wurden gewaltsam gezwungen, die Gebiete zu verlassen, auf denen die Christen seit 2000 Jahren lebten. Auch die Führungsriege der osteuropäischen Staaten erkannte inzwischen, wie viel KGB und Mafia in Putins Regime steckt, und entwöhnte sich von der russischen Fata Morgana, selbst wenn der ehemalige französische Präsident Nicolas Sarkozy noch immer von der alten slawophilen Mythologie besessen zu sein scheint, wie sie etwa von der ehemaligen Leiterin der Académie française Hélène Carrère d’Encausse verbreitet wurde, und erklärte: »Die Russen sind Slawen. Sie sind anders als wir.« Als wären die Ukrainer, die Polinnen, die Tschechen und die Slowakinnen keine Slawen, wo sie doch die Demokratie einer Diktatur vorziehen. Sarkozy regte zudem an, Putin solle den Donbass und die Krim behalten, während die dann neu gezogenen Grenzen der Ukraine durch »eine internationale Vereinbarung« überwacht werden könnten, die »extrem starke Sicherheitsgarantien vorsieht«.[1] Genau das war schon im Jahr 2014 der Fall, und wer kann es heute noch glauben, wenn Putin eine Zusage macht?
Trotz der propagandistischen Prahlereien des Kremls und der Umgehung der Sanktionen mithilfe der Chinesen und Inder zeigen in wirtschaftlicher Hinsicht die im Westen ergriffenen Maßnahmen zunehmend Wirkung. Im August 2023 verlor der Rubel 25 Prozent seines Werts gegenüber dem US-Dollar, und die russische Zentralbank war gezwungen, Sofortmaßnahmen gegen die galoppierende Inflation zu ergreifen, während den russischen Unternehmen jene elektronischen Bauteile ausgehen, die für die Herstellung von Waffen auf internationalem Niveau unabdingbar sind. Ein Großteil der bedeutenden ausländischen Unternehmen hat sich aus dem russischen Markt zurückgezogen, was häufig mit herben finanziellen Verlusten einherging, die sie nicht dazu verlocken werden, baldmöglichst in das Land zurückzukehren.
Eine der aufsehenerregendsten Maßnahmen bei dieser Flucht nach vorn ist die Neuschreibung der Geschichte. Auf der einen Seite gab Wladimir Putin zwei »Historikern« den Auftrag, die Geschichtsbücher für die letzten beiden Schuljahre vor dem Abitur neu zu schreiben – sie sind nun mit Unwahrheiten und einer Glorifizierung des Krieges gespickt. Unter der Federführung von Wladimir Medinski, dem früheren Minister für Kultur und versessenen Propagandisten des Ruhms des russischen und sowjetischen Militärs, haben sich die Autoren damit begnügt, die unter Stalin und später unter Leonid Breschnew etablierte Erzählung des 20. Jahrhunderts aufzuwärmen, die auch in Frankreich von der Kommunistischen Partei Frankreichs weitergetragen wird. Die groben Züge dieser Interpretation sind allgemein bekannt: Russland hat, selbst und vor allem unter seinem Führer (woschd) Stalin, der Welt seine Großartigkeit bewiesen und sie vor der nationalsozialistischen Gefahr gerettet – natürlich wird hier mit keinem Wort der Hitler-Stalin-Pakt zwischen 1939 und 1941 und dessen Rolle beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erwähnt; die Ausländer, insbesondere aus Polen, den baltischen Staaten oder Rumänien sowie aus den westlichen Ländern, sind für jegliches Unglück Russlands verantwortlich; schließlich findet sich in den Geschichtsbüchern ein ganzes Kapitel zur »Spezialoperation«, die durch den unaufhörlichen Kampf Russlands gegen den »Faschismus«, in diesem Fall gegen die »ukrainischen Neonazis« aus Kiew, gerechtfertigt wird. Die Schülerinnen und Schüler werden nicht einmal erfahren, dass ihr Land in einem umfassenden und langwierigen Krieg kämpft … Dasselbe gilt für die Einführung eines neuen Pflichtkurses für alle Studentinnen und Studenten im ersten Studienjahr, die sich mit den »Grundlagen des russischen Staates« beschäftigen müssen, wobei der Kurs nichts anderes als ein Gespinst aus imperialistischen und wahnhaft messianischen Lügen ist. Und um das Maß vollzumachen droht die russische Justiz dem Mitbegründer der Menschenrechtsorganisation Memorial (Friedensnobelpreis des Jahres 2022) und Sacharow-Preisträger Oleg Orlow, der seit 35 Jahren historische Forschungen zu den Verbrechen des Sowjetregimes betreibt, eine langjährige Gefängnisstrafe an. Der Kreml förderte zudem, um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, die Errichtung von Dutzenden Stalin-Denkmälern und ließ am 11. September 2023 in Moskau eine Kopie jener Statue von Feliks Dzierżyński wieder neu errichten, die man dort im Jahr 1991 abgerissen hatte. In seiner Rede zur Einweihung lobte Sergej Naryschkin, Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes SWR, den Gründer der Tscheka – des Vorläufers des KGB – und Verantwortlichen für die Ermordung von Hunderttausenden als »Vorbild an Ehrlichkeit, Hingabe und Pflichttreue […], der bis zum Ende seinen Idealen von Güte und Gerechtigkeit treu geblieben ist«. Die Botschaft des ehemaligen KGB-Offiziers Putin über die Natur des von ihm geleiteten Regimes könnte nicht deutlicher sein.
Auf der anderen Seite hat die russische Invasion in der Ukraine die dortige Entsowjetisierung des öffentlichen Raums nur beschleunigt, die immer mehr einer ganz allgemeinen Entrussifizierung ähnelt. Tausende Straßen und Plätze wurden umbenannt und tragen heute Namen ukrainischer Persönlichkeiten. Die gewaltige Statue der (sowjetischen) »Mutter Heimat«, die mit mehr als 60 Metern Höhe seit 1981 das Stadtbild Kiews dominiert, verlor das 13 Meter hohe (!) Wappen mit Hammer und Sichel auf dem von ihr in die Höhe gereckten Schild, auf dem inzwischen der Dreizack zu sehen ist, das Symbol der unabhängigen Ukraine. Und seit dem 24. August 2023 heißt das Denkmal auch offiziell »Mutter Ukraine«. Im gesamten Land wecken die von der russischen Armee seit Februar 2022 begangenen Verbrechen die Erinnerungen an den langen Kampf der Kosaken gegen die Kolonisierung durch das Zarenreich und an die furchtbaren Verbrechen der Massenmorde zunächst durch die Tscheka, dann durch den NKWD und schließlich den KGB an der Elite und der übrigen ukrainischen Bevölkerung. Von nun an trennt ein unüberbrückbarer Fluss aus Blut die berühmten »Brudervölker«, die sowohl von der Sowjetunion wie auch von Putin so gepriesen wurden, sich inzwischen aber feindlich gegenüberstehen.
Ganz gleich, ob das Regime Putins derzeit noch fest im Sattel sitzt oder sich inzwischen seinem Ende nähert, nichts garantiert, dass dessen Nachfolger nicht dieselben Ideen hochhält und ähnliche imperialistische und kolonialistische Ansprüche verfolgt, nur unter einem anderen Aushängeschild. Aus diesem Grund muss der Westen aufmerksam bleiben: Die russische Gesellschaft, durch mehr als siebzig Jahre totalitären Kommunismus, die Reaktivierung eines neozaristischen Imperialismus und eines Russozentrismus geformt, ist von Putin pervertiert und korrumpiert worden. Sie bildet einen fruchtbaren Boden, auf dem ein für die Zukunft der Ukraine und der Gesamtheit der freien Welt extrem gefährliches Regime erwachsen kann. Nur eine echte nationale Reue für die Verbrechen der kommunistischen Vergangenheit und für jene des aktuellen Angriffskrieges kann den ansonsten unweigerlichen Abstieg Russlands verhindern und zugleich den Weg zur Rückkehr in den Kreis der zivilisierten Nationen öffnen. In dieser Hinsicht bestätigen die Ereignisse der letzten Zeit die Analysen, die wir für unser Buch im September 2022 entwickelten und die auch im Ausland Anklang fanden, schließlich wurde das Schwarzbuch Putin aus dem Französischen nicht nur ins Deutsche, sondern auch ins Italienische, Spanische und Rumänische übersetzt; eine polnische und eine ukrainische Fassung erscheinen in Kürze.
Lassen wir zum Abschluss den schwer erkrankten und ins französische Exil geflohenen russischen Filmregisseur Andrej Swjaginzew zu Wort kommen, der all dies in einen Satz fasste: »Dieser Krieg ist eine humanitäre Katastrophe für die Ukraine und eine zivilisatorische für Russland. Unsere Schicksale haben sich soeben und für sehr lange Zeit voneinander getrennt. Wir werden nicht so schnell wieder am Konzert der Nationen teilnehmen können.«[2]
Paris, 27. September 2023
Aus dem Französischen von Jörn Pinnow
Galia Ackerman und Stéphane Courtois
Den Namen Wladimir Putin kennt man selbst in den abgelegensten Gegenden der Welt. Dabei ist das heutige Russland doch ein kleineres und vor allem wesentlich schwächeres Land als die UdSSR. Diese bestand aus 15 inzwischen unabhängigen Teilrepubliken, sie war Matrix und Motor eines weltweiten kommunistischen Systems, das seit 1919 alle kommunistischen Parteien in der Dritten Internationale zusammenfasste. Ab 1945 reihte sie diejenigen, die die Macht an sich gerissen hatten, in das sogenannte sozialistische Lager ein; es stand unter ihrer engmaschigen Kontrolle und umfasste vor allem Mittel- und Osteuropa, aber auch Vietnam, Kuba, lange Zeit China sowie weitere Länder. Und schließlich wurde die UdSSR von zahlreichen Entwicklungsländern unterstützt, die sich zu »blockfreien Staaten« erklärten, daneben aber auch von unzähligen Sympathisanten auf der ganzen Welt. Über die 90 kommunistischen Parteien auf allen Kontinenten hinaus verfügte sie über zusätzliche ausgedehnte Einflusskanäle: das Netzwerk der Friedensbewegung, den Weltgewerkschaftsbund und besonders die antikolonialistischen Bewegungen. Diese Faktoren und natürlich auch der Sieg über Nazideutschland 1945 sowie der Besitz der Wasserstoffbombe seit 1949 machten die UdSSR zur zweiten globalen Supermacht nach den Vereinigten Staaten.
Davon ist heute nichts mehr übrig. Mit seinem für 2022 hochgerechneten Bruttoinlandsprodukt ist Russland auf Platz 11 hinter Indien und Brasilien abgerutscht, und wegen der nach dem Angriff auf die Ukraine verhängten Sanktionen wird es nicht einmal diesen Platz halten können. Russland hat nur wenige Freunde, die meisten davon Pariastaaten wie Syrien unter Baschar al-Assad, Venezuela unter Nicolás Maduro, Nordkorea unter Kim Jong-un, der Iran der Ajatollahs und last but not least China unter Xi Jinping. Anders als die international einflussreichen kommunistischen Ideen kann es der Welt nichts Ansprechendes bieten, sondern beschränkt sich auf die Ablehnung des Westens und besonders der USA. Damit kann es in den Entwicklungsländern noch Punkte machen, was diese aber nicht daran hindert, ihre eigenen Interessen zu verfolgen und mit dem Westen Handel zu treiben. Und es steht außer Zweifel, dass die Länder, die früher zur »sowjetischen Interessensphäre« gehörten, niemals dahin zurückwollen.
Warum also nimmt Wladimir Putin nun schon seit gut zehn Jahren eine internationale Spitzenposition ein? Sicherlich, weil sein Regime abscheuliche Taktiken benutzt, denen die Demokratien manchmal ohnmächtig gegenüberstehen. In nur 22 Jahren hat sich das sogenannte postkommunistische Russland unter Putin in eine destruktive Macht verwandelt, deren wichtigster Exportartikel die Angst ist. Mit der Androhung von Atomschlägen versucht Russland, größere westliche Hilfe für die Ukraine zu verhindern, um so seinen imperialistischen Krieg zu gewinnen. Mit der Androhung von Nahrungsmittel- und Energieknappheit will es uns in die Knie zwingen, damit wir die Sanktionen aufheben, die seine Wirtschaft abstürzen lassen. Es setzt weltweit und besonders bei uns Propaganda- und Desinformationsnetzwerke ein, um die Einigkeit des Westens auszuhöhlen und sogar Bürgerkriege auszulösen.
Diese zersetzende Politik wurde im Komitee für Staatssicherheit (KGB) ausgebrütet, dem sowjetischen Inland- und Auslandsgeheimdienst, Putins Alma Mater, seiner Universität, an der er seine eigentliche theoretische und praktische Ausbildung erhielt. In Russland sagt man, es gebe keine Geheimdienstmitarbeiter im Ruhestand, keine Tschekisten a. D., und in Bezug auf Putin würde das heißen: »Einmal Tschekist, immer Tschekist.« Vielleicht sollte man sich jetzt einmal eine ganz einfache Frage stellen: Wie ist es möglich, dass jemand, der passenderweise am 20. August 1991 aus dem KGB ausschied – während des gescheiterten Putsches gegen Michail Gorbatschow also, und das, obwohl sein Chef, der Sankt Petersburger Bürgermeister Anatoli Sobtschak, sich gegen die Putschisten ausgesprochen hatte –, wie ist es möglich, dass so jemand 1998, nur wenige Jahre später, Direktor des in Föderaler Dienst für die Sicherheit der Russischen Föderation (FSB) umbenannten KGB wurde? Es ist undenkbar, dass einer, der den KGB in einer Krise »verlassen« hatte und nicht etwa General, sondern nur Oberstleutnant war, den höchsten Posten der Organisation bekommen konnte – es sei denn, er gehörte in Wirklichkeit zur »aktiven Reserve« aus ehemaligen KGB-Genossen, die jetzt für den FSB arbeiteten und den aus der Implosion der UdSSR 1991 hervorgegangenen Staatsapparat unterwandern sollten. So erklärt sich auch Putins berühmter »Scherz« bei einem Treffen von FSB-Leuten im Dezember 1999, am Tag des Tschekisten: »Ich möchte darauf hinweisen, dass die Gruppe der FSB-Offiziere, die zur Infiltration der Regierung entsandt wurde, zunächst ihre Aufgaben erfüllt.« Da war er bereits Regierungschef, und seine nächste Aufgabe war es, die Präsidentschaft zu erlangen, derer er sich im Jahr 2000 bemächtigte und die er seit 22 Jahren innehat, mit einem kurzen Zwischenspiel des Scheinpräsidenten Dmitri Medwedew.
Wir erforschen hier Putins Werdegang, den Weg eines vom Geheimagenten zum Zaren aufgestiegenen Mannes, der seinen Wurzeln als Homo sovieticus und seiner im Schoß des KGB gebildeten Weltsicht die Treue bewahrt hat, außerdem aber auch seinen unbekannten wahren Mentoren. Wie der Dissident Wladimir Bukowski sinngemäß sagte: Putin ist Oberstleutnant, aber über ihm gibt es Generäle.
Die besten französischen und ausländischen Experten für Russland und den Kommunismus – mehrere stammen aus der früheren UdSSR – haben zu diesem Werk beigetragen, um Putins Weg nachzuzeichnen und seine Regierungsführung zu beleuchten. Dabei vertreten wir einen einzigartigen Ansatz mit der These, seine Methoden und seine Taktik seien von den Werten des KGB geprägt. Weiter oben haben wir das sogenannte postkommunistische Russland benannt. Allerdings widersprechen wir der These vom Postkommunismus, denn wir beobachten mit Bitterkeit, dass der Kommunismus zwar eine Ideologie, dabei aber sehr anpassungsfähig ist; so erklärt es sich, dass Stalin einen Pakt mit dem Naziregime schließen konnte. Wie schon Lenin gezeigt hat, bestand die Praxis des Kommunismus vor allem darin, einer Gruppe von Berufsrevolutionären mit den geeigneten Methoden an die Macht zu verhelfen. Durch eine Klassenideologie – egal, ob es sich um eine soziale oder ethnische Pseudogruppe handelte –, legitimierte er eine grundsätzliche Ungleichheit zugunsten der Partei, die die Bevölkerungsmehrheit unterjochte. Und er diente als Grundlage, auf der alle, auch ökonomische Maßnahmen erdacht wurden, die in seiner Scheinideologie darauf abzielten, die erreichte Macht für alle Zeiten zu festigen, wobei der Unterdrückungs- und Terrorapparat, die Tscheka – das »Schwert der Revolution« –, die zentrale und entscheidende Rolle spielte. Dieses Modell eines totalitären Regimes galt und gilt für alle kommunistischen Herrschaftssysteme auf der ganzen Welt.
Putin ging weiter. Zwar wurde die kommunistische Idee abgeschafft, und die Partei verlor ihre Macht, doch konservierte er das kommunistische System der Staatsführung mit ihren wichtigsten Elementen, der vertikalen Ausrichtung und der Absage an einen Machtwechsel. Garantiert werden sie durch die Geheimdienste, in erster Linie den Inlandsgeheimdienst FSB, eine privilegierte Gesellschaftsschicht und die Kontrolle der Wirtschaft. Man könnte also vom »Sowjetsystem ohne kommunistisches Gedankengut« sprechen. Neu an Putins Variante ist zum einen die Fusion der Regierung mit mafiösen Gruppen und folglich auch die Übernahme von deren grausamer Praxis, zum anderen die endemische Korruption besonders an den Schaltstellen der Macht. So sieht das Regime aus, das global für Chaos sorgt und dessen imperialistische Absichten weit über die Ukraine hinauszielen.
Im Jahr 1997 veröffentlichten die Éditions Robert Laffont und der verstorbene Charles Ronsac das Schwarzbuch des Kommunismus, das nach der Öffnung der Moskauer Archive den Umfang und den intrinsischen Charakter der von Lenin begründeten und von Stalin systematisierten Verbrechen des kommunistischen Regimes dokumentiert. Die Verbreitung des Buches in mehr als 25 Ländern schien damals dazu beizutragen, das moralische Prestige der UdSSR zu zerstören. Außerdem symbolisierten der gescheiterte Putsch 1991 in Moskau und der darauf folgende Rücktritt Michail Gorbatschows für die meisten Beobachter einen Abschied vom Kommunismus und eine Zeitenwende. Wir zeigen in unserem Buch, in welchen Schritten die Rückeroberung der Macht durch den KGB/FSB und sein Geschöpf Wladimir Putin verlief, von dessen Aufstieg ins oberste Staatsamt bis zum andauernden Krieg in der Ukraine, dessen Ausgang im Augenblick niemand vorhersagen kann. Wir beschreiben die Summe der Verbrechen Putins gegen sein eigenes versklavtes und verdummtes Volk und gegen weitere Völker – Ukrainer, Tschetschenen, Georgier, Moldawier, Syrer, Venezolaner und andere –, Völker, deren normale Entwicklung dieses Regime dadurch verhindert, dass ihre diktatorischen Herrscher gestützt werden oder ihnen ein Krieg aufgezwungen und ihre Wirtschaft zerstört wird. Die Schädigung als politisches Prinzip hat Putin weltweit bekannt gemacht. Seinen Werdegang und sein Handeln zu entschlüsseln ist eine zentrale Aufgabe.
Galia Ackerman und Stéphane Courtois