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Patricia Cuver wird in der Nacht ihres dreißigsten Geburtstages ermordet. Drei Freunde schmieden ein Komplott und bezichtigen ihren Ehemann der Tat. Maximilian Cuver verbüßt unschuldig fünf Jahre Haft. Nach der Freilassung schwört er Rache. Lisa Morani lässt sich von Marco Kollberg die Falschaussage vor Gericht mit einem Schweigegeld in Höhe von fünfzigtausend Euro bezahlen. Es geschieht ein weiteres Gewaltverbrechen. Die Hauptkommissarin Veronika Sommercamp und ihr Kollege Jens Knobloch stehen vor einer unlösbaren Aufgabe. Es gibt weder ein Motiv, noch sind verwertbare Spuren am Tatort vorhanden. Die Ermittlungsakte wird geschlossen. Dann findet man einen Toten auf einem Ausflugsschiff. Die Kommissare erkennen zunächst keinen Zusammenhang zwischen den Morden. Ein geringfügig erscheinender Hinweis führt sie auf die richtige Spur.
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Seitenzahl: 430
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Dieter Landgraf
Schweigegeld
Krimimalroman
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Prolog
Die Gerichtsverhandlung
Die Geburtstagsparty – was wirklich geschah
Eine verhängnisvolle Entscheidung
Unverhoffte Begegnung
Das Rendevouz
Erinnerungen
Lisas erneute Forderung
Tamara und Marco
Die Vorbereitung
Vor Ort am Akaziensee
Tobias trifft Diana Martini
Lisa und Maximilian nach zwei Tagen Bedenkzeit
Tatort Pavillon
Lisa und Tobias
Tamara und Marco nach der Tat
Ein aufschlussreiches Gespräch
Maximilians Entscheidung
Im Kommissariat von Ballenhainischen
Der Tote auf dem Ausflugsschiff
Ereignisreiche Tage
Die Vernehmung
Das Déjà-vu
Im Klinikum
Schlussakkord
Impressum neobooks
Scheppernd fällt die graue Stahltür hinter Maximilian Cuver ins Schloss. Einsam und von keinem beachtet steht er vor der Justizvollzugsanstalt in Alt-Moabit. Diesen Augenblick sehnte er fünf lange Jahre voller Ungeduld herbei. Das widerwärtige grässliche Geräusch der sich schließenden Gefängnistür klingt wie Musik in seinen Ohren. Die unschuldig verbüßte Haftstrafe liegt endlich hinter ihm. Nach einem kurzen Moment des Verweilens begibt er sich schnellen Schrittes in den Park auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Auf einer Bank nimmt Maximilian Platz und zündet sich eine Zigarette an. Das Glücksgefühl über die wieder erlangte Freiheit hält nicht allzu lange an. Nach wenigen Augenblicken der Besinnung verspürt Maximilian das Aufkommen eines abgrundtiefen Hasses gegenüber demjenigen, der ihm das Unrecht und die damit erlittenen Qualen angetan hat. Hunderte Male schwor er sich in der für ihn fast unendlich dauernden Haftzeit, Vergeltung für die unschuldig hinter Gittern verbrachte Jahre, zu üben. Doch all seine Vorstellungen scheiterten immer wieder an einem Problem: Wer ist überhaupt die Person, an der es Rache zu üben gilt? Wer ermordete Patricia, meine geliebte Ehefrau? Wer zerstörte auf solch brutale Art und Weise unser unsagbar glückliches Leben?
Gierig atmet er den Rauch der Zigarette ein und schaut voller düsterer Gedanken auf die Bäume und Sträucher des Parks. Die fröhlich umhertollenden Kinder und die mahnenden Worte der besorgten Mütter nimmt Maximilian nur im Unterbewusstsein wahr. In seinem tiefsten Inneren breitet sich zunehmend ein Gefühl der Einsamkeit und Hilflosigkeit aus. Ihm wird mehr und mehr bewusst, dass die zurückerlangte Unabhängigkeit und Freiheit ohne Patricia nur einen geringen Wert besitzen. Ein Leben ohne sie ist für Maximilian im Augenblick nicht vorstellbar. Neidvoll schaut er den vereinzelt vorübergehenden Pärchen hinterher und wendet sich ab, wenn diese stehen bleiben und sich küssen. Die Erinnerungen an die überaus glücklichen Zeiten mit Patricia werden wieder wach. Nach zehn Ehejahren haben sie sich bei einem Spaziergang im Wald oder an einem See ähnlich wie die Liebespaare hier im Park verhalten. Mit verklärtem Blick in die Wipfel der Bäume stellt sich Maximilian vor, wie unsagbar zauberhaft und reizend es wäre, wenn Patricia neben ihm sitzen würde. Er schließt die Augen und spürt förmlich ihre Küsse auf seinem Mund. Jäh werden die ihn betörenden Träumereien unterbrochen. Eine Gruppe von Jugendlichen nähert sich der Bank. Die lautstarke Unterhaltung beendet abrupt sein Schwelgen in Erinnerungen. Sogleich wird ihm bewusst, dass er die Vergangenheit nicht zurückholen kann. Maximilian gibt sich innerlich einen Ruck: Mit dem ewigen Nachtrauern über das bisherige Leben werde ich kaum mein Ziel erreichen. Es gilt, sowohl Patricias Tod zu rächen, als auch das mir zugefügte Unrecht zu sühnen. So wie damals wird es nie wieder werden. In meinem Alter von vierzig Jahren gibt es sicher einen Neuanfang. Mit Wunschträumen und Phantastereien sind die mir selbst gestellten Ziele nicht zu erreichen.
Unwillkürlich weicht der ihm bei dem Gedanken an Patricia überkommene leicht verträumte Ausdruck aus dem Gesicht und macht Platz für eine unwiderstehliche Entschlossenheit. Seine Gedanken sind mit einer festen Gewissheit erfüllt: Die Stunde der Abrechnung wird kommen. Gleichgültig, wann es geschieht. Für das Erreichen des Zieles werde ich all meine Kräfte einsetzen und keiner wird in der Lage sein, mich daran zu hindern.
Die Zigarette ist aufgeraucht. Sorgfältig drückt er den glimmenden Rest in dem dafür bereitstehenden Abfallbehälter aus. Ohne Hast steht Maximilian auf. Sein Blick schweift über die Parklandschaft. Erst jetzt nimmt er den gepflegten Rasen und die sicher schon mehr als einhundert Jahre alten Eichen und Buchen wahr. Genau ein solcher Anblick war ihm eine gefühlte Ewigkeit verwehrt. Nur zögerlich reißt sich Maximilian vom Betrachten der Naturschönheiten los und sagt sich: Jetzt wird es Zeit, aufzubrechen. Es warten schließlich einige wichtige Dinge auf ihre Erledigung. Den angenehmen Seiten des Lebens wende ich mich zu einem späteren Zeitpunkt zu.
Hastig steht er auf und strebt schnellen Schrittes den Ausgang des Parks zu. Als ihm seine rasche Gangart bewusst wird, huscht ein bitteres Lächeln über das Gesicht und er sagt beim Verlassen des Parks halblaut vor sich hin: »Was soll ich mich beeilen? Auf mich wartet doch keine Menschenseele und ein Hotelzimmer erhält man zu jeder beliebigen Tages- oder Nachtzeit. Es bedarf sicher noch einige Zeit, um mit dem realen Leben zu Recht zu kommen.«
Auf dem Weg zur U-Bahn bemächtigt sich ihm nunmehr doch ein angenehmes Gefühl der wieder erlangten Freiheit. Mit fast schon kindlicher Freude löst er erstmals nach langer Zeit einen Fahrschein. Die Fahrt mit der U-Bahn genießt Maximilian mit sichtlichem Vergnügen. Sich unter den vielen Menschen zu bewegen, bereitet ihm ein Gefühl, endlich wieder dazu zu gehören und nicht ausgeschlossen zu sein. Die angenehmste Empfindung steht ihm jedoch noch bevor. Seit fünf Jahren muss Maximilian erstmals die Nacht nicht hinter vergitterten Fenstern verbringen. In Vorfreude darauf muss er sich regelrecht zügeln, die letzten Schritte von der U-Bahnstation bis zum Hotel nicht im Laufschritt zurückzulegen. Dann ist es geschafft und Maximilian steht am Empfangstresen. Etwas verunsichert, ob man ihm ansieht, ein ehemaliger Strafgefangener zu sein, bittet er um ein Zimmer.
Das freundliche Lächeln und der offene Blick der Mitarbeiterin der Rezeption zerstreuen sofort seine Befürchtungen. Zuvorkommend erläutert sie die Ausstattung der Zimmer und beendet ihre Ausführungen mit den Hinweisen auf die Frühstückszeiten. Maximilian nimmt den Schlüssel entgegen und fährt mit dem Lift bis zur obersten Etage. Beim Betreten des Hotelzimmers überkommt ihm ein Gefühl der vollkommenen Glückseligkeit. Obwohl er mit Patricia dutzende Male auf Urlaubsreisen in Hotels übernachtete, kommt es ihm im Augenblick vor, als würde sich eine völlig neue Welt erschließen. Vor allem die Minibar löst bei ihm einen unwiderstehlichen Reiz aus. Im Gefängnis hatte Maximilian auf Alkohol völlig verzichtet. Auch jetzt denkt er mit sichtlichem Widerwillen daran, wie ihm als einem sogenannten 'Neuen' in der Haftanstalt selbstgebrannter Schnaps angeboten wurde. Die Flasche kostete eine Menge Geld. Der Geschmack war so widerwärtig, dass Maximilian es bei dem einen Mal beließ und danach abstinent lebte. Anfangs fiel ihm das nicht leicht, da er in seinem Leben nie ein Kostverächter war und es an so manchen gemeinsamen Abenden mit Patricia nicht nur bei einer Flasche Wein geblieben war.
Interessiert liest er die Angebotskarte und überlegt: Für den Preis hätte ich damals bei meinem Weinhändler die fünffache Menge bekommen. Doch damit beschäftigt sich Maximilian nur wenige Augenblicke. Schließlich hat er in der Haftanstalt durchgängig gearbeitet und sehr genügsam gelebt. An Geld fehlt es ihm wahrlich nicht. Sichtlich vergnügt genießt er das Duschbad und setzt sich im Bademantel vor den Fernsehapparat. Die erste Flasche von dem Piccolo Sekt aus der Minibar ist schnell geleert. Über den Hausservice lässt sich Maximilian eine Weitere bringen. Der ungewohnte Alkohol verfehlt seine Wirkung nicht. Er schaut zwar auf den Bildschirm, doch die Aufmerksamkeit gehört nicht dem Film, der zurzeit im Hauptprogramm läuft. Vielmehr kehren seine Gedanken fünf Jahre zurück. Es war der Geburtstag von Patricia. Der Dreißigste ist Anlass genug, sich wieder einmal mit allen Freunden und Bekannten zu treffen. Die fröhlichen und unbeschwerten Feiern gehören schon seit Jahren zum festen Bestandteil des Freundeskreises. Nach dem Besuch einer Nachtbar ziehen Lisa Morani, Marco Kollberg und Tobias Fährmann laut und fröhlich mit in die Wohnung von Maximilian und Patricia Cuver. Alle sind vergnügt und keineswegs müde. Die Stimmung könnte nicht besser sein und der Alkohol fließt reichlich. Als würde es kein Morgen geben, wird getanzt und herzlich gelacht. Keiner schaut auf die Uhr. Die ausgelassene und ungetrübte Atmosphäre dauert bis in die frühen Morgenstunden.
An dieser Stelle unterbricht Maximilian seine Gedanken und schenkt sich ein weiteres Glas ein. Bisher lief das damalige Geschehen wie ein Film vor ihm ab. Doch mit einem Male brechen die Erinnerungen plötzlich ab. Eine Begründung dafür hat er bis heute nicht gefunden. Auf alle Fälle waren mit einem Schlag die Freunde verschwunden und ließen ihn in der Wohnung allein zurück.
Maximilian entsinnt sich nur dunkel daran, dass er in der Küche neben seiner Ehefrau kniete. Patricia lag blutüberströmt auf dem Boden und gab kein Lebenszeichen von sich. Wie betäubt von dem schrecklichen Anblick wurde von ihm das Läuten der Türklingel nur im Unterbewusstsein wahrgenommen. Auch das lautstarke Hämmern an die Korridortür konnte ihn nicht aus der Schockstarre befreien. Einen solchen geistigen und körperlichen Zustand hatte Maximilian bis zu diesem Zeitpunkt bisher nicht erlebt.
Plötzlich standen zwei Polizisten neben ihm. Das blutige Messer in de rechten Hand ließen bei den Beamten keinerlei Zweifel aufkommen, dass nur er für die Tat in Frage kommt und seine Frau erstach. Zudem waren sich keine weiteren Personen in der Wohnung anwesend. Maximilian wurde von den beiden Beamten zunächst aus der Küche in das Wohnzimmer geführt. Beim Eintreffen der Kriminalkommissare erhob er sich vehement von der Couch und beteuerte seine Unschuld. Die inständig mehrmals vorgetragene Versicherung, dass er niemals in der Lage wäre, Patricia so etwas anzutun, verhallte wie ungehört. Maximilian wurde in Gewahrsam genommen.
Bei der anschließenden Vernehmung im Polizeipräsidium äußerte der Kriminalbeamte, dass ein umfassendes Geständnis sich vor Gericht auszahle und er damit eine mögliche Strafminderung erwarten kann. Maximilian wehrte sich wiederum heftig gegen den Vorwurf, Patricia ermordet zu haben. Jedoch waren all die Bemühungen vergeblich. Der Kriminalkommissar nahm seine Aussagen lediglich zur Kenntnis und bemerkte dazu, dass er ihm bei einer solchen verbohrten Einstellung nicht mehr helfen könnte. Nach den Vernehmungen durch die Kriminalbeamten folgte die Gerichtsverhandlung.
Zum wiederholten Male führt sich Maximilian die Geschehnisse im Gerichtssaal vor Augen und fragt sich, wie so oft in den vergangenen fünf Jahren, auch diesmal, was Lisa Morani, Marco Kollberg und Tobias Fährmann nur bewogen haben könnte, sich gegen ihn zu stellen? Vor allem war er über das Verhalten von Lisa enttäuscht. Sie war die engste Freundin von Patricia und die Trauzeugin bei ihrer Eheschließung. Durch viele gemeinsame Unternehmungen hatte Maximilian sie näher kennengelernt. Einige Male glaubte er, aus ihren Blicken zu erkennen, dass Lisa in ihm mehr als nur einen Freund sah. Diesen Gedanken hatte Maximilian jedoch stets verworfen. Eine solche Überlegung erschien ihm doch zu abwegig. Schließlich verband die beiden Frauen eine innige Freundschaft, die weit vor seinem Kennenlernen Patricias entstanden war. Nach wie vor erscheint ihm ihr Verhalten vor Gericht äußerst rätselhaft und er findet dazu einfach keine schlüssige Erklärung.
Bei diesen Überlegungen überkommt ihn eine schon mehrmals zuvor aufgetretene Unrast. Er steht auf und beginnt im Zimmer auf und ab zu laufen. Auch eine Zigarette trägt nicht zu einem Nachlassen der inneren Anspannung bei. Schließlich begibt sich Maximilian ans Fenster. Die Lamellen der Jalousie erinnern ihn an die hässlichen Gitterstäbe im Gefängnis. Fast wütend zieht er an den Strippen, bis sie schließlich in den Kasten unter der Decke verschwinden. Der Anblick des Lichtermeers einer Großstadt faszinierte Maximilian in der Vergangenheit immer wieder aufs Neue. Umgehend fallen ihm die gemeinsamen Urlaubsreisen mit Patricia ein. An San Francisco, Las Vegas und Paris kann er sich genau erinnern. Immer schauten sie nachts gemeinsam auf die hell erleuchteten Städte. Jedes Mal äußerte Patricia voller Begeisterung: 'So etwas Schönes haben wir noch nie gesehen'. Bei dem Gedanken huscht ein flüchtiges Lächeln über sein Gesicht. Schnell wird Maximilian wieder ernst. Die Begeisterung über den Anblick hält sich heute in Grenzen. Zu aufgewühlt sind die Gedanken, wenn er an das Verhalten seiner bis dahin besten Freunde denkt. Im Grunde genommen beschuldigten sie ihn, den Mord an Patricia begangen zu haben. Genau so schnell, wie ihm der Gedanke kommt, verwirft er ihn wieder. Die Aussagen von ihnen galten schließlich nicht ihm, sondern nur ihren eigenen Erlebnissen in dieser Nacht. Ihre Reaktion nach der Gerichtsverhandlung kann Maximilian trotz oftmaligen Nachdenkens über die damalige Situation noch immer nicht nachvollziehen. Alle drei wendeten sich seit dem Prozess von ihm ab. Auch mehrmalige Versuche, mit ihnen telefonischen Kontakt aufzunehmen, scheiterten an der übereinstimmenden Begründung, dass sie mit einem Mörder nichts mehr zu tun haben wollten. Seine Beteuerung, die Tat wirklich nicht begangen zu haben, stieß auf taube Ohren. Schließlich gab Maximilian alle Bemühungen auf. Fünf Jahre verflossen, ohne dass er in der Haftanstalt jemals Besuch erhielt. Bei den Gedanken bekommt er feuchte Augen und einen Kloß im Hals. In diesem Augenblick wird ihm deutlich bewusst, dass er völlig allein ist und sich praktisch ein neues Leben aufbauen muss.
Maximilian ärgert sich über seine sentimentalen Gedanken und versucht, diese vehement zu verscheuchen. Ganz will es ihm nicht gelingen. Fast zornig über sich selbst schreibt er die ihm überkommenen Gefühle dem ungewohnten Genuss von Alkohol zu und setzt sich kraftlos erneut vor den Fernsehapparat. Die Flasche mit dem prickelnden Sekt ist noch halbvoll. Er verspürt jedoch kein Verlangen, ein weiteres Glas zu trinken. Die Unbeschwertheit, die beim Betreten des Hotelzimmers über ihn kam, ist verloren gegangen. Auch die Sendung der Spätnachrichten, die soeben im Fernsehprogramm beginnt, erweckt bei ihm kein Interesse. Maximilian löscht das Licht und begibt sich zur Nachtruhe. Lange Zeit findet er nicht in den Schlaf. Immer wieder tauchen die Bilder der Geschehnisse vor fünf Jahren vor seinen geschlossenen Augen auf. So intensiv hat er sie schon seit Langem nicht mehr erlebt. Maximilian spürt, dass ihm die Verdrängung des schrecklichen Geschehens nicht gelungen ist. Vielmehr hat sich sein Sinnen nach Vergeltung weitaus verstärkt.
Von wirren Träumen geplagt, wacht er in der Nacht mehrmals auf und muss sich zwingen, nicht aufzustehen. Beeinflusst durch die Wirkung des Alkohols kommen ihm plötzlich völlig absurde Gedanken in den Sinn: Bin ich vielleicht doch der Mörder und tötete Patricia? Haben meine Freunde, der Staatsanwalt und der Richter recht? Eigentlich fehlt mir für eine gewisse Zeit die konkrete Erinnerung an das Geschehen.Schließlich hatte ich an dem Abend reichlich getrunken.
Am nächsten Morgen begibt sich Maximilian ins Bad. Das kühle Wasser der Dusche lässt ihn schnell munter werden. Nach kurzer Zeit kommen ihm die Gedanken von gestern Abend wieder in den Sinn. Er schüttelt mehrmals den Kopf und sagt leise vor sich hin: »Ich kann es nicht gewesen sein. Patricia war meine große Liebe. Der wirkliche Täter lebt unbehelligt irgendwo in dieser Stadt. Vielleicht war er sogar beim Gerichtsprozess anwesend und hörte sich das Urteil genüsslich an.«
Bei diesen Worten steigt Wut in ihm auf. Niemals zuvor war Maximilian so fest entschlossen, Patricias Tod zu rächen. Er zieht sich den Bademantel an und tritt ans Fenster. Voll düsterer Gedanken schweift sein Blick über die langsam erwachende Großstadt. Wie am gestrigen Abend fesselt ihn der reizvolle Ausblick nicht. Für ihn gilt nur eine Maxime: Der Mörder muss gefunden werden und seine gerechte Strafe erhalten. Für das Verbrechen soll er büßen.
Beim tieferen Nachdenken wird ihm die Schwere der Aufgabe bewusst. Weder von Seiten der Polizei noch von seinen einstigen Freunden kann er Unterstützung erwarten. Allein auf sich gestellt muss es ihm gelingen, den Täter ausfindig zu machen. Ohne sich dessen bewusst zu sein, kommen ihm die Bilder aus dem Gerichtssaal in den Sinn. Die Erinnerungen daran sind mit einem Male so stark, dass er alles Gegenwärtige vergisst und sich gedanklich in den Ablauf des Geschehens vor fünf Jahren hineinversetzt.
»Ich bin unschuldig. Niemals wäre mir in den Sinn gekommen, meine Ehefrau zu töten. Sie müssen mir glauben«, äußert Maximilian Cuver vor dem Landgericht Berlin nach Verlesen der Anklageschrift des Staatsanwaltes.
Der Pflichtverteidiger legt ihm beruhigend die Hand auf den Arm und sagt leise: »Warten wir doch die Beweisaufnahme ab. Danach können wir uns immer noch äußern. Ich stehe auf Ihrer Seite und werde mich voll und ganz für Sie einsetzen.«
Als erster Zeuge wird Hauptkommissar Ingo Berger von der dritten Mordkommission Berlin aufgerufen. Der Vorsitzende Richter beginnt mit der Vernehmung und fordert ihn auf, den Verlauf des Geschehens in der Wohnung von dem Ehepaar Cuver zu schildern.
In kurzen Sätzen berichtet der Hauptkommissar über seinen Einsatz in der Mordnacht: »Beim Eintreffen in der Wohnung begab ich mich nach einer kurzen Verständigung mit der Pathologin ins Wohnzimmer. Die Luft war alkoholgeschwängert. Der Angeklagte machte auf mich einen ziemlich benommenen Eindruck. Trotzdem schilderte er mir präzise, was vor ungefähr einer Stunde geschah. Herr Cuver gab an, seine Frau in der Küche tot aufgefunden zu haben. Andere Personen befanden sich nicht in der Wohnung und die Korridortür war beim Eintreffen meiner Kollegen verschlossen.« Der Richter hält eine Plastiktüte hoch und fragt: »Was konnten Sie bezüglich des Tatwerkzeuges feststellen?«
»Es handelt sich um ein großes und äußerst scharfes Fleischermesser. Es gehört zu einem Set aus einem Messerblock, welcher sich bei der Tatortbesichtigung offen auf dem Zubereitungstisch der Küche befand. Am Griff stellten wir ausschließlich die Fingerabdrücke des Angeklagten fest. Es ist der eindeutige Beweis, dass Herr Cuver die Tat begangen hat.«
»Wodurch und von wem haben Sie von dem Verbrechen Kenntnis erhalten?«
»Den Beamten in der Notrufzentrale erreichte ein anonymer Anruf aus einer öffentlichen Telefonzelle. Daraufhin verständigte er die Besatzung des Streifenwagens. Als die diensthabenden Kollegen in der besagten Wohnung gegen vier Uhr noch Licht bemerkten, stiegen sie aus, um die Information des Anrufers zu überprüfen. Als auf wiederholtes Läuten nicht geöffnet wurde, verschafften sich die Beamten gewaltsam Eintritt zur Wohnung. Beim Betreten der Küche überraschten sie den Angeklagten, der mit dem Messer in der Hand neben seiner ermordeten Ehegattin kniete.«
»Gab es noch weitere Hinweise, die darauf schließen lassen, den Angeklagten mit der Tat in Verbindung zu bringen.«
»An seinem Gesicht und an dem Hemd wurden Blutspuren der Ermordeten festgestellt.«
Aufgeregt ruft Maximilian dazwischen: »Natürlich befand sich Blut von Patricia an mir. Vor Verzweiflung habe ich meinen Kopf auf ihre Brust gelegt, um zu spüren, ob ihr Herz noch schlägt.«
Der Richter geht über den Einwurf von Maximilian hinweg und sagt zu dem Hauptkommissar: »Abschließend habe ich noch eine Frage. Wurde von Ihnen außerdem etwas Auffälliges in der Wohnung festgestellt, was Sie bewog, den Angeklagten mit der Tat in Verbindung zu bringen? In dem Bericht ist zu lesen, dass andere Täter aus Ihrer Sicht nicht in Betracht kommen.«
»Selbstverständlich verdächtigen wir nicht grundlos eine Person. Wie sich bei der Untersuchung des Tatortes herausstellte, wurde die Korridortür von innen zweimal verriegelt. Da sich zu dem Zeitpunkt der Tat keine weitere Person in der Wohnung befand, kann nur der Angeklagte das Verbrechen begangen haben. Trotz der eindeutigen Beweise bestritt er jedoch bei den Vernehmungen hartnäckig, der Mörder seiner Ehefrau zu sein. Eine hinreichende Erklärung für die Behauptung ist er uns bis heute schuldig geblieben. Außer den ständigen Beteuerungen konnte Herr Cuver nichts zu seiner Entlastung vorbringen.«
»Sie sprachen anfangs davon, dass Alkohol mit im Spiel gewesen sei und der Angeklagte einen recht benommenen Eindruck machte.«
»Das ist richtig. Es handelt sich dabei um den Zeitpunkt, als ich die Wohnung betrat. Bei dem folgenden ersten Gespräch hatte bei ihm jedoch eine gewisse Ernüchterung eingesetzt. Es ist anzunehmen, dass er über das Geschehen selbst sehr erschrocken war und ihm erst nach und nach die Tragweite seines Handelns bewusst wurde. Unsere Kollegen im Labor stellten am nächsten Tag fest, dass zum Tatzeitpunkt der Tat die Blutalkoholkonzentration sehr hoch gewesen ist. Es könnte sein, dass bei Herrn Cuver dadurch einige Gedächtnislücken aufgetreten sind. Zumindest wäre das eine Erklärung für sein Leugnen, die Tat begangen zu haben.«
Ohne den geringsten Anflug von Emotionen äußert der Vorsitzende Richter zu dem Hauptkommissar: »Danke für die Ausführungen. Sie können im Zuschauerraum Platz nehmen.«
Der nächste Aufruf gilt Lisa Morani. Ohne Maximilian eines Blickes zu würdigen setzt sie sich in den Zeugenstand. Nach der Feststellung der Angaben zu ihrer Person bittet der Vorsitzende Richter um eine Schilderung des Abends und fragt zielgerichtet: »Bemerkten Sie im Verlauf der Geburtstagsparty eine gewisse Disharmonie zwischen Herrn und Frau Cuver?«
»Keineswegs. Eigentlich verlief die Feier wie in unserem Freundeskreis üblich in ausgelassener Stimmung. Leider trübte zum Schluss der reichliche Alkoholgenuss von Maximilian die gute Laune. Nachdem er auf der Couch einschlief, verabschiedeten wir uns von Patricia. Sie war natürlich enttäuscht, dass wir nicht ihr groß angekündigtes Frühstück einnehmen wollten. Ich verwies auf den Zustand ihres Mannes. Nachdem sie sich von dem Wahrheitsgehalt meiner Worte überzeugt hatte, zeigte Patricia für unser Verhalten volles Verständnis.«
Der Richter unterbricht ihre Ausführungen und fragt: »Äußerte sich Frau Cuver dahingehend, sich wegen des Fehlverhaltens ihren Ehegatten einmal richtig vorknöpfen zu wollen?«
»Dazu gab es von ihr eine kurze Bemerkung. An den genauen Wortlaut erinnere ich mich nicht mehr. Patricia tat mir in dem Moment leid. Es war doch ihr dreißigster Geburtstag. Da wollte sie es richtig krachen lassen. So hatte sie es mir jedenfalls bereits im vorab angekündigt. Ein betrunkener Ehemann entsprach zu diesem Zeitpunkt sicher nicht unbedingt ihrer Vorstellung.«
»Wann haben Sie denn von dem Geschehen in der Wohnung ihrer Freundin Kenntnis erhalten?«
»Selbstverständlich waren wir alle über das Verhalten von Maximilian sehr enttäuscht und verließen gemeinsam das Haus. Noch in der Nacht klingelten die Beamten der Kriminalpolizei bei mir. So erfuhr ich von der schrecklichen Tat und kann es noch immer nicht begreifen. Warum musste er Patricia so etwas Schreckliches antun?«
Bei den letzten Worten vermeidet sie es tunlichst, Maximilian anzuschauen. Bei dem Gedanke, dass er vor zehn Jahren ihre Liebe zurückwies, verspürt Lisa ein unsägliches Hassgefühl. Eine innerliche Genugtuung erfasst sie, dafür jetzt Vergeltung üben zu können. Dass es zu einer Verurteilung kommen wird, steht für Lisa völlig außer Zweifel. Schließlich führte ihre Inszenierung des ganzen Geschehens dazu, dass nur Maximilian als Täter in Frage kommen kann. Das Angebot des Richters, als Zuhörerin weiter an der Verhandlung teilzunehmen, schlägt Lisa aus. In das Gefühl des Triumphes mischt sich plötzlich auch die Erinnerung an die nicht gänzlich überwundene Liebe, die sie noch immer für den Menschen empfindet, dem sie mit ihrer Aussage bestrafen will. Mit gesenktem Kopf verlässt Lisa schnell den Gerichtssaal. Auch den fragenden Blicken von Tobias und Marco, die im Vorraum auf den Aufruf des Richters warten, weicht sie aus. Nur kurz sagt sie: »Viel Glück. Das Ziel scheint erreicht zu sein.«
Zeit zum Nachdenken über das seltsame und wortkarge Verhalten Lisas bleibt den beiden nicht. Marco Kollberg wird zu seiner Zeugenaussage in den Saal gerufen. Auch er vermeidet einen Blickkontakt mit Maximilian. Nach Erledigung der förmlichen Modalitäten fragt der Vorsitzende Richter: »Ist Ihnen im Verlauf der Geburtstagsfeier am Verhalten des Ehepaares Cuver etwas aufgefallen?«
»Oh ja, es gab schon etwas äußerst Brisantes und Bemerkenswertes. Doch verwunderte es mich nicht. Ich hätte wohl ebenfalls so reagiert, wenn meine Frau sich so freizügig zeigen würde.«
»Nun reden Sie nicht um die Sache herum. Ihre Befindlichkeiten interessieren hier nicht«, unterbricht ihn der Richter schroff.
»Ich wollte mit meiner Bemerkung darauf hinweisen, dass mir das Verhalten von Marco durchaus verständlich ist. Patricia trug an diesem Abend wieder einmal ein recht hautenges Kleid mit einem ziemlich tiefen Ausschnitt. Keine Wunder, dass sie damit die Blicke aller Männer förmlich auf sich zog. Maximilian schien das gar nicht zu behagen. Wiederholt forderte er sie auf, nicht ganz so freimütig ihre Reize zur Schau zu stellen.«
»Handelte es sich bei Herrn Cuver um verbale Drohungen gegenüber seiner Ehefrau oder wurde er handgreiflich?«
»Nein, soweit ist Maximilian nicht gegangen. Er beließ es bei Worten. An eine Situation erinnere ich noch ganz genau. Beim Tanzen verrutschte mehrmals ihr Ausschnitt und gab noch tiefere Einblicke auf ihren Busen frei. Seine Bemerkungen dazu vernahm ich ziemlich deutlich und würde sie keinesfalls als liebenswürdig bezeichnen.«
Maximilian hört geduldig zu. Doch bei den letzten Sätzen platzt ihm förmlich der Kragen. Wiederum äußert er lautstark: »Was soll denn dieser Quatsch. Kein Wort davon ist wahr. Zudem war ich beim Kauf des Kleides selbst mit dabei. Wenn mir das Dekolettè zu gewagt erschienen wäre, hätte ich sicher dem Kauf nicht zugestimmt.«
Nach der Ermahnung des Richters, solche Zwischenrufe doch bitte zu unterlassen, bittet er Marco, seine Ausführungen fortzusetzen.
»Selbst in der Wohnung gingen dann die Eifersüchteleien weiter. Obwohl von dem engeren Freundeskreis nur noch Tobias Fährmann und ich als männliche Personen anwesend waren, beschimpfte Maximilian noch immer seine Frau wegen ihrer allzu offenherzig zur Schau getragenen weiblichen Reize.«
»Gab es, entgegen Ihren Schilderungen in der Nachtbar, einer körperliche Auseinandersetzung zwischen dem Ehepaar?«, will der Richter wissen.
»In meiner Gegenwart kam es nicht dazu. Doch bei der Wortwahl von Maximilian kann man ein solches Verhalten nicht ausschließen. Die verbalen Zwistigkeiten fanden in der Küche statt und wir drei, damit meine ich Lisa Morani, Tobias Fährmann und meine Person, hatten es uns auf der Couch im Wohnzimmer bequem gemacht.«
»Im polizeilichen Vernehmungsprotokoll ist aufgeführt, dass Sie sich gemeinsam mit Frau Morani und Herrn Fährmann aus der Wohnung entfernten. Lag ein besonderer Grund vor, das Ehepaar Cuver entgegen den Absprachen vorzeitig zu verlassen?«
»Tja, was sollten wir dort noch. Der sogenannte Hausherr war inzwischen eingeschlafen. Als Lisa Morani von einem Toilettengang in das Wohnzimmer zurückkehrte, wollte sie sich von uns verabschieden. Ich hatte auf Grund der ständigen Streitereien auch keine Lust mehr zu bleiben und gemeinsam mit Tobias Fährmann schlossen wir uns ihr an.«
»Erinnern Sie sich, die Korridortür beim Verlassen der Wohnung richtig geschlossen zu haben?«
»Bei der Beantwortung Ihrer Frage brauche ich nicht lange nachzudenken. Sicherlich noch wütend über das verpasste Katerfrühstück wurde von mir die Tür ziemlich unsanft geschlossen. Lisa Morani rügte mich daraufhin mit dem Verweis auf die recht frühe Morgenstunde verhältnismäßig heftig. Einen solchen Rüffel vergisst man nicht so leicht.«
Der Vorsitzende Richter blättert kurz in der Akte. Die Aussage von dem Zeugen scheinen zu stimmen. Die Fingerabdrücke von ihm auf dem Türknauf belegen seine Worte eindeutig. Damit war auch der letzte Versuch der Verteidigung, dass die Tat von einer außen stehenden Person begangen wurde, eindeutig widerlegt. Eine solche Möglichkeit hätte nur dann bestanden, wenn die Korridortür nicht ins Schloss gefallen wäre. Zudem gibt es keine Spuren, die darauf hinweisen, dass eine dritte Person den Türknauf berührte. Die Vernehmung des Zeugen Tobias Fährmann ist für den Richter und den Staatsanwalt nur noch eine reine Formsache. Er bestätigt im Grund genommen das bereits von den vorangegangen beiden Zeugen geschilderte Geschehen an diesem Abend. Neue Erkenntnisse kommen nicht hinzu. Für den Vorsitzenden Richter gibt es aufgrund des Beweismaterials und der Zeugenaussagen keinerlei Zweifel, dass nur der Angeklagte für die Tat in Frage kommt. Auch der Verteidiger hat dem nichts entgegenzusetzen und plädiert lediglich dafür, die bisherige tadellose Lebensführung seines Klienten bei der Höhe der Strafe zu berücksichtigen.
Maximilian wird wegen Mordes an seiner Ehefrau verurteilt. Nur der hohe Alkoholspiegel in seinem Blut führt zu einem milden Urteil. Statt einer lebenslangen Haft erhält er eine fünfjährige Freiheitsstrafe.
Seit dem frühen Morgen läutet das Telefon fast ununterbrochen. Patricia Cuver hat heute Geburtstag. Liebevoll schaut sie bei den Telefongesprächen auf den wunderschönen Blumenstrauß, der vor ihr auf den Geburtstagstisch steht. Schon auf den ersten Blick erkannte sie als gelernte Floristin, dass das kunstvoll angelegte Arrangement der dreißig dunkelroten Rosen mit den fein verästelten Pistochiakrautstielen von einer Fachfrau ihres Gewerbes angefertigt wurde. Besser hätte ich es auch nicht machen können, überlegt sie lächelnd.
Noch mehr, als über die Blumen, freut sich Patricia über den Ohrschmuck. Sie ist regelrecht entzückt, dass Maximilian ihren oftmals geäußerten Wunsch nicht vergessen hat. Freudig nimmt sie die überdimensionierten Kreolen in die Hand und begibt sich vor den großen Wandspiegel an der Tür des Schlafzimmers. Mit dem Anblick ihres Spiegelbildes ist Patricia mehr als zufrieden. Auch ohne Make-up befindet sie, eine überaus schöne und attraktive Frau zu sein. Wie von ihr vorausgesehen, lenken die großen Ohrringe recht beeindruckend von den kleinen Fältchen in den Augenwinkeln ab, die bei einer Dreißigjährigen nichts Außergewöhnliches sind. Patricia tritt ans Fenster und schaut versonnen in den Himmel, an dem kein einziges Wölkchen zu entdecken ist. Mit einer kindlichen Naivität und zugleich inneren Freude überlegt sie: Ein wunderschöner Tag. Es scheint, als hätte ihn jemand extra für meinen Geburtstag bestellt. Man kann bei dem herrlichen Sonnenschein fast vergessen, dass heute das nächste Altersjahrzehnt wirklich beginnt. Ein klein wenig wehmütig ist mir zumute, dass nunmehr unwiederbringlich eine Drei statt einer Zwei vor meiner Altersangabe steht.
Erst als Maximilian sie zärtlich von hinten mit seinen Armen umschließt, wird Patricia aus ihren Gedanken herausgerissen.
»Es scheint, dass ich mit meinem Geschenk die richtige Wahl getroffen habe. Mit dem Ohrschmuck siehst du bezaubernd aus. Es scheint, als hätte man ihn extra für dich angefertigt«, flüstert Maximilian ihr liebevoll ins Ohr.
»Oh ja, sie sind wirklich wunderschön. Genau diese habe ich mir schon immer gewünscht.«
»Die Auswahl war nicht allzu schwierig. Schließlich hast du mich bei unseren Einkaufstouren in der Schlossstraße beim Betrachten der Auslagen des Juweliergeschäftes nicht nur einmal gerade auf diese Exemplare hingewiesen.«
Patricia lacht und sagt charmant: »Trotzdem war ich mir niemals ganz sicher, ob du meinen versteckten Hinweis auch richtig verstanden hast.«
Patricia spürt, wie seine Hand behutsam von ihrer Taille nach oben gleitet und sein Atem etwas schneller wird. Sie sind nunmehr bereits zehn Jahre verheiratet und trotzdem versucht Maximilian, seine Ehefrau immer wieder aufs Neue zu erobern. Sie liebt diese zärtlichen Berührungen und ist fast schon geneigt, seinen immer deutlicher werdenden Drängen nach mehr als nur den zärtlichen Küssen auf ihren Hals nachzugeben. Liebevoll dreht sie sich zu ihm um und presst ihn fest an sich. Ihr leidenschaftlicher Kuss wird durch das Läuten des Telefons unterbrochen. Patricia legt ihren Finger sanft auf seine Lippen und sagt mit einem vieldeutigen Lächeln: »Das heben wir uns für später auf. Mein Geburtstag endet erst um Mitternacht. Ich habe also noch genügend Zeit, mich für die Geschenke auf meine Weise zu bedanken.«
Froh beschwingt begibt sie sich zum Telefon. Innerlich ist sie mehr als nur glücklich, für Maximilian immer noch so begehrenswert zu sein. Entgegen von so manch einer geäußerten Prognose ihrer Freundinnen und Bekannten über ein langweiliges Eheleben, ist bei ihnen ein solcher Zustand glücklicherweise bisher nicht eingetreten.
Als sie den Hörer abnimmt, verschwindet für einen kurzen Augenblick das Lächeln aus ihrem Gesicht. Bei dem Anrufer handelt es sich um Marco Kollberg, einem ehemaligen Klassenkameraden von Maximilian. Er und seine Frau Tamara gehören schon seit Jahren zum engeren Freundeskreis. Doch Patricia hält nicht all Zuviel von ihm. Vor allem wenn Marco nach einigen Gläsern Kognak ihr ungeniert in den Ausschnitt schaut und dazu anzügliche Bemerkungen von sich gibt, ist sie fast gewillt, ihn nicht mehr zu den gemeinsame Zusammenkünften einzuladen. Lediglich ihr Wissen um die langjährige Freundschaft zwischen ihm und Maximilian hält sie bisher davon ab, ihrem Ehemann das recht anstößige Verhalten Marcos mitzuteilen. Auch heute belässt er es nicht nur bei den Glückwünschen zum Geburtstag. Mit süffisanter Stimme säuselt er in den Hörer: »Du wirst am Abend sicher wieder ganz reizvoll aussehen. Ich kann es kaum erwarten, beim Tanzen mit dir über das Parkett zu schweben. Ich bedaure es noch heute, dass dich Maximilian mir weggeschnappt hat. Doch was nicht ist, kann ja noch werden.«
Für Patricia ist Marco wieder einmal an der Grenze des Erträglichen angelangt. Am anderen Ende der Leitung hört sie, wie Tamara sich aus dem Hintergrund meldet und ärgerlich äußert, dass er mit diesem widerlichen ‚Gesülze’ aufhalten solle. Wenige Augenblicke später ist sie selbst am Telefon. Nach den herzlichen Glückwünschen und den üblichen Bemerkungen zum runden Geburtstag äußert sie zum Schluss: »Leider ist es mir nicht möglich, mit dabei zu sein. Eine blöde Erkältung macht mir derart zu schaffen, dass mir im Augenblick wirklich nicht nach Feiern zumute ist. Mein Arzt sagt, dass es sich um eine Sommergrippe handelt, die in drei Tagen wieder abklingt. Entschuldige bitte mein Fernbleiben und lasse es trotzdem heute Abend richtig krachen. Dreißig wird man nur einmal im Leben.«
»Schade, es tut mir wirklich leid. Selbstverständlich habe ich dafür Verständnis. Dann kommt wohl sicher auch Marco nicht?«
»Doch, doch! Du kennst ihn ja. Er lässt keine sich bietende Gelegenheit zum Feiern aus. Zudem hat er doch Tobias Fährmann an seiner Seite. Seit seiner Scheidung soll er wohl öfter ein Glas mehr zu sich nehmen, als ihm zuträglich ist. Doch das habe ich nur so am Rande gehört. Das Schlimme jedoch an einem Gerücht ist, dass es immer ein Körnchen Wahrheit beinhaltet.«
Patricia beendet das Gespräch. Im Stillen sagt sie sich: Ein Glück nur, dass Tobias heute Abend kommt. Da werden sich beide mehr an der Bar aufhalten und ich bin vor allzu großen Zudringlichkeiten seitens Marcos sicher.
Die fröhliche Stimmung kehrt unverzüglich wieder zurück. Die möchte sich Patricia heute von niemand nehmen lassen. Schon mehrmals wurde ihr an diesem Morgen am Telefon bestätigt, dass sie sich wegen des Alters überhaupt keine Gedanken zu machen brauche und eher noch immer den Charme eines Schulmädchens besitze. Jetzt glaubt Patricia schon langsam selbst daran. Wiederholt stellt sie sich vor den Spiegel und betrachtet sich argwöhnisch. Jedes Mal kommt sie zu dem gleichen Urteil: Die Leute haben recht. Wie eine Dreißigjährige sehe ich bei weitem nicht aus.
Irgendwann schweigt das Telefon und der Alltag holt Patricia wieder ein. Ihr fällt ein, dass die Wochenendeinkäufe zu erledigen sind und sie den Friseurtermin ebenfalls noch wahrzunehmen hat.
Scherzhaft äußert sie gegenüber Maximilian: »Ich benötige unbedingt ein neues Kleid für den heutigen Abend. Es gehört doch zu deinen bevorzugten Lieblingsbeschäftigungen, mich beim Kauf neuer Kleidung zu begleiten. Den Besuch der Modeboutique verbinden wir mit der Fahrt zum Supermarkt. Danach bist du aller Pflichten enthoben.«
Ihre heitere und fröhliche Stimmung wirkt auf Maximilian ansteckend. Selbst zu der versteckten Ironie bezüglich seiner Abneigung gegen den Besuch von Modegeschäften macht er heute ein freundliches Gesicht und erwidert lachend: »Es wird mir ein Vergnügen sein, als lebender Kleiderständer vor der Ankleidekabine zu stehen und dir die neue Garderobe Stück für Stück hinter den Vorhang zu reichen. Zudem glaube ich, eine nicht ganz unwichtige Rolle an der Kasse zu spielen.«
Schmunzelnd sagt Patricia: »Ich versichere dir, ganz brav zu sein und deine Geduld beim Aussuchen der Kleidungsstücke nicht unnötig zu strapazieren.« Entgegen ihrem Versprechen probiert Patricia unzählige verschiedene Garderoben an. Zum Schluss entscheidet sie sich für ein figurbetontes Kleid mit Herz-Dekolletè. Maximilian ruft begeistert: »Du siehst bezaubernd aus.«
Nach kurzem Nachdenken runzelt er die Stirn und fügt hinzu: »Ist es nicht etwas zu gewagt. Ein Teil deines Busens ist recht aufreizend zu sehen.«
»Was du nur hast. Lass doch andere Männer neidisch schauen und sei nicht so prüde. Schließlich gehöre ich nur dir allein.«
Lachend fasst sie ihm an den Revers seines Sakkos und gibt ihm vor allen Leuten einen herzhaften Kuss. Ihre fröhliche Art hat etwas Entwaffnendes an sich und Maximilian ist sofort wieder guter Laune. Er überlegt kurz: Sie hat doch recht. Selbst in einem Lied heißt es doch, dass eine Frau mit ihren Reizen nicht geizen soll. Ein paar neidvolle Blicke meiner Artgenossen sind auch nicht ganz übel. Meinetwegen sollen sie doch erotische Wunschvorstellungen hegen. Der Dank für das Geburtstagsgeschenk wird in dieser Nacht nur mir allein gehören.
Der Barkellner zeigt sich aufgeschlossen und stellt die Tische für die Geburtstagsgesellschaft zu einer Tafel zusammen. Patricias Erwartungen sind in Erfüllung gegangen. Außer Tamara sind alle neunzehn eingeladenen Freunde und Bekannten gekommen. Es wird gescherzt und gelacht. Immer wieder lässt man die Gläser klingen und stößt mit dem Geburtstagskind an. Jeder erhebt Anspruch auf einen Ehrentanz mit ihr. Patricia ist überglücklich über so viel Zuspruch und genießt voller Freude, im Mittelpunkt des Abends zu stehen. Es ist bereits weit nach Mitternacht, als sich die Geburtstagsgäste nach und nach verabschieden. Schließlich sitzen lediglich Lisa Morani, Marco Kollberg und Tobias Fährmann am Bartresen. Patricia hat sich im Gegensatz zu ihrem Ehegatten mit dem Trinken sehr zurückgehalten. Ihre gute Stimmung hat dadurch keineswegs gelitten. Liebevoll betrachtet sie die von ihren Freunden überreichten wunderschönen Blumensträuße und die Geschenke. Lisa Morani stellt sich neben ihre Freundin und bemerkt: »Es muss doch für dich ein wunderbares Gefühl sein, soviel Aufmerksamkeit zu erhalten.«
»Darüber bin ich total glücklich. Das einzige Problem besteht darin, die vielen Sachen von hier wegzubekommen. Es wäre toll, wenn du mir helfen würdest. Wir nehmen ein Taxi und von meiner Wohnung ist es ja nicht weit bis zu dir nach Hause.«
»Natürlich kannst du auf mich zählen. Das mache ich doch gerne«, antwortet Lisa.
Für alle überraschend ruft Maximilian leicht betrunken aus: »Der Abend ist viel zu schön, als das wir ihn so einfach schon jetzt beenden. Wir gehen alle noch zu uns nach Hause und feiern weiter bis zum Sonnenaufgang. Nun, mein liebes Geburtstagskind, was sagst du zu meinem Vorschlag?«
Patricia überlegt kurz und resümiert: Bisher hat sich Marco entgegen meinen Befürchtungen sehr zurückhaltend benommen. Vielleicht bilde ich mir nur ein, dass er aufdringlich ist. Nicht ein einziges Mal starrte er auf meinen Busen. Was steht dem Vorschlag von Maximilian eigentlich im Wege?
Lachend äußert sie mit einem Blick auf die Uhr: »Ihr seid alle eingeladen. Zum Frühstück wird geräucherten Lachs mit Avocado auf Toastscheiben serviert. Dazu gebe ich noch Knoblauch, Meerrettich und Limettensaft bei. Als es von mir erstmals zubereitet wurde, waren alle hellauf begeistert. Nach dem Frühstück ist allerdings wegen dem Verzehren von Knoblauchzehen das Küssen verboten.«
Aufgeräumt und scherzend verlassen sie die Nachtbar. Die Männer bemächtigen sich der Blumensträuße und für die beiden Freundinnen bleiben lediglich zwei Tragetaschen mit den Geschenken übrig. Somit können sie auf die Heimfahrt mit dem Taxi verzichten. Patricia hakt sich bei Lisa ein und unterhält sich angeregt mit ihr. So bemerkt sie nicht die lüsternen und begehrlichen Blicke, mit denen Marco Kollberg ihre Figur mustert.
Dann kommt die fröhliche Runde in der Wohnung von Patricia und Maximilian an. Während der Hausherr das Radio bedient und die Kognakgläser füllt verabschiedet sich Patricia mit den Worten: »Ich begebe mich jetzt in die Küche, um das versprochene Frühstück vorzubereiten. Trinkt nicht so viel, sonst geht euch noch der Geschmack für meine Spezialität verloren.«
Tobias und Maximilian überhören die mahnenden Worte. Entgegen Patricias Warnung sind die Gläser in kurzer Zeit zum dritten Mal gefüllt. So bleibt es nicht aus, dass sich bei Maximilian in den frühen Morgenstunden die Augenlider schließen und er mit zurückgelegtem Kopf einschläft. Lisa verabschiedet sich kurz auf die Toilette und Tobias beschäftigt sich interessiert mit der umfangreichen Sammlung aus dem CD und DVD Regal. Jetzt sieht Marco seine Zeit gekommen. Schnell begibt er sich in die Küche und umfasst hinter Patricia stehend ihre Brüste. Völlig überrumpelt von dem unerwarteten Geschehen dreht sie sich um und gibt ihm eine kräftige Ohrfeige.
»Du abscheuliches Ungeheuer. Verlasse sofort die Wohnung und komme mir nie wieder unter die Augen. Unsere Freundschaft ist ein und für allemal beendet. Tamara kann einem richtig leid tun, mit einem solchen Wüstling verheiratet zu sein.«
Bei der Rangelei ist der herzförmige Ausschnitt ihres Kleides ein wenig verrutscht und gibt unfreiwillig mehr von ihrem Busen frei. Mit ihren funkelnden Augen und dem wütenden Blicken wird Patricia immer begehrlicher für ihn. Statt ihre Worte zu befolgen, stürzt er sich förmlich auf sie und presst sie fest an sich. Plötzlich hat Patricia ein Messer in der Hand und äußert zornig: »Wenn du nicht sofort von mir lässt, dann stoße ich zu.«
Wutentbrannt über die Zurückweisung entreißt Marco ihr das Messer. Wie von Sinnen über die Demütigung rammt er ihr die Klinge mit voller Wucht in den Hals. Es folgt ein kurzer Aufschrei und Patricia gleitet bewusstlos zu Boden. Es dauert nur wenige Augenblicke und ihr Herz hört auf zu schlagen.
»Bist du wahnsinnig! Was hast du nur gemacht?«, sind die ersten Worte, die Marco nach seiner grausigen Tat vernimmt.
Lisa Morani steht in der Tür und schaut erschrocken auf ihre in einer Blutlache liegende Freundin.
»Es war Notwehr. Ich wollte es nicht. Du musst mir helfen«, stammelt Marco noch immer wie betäubt von dem, was soeben geschehen ist.
Im ersten Moment überlegt Lisa, die Polizei zu verständigen. Doch blitzartig kommt ihr eine andere Idee. Umgehend erkennt sie, dass sich eine unverhoffte Gelegenheit bietet, für die verschmähte Liebe Vergeltung zu üben. Dass Patricia ihr den so heiß geliebten Maximilian vor acht Jahren wegnahm und wenig später heiratete, hat sie nie vollständig verwunden. Ebenso nicht die Wut darüber, dass er sich damals nicht für sie, sondern ihre Freundin entschied. All die Gedanken schwirren ihr durch den Kopf und bestimmen Lisas weitere Handlungen. Kurz entschlossen sagt sie: »Wir müssen schnellstens hier weg. Gib mir das Messer. Ich wische den Griff ab. Maximilian ist auf der Couch eingeschlafen. Bevor er wach wird, sollten wir verschwunden sein.«Tobias erscheint und bleibt an der Tür stehen. Benebelt vom Alkohol äußert er: »Wann gibt es denn nun endlich den Lachs. Immer die leeren Versprechungen. Inzwischen habe ich regelrecht Hunger bekommen.«
Erst nach diesen Worten sieht er Patricia am Boden liegen und fragt besorgt: »Was ist denn mit unserem Geburtstagskind geschehen? Geht es ihr nicht gut?«
Marco drängt ihn vehement aus der Küche und bemerkt: »Für lange Erklärungen ist jetzt keine Zeit. Wir müssen umgehend die Wohnung verlassen.«
Lisa wendet sich an Marco und Tobias: »Ihr kommt am besten mit zu mir. Tamara sollte von dem Geschehnis nichts erfahren. Es ist besser, wenn es das Geheimnis zwischen uns dreien bleibt.«
»Was soll die ganze Heimlichtuerei? Ich verstehe euch im Moment überhaupt nicht. Und was ist mit den Blutspuren auf deinem Hemd?«, versucht Tobias, von dem bisherigen Geschehen etwas in Erfahrung zu bringen.
Lisa sagt in einem Ton, der keinen Widerspruch duldet: »Du gehst erst einmal nach Hause und holst für Marco ein frisches Hemd. Inzwischen werde ich mit ihm in meine Wohnung gehen. Dort besprechen wir alles Weitere.«
Nur widerwillig fügt sich Tobias der Anweisung. Er versteht immer noch nicht, um was es sich handelt. Der energische Ton Lisas hält ihm davon ab, dagegen Protest einzulegen. Tobias und Marco stehen auf und begeben sich zur Korridortür. Bevor sie diese erreichen, ertönt Lisa Stimme erneut: »Halt! Vor Verlassen der Wohnung sucht einer von euch nach dem Wohnungsschlüssel.«
»Was soll denn diese blöde Bemerkung. Die Tür hat kein Mensch von Innen verriegelt«, murmeln beide fast gleichzeitig.
»Stelle dich doch bitte nicht so begriffsstutzig an. Wenn wir die Tür von Außen verschließen, wird es für die Kripo keinerlei Zweifel geben, dass nur derjenige die Tat begehen konnte, der sich zu diesem Zeitpunkt in der Wohnung aufhielt. Wer sonst, als Maximilian, sollte die Tür verschlossen haben. Also kann auch nur er der Täter sein.«
Nach wenigen Augenblicken ruft Tobias: »Am Schlüsselbrett ist kein passender Schlüssel zu finden.«
»Dann suche in der Handtasche von Patricia. Beeile dich! Wir müssen schnellstens hier weg.«
Tobias findet den Wohnungsschlüssel und übergibt ihn Lisa. In einem belehrenden Ton sagt sie: »Hört genau zu und vergesst keines meiner Worte. Wir verlassen jetzt gemeinsam die Wohnung. Als Gäste der Geburtstagsparty wird uns Tobias, schaut sie verständnislos an und fragt: »Ich verstehe nicht, was daran so kompliziert sein soll? Wir haben ganz einfach in den frühen Morgenstunden gemeinsam die Wohnung verlassen. Nun mache bitte keine Wissenschaft aus einer solch banalen Angelegenheit.«
Der tadelnde Blick von Lisa lässt ihn umgehend verstummen. Sogleich fährt sie mit ihren Ausführungen fort: »Die Kriminalpolizei wird uns zu einem späteren Zeitpunkt mit Sicherheit vernehmen. Bei der Schilderung des Geschehens darf es keine Abweichung geben. Die Kommissare werden sich den Verlauf des Abends bis ins kleinste Detail schildern lassen. Es kommt dabei vor allem auf die Aussagen für den Zeitpunkt des Verlassens der Wohnung an. Es ist äußerst wichtig, dass wir übereinstimmend erklären, dass sich Patricia mit den Vorbereitungen für das Frühstück in der Küche beschäftigte und Maximilian im Wohnzimmer eingeschlafen war. Davon darf keinen Millimeter abgewichen werden. Unsere Darlegungen, dass Patricia zu dieser Zeit noch am Leben war, werden auf die Kriminalbeamten glaubhaft wirken. Mehr gibt es nicht zu besprechen. Jetzt sollten wir schleunigst die Wohnung verlassen.«
Mit einem lauten Knall wirft Marco die Tür zu. Leise zischt Lisa: »Bist du denn verrückt. Soll das ganze Haus aufmerksam werden, dass wir jetzt erst die Wohnung verlassen. Wenn die Kripo den Todeszeitpunkt Patricias bestimmt und wir sind zu dieser Zeit noch hier gewesen, ist unser ganzes Alibi nichts mehr wert.«
Lisa verschließt die Korridortür von außen. Leise und unbemerkt entfernen sich die drei aus dem Treppenhaus. Den Schlüssel wirft sie auf dem Weg zu ihrer Wohnung achtlos in den Abfallbehälter an einer Bushaltestelle.
Auf dem Weg nach Hause ruft sich Lisa den Tag in Erinnerung zurück, als Maximilian und Patricia ihr vor zehn Jahren von der bevorstehenden Hochzeit erzählten und die Bitte äußerten, bei der Vermählung Trauzeugin zu sein. Nächtelang weinte sie in ihr Kopfkissen und glaubte damals, dass das Leben keinen Sinn mehr habe. Viele Jahre musste Lisa mit ansehen, wie beide glücklich miteinander lebten. Die Zurückweisung ihrer Liebe empfand sie als Demütigung und hat diese Maximilian bis zum heutigen Tag nicht verziehen. Hass steigt in ihr auf und ein Gefühl der Rache bemächtigt sich ihr. Zugleich überlegt Lisa recht kühl: Jetzt kann ich mich für die erlittenen seelischen Qualen revanchieren. Dafür soll Maximilian büßen und wird hoffentlich den Rest seines Lebens für immer hinter Gittern verbringen.
Dass Maximilian von den jugendlichen Träumereien und Sehnsüchten nichts wusste, kommt ihr nicht in den Sinn. Wortlos, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, laufen Lisa und Marco nebeneinander durch die Nacht. Als Erster bricht Marco das Schweigen und sagt: »Du warst bisher so still. Sicher hinderte dich die Überlegung, was wir jetzt unternehmen sollten, am Sprechen.«
»Glaube nicht, dass du mich jetzt als Komplizin betrachten kannst. Ein Wort von mir würde ausreichen und du landest im Gefängnis. Doch ich glaube, einen Ausweg gefunden zu haben.«
Marco ist sich seiner misslichen Lage bewusst. Kleinlaut äußert er: »Wenn du mich nicht verrätst, erfülle ich ohne Wenn und Aber jede deiner Bedingungen.«
Mit einem berechnenden Blick erwidert Lisa: »Das klingt schon recht vernünftig. Eine andere Chance bleibt dir ja wohl auch nicht, als auf meine Forderung einzugehen.«
»Was meinst du denn mit den Begriffen ‚Ausweg’ und ‚Forderung’. Sprich doch nicht so rätselhaft, sondern nenne deine Überlegungen konkret beim Namen.«
Den wirklichen Grund für ihr Verhalten verschweigt sie wohlweislich. Marco soll den Eindruck erhalten, dass es sich bei der Vertuschung der Tat lediglich um rein materielle Interessen handelt.
»Mein Schweigen wird dich etwas kosten.«
»Geld soll kein Hindernis sein. Bedenke aber, dass ich nur begrenzte Mittel zur Verfügung habe. Schließlich soll Tamara davon nichts erfahren.«
»Sei doch bitte nicht so naiv. Wenn du einen Kredit aufnimmst, erfährt sie nichts. Die Höhe der Raten für die Rückzahlung kannst du selbst bestimmen. Wenn dir monatlich nur ein kleiner Betrag zur Verfügung steht, wird die Tilgung eben etwas länger dauern.«
»Welche Summe stellst du dir denn vor?«
»Ich will ja kein Unmensch sein. Für den Anfang schweben mir nicht mehr, als fünfzigtausend Euro vor. Das sollte dir die Freiheit schon Wert sein. Nach fünf Jahren Werden wir dann erneut verhandeln. Keine Angst, ich treibe dich nicht in den finanziellen Ruin.«
»Irgendwie besorge ich die Summe. Das Wichtigste bei der ganzen Angelegenheit besteht darin, dass Tamara davon nichts erfährt. Sie würde unter keinen Umständen der Zahlung von Schweigegeld zustimmen. Eher ist ihr zuzutrauen, mir den Mord zu verzeihen. Nach fünf Jahren können wir uns dazu selbstverständlich nochmals verständigen. Auch darin sehe ich kein Problem.«
»Dann sind wir uns recht schnell einig geworden. Nunmehr gilt es, Tobias zu überzeugen, fest an unserer Seite zu stehen.«
»Meinst du damit, dass er ebenfalls Geld erhalten soll? Das wird nicht möglich sein. Mit der Zahlung an dich ist bei mir wirklich die Grenze des Machbaren erreicht. Du müsstest ihm von deinem Schweigegeld eine bestimmte Summe abgeben.«
»Bei ihm habe ich nicht an eine finanzielle Leistung gedacht. Tobias werden wir erklären, dass er Mitwisser ist und dich als den wahren Täter bei der Vertuschung des Verbrechens durch sein bisheriges Verhalten unterstützte. Sollte er Schwierigkeiten bereiten, können wir ihn auch der Tat bezichtigen. Es steht dann unser beider Aussage gegen seine. Ich glaube nicht, dass Tobias ein solches Risiko eingehen wird.«
»Mir ist noch nicht ganz klar, welches Motiv Maximilian für den Mord haben soll. Ihm traue ich zu, die Tat aufs Äußerste zu bestreiten und dabei sicher überzeugend wirken, da er in Wirklichkeit nicht der Mörder ist.«
»Auch daran habe ich gedacht. Du wirst bei der Vernehmung behaupten, dass es zwischen den beiden wiederholt Streit wegen seiner übertriebenen Eifersucht gab. Natürlich reicht eine solche Aussage allein nicht aus. Deshalb wurde von mir arrangiert, dass die Kripo auf dem Messergriff nur seine Fingerabdrücke findet.«
»Wieso bist du dir darüber so sicher? Maximilian war doch nun wirklich nicht bei der Tat dabei.«
»Ich bin fest davon überzeugt, dass er das Messer in die Hand nimmt. Wenn nicht, dann werden die Kriminalbeamten davon ausgehen, dass er den Griff vorsorglich säuberte. Alle anderen Spuren habe ich vorsorglich beseitigt. Das Ausschlaggebende wird die verschlossene Wohnungstür sein. Du kannst den kommenden Tagen mit einer gewissen Gelassenheit entgegensehen.«
»Deine Überlegungen sind ganz schön clever. Eine solche Kaltblütigkeit hätte ich dir niemals zugetraut. Dich möchte ich unter keinen Umständen zur Feindin haben.«
In dem Moment erscheint Tobias wieder in der Wohnung. Der Aufenthalt an der frischen Morgenluft scheint ihm gut getan zu haben. Zumindest hat sich der Alkoholspiegel in seinem Blut erheblich gesenkt. Er übergibt Lisa das Hemd und bemerkt: »Nun sagt mir doch endlich, was hier gespielt wird. Ich kann mir auf all das immer noch keinen Reim machen.«
Lisa erklärt ihm, dass Patricia mit dem Messer in der Hand auf Marco zugegangen sei. Unbeabsichtigt wäre es zu einer Rangelei in der Küche gekommen. Zum Schluss Führt sie aus: »Es wäre doch ungerecht, wenn man Marco wegen Notwehr verurteilt. Ihm wäre nie in den Sinn gekommen, Patricia vorsätzlich zu töten. Es war mehr oder weniger nur ein recht unglücklicher Unfall. Vor Gericht hätte er trotzdem keine Chance. Jeder Richter auf dieser Welt würde ihn schuldig sprechen.«
»Aber das bedeutet doch, Maximilian unschuldig hinter Gitter zu bringen. Nein, aus einer derartigen hinterhältigen und perfiden Geschichte halte ich mich raus. Zudem war er stets ein toller Kumpel und einer meiner besten Freunde.«
Lisa hat gefühlsmäßig eine solche Äußerung vorausgesehen. Wider besseren Wissens erwidert sie: »Ich kann dich recht gut verstehen. Auch uns fällt es keineswegs leicht, eine solche Aussage überhaupt in Erwägung zu ziehen. Bevor du deine Entscheidung endgültig triffst, sollte dir eine Information zu denken geben, die dir jeder aus unserem Freundeskreis bisher verschwieg.«
»Schon wieder so eine skurrile und nebulöse Behauptung. Ich habe keine Vorstellung, was ihr mir alle nicht sagen wolltet.«
»Es handelt sich um eine recht verletzende Beurteilung deiner Person. Wir wollten dir eine derartige Demütigung ersparen . Mir fällt es selbst heute schwer, darüber zu sprechen. Unter den jetzigen Umständen lässt du mir praktisch keine andere Wahl, als es dir dennoch mitzuteilen.«
Marco hört aufmerksam zu und ist sichtlich gespannt, was Lisa jetzt ins Feld führen wird. Nach einer bewusst eingelegten Kunstpause führt sie weiter aus: »Als deine Frau sich von dir wegen eines anderen Mannes scheiden ließ, haben Maximilian und Patricia in vollem Umfang zu ihr gehalten. Er äußerte sich sinngemäß, dass du ein Schlappschwanz bist und zudem zu trottelig, eine Frau zu beglücken.«
»Das hat er tatsächlich gesagt?«, ruft Tobias fassungslos aus.
»Es sind selbstverständlich seine Worte. Darüber hinaus benutzte er noch ein viel obszöneres Vokabular, welches ich dir mit Rücksicht auf deine Verletzlichkeit lieber ersparen möchte. Patricia sprach übrigens in ähnlicher Weise recht geringschätzig über dich. Nun entscheide, ob Maximilian dein Mitleid verdient. «
Tobias sitzt zusammengesunken im Sessel. Die Worte haben ihn zutiefst getroffen. Nach einem Augenblick des Nachdenkens sagt er ziemlich zerknirscht: »Eine solche Gemeinheit hätte ich Maximilian niemals zugetraut. Wenn es sich so verhält, dann könnt ihr mich selbstverständlich als Partner betrachten.«
Lisa und Marco atmen hörbar auf. Jetzt steht Tobias endgültig auf ihrer Seite. Mit
seiner Verschwiegenheit über den tatsächlichen Ablauf des Geschehens können sie rechnen. Sogleich reist Lisa das Geschehen wieder an sich und sagt resolut: »Als Nächstes ist die Polizei zu verständigen. Das übernimmt Marco.« »Wenn ich das Handy benutze, erkennen sie doch meine Nummer. Wie soll ich später einen solchen Anruf rechtfertigen?«, wendet Marco ein.