Schweigen im Walde - Richard Skowronnek - E-Book

Schweigen im Walde E-Book

Richard Skowronnek

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Beschreibung

Dieses eBook: "Schweigen im Walde" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Richard Skowronnek (1862-1932) war ein deutscher Journalist, Dramaturg und Schriftsteller. Skowronnek schrieb Lustspiele und Unterhaltungsromane. Aus dem Buch: "Die junge Schloßherrin von Adlig-Groß-Lipinsken wandte den von einer Lodenkapuze geschützten Kopf zu dem hinter ihr stehenden Förster und deutete mit der Linken in die weißschimmernde Fläche hinaus. "Da, Ahrens, ist das nicht herrlich? Und ganz wie im Märchen: die Schneekönigin hat ihr Gewand hergegeben, um die frierende Erde zuzudecken!" Sie sprach mit geröteten Wangen, denn der rasche Gang durch Wind und Wetter hatte ihr das Blut warm gemacht. In den braunen Augen aber leuchtete es von Schelmerei, denn sie stand mit dem Alten, der schon ihrem Großvater in Treuen gedient hatte, auf einem leichten Reckfuß und konnte sich ungefähr denken, was er in seiner derb-trockenen Art auf diesen poetischen Vergleich erwidern würde. Der alte Förster, der mit seiner gewaltigen, schier ebenso breiten als hohen Gestalt in dem schneebedeckten Flausrocke wirklich aussah, wie ein Eisriese aus dem Gefolge der Schneekönigin, zog den mächtigen weißen Bart durch die Linke und sagte halblaut, um den auf kaum hundertundfünfzig Schritte Entfernung aufgebäumten Gabelweih nicht zu verscheuchen: "Stimmt und ist richtig, gnädigste Baroneß, ich hab' von dieser Schneekönigin auch mein Teil weggekriegt; die Klunkern von ihrem Rock hat sie mir in den Bart gehängt. Wenn aber Baroneß sich einbilden, daß wir nach diesem Schweinewetter auch nur einen einzigen Schnepf zu Schuß kriegen – und das war doch sozusagen der Zweck der heutigen Übung – dann sind Sie, mit allem schuldigen Respekt, auf dem Holzwege!"

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Richard Skowronnek

Schweigen im Walde

Heimatroman

e-artnow, 2016 Kontakt [email protected]
ISBN 978-80-268-5367-1

Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel

Erstes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Das Wetter war umgeschlagen, der linde Frühlingsabend hatte sich unter Sturm und grobem Hagelschauer jählings wieder in rauhen Winter gewandelt. Nur eine kurze Viertelstunde hatte es angehalten, dann war die Windsbraut weiter gezogen, hinter ihr aber kam die kalte Nacht. Scharf einsetzender Frost zog über Gräben und Lachen blanke Spiegelscheiben, und feine Schneesterne schwammen in der stillen Luft, kamen geheimnisvoll irgendwoher aus dem klaren Himmel, um leise zu dem weißen Teppich hinabzuschweben, den der brausende Nordwind seinem bräutlichen Gespons zu Füßen gebreitet hatte.

Über dem weiten Wiesenplan, der den Hochwald vom Torfbruche trennte, hob sich der volle Mond, in der Schneedecke aber fing ein Funkeln und Flimmern an, wie von tausend Smaragden, Saphiren und Demantsteinen. Und tiefes Schweigen ringsum, kein Laut in der weißschimmernden Nacht, alles Leben in Wald, Feld und Wiese hatte sich vor der jäh eingefallenen Kälte wieder verkrochen. Nur ein alter Gabelweih hakte standhaft auf dem dürren Wipfel einer einsam im Wiesenland stehenden Kiefer, hob den schmalen Raubritterkopf aus den Schultern und bejagte mit spähenden Augen den überschneiten Plan. Aber nichts Weidgerechtes weit und breit, kein fürwitziges Märzhäslein, das zwischen verdorrtem Wintergras nach den ersten Frühlingsspitzen suchte, kein fetter Entvogel auf den Wiesengräben, nicht mal, als Nothappen sozusagen, ein zäher Wasserratz zwischen den Kampen, den man mit raschem Stoß auf dem Trockenen überfiel, ehe er das schützende Torfloch zu erreichen vermochte. Da plusterte auch der Gabelweih die Federn auf und barg mißmutig den Kopf unter dem linken Flügel, vielleicht, daß sich im Schlafe der beißende Hunger verlor. Im Hinüberdämmern aber sann er darüber, weshalb man wohl immer zu früh das nahrhafte Winterquartier verließ, trotz aller trüben Erfahrung. Und alle Jahr die gleiche Torheit: Kaum, daß der erste warme Sonnenstrahl nordwärts über die Alpen stieg, spannte man die Flügel und zog mit. Ganz als wenn man's gar nicht mehr abwarten konnte, ob der alte Kiefernbaum noch aufrecht stand mit der Stammburg zwischen den gewaltigen Ästen, tief unten in der masurischen Heide...

*

Die junge Schloßherrin von Adlig-Groß-Lipinsken wandte den von einer Lodenkapuze geschützten Kopf zu dem hinter ihr stehenden Förster und deutete mit der Linken in die weißschimmernde Fläche hinaus.

»Da, Ahrens, ist das nicht herrlich? Und ganz wie im Märchen: die Schneekönigin hat ihr Gewand hergegeben, um die frierende Erde zuzudecken!« Sie sprach mit geröteten Wangen, denn der rasche Gang durch Wind und Wetter hatte ihr das Blut warm gemacht. In den braunen Augen aber leuchtete es von Schelmerei, denn sie stand mit dem Alten, der schon ihrem Großvater in Treuen gedient hatte, auf einem leichten Reckfuß und konnte sich ungefähr denken, was er in seiner derb-trockenen Art auf diesen poetischen Vergleich erwidern würde.

Der alte Förster, der mit seiner gewaltigen, schier ebenso breiten als hohen Gestalt in dem schneebedeckten Flausrocke wirklich aussah, wie ein Eisriese aus dem Gefolge der Schneekönigin, zog den mächtigen weißen Bart durch die Linke und sagte halblaut, um den auf kaum hundertundfünfzig Schritte Entfernung aufgebäumten Gabelweih nicht zu verscheuchen: »Stimmt und ist richtig, gnädigste Baroneß, ich hab' von dieser Schneekönigin auch mein Teil weggekriegt; die Klunkern von ihrem Rock hat sie mir in den Bart gehängt. Wenn aber Baroneß sich einbilden, daß wir nach diesem Schweinewetter auch nur einen einzigen Schnepf zu Schuß kriegen – und das war doch sozusagen der Zweck der heutigen Übung – dann sind Sie, mit allem schuldigen Respekt, auf dem Holzwege!«

Die junge Baroneß von Linde lachte auf.

»Für so etwas, wie Poesie, haben Sie wohl gar nichts übrig, Ahrens?«

»Aber gewiß doch, gnädigste Baroneß, sogar sehr, nur es muß auch das richtige Wetter dabei sein! Mild wie so ein alter Korn, der zwanzig Jahre in einem Portweinfaß gelagert hat, dabei aber doch Feuer in sich, so ein richtiger Frühlingsabend, wo die ganze Kreatur vor lauter Liebe ordentlich krieselig geworden ist, die Singdrossel muß so recht herzlich flöten auf dem höchsten Tannenwippel, und wenn dann die ›Eulenköppe‹ mit ihrem ›Ork‹ und ›pkß‹› durch die Luft gaukeln, wie, na meinetwegen, wie die Fledermäuse um den Kuhstall, sehen Sie, Baroneß, das ist poetisch! Wenn aber das Schlackwetter einem die Augen verkleistert, daß man denkt, der Kalender ist verrückt geworden, und es geht auf Weihnachten statt auf Ostern ... ei, dich soll die Ameis beißen ...« er brach ab und griff nach dem Gewehr, »jetzt streicht uns auch noch der Weih fort, und wir kommen mit leerer Jagdtasche nach Hause!« Der Raubvogel auf dem dürren Kiefernwipfel hatte den Kopf unter dem Flügel hervorgezogen, reckte den Hals und äugte scharf in die Runde, unsicher, woher das warnende Geräusch ihm ans nimmer schlafende Ohr gedrungen war.

Elsbeth von Linde hatte den leichten Drilling an die Wange gehoben und raunte zurück: »Ist ja viel zu weit, Ahrens.«

»Unsinn,« sagte der Alte, denn im Jagdeifer vergaß er ganz und gar den Respekt und behandelte seine junge Herrin nicht anders, als einen richtigen Jägerlehrling, »keine hundertfufzig Schritt sind's, das weiß ich besser. Mondlicht trügt. Und noch hat er uns nicht spitz ... jetzt aber ... und ganze Figur aufsitzen lassen, sonst geht's drüber weg ...« Der Gabelweih neigte sich vornüber, um im Herniederfallen die Schwingen zu breiten und, hinter dem Stamme gedeckt, dicht über der Erde davonzustreichen, da brachen aus dem dunkeln Kieferngebüsch mitten in der Wiese zwei rote Feuerstrahlen. Mit dumpfem Aufschlag fiel der schwere Vogel zu Boden, so jäh war der Tod über ihn gekommen, daß er keine Zeit gefunden hatte, die Flügel zu spannen.

Unkas der Hund, ein reingezogener drahthaariger deutscher, der regungslos neben dem linken Fuße seines Herrn gesessen hatte, fuhr in die Wiese hinaus, Elsbeth von Linde aber wandte sich zu ihrem Förster, und ihre Augen leuchteten vor Stolz.

»Na, Ahrens, was sagen Sie nun dazu? Und wenn er das mitangesehen hätte, ob er dann noch ...« sie wurde plötzlich rot, brach ab und verhedderte sich: »das heißt, nämlich ich meine, na ja also ... also was sagen Sie nun dazu?«

Der Alte nahm die Hacken zusammen und salutierte feierlich mit Gewehr bei Fuß.

»Nichts wie Donnerwetter, gnädigste Baroneß, und allerhand Hochachtung, bei dem ungewissen Licht geradezu ein Meisterschuß! Wie ein gerechter Weidmann, der sein zehntes Paar doppelsohlige Stiebeln mit Verstand in freier Wildbahn durchgelaufen hat!« Im stillen aber schmunzelte er, daß Auge und Hand ihm trotz seiner Jahre noch immer willig und geschickt geblieben waren, um der mangelhaften Schießkunst seiner jungen Jagdherrin so unauffällig nachhelfen zu können, daß die beiden Schüsse genau wie ein einziger zusammenklangen, der ihrige, der irgendwo daneben ins Blaue gegangen war, und der seinige, der den Weih natürlich mitten in die Brust getroffen hatte...

Unkas der Hund kam im kurzen Trab mit der erlegten Beute von der Kiefer zurück, und es war ein prächtiges Bild, wie er den mächtigen Vogel frei im hoch erhobenen Fang trug, kaum daß die Spitzen der langen Schwingen den Schnee streiften. Als ein wohlerzogener Hühnerhund setzte er sich auf die Hinterkeulen, klopfte mit der kurzgestutzten Rute den Boden und wartete geduldig, bis ihm die Beute von seinem Herrn abgenommen wurde. Der aber kratzte sich den Kopf und hätte sich fast durch einen unbedachten Ausruf verraten: der hellgefärbte Leib des Vogels zeigte deutlich zwei Kugeleinschläge! Und, wahrhaftig, der Schuß seines »Lehrlings«, an dem kleineren Durchmesser deutlich erkennbar, saß besser als der seinige, er war reichlich eine Handbreit zu tief abgekommen!

Die Baroneß hatte, um ihre Verlegenheit zu bemeistern, den abgeschossenen Büchsenlauf wieder geladen und trat zu dem Alten. Gott sei Dank, er schien im Jagdeifer gar nicht gemerkt zu haben, wie nahe daran sie gewesen war, ein ängstlich gehütetes Geheimnis zu verraten.

»Na, Ahrens, hab' ich mal wieder etwas nicht recht gemacht?«

»Im Gegenteil, gnädigste Baroneß, der Schuß sitzt besser als ... na ja, wie gesagt, ganz ausgezeichnet!

Aber da, bitte, sehen Sie mal her« – er wies auf die Stelle, an der sein grobes Kaliber ein böses Loch in das Federkleid gerissen hatte, und seinem erfindungsreichen Kopfe stellte sich im selben Augenblick auch schon die rettende Erklärung ein – »also der Esel von Unkas gewöhnt sich, wahrhaftig, auf seine alten Tage das Knautschen an! An Ausstopfen ist leider nicht zu denken!« Und er hielt seinem schuldlosen alten Weidgenossen, der ein zartes Taubenei zu apportieren verstand, ohne es zu zerbrechen, eine gar gröbliche Standpauke, belegte ihn mit allerhand ehrverletzenden Titulaturen und ließ ihn – angeblich zur Strafe – den Vogel wohl ein dutzendmal apportieren. Unkas aber, der aus mehr als zehnjährigem Umgang mit der Sprache seines Herrn vertraut war, hatte verstanden. Jedesmal, so oft er den in die Wiese hinausgeschleuderten Gabelweih wieder holte, schlenkerte und schlackerte er ihn zwischen den fest zugreifenden Zähnen, bis schließlich nur ein zerzauster Klumpen übrig blieb, an dem weder Ein- noch Ausschuß zu erkennen waren. Danach erst gab sich sein alter Herr zufrieden, trennte mit scharfem Weidmesser dem Vogel die Fänge ab, um sie dem jungen Mädchen, das seit einiger Zeit bei ihnen beiden die Jägerei lernte, mit abgezogenem Hut als Trophäe zu überreichen ...

Die schöne Leserin aber, die aus begreiflicher Unkenntnis des edlen Weidwerkes vielleicht daran zweifeln sollte, daß Unkas wirklich so gescheit war, wie eben geschildert, sei versichert, daß diesem Hunde tatsächlich nur die Fähigkeit der Sprache fehlte, sonst hätte er sich in allen Angelegenheiten, die die Jagd angingen, und vielleicht noch in etlichen mehr, in Rede und Antwort unterhalten können, wie ein Mensch!

Und dafür nur ein Beispiel.

Jedesmal nämlich, so oft sein alter Herr seine berühmte Geschichte von dem weißen Hirsch mit achtzehn Enden erzählte, den er nur deshalb verpaßte, weil er dieses auf zwanzig Meilen in der Runde nicht vorkommende Getier für eine Vision, eine Ausgeburt seiner Phantasie gehalten hätte, erhob Unkas sich schweigend von seinem Lager unter dem Tische, klinkte mit dem rechten Vorderlaufe die Tür auf und verließ die Stube; denn in dem Verlauf der Geschichte, die da mit den Worten anfing: »Wenn Sie sagen, in der hiesigen Gegend gäb' es keine Hirsche, lassen Sie sich erzählen, was mir im vergangenen Herbst passiert ist,« kam folgende Stelle vor: »Also der Hirsch steht breitseit mitten auf dem Neudörfer Wiesengestell, äugt mich groß an. Ich aber hatte so ein bißchen vor mich hingedrömelt, vom Tag vorher auch einen etwas schmerzhaften Schädel, und trau' meinen Augen nicht; wenn einem in diesem Zustand die heiße Mittagsonne aufs Dach scheint, hat man ja manchmal solche Visionen, andre zum Beispiel glauben dann immer weiße Mäuse zu sehen. Also ich schwenk' den Hut, um dieses Trugbild zu verscheuchen, aber es bleibt regungslos stehen, wie aus Stein gehauen. Na und da bieg' ich mich 'runter und kneif mit scharf eingesetztem Daumennagel dem Köter in den Schwanz: Unkas, alter Kampfgenosse, schlafen wir oder sind wir wach? ... Kiautsch, sagt die Thöle, ebenso wie jetzt« – bei diesen Worten griff der alte Herr unter den Tisch, suchte aber vergebens nach der Rute seines Eideshelfers, um ihn zur Bekräftigung seiner Erzählung gründlich zu zwicken, und schloß dann, wie immer, schnell gefaßt, mit den Worten: »Also, sehen Sie, meine Herren, auch mein alter Unkas besinnt sich noch so genau auf den Vorfall, daß er schon vor der, für ihn allerdings etwas schmerzhaften Pointe das Lokal verlassen hat! ...«

Der alte Herr führte den vollen Schoppen zum Munde, Unkas aber, der an der Tür gehorcht hatte, ob die Erzählung zu Ende war, betrat wieder die Stube und nahm beruhigt seinen alten Platz ein. In den andern Geschichten, die der Förster zu erzählen pflegte, kam er zwar auch fast immer vor, aber es ging dabei ohne schmerzhaftes Schwanzkneifen ab ...

So gescheit war diese Perle von einem Hühnerhund, von dem in diesen Blättern noch öfter die Rede sein wird, und aus Klugheit nur hielt er sich während der Zeremonie, in deren Verlauf dem jungen Mädchen die abgeschlagenen Raubvogelfänge nebst einem frisch gebrochenen Kiefernzweig überreicht wurden, in achtungsvoller Entfernung. Wer mochte wissen, ob dabei für ihn nicht ebenfalls eine handgreifliche Nutzanwendung abfiel, wie bei der Geschichte von dem verpaßten Hirsch? ...

Der alte Herr aber schien an dergleichen nicht zu denken. Er schritt mit dem langzöpfigen Jägerlehrling quer über die verschneite Wiese und kratzte sich wieder den grauen Kopf, diesmal aber ausgiebiger und nachdenklicher als vorhin. Und Unkas glaubte zu wissen, weshalb. Wenn's nämlich im kommenden Mai bei der Bockbirsche ein ähnliches Malheur gab wie heute, konnte sich sein Herr wegen des zweiten Kugeleinschlages nicht mehr auf ihn als den Sündenbock ausreden, denn Rehböcke apportierte er nicht...

In dieser Annahme aber täuschte er sich, trotz all seiner sonst so oft bewiesenen Klugheit. Der alte Herr wälzte ganz andre Gedanken im Kopfe, denn ihm war nicht entgangen, wie die Baroneß sich verheddert hatte, in der ersten Freude, den Weih erlegt zu haben. Und mit dieser Verhedderung hielt er den Augenblick zusammen, in dem sie – kaum sieben oder acht Monate war es her – mit dem kurzen Befehl vor ihn hingetreten war: »Sie, Ahrens, verschreiben Sie mir sofort ein leichtes Damengewehr, ich will von morgen an auf die Jagd gehen!« Ihm aber blieb vor Verwunderung fast der Mund offen stehen. Reiten tat ja die junge Baroneß wie ein Husarenleutnant, das hatte sie in der englischen Pension gelernt, und tummelte sich mit ihren unbequemen scharfen Augen vom ersten Tage an in der Außen- und Innenwirtschaft mehr herum, als dem alten Fuchs und Betrüger, dem Verwalter Wisotzki, lieb war, für die Jagd aber hatte sie bisher so wenig Passion gezeigt, daß sie sich nicht einmal nach dem Gehörn umsah, wenn er ihr mit einem Bock im Rucksack auf dem Heimweg von der Früh- oder Abendbirsch begegnet war ...

»Auf die Jagd gehen, gnädigste Baronesse? Ja haben Sie sich das auch gründlich überlegt? Draußen im Reich soll es, dem Vernehmen nach, wohl solche Damen geben, hier bei uns aber dürfte es der gnädigen Baroneß doch sehr verübelt werden!«

»Aber ich will es, Ahrens, und damit basta!«

»Ja, wenn gnädigste Baroneß ernstlich befehlen, dann natürlich! Schließlich gibt's ja auch bei uns im Kreise eine Dame, die sich in dieser Weise nicht geniert, die alte Baronin Kammreuter auf Kallinowken, aber die trägt hohe Stiebel, wirtschaftet ohne Inspektor und will wohl auch gar nicht als Dame ästimiert werden. Nämlich sie verhaut, wenn's not tut, höchsteigenhändig ihre Knechte, und kein Wilddieb traut sich in das Kallinowker Revier. Seit sie nämlich dem Altsitzer Lask auf Abbau-Kallinowken, dem Schlingensteller, wissen Sie, Baroneß, den ich vergangenes Jahr auch auf drei Monate ins ›rote Haus‹ gebracht hab'... also seit sie dem so gründlich das Leder gegerbt hat, daß er vierzehn Tage nicht richtig sitzen konnte, seit dieser Zeit meiden die Wilddiebe ihr Revier. Aber, nicht wahr, mit diesem Ruhm wollen Baroneß doch gewiß nicht konkurrieren? ...«

»Wenn's sein muß, auch damit!«

»Also schön, zu Befehl,« hatte er damals erwidert und das verlangte Gewehr verschrieben. Einen kostbaren hahnlosen Drilling von Steigleder in Berlin, Kaliber zwölf in den Schrotläufen, aber so leicht, daß er ihn mit dem kleinen Finger ohne Anstrengung heben konnte, und mit schier erstaunlichen Schußleistungen ... kein englisches Gewehr konnte sich damit vergleichen! Diesen Drilling hatte er mit dem arglistigen Hintergedanken ausgewählt, ihn nach kurzer Zeit selbst zu führen, denn es war zehn zu eins zu wetten, daß die so plötzlich erwachte Jagdpassion seiner jungen Herrin keine vier Wochen anhalten würde, sobald sie nämlich gemerkt hätte, daß die Jagd zuzeiten nicht nur kein Vergnügen, sondern eine recht anstrengende Arbeit war. Mit diesem Hintergedanken aber – das sah er schon in den ersten Wochen – hatte er sich arg getäuscht, denn kein Forstlehrling konnte seinen Beruf so ernsthaft anfassen, wie dieses junge Mädchen seine Passion! Tagsüber im Sonnenbrand über die Weizenstoppeln und Kartoffelfelder hinter den Hühnern her, ohne eine Spur von Ermüdung zu kennen, abends noch eine Stunde Unterricht in der weidmännischen Umgangssprache oder der praktischen Forstwirtschaft, und im Herbst schon war sie so weit, daß sie nicht mehr von »Beinen« sprach, sondern von »Läufen«, die »Blume« nicht mit dem »Spiegel« verwechselte und sich sogar so subtile Unterscheidungen zu eigen gemacht hatte, daß Fuchs, Hase und alles zur niedern Jagd gehörige Wild nur »färbt«, während Reh und Hochwild, wenn die Kugel gesessen hat, »zeichnet und Schweiß verliert«. Aber auch mit der Schießfertigkeit war es überraschend schnell vorwärts gegangen. Schon nach den ersten Wochen holte sie jedes Huhn herunter, selbst wenn es spitz von vorne kam, im Herbste lernte sie mühelos den hingeworfenen Schnappschuß, wenn der getriebene Hase oder das Karnickel wie eine graue Kugel über die schmale Schneise sauste, nur bei den Rehböcken hatte es immer noch gehapert, denn in der Aufregung beging sie regelmäßig einen der drei Grundfehler, die zum Vorbeischießen führen: verdrehte das Gewehr, klemmte das Korn oder »muckte«, das heißt sie schloß im Moment des Abdrückens die Augen, statt klar und scharf durch das Feuer zu sehen, wo die losgelassene Kugel geblieben war. Aber auch diese Fehler schien sie sich abgewöhnt zu haben – am heutigen Abend hatte sie es bewiesen – und da hatte er einen Augenblick lang daran geglaubt, daß sie wirklich nur die reine Passion zum edlen Weidwerke geführt hätte, bis ihm durch ihren unbedachten Ausruf klar geworden war, daß, wie so oft bei sonst rätselhaften Entschlüssen und Handlungen junger Mädchen, auch hier wieder einmal ein »Er« dahinter steckte, ohne den man im gewohnten Geleise geblieben wäre! Und als ein erfahrener Weidmann, dem ein geknickter Zweig oder ein flüchtiger Eindruck im weichen Wiesenboden ganze Geschichten erzählten, fing er an zu spüren, wer wohl dieser »Er« sein mochte, der von seiner jungen Herrin so vollständig Besitz genommen hatte, daß sie an ihn zuallererst hatte denken müssen, als sie ihre erste ordentliche Weidmannsfreude erlebte. Und wie man bei einer »Neuen« ein Stück Schwarzwild festmacht, kreiste er in Gedanken all die jungen Männer ein, mit denen seine Herrin zusammengekommen war, seit sie den Entschluß gefaßt hatte, eine Jägerin zu werden, aber danach fand er keinen, dem er eine solche Eroberung zugetraut hätte.

Über den langen Hans Heinrich von Mechow auf Mechowen, der jeden Nachmittag fast, den der liebe Gott werden ließ, zu einer schweigsamen Tasse Kaffee herübergeritten kam, lachte sie, machte ihm nach, wie er jedesmal erst die groben Fingergelenke knacken ließ, ehe er eins seiner spärlichen Worte herausbrachte, den langhaarigen Maler aus Königsberg, der die Edelfohlen in der Jährlingskoppel abzeichnete, behandelte sie mit einer gleichmäßigen ruhigen Freundlichkeit, und den geschniegelten Hauslehrer der jüngsten Wisotzkischen Rangen, der ihr zuweilen seine selbstgemachten Gedichte vorlas, hatte sie erst kürzlich einen gezierten Gecken genannt; der junge Prediger aber aus dem Kirchdorfe Ostrokollen, das zum Adlig-Groß-Lipinsker Patronate gehörte, und sonst ein recht stattlicher junger Mann mit einem handfesten Schmiß in der Backe, kam auch nicht in Betracht, denn er war, wie die meisten Männer Gottes, natürlich schon aus seiner Studentenzeit her verlobt. Und wenn er auch mehr um seine junge Patronin herum war, als es seine seelsorgerischen Pflichten just erfordert hätten, so lag dies wohl nur daran, daß sie bei seiner endgültigen Bestallung zum Pfarrherrn das entscheidende Wort zu sprechen hatte. Vorausgesetzt natürlich, daß sie ihren Prozeß mit dem Adlig-Klein-Lipinsker auch in letzter Instanz gewann, denn die Entscheidung des Kammergerichtes, ob Adlig-Groß-Lipinsken als ein Kunkellehen anzusehen wäre, stand noch immer aus ...

Also diese vier schieden schon nach kurzem Überschlag aus dem Kreis der Verdächtigen aus, damit war aber seine Kunst eigentlich zu Ende, denn mit andern jungen Leuten war die Baroneß seines Wissens in der kritischen Zeit nicht zusammengetroffen. Höchstens nur noch mit den beiden Wirtschaftsvolontären des Verwalters Wisotzki, die Sonntags an der Schloßtafel speisten, aber an die zu denken war lächerlich, denn sie taten den Mund nicht auf, außer sie wurden gefragt, und wenn die Baroneß vom andern Ende der Tafel einmal zufällig zu ihnen hinübersah, verschluckten sie sich fast vor Verlegenheit, weil sie nämlich immer Angst hatten, einer von ihnen hätte wieder einmal einen gröblichen Verstoß in der Handhabung von Messer und Gabel begangen.

Aber wenn von allen denen keiner dieser »Er« war, wer dann nur, wer? ... Und der alte Herr strengte seinen Kopf an, daß ihm vor lauter Nachdenken die hellen Schweißperlen auf die Stirn traten. Und mit einem Male lachte er auf, so daß seine junge Herrin sich ganz verwundert nach ihm umsah: Vom andern Ende mußte man bei dieser Spürarbeit anfangen, mal diejenigen jungen Herren einkreisen, mit denen seine Baroneß persönlich nicht zusammenkam, und da glaubte er schon beim ersten flüchtigen Anschlagen gleich den Richtigen erwischt zu haben, fragte sich nur, ob er ihn beim genaueren Spüren auch wirklich bestätigte! Daran aber wollte er sich sofort begeben, denn aus rein egoistischen Gründen schon konnte es ihm nicht gleichgültig sein, wer einmal als Gatte der Baroneß sein Herr wurde, ganz abgesehen davon, daß er sie mit einer bei allem Respekte schier väterlichen Zuneigung umfing und ihr in allen Stücken die unerschütterliche Treue zu erweisen gedachte, die er schon ihren Vorfahren gehalten hatte ... Also, nachdem er sich den Plan in kurzem zurechtgelegt hatte, nach dem er das arglos neben ihm schnürende Füchslein zu fangen gedachte, blieb er stehen und blickte nach dem vollen Mond empor: »Ja, was ich nämlich sagen wollte, gnädigste Baroneß, es wird bald Zeit, daß wir wieder zu buddeln anfangen. In acht Tagen haben wir das letzte Viertel, und, wenn dann Mond und Morgenstern in einer Linie gerade über dem Ostrokoller Kirchturm stehen, dann ist es Zeit. Die andre Richtungslinie ist ja leider Gottes verloren gegangen, von der alten Torfscheune am Bruchrand sind nicht einmal mehr die Fundamente vorhanden, und von den drei Linden an der Klein-Lipinsker Ecke steht nur noch ein einziger morscher Stumpf, ich aber meine immer, auch so müßte der alte Kasten sich wiederfinden lassen. Nur, natürlich, eine sogenannte Zufallsbuddelei hätte keinen Zweck, sondern systematisch müßte man vorgehen, bei der richtigen Himmelskonstellation die eine Richtungslinie ordentlich festlegen und dann durch die ganze Wiese einen tiefen Graben ziehen. Das Geld wär' nicht verloren, denn man könnte mit dem Graben ja eine Drainageanlage verbinden und, wenn auch der Herr Wisotzki immer dagegen redet, ich sage, wir würden zum mindesten hundertundfünfzig Fuder Heu mehr ernten als jetzt. Wenn sich aber bei dieser Arbeit das bewußte Dokument finden sollte – und ich sage, es findet sich, denn der alte Verbrecher, der Gärtner Tyrol, hat mir doch auf dem Sterbebett die ganze Geschichte eingestanden – also dann wäre doch kein Gold der Welt dafür zu teuer! Die Baroneß mit dem gnädigen Fräulein Schwester brauchten nicht in der Angst zu schweben, hier eines schönen Tages womöglich doch noch 'rausgesetzt zu werden, denn wie diese Herren in Berlin entscheiden werden – also nichts Genaues weiß man nicht. Allenberg und Königsberg, das ließ ich mir gefallen, denn da waren womöglich noch Bekannte von Ihrem Herrn Großvater selig darunter, denen er es vielleicht erzählt hatte, daß nämlich sein Herr Vater wiederum mit Zustimmung der in Betracht kommenden Instanzen das Majorat in ein Kunkellehen umgewandelt hätte. Wenn aber ein Gericht so weit weg ist, wie dieses Kammergericht, dann trau' ich dem Frieden nicht recht! Wie wenn dieses Gericht nun herkommt und dreht den Spieß um? Nicht du, Herr von Linde auf Klein-Lipinsken, führ den Nachweis, daß deine klägerische Behauptung wahr ist, sondern du ... pardon, natürlich, ich wollte sagen, Sie, gnädigste Baroneß, als die Beklagte, produzieren Sie einmal das bewußte Dokument! Na, und dann stehen wir da mit unsern Talenten. Das Original ist angeblich mit verbrannt, als nämlich im Jahre neunundsechzig das Allenberger Landgericht abbrannte, aber kein Mensch kann mehr beschwören, es wirklich gesehen zu haben, und das Duplikat soll in einer eichenen Lade liegen, die der Gärtner Tyrol mit seinem Helfershelfer, dem Hufschmied Martschinowski, in den Lipinsker Wiesen eingebuddelt hat. Auch nur ›soll‹, denn die Dokumente, in die die beiden Spitzbuben das Silberzeug einwickelten, damit es in dem eichenen Kasten nicht klappern sollte, hatten sie natürlich nicht gelesen. Und beim Auswickeln, als sie nach Jahr und Tag daran gingen, die gestohlenen Kostbarkeiten nach Polen über die Grenze zu schaffen, erst recht nicht, alles was der alte Tyrol wußte, war nur, daß eins dieser Schriftstücke auf einem Papier gestanden hätte, wie Schweinsleder so dick und mit einem handgroßen Siegel daran. Damals nämlich wären sie beinahe mitten in der schönsten Arbeit überrascht worden, hatten gerade die Rasenstücke wieder über die Grube gedeckt, als am Waldrande, hoch zu Pferd, der Herr Verwalter Wisotzki auftauchte... Kaum daß sie gerieten, sich platt auf den Bauch zu werfen, und wenn der Herr Verwalter, statt 'nem großen Mundwerk, bessere Augen gehabt hätte, hätte er die beiden Kerle spitz kriegen müssen, denn er ritt keine dreihundert Schritt weit an ihnen vorüber. Die aber noch in derselben Nacht mit dem Silberzeug, heidi, über die Grenze. Hundert Taler nur haben sie dafür gekriegt, zehnmal so viel Tage und Nächte aber hat das Gewissen an ihnen gefressen, denn der Hufschmied Martschinowski wanderte nach Amerika aus, und der Gärtner Tyrol ging herum, wie sein eigener Schatten. Und wie ich – jetzt sind's gerade drei Jahre her, und Baroneß waren damals noch in der englischen Pension – also wie ich an seinem Haus vorbeigeh', sitzt er auf seiner Gartenbank und läßt sich die Sonne auf den Magen scheinen. Das heißt, so dachte ich, als ich ihn von weitem sah, in Wirklichkeit konnte er sich nicht rühren, denn der Tod hatte ihn beim Mistbeetjäten überfallen, und die Nase stand ihm schon ganz spitz im Gesicht ...

»›Tyrol,‹ sage ich, ›Menschenskind, mit Ihnen ist Matthäi am letzten, und wenn ich noch ein Paar richtig gehende Augen im Kopf hab', hat Sie der Deuwel schon am Schlafittchen!‹

»›Ja,‹ stöhnt er, ›Ahrens, es geht aufs Ende, nur ich kann noch nicht sterben, erst muß ich etwas von mir geben, wegen dem Papier nämlich, das jetzt auf einmal gesucht wird!‹« ...

Elsbeth von Linde, die der alten, wohl ein paar dutzendmal schon erzählten Geschichte nur mit halbem Ohr zugehört hatte, hob die Hand.

»Ach, Ahrens, das weiß ich ja schon alles! Und damit kommen wir ja nicht einen einzigen Schritt weiter!«

Im Prozeß vielleicht nicht, dachte der Alte, aber wenn ich dich, Füchslein, richtig einkreisen will, darfst du doch gar keine Ahnung haben, wo der Schlitten mit dem Jäger, der fern am Wiesenrand auftaucht, um nachher immer enger in der Runde zu fahren, eigentlich hin will ... Und laut fügte er hinzu: »Na ja, gnädigste Baroneß, stimmt und ist richtig. Aber ich meine, wenn man die alten Geschichten wieder mal so gründlich durchspricht, kommt man vielleicht auf ganz neue Gedanken! Also, wie ich nun zu dem Gärtner Tyrol sage: ›Mensch, Sie wissen was von diesem unglückseligen Papier und geben jetzt erst Hals, wo Ihnen schon, sozusagen, die Puste ausgeht ...‹«

Die Baroneß unterbrach ihn schon wieder. Sie griff ihm über den Arm und deutete mit der Rechten in die Wiese hinaus, wo vor einem durchsichtigen Weidengebüsch zwei Rehe standen, den Kopf hoch aufgeworfen, den Körper aber scharf angezogen, um im nächsten Augenblick in jäher Flucht davonzubrechen...

»Da, Ahrens, und schreien Sie doch nicht so, da steht ja der Lipinsker Grenzbock, den wir im vergangenen Jahr nicht gekriegt haben, und sehen Sie nur, wie hoch er schon jetzt ›geschoben‹ hat. Das Gehörn im Bast steht ihm ja schon eine Spanne lang über die Lauscher hinaus!«

»Auch das stimmt und ist richtig, gnädigste Baroneß, der bravste Bock, der auf zehn Meilen in der Runde auf seinen Schalen geht, und vielleicht kriegen wir ihn im kommenden Mai, vielleicht auch nicht. Wahrscheinlicherweise aber das letztere, denn acht Jahre kenn' ich ihn nun schon, war vielleicht schon hundertmal auf ihn aus, aber jedesmal stand er auf der andern Seite der Grenze. Dem Klein-Lipinsker Herrn ging's ebenso, und – weiß Gott – manchmal kam ich auf den Verdacht, die unvernünftige Kreatur wüßte was von dem Prozeß und machte sich die Feindschaft zwischen den beiden Nachbargütern zu nutze. Das aber wiederum brachte mich auf die Idee, ob man nicht wenigstens in Jagdsachen zu einer Verständigung kommen könnte, unbeschadet natürlich aller sonstigen Feindschaft«... Der alte Herr hielt einen Augenblick lang inne, ob das Füchslein nicht vielleicht schon diesen ersten, gewissermaßen zufällig ausgestreuten Brocken annehmen würde, aber nichts dergleichen geschah. Die Baronesse ging gelassen weiter, schien sich für die ganze Frage schon gar nicht mehr zu interessieren, denn als der Bock mit der Ricke jetzt in hohen Fluchten absprang, wandte sie kaum den Kopf danach. Also erhob er seine Stimme, um ihre Gedanken, die anscheinend in irgendwelchen entlegenen Gründen spazieren gingen, zur Wirklichkeit zurückzurufen, denn ein zerstreut daherbummelndes Füchslein war natürlich nicht anzukirren... »Ja, und da meine ich, ob wir nicht so etwas wie gegenseitige Jagdfolge vereinbaren könnten, das heißt nämlich, wenn man ein Stück Wild krank geschossen hat, und es bricht erst jenseits der Grenze zusammen, daß man es da ruhig holen kann, ohne erst vorher einen großen Schreibebrief nach Klein-Lipinsken schicken zu müssen, oder umgekehrt. Aber der jetzige Zustand, wo das arme Wildbret einfach verkommt oder vom Raubzeug zerrissen wird, weil Adlig-Groß-Lipinsken und dito Klein-Lipinsken nur im Gerichtswege miteinander verkehren – also, gnädigste Baroneß werden mir zugeben – da muß sich einem gerechten Weidmann doch das Herz im Leibe umdrehen!«

Das Mittel hatte geholfen, das Füchslein fing an, aufzumerken.

»Hat Ihnen Herr von Linde etwa einen Auftrag gegeben, mir einen solchen Vorschlag zu unterbreiten?«

»Nein, gnädigste Baroneß, ich bin ganz von selbst darauf gekommen, als Sie nämlich von dem Grenzbock anfingen!«

»Und haben Sie sonst irgend einen Anhaltspunkt, daß Herr von Linde auf Adlig-Klein-Lipinsken ein solches Abkommen wünscht?«

»Auch nicht, gnädigste Baroneß. Ich weiß nur, daß er ein ganz weidgerechter Jäger ist, ein Jäger nach dem Herzen Gottes« – bei diesen Worten sah der Alte seine junge Herrin scharf von der Seite an, aber keine Regung in ihrem, von der kalten Luft geröteten Gesichte zeigte an, daß dieses zweimal unterstrichene Lob ihres Gegners irgendwelchen Eindruck auf sie machte – »na ja, und da dachte ich mir eben, ihm dürfte der gegenwärtige Zustand auch nicht angenehm sein. Genaues aber weiß ich natürlich nicht, denn ich komm' ja mit keiner Menschenseele aus Klein-Lipinsken zusammen!«

»Also dann brauchen wir uns über diese Frage ja auch nicht weiter den Kopf zu zerbrechen!« ...

Hm, dachte der Alte, auf dem Weg geht's nicht! Gerade von dem Loblied, das er auf die jägerischen Qualitäten des Klein-Lipinskers sang, hatte er sich etwas versprochen, denn daß zwischen diesem und der Jagdpassion seiner jungen Herrin irgend ein geheimnisvoller Zusammenhang bestehen mußte, stand für ihn fest, wenn die Baroneß auch nicht, wie er eigentlich erwartete, bei dem Loblied mit den Achseln gezuckt hatte: »Der und ein weidgerechter Jäger?« ...

Aber noch war der Abend ja nicht zu Ende, und den Köder, von dem er sich erst die richtige Wirkung erhoffte, hatte er noch nicht ausgelegt! Also nahm er seine unterbrochene Geschichte wieder auf, schilderte mit allen Einzelheiten das Geständnis des Gärtners Tyrol, und wie er eben nur noch geraten hätte, ihm die beiden Richtungslinien abzufragen, als mit einem Male der Tod seine Hand aufhob und dem reuigen Sünder den Mund verschloß. »Gerade will ich sagen: Tyrol, und wenn ich Sie nun jetzt auf einen Wagen laden und nach den Wiesen 'rausfahren würde, möchten Sie sich da zutrauen, den Platz wiederzufinden, wo Sie mit dem Martschinowski den Kasten vergraben haben? ... Da streckt er sich nur so ganz lang auf der Gartenbank aus, der Kopf fällt ihm auf die Brust, hinüber war er. Und ein paar Tage vorher hatte ich noch den schlechten Witz gemacht, der alte Tyrol könnt' überhaupt nicht sterben, weil ihm nämlich die große Nase so weit über den Mund hing. Da meinte ich, seine Seele hätt' keinen Ausweg, müßte aus dem Mund durch die Nase wieder in den Leib zurück. Und nun war er wirklich tot, kein Schütteln und Anschreien half, hatte das wichtigste Teil von seinem Geheimnis mit ins Grab genommen! ... Also frage ich mich manchmal, warum hat ihn der liebe Gott, der doch mit den Menschen immer nur das Beste vor hat, damals nicht noch ein bißchen länger leben lassen, bis er mir wenigstens die Stelle auf der Wiese gezeigt hatte? Auf die paar Stunden wär' es doch wahrhaftig nicht angekommen! Dann aber wären Baroneß aller Sorgen ledig gewesen, und Menschen, die sich auf dieser Welt doch eigentlich die nächsten sein sollten, könnten in Frieden miteinander leben, statt sich ...«

Jetzt sprang das Füchslein auf den Brocken ein, die Baroneß blieb stehen und hob die Hand.

»Halt, Ahrens, und kein Wort mehr weiter! Hab' ich den Prozeß angefangen oder er?«

»Er natürlich, gnädigste Baroneß, der Herr Baron von Linde auf Adlig-Klein-Lipinsken, aber ...«

»Kein Aber, bitt' ich mir aus,« und etwas weniger schroff fügte sie hinzu: »denn mir scheint nämlich, Sie und Tante Lieschen stehen im Komplott, sie liegt mir auch mit allerhand Versöhnungspredigten in den Ohren. Daran aber, daß er den ganzen Prozeß sozusagen nur aus Prinzip angefangen hätte, um im obsiegenden Falle auf das Streitobjekt großmütig zu verzichten, wie Tante Lieschen in einem akuten Anfalle ihrer himmelblauen Romantik neulich meinte, also daran glaub' ich nicht, dafür hab' ich nur ein Lächeln! Wie Sie aber, Ahrens, als ein sonst so verständiger Mann, in dasselbe Horn blasen können, ist mir einfach unbegreiflich! Adalbert von Linde auf Adlig-Klein-Lipinsken, darin liegt doch der ganze Prozeß, mein Recht und überhaupt alles!« ... Und als sie sah, daß der Alte anscheinend nicht recht verstanden hatte, gab sie zu den letzten, etwas rätselhaften Worten eine Erläuterung. »Na ja, denken Sie doch bloß ein bißchen nach. Sein Urgroßvater und der meinige waren Brüder, und Adlig-Groß-Lipinsken und Klein-Lipinsken ein einziges Majorat. Mein Urgroßvater, als der ältere Bruder und Inhaber des Majorats, hatte wohl drei Töchter, aber noch immer keinen männlichen Erben. Also da ging er her und schlug seinem jüngeren Bruder ein Abkommen vor: Komm her, willig ein, daß ich aus dem Majorat ein Kunkellehen machen darf, ich aber werde dir und deinen Nachkommen sechstausend Morgen für ewige Zeiten abtreten. Wenn du nicht willst, soll es mir auch recht sein, denn noch klappert ja der Storch auf dem Lipinsker Scheunendach, kann mir immer noch einen Jungen bringen! Na, und der jüngere Bruder überlegte sich den Fall, schlug ein, und das feierliche Abkommen wurde geschlossen, zu seinem Glück, denn im Jahr darauf wurde mein Großvater geboren. Und jetzt denken Sie noch ein Endchen weiter: Auch die Urkunde über diesen Akt der Abtretung, in der doch sicherlich die Gründe angeführt waren, ist spurlos verschwunden, war trotz sorgfältigster Durchsuchung in dem Klein-Lipinsker Archiv nicht zu finden. Nicht zu finden, obwohl es dort weder gebrannt hatte, noch ein Diebstahl vorgekommen war! Und da sage ich Ihnen« – die Baronesse streifte mit einem kurzen Ruck die Lodenkapuze zurück und ihre Augen sprühten ordentlich – »es war vielleicht sein Glück, daß dieser Gärtner Tyrol nicht noch ein paar Stunden länger gelebt hat. Wer weiß, was er in der Todesangst noch alles verraten hätte!«

»Gnädigste Baroneß, um Gottes willen!«

»Na was denn, Ahrens? Und seit wann so zimperlich? Er schilt mich in allen Prozeßschriften eine Lügnerin, die sich ein erlogenes Recht anmaßt, und eine Diebin, die ihn um sein zukommendes Erbe bestiehlt, und da soll ich vielleicht ängstlich verstecken, was ich über ihn denke? Wer so habsüchtig ist, daß er sich mit sechstausend Morgen Wald, Wiesen und Weizenboden nicht zufrieden gibt, dem ist ja wohl noch Schlimmeres zuzutrauen! Und jetzt Schluß, ein für allemal. Ihnen sage ich es heute, morgen werde ich es aber durch Herrn Wisotzki allen denen, die es im Schlosse angeht, als meinen ausdrücklichen Befehl ankündigen lassen, daß in meiner Gegenwart von jetzt an über diesen Klein-Lipinsker Herrn nicht mehr gesprochen wird. Das Kammergericht wird entscheiden, wer von uns recht hat, er oder ich, bis dahin aber: basta!«

Sie führte mit dem leichten Jagdstock einen pfeifenden Hieb durch die Luft, als wollte sie jede Einrede von vornherein abschneiden, der Alte aber schwieg bekümmert, denn sein so schlau angelegter Plan hatte just das Gegenteil von dem gezeitigt, was er sich erwartet hatte.

An dem Verbot, über den Klein-Lipinsker Herrn in Zukunft nicht mehr zu sprechen, hätte er sich weiter nicht gestoßen, aber daß die Baroneß ihrem Prozeßgegner so schlimme Sachen zutraute, zerstörte ihm das ganze Konzept. Und er hatte nur die Mühe, sich weiter den Kopf darüber zu zerbrechen, wer nun eigentlich dieser rätselhafte »Er« sein mochte. Wen ein junges Mädchen »habsüchtig« schalt, den konnte es wohl hassen, aber dieser Haß konnte niemals in Liebe umschlagen, sondern immer nur in Verachtung... Und jammerschade war es eigentlich um all die Luftschlösser, die er in seiner leichtbeweglichen Phantasie auf dem ersten, plötzlichen Einfall aufgebaut hatte. Der Prozeß wär' mit einem Schlage zu Ende gewesen, die beiden Güter mit ihren achtzehntausend Morgen wieder vereinigt, er auf seine alten Tage noch als Oberförster über dem Ganzen, sein Todfeind, der Verwalter Wisotzki, natürlich zum Teufel gejagt, und überhaupt, wenn er seine junge Herrin so ansah, wie sie in Kraft, Selbstbewußtsein und Jugendherrlichkeit neben ihm herschritt – alles federte nur so an ihr, wie bei einem Edelfohlen, das vor lauter stolzem Blut nicht wohin wußte mit all der übermütigen Kraft – also dann konnte er sich keinen andern neben ihr denken, als den Klein-Lipinsker Herrn!... Bei der Frühjahrskontrollversammlung in Allenberg hatte er ihn zum letztenmal gesehen – wie er da in seiner Kürassieruniform auf dem Markte stand, den langen Hans Heinrich von Mechow noch gut um einen halben Kopf überragend, und dabei nichts Hochmütiges in dem freundlichen Gesicht. ... »Grüß Gott, Ahrens,« rief er über den weiten Platz und winkte mit der Hand, als er im Schlitten an dem aufgestellten Landwehrbataillon vorbeifuhr, und »was machen dies Jahr bei euch die Böcke?« ... Ganz, als wenn es gar keinen Prozeß, noch Erbschaftsstreit gegeben hätte, bei dem Meinung gegen Meinung und Aussage hart gegen Aussage standen ... Wenn er als der Groß-Lipinsker Gutsförster der Wahrheit gemäß für seine junge Herrin aussagte und offenkundig seinen ganzen Eifer daran setzte, das verschwundene Dokument wieder herbeizuschaffen, trug's ihm der Herr der Gegenpartei so wenig nach, daß er ihm vor allen Leuten die Ehre antat, zuerst zu grüßen! ... Und solch ein leutseliger, freundlicher Herr, dem die Wahrhaftigkeit sozusagen auf der Stirn geschrieben stand, sollte sich aus schnöder Habsucht mit Dieben und Einbrechern gemein machen? Mit treulosen Knechten, die nächtlicherweile die Silberkammer ihrer Herrschaft aufsperrten, weil der Hufschmied, wie das so auf dem Lande zu gehen pflegt, das in Unordnung geratene Schloß repariert und sich bei dieser Gelegenheit, von den alten Kostbarkeiten verblendet, einen zweiten Schlüssel zurechtgefeilt hatte? Nein vielmehr, der führte den Prozeß wirklich nur des Prinzipes halber und weil hinter ihm noch ein ganzes Dutzend von Vettern stand, das ihn drängte, lauter hungrige kleine Leutnants in allerhand Infanterieregimentern, die sich alle sagten: Laß ihn doch prozessieren! Wer weiß, vielleicht hab' ich das Glück, daß mir alle näher Erbberechtigten fortsterben – zerdrücke ein Tränlein im Auge – und ich bin an der Reihe! Auf dem Klein-Lipinsker aber, als dem Karnickel, das da angefangen hat, bleibt der ganze Groll sitzen?!

So sinnierte der Alte, und als er an den Schluß seiner Gedankenreihe gelangt war, seufzte er tief auf. Haß war zu tilgen, wenn man aber dem andern Habsucht, Schlechtigkeit und Ehrlosigkeit zutraute, da hinüber führte keine Brücke! ...

Seine junge Herrin aber – sie waren mittlerweile von der offenen Wiese her in den Hochwald gekommen, und ab und zu nur glänzte durch die dicht verschlungenen Wipfel ein heller Mondstrahl auf den leicht verschneiten Weg – deutete den tiefen Seufzer anders; als den Ausdruck ungerechtfertigter Kränkung, die sie ihrem Getreuesten angetan hatte, durch den schroffen Ton, in dem sie auf seine, sicherlich doch nur gut gemeinten Vorschläge erwidert hatte. Und ihr gütiges Herz trieb sie an, den unfreundlichen Eindruck wieder gut zu machen, die vermeintliche Verstimmung zu beseitigen, kaum daß sie erst Wurzel gefaßt hatte ...