Schweigen machen -  - E-Book

Schweigen machen E-Book

0,0

Beschreibung

Schweigen ist nicht die bloße Abwesenheit von Stimme. Es kann vielmehr eine bewusste, machtvolle Handlung sein, die ihrerseits Reaktionen und Gegenreaktionen hervorruft. Die Vielfalt von Schweigepraktiken und die grenzüberschreitende Qualität von Schweigen sind das Thema der Beiträge dieses Bandes. Wie wurde Schweigen in einer Geschichte der Moderne umgesetzt und unter welchen Bedingungen? Welche Auswirkungen und Folgen konnte es haben zu schweigen? In den Blick gerät eine Vielfalt an Praktiken, die von kontemplativer Stille, dem Abbruch der Kommunikation, einem taktischen Verschweigen bis hin zu einem Zum-Schweigen-Bringen oder Übertönen reichen. Die historische Untersuchung von Schweigepraktiken ermöglicht einen Zugang zu Fragen nach der Formierung von Gesellschaft. Außerdem regt sie dazu an, über Überlieferungs- und Interpretationsweisen historischer Quellen nachzudenken. Der Band trägt damit zur Reflexion über methodische Kernfragen der Geschichtsschreibung bei.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 653

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Cover for EPUB

Karolin Wetjen, Philipp Müller, Richard Hölzl, Bettina Brockmeyer (Hg.)

Schweigen machen

Zugänge zur Geschichte der Moderne

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Schweigen ist nicht die bloße Abwesenheit von Stimme. Es kann vielmehr eine bewusste, machtvolle Handlung sein, die ihrerseits Reaktionen und Gegenreaktionen hervorruft. Die Vielfalt von Schweigepraktiken und die grenzüberschreitende Qualität von Schweigen sind das Thema der Beiträge dieses Bandes. Wie wurde Schweigen in einer Geschichte der Moderne umgesetzt und unter welchen Bedingungen? Welche Auswirkungen und Folgen konnte es haben zu schweigen? In den Blick gerät eine Vielfalt an Praktiken, die von kontemplativer Stille, dem Abbruch der Kommunikation, einem taktischen Verschweigen bis hin zu einem Zum-Schweigen-Bringen oder Übertönen reichen. Die historische Untersuchung von Schweige-Praktiken ermöglicht einen Zugang zu Fragen nach der Formierung von Gesellschaft. Außerdem regt sie dazu an, über Überlieferungs- und Interpretationsweisen historischer Quellen nachzudenken. Der Band trägt damit zur Reflexion über methodische Kernfragen der Geschichtsschreibung bei.

Vita

Karolin Wetjen, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere Geschichte an der Georg-August-Universität Göttingen.

Philipp Müller, PD Dr. phil., leitet das Archiv im Haus der Geschichte des Ruhrgebiets in Bochum.

Richard Hölzl, PD Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Provenienzforscher am Museum Fünf Kontinente in München.

Bettina Brockmeyer, Prof. Dr., lehrt Neuere Geschichte (19. und 20. Jahrhundert) an der Justus-Liebig-Universität Gießen.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Vorwort: Im Gedenken an Rebekka Habermas (1959–2023)

Karolin Wetjen, Philipp Müller, Richard Hölzl, Bettina Brockmeyer: Schweigen machen. Eine Einleitung

Schweigen historisch beschreiben – Gegenstand, Perspektive, Kategorie

Interventionen: Vom Suchen und Finden von Stimmen

Aufbrüche zur historischen Erforschung des Schweigens

Nicht-Wissen und Ignoranz

Lost in Translation – Schweigen und kulturelle Verflechtung

Psychopathologien des Schweigens: Verdrängung, Amnesie, Aphasie

Die Fallstudien dieses Bandes

Karsten Lichau: »In perfect stillness«? Die Schweigeminute als akustisch-emotionale Artikulation

»Mit allen zusammen hielt ich den Atem an«. Schweigen als Klanghandeln

Praxistheoretische Ansätze in der sound history

Emotional Practices

Schweigen als akustisch-emotionale Praxis

Schweigen als Artikulation. Ausdruck und Verbindung von sounds und Emotionen

Vom Schweigen überwältigt: Akustisch-emotionale Praktiken als Artikulation sozialen Wissens

Resümee

Theo Jung: Der Schweigemarsch. Entstehung und Funktionsvielfalt einer Protestpraxis in Europa und den Vereinigten Staaten (ca. 1880–1925)

Zwischen Vorgeschichte und Neuanfang

Vielfältige Verwendungskontexte (Frankreich um 1900)

Bewegte Arbeitermassen

Ambivalenzen weiblichen Schweigens

Die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung

Fazit

Richard Hölzl: Bereden, Verschweigen und zum Schweigen bringen. Gewalt und Kommunikation im deutschen Kolonialismus

Kommunikative Gewalt und »Geteilte Gewalträume« des Kolonialismus

Wie reflektierte das Parlament die Beziehung von Kommunikation und Gewalt?

Gewalt als Mittel kolonialer Kommunikation: die Debatte zum Boxerkrieg (November 1900)

Dialektik von Gewalt und Zivilisierung: die Debatte zum Maji-Maji-Krieg (März 1906)

Grenzen kolonialer Gewaltkommunikation: die Reichstagspetitionen der Duala (1912-14)

Fazit

Bettina Brockmeyer: Vom Schweigen der Dinge. Nationalsozialistische Propagandaobjekte nach 1945

Nationalsozialistische Objekte

Ein Buch: Mein Kampf

Ein Film: Jud Süß

Ein Bauwerk: die Zeppelintribüne

Schlussüberlegungen

Julia Hauser: Die unsichtbare Kuh. Schweigen als Grundlage für Allianzen zwischen britischen und indischen Akteuren im Kontext des organisierten Vegetarismus

Reden: Organisierter Vegetarismus in Indien und der Anschein diskursiver Nähe

Schweigen: The »Merciful Hindoo« und die Ambivalenz des Kuhschutzes

Fazit

Mette Bartels: Immanentes Schweigen als frauenbewegte Praxis. Frauenfreundschaften, Liebe und Sexualität in der bürgerlichen Frauenbewegung um 1900

Sexualität, Sexualmoral und Sittlichkeit als Thema der bürgerlichen Frauenbewegung im Kaiserreich

Symbolisch-demonstratives Schweigen der Frauenbewegung und der Umgang mit homosexuellen Schwestern

Distinguierte Zurückhaltung: Sex-Skandale und Strafverfolgung

Schweigen als segregierte persönliche Kommunikation: Käthe Schirmacher und Klara Schlecker

Fazit

Niklas Pelizäus-Gengenbach: Resonanz und Schweigen akustischer Objekte in einer kolonialen Sammlung. Die Archivaufnahmen des Berliner Phonogrammarchivs

Einschreibung, Resonanz und Schweigen

Schweigen in kolonialen Tonarchiven

Technisches Schweigen: Aufnahme- und Archivierungspraxis im Phonogrammarchiv

Diaspora-Afrikaner in den Archivaufnahmen des Berliner Phonogrammarchivs

Strukturelles Schweigen: Sammlungslogik und Archivierungspraxis

Schweigen politischer Subjekte im Ordnungsgefüge der Vergleichenden Musikwissenschaft

Stellenwert in der wissenschaftlichen Analyse

Weitere Rezeption: Resonanzraum Metropole

Fazit

Philipp Müller: We’re here smile. Die symbolische Form »humanitäre Hilfe« und das Schweigen

Pogrom, Flucht und die Sensation der Ankunft

Humanitäre Motivik und Erwartungen

News ist strukturierter Inhalt

Die Erneuerung von Appeasement: Politik mit humanitärer Hilfe

Schweigen im Zentrum sozialer Praxis: die Aneignung von Hilfe

Reden in Englisch, Schweigen in Deutsch

Schweigen vor den Erwachsenen

We’re here smile und das diskursive Gefängnis von Dankbarkeit und Anpassung

Sarah Frenking: Praktiken des Verschweigens und verschwiegene Raumzusammenhänge. Grenzpolizei und Bewegungsfreiheit von Sinti:zze und Rom:nja im Elsass um 1900

Zugeschriebene Bewegungsweisen. »Zigeuner« als »Wandervolk«

Räumliches Polizieren und die Bedeutung der Staatsangehörigkeit

Schweigen als räumliche Praxis des Sich-Entziehens

Raumbezüge, Bewegungsweisen und ihre polizeilichen Unterbrechungen

Öffentliches Schweigen über die räumlichen Zusammenhänge

Fazit

Karolin Wetjen: Verschweigen, Dulden, Übertönen. Mission, Geschlecht und ein Kinderheim in Ostafrika

Der Konflikt um das verschwiegene Kinderheim

Missionspolitiken und potenzielle Gründe des Verschweigens

Das Verschweigen der Frauen

Verschwiegene Handlungsräume

Das Schweigen der Frauen?!

Verflochtene Praktiken des Schweigens

Nives Kinunda: Zwischen Widerstand und Schweigen. Farmerinnen in den Southern Highlands von Tansania in den 1980er und 1990er Jahren

Liberalisierung des landwirtschaftlichen Sektors in Tansania

»Stabilisierung« und »Strukturanpassung« in der Landwirtschaft Tansanias

Schweigen und Widerstand: Farmerinnen und Liberalisierung

Fazit

Andreas Günter Weis: Ein gescheiterter Expansionsversuch? Das Schweigen der chinesischen Mitglieder in der Korrespondenz des Internationalen Sozialistischen Kampf-Bundes (ISK), 1924–1936

China als Modell und »die Weisen« unter den Chines:innen: Leonard Nelson und Gū Hóngmíng辜鸿铭 (1857–1928)

Wèi Sìluán: Verschweigen und Dementis

Chéng Qíyīng: Schweigen und Offenheit

Zhū Gōngjǐn: Schweigen und Verschweigen

Eine gescheiterte Expansion? (Miss-)Deutungen von Schweigen

Carolin Kosuch: Das Schweigen des Graphomanen. Fritz Mauthners Sprachkrise und die Produktivität der Wortlosigkeit

Sprachkritik bei Fritz Mauthner

Resignatives Schweigen

Produktives Schweigen

Schlussbetrachtung

Autorinnen und Autoren

Vorwort: Im Gedenken an Rebekka Habermas (1959–2023)

Es verschlug uns die Sprache. Rebekka Habermas, unsere Mentorin und Lehrerin über so viele Jahre, war verstorben. Wochen zuvor hatten wir uns für die Tage vor Weihnachten verabredet, um letzte Hand an diesen Band anzulegen. Nun konnten wir nur trauern.

Lange war der Band schon in Vorbereitung gewesen. Viele der Kapitel beruhen auf Vorträgen, die Schüler:innen auf einem Workshop 2019 zu Rebekka Habermas‘ 60. Geburtstag gehalten hatten. Nun ist aus dem Jubiläumsband ein Erinnerungsbuch geworden – die Erinnerung an einen humorvollen, warmherzigen und intellektuell faszinierenden Menschen, der mit Verve und analytischem Scharfsinn unser eigenes historisches Denken immer aufs Neue herausforderte.

Schweigen – darauf gründet dieser Band – ist machtvolles Handeln und hat deshalb Geschichte. Was »tut« Schweigen mit Menschen, mit Politik, mit Wissen, mit Beziehungen? Das ist eine Frage, wie sie Rebekka wohl gestellt hätte, wie sie sie in ähnlicher Weise gestellt hat, zum Beispiel in einem großen Aufsatz mit dem Titel Lost in Translation, in dem es um die Verluste an Bedeutung und die Umdeutung von Botschaften zwischen Kolonien und kolonialen Metropolen geht.

Dieser Band ist von Rebekkas Art, Fragen an die Vergangenheit zu stellen, inspiriert. Rebekka Habermas ist dieses Buch gewidmet.

Die Herausgeber:innen, Januar 2024

Schweigen machen. Eine Einleitung

Karolin Wetjen, Philipp Müller, Richard Hölzl, Bettina Brockmeyer

Im November 2022 gingen Bilder aus China um die Welt. Menschen in großer Zahl hielten weiße, leere Zettel in die Luft, um gegen die strikten Corona-Maßnahmen der chinesischen Regierung, gegen immer wiederkehrende Lockdowns, gegen Ausgangs- und Reisebeschränkungen, gegen Zensur aufzubegehren. Es war ein Protest ohne Worte, der polizeiliche Bestimmungen und das Potential medialer Resonanzen zugleich reflektierte: ein schweigender und doch widerhallender Protest.1 Ebenfalls im November 2022 ereignete sich ein verwandtes Geschehen: Die deutsche Fußballnationalmannschaft posierte bei der Fußballweltmeisterschaft in Katar 2022 zum Mannschaftsfoto. Die Spieler hielten sich die Münder zu. Der Fußballweltverband hatte das Tragen der ›One-Love‹-Kapitänsbinde aus Rücksicht auf den Austragungsort der Spiele verboten. Die Binde hatte ein Zeichen gegen Rassismus, Diskriminierung und für Meinungsfreiheit setzen sollen, in einem Land, das zum Beispiel Homosexualität unter Strafe stellt. Das Verbieten der Binde, so der Deutsche Fußballbund, käme einem Mundverbieten gleich; dagegen wollte man mit der Hand vor dem Mund protestieren.2 Spätestens der Backlash, den die Fußballer für diese Geste erfuhren, zeigt, dass das Schweigen nicht eindeutig festgelegt ist, sondern immer Deutungsoffenheit produziert. Das Schweigen dieser protestierenden Menschen ist nicht lediglich eine Abwesenheit von Stimme. Es ist eine bewusste, machtvolle Handlung, die ihrerseits Reaktionen und Gegenreaktionen, mithin weitere Handlungen hervorruft.

Die Vielfalt von Schweigepraktiken und die grenzüberschreitende Qualität von Schweigen sind das Thema dieses Buches. Wir fragen nach den Bedingungen und Umsetzungen von Schweigen und danach, welche Auswirkungen und Folgen es zeitigte. Damit steht einerseits Schweigen als (machtvolle) Handlung im Vordergrund, andererseits untersuchen wir, wie Menschen oder auch Dinge zum Schweigen gebracht wurden. Schweigen als Modus sozialer, politischer und kultureller Praktiken ernst zu nehmen, bedeutet nicht nur, verschiedene Formen von Schweigen parallel zu betrachten. Wir hinterfragen auch den üblicherweise damit assoziierten Gegensatz von aktiv und passiv. In den Blick gerät eine Vielfalt von Praktiken, die von kontemplativer Stille, dem Abbruch der Kommunikation, einem taktischen Verschweigen bis hin zu einem Zum-Schweigen-Bringen oder Übertönen reichen. Diese Praktiken des Schweigens treten häufig nicht einzeln auf, sondern sie sind miteinander verwoben; sie bedingen sich gegenseitig in einer Vielzahl gesellschaftlicher Felder und ziehen weitreichende Konsequenzen nach sich.

An verschiedenen Fallbeispielen aus der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zeigen die Beiträge in diesem Band so erstens Varianten eines Handlungsmodus auf, der durch Abwesenheit und Nichtgreifbarkeit gekennzeichnet zu sein scheint. Es geht uns dabei nicht darum, die Stimmen der Schweigenden hörbar zu machen, ihnen gar zu soufflieren (für sie zu sprechen) oder eine Stimme zu verleihen, und dadurch Schweigen vermeintlich zum Verschwinden zu bringen. Eine »Stimme« für sich selbst oder andere zu reklamieren und damit erzwungenes Schweigen beenden zu wollen, begreifen wir vielmehr als Teil des Gegenstands unseres Forschungsinteresses. Das heißt nicht, dass wir Gesagtes und Sprechen, wie es uns in historischen Überlieferungen begegnet, negieren. Diese Materialien bilden vielmehr die Grundlage, um Schweigen als geschichtswissenschaftlichen Gegenstand zu untersuchen, um es als etwas historisch Gemachtes zu begreifen und Fragen nach seiner Relevanz und Reichweite zu beantworten. Deutlich wird in den Beiträgen zweitens, wie eng die verschiedenen Formen von Schweigen mit Möglichkeitsbedingungen und Erwartungen der sie umgebenden Gesellschaften verbunden sind. Der Blick auf Schweigen fördert daher neue Erkenntnisse zur Formierung von Gesellschaft. Drittens lädt eine Perspektive auf Schweigen, auf das Nicht-Gesagte respektive Nicht-Geschriebene dazu ein, über Fragen der Überlieferung und der präzisen Analyse historischer Quellen nachzudenken. Denn häufig hängt es von den konkreten materiellen Überlieferungen ebenso wie von stillschweigenden Voraussetzungen und Selbstverständlichkeiten unseres Denkens ab, ob, wann und in welcher Form wessen Schweigen sichtbar wird bzw. gemacht werden kann.3 Der Band trägt damit zur Reflexion über methodische Kernfragen der Geschichtsschreibung bei.

Im Folgenden diskutieren wir, warum das geschichtsphilosophische Erbe, das die Geschichtswissenschaft aus dem 19. Jahrhundert mitbringt, einer Erforschung des Schweigens einige Steine in den Weg legt. Wir fragen, wie neue historische Ansätze ab den 1970er Jahren versuchten, diese Barrieren mit vielfältigen Methoden zu umgehen, ohne dabei aber Schweigen selbst in den Fokus zu rücken. Wichtig erscheinen uns postkoloniale Interventionen und weitere intellektuelle Reflexionen, die zu erheblichen Differenzierungen im Nachdenken über das Sprechen und Schweigen historischer Akteur:innen führten: Schweigen zum Gegenstand zu machen, wird noch einmal dringender, wenn das soziologische oder historiografische Auffinden von »Stimmen« als potenziell koloniale Praxis des Überschreibens markiert wird. Anschließend resümieren wir neuere Ansätze zu einer Historiografie des Schweigens. Der Überblick über die Aufsätze in diesem Buch am Ende der Einleitung zeigt, dass die Wirkmächtigkeit von Schweigepraktiken oft erst auf der Ebene von Ereignissen, interpersonalen Beziehungen und sozialen Praktiken deutlich hervortritt.

Schweigen historisch beschreiben – Gegenstand, Perspektive, Kategorie

Schweigen in den Mittelpunkt der Analyse zu rücken – und wir betrachten Schweigen in diesem Band gleichermaßen als Gegenstand, Perspektive und Kategorie –, ist für die Geschichtswissenschaft keine leichte Aufgabe. Die Gründe hierfür liegen in der Geschichte des Faches. Der Imperativ philologischer Forschung, Beobachtungen auf der Grundlage von historischen Quellen zu formulieren, war eine wichtige Voraussetzung dafür, dass nicht nur neues Wissen, sondern auch Techniken der Kritik und begriffliche Vorstellungen von Quellenmaterial generiert werden konnten.4 Das Resultat war eine Fokussierung auf vorwiegend schriftliche Dokumente und positiv fassbare Aussagen und ein disziplinäres Selbstverständnis, das in der Idee vom »Vetorecht der Quelle«5 seinen genuinen Ausdruck fand. Dieses Selbstverständnis leitet sich nicht zuletzt von den hegelianischen geschichtsphilosophischen Axiomen ab, erstens, dass Gesellschaften dann in den Geschichtsprozess einträten, wenn sie schriftliche Überlieferungen hinterließen, und zweitens, dass dieses Eintreten durch eine gebildete und männliche Schicht ermöglicht und vermittelt würde, die abstrakte Vorstellungen (Begriffe) über die Ordnung der Welt entwickelte;6 kurzum: dass erst der Austritt aus dem langen Schweigen den Beginn der Geschichte bedeute und die Herrschaft über schweigende Gesellschaften legitimiere. Dabei ist Hegels Diskussion der Geschichtsmächtigkeit von Gesellschaften eigentlich ein wichtiger Moment für die Erforschung des Schweigens, denn selten wird ein solcher Akt des Schweigen-Machens überhaupt artikuliert und damit beschreibbar.7 Viel öfter herrscht eine Art »Meta-Schweigen«8 über die Bedingungen und Praktiken des Schweigens und über das, was als Schweigen (miss)verstanden wurde.

Die Methode der klassischen Geschichtsschreibung war einem argumentum ex silentium zunächst wenig förderlich. Der schriftzentrierten Ausrichtung der klassischen Geschichtsschreibung ohne Weiteres zu folgen, hieße jedoch, sich nicht nur dem Zufall der Überlieferung, sondern auch den historischen Machtverhältnissen der Archivierung erneut zu unterwerfen bzw. sich darauf zu beschränken, die von diesen vorgegebenen Linien beschreibend nachzuvollziehen.9 Aus derlei machtkritischen und -analytischen Überlegungen, die es seit einigen Jahrzehnten gibt, speisten sich die Gründungen unterschiedlicher geschichtswissenschaftlicher Forschungsfelder, etwa der Sozialgeschichte, Frauengeschichte, Alltagsgeschichte oder ethno-history, wie auch der Historischen Anthropologie und postkolonialen Geschichtsschreibung. Zum Beispiel sahen sich Studien zur Protestforschung, der Geschichte von Kriminalität und Polizei mit dem Problem konfrontiert, dass historische Überlieferungen maßgeblich von gesellschaftlichen Vorstellungen wie etwa Geschlecht, Familie, Ehre geprägt waren und daher mit Lücken einhergingen.10 Die Geschichte von Frauen konnte nicht geschrieben werden, ohne auf Material zurückzugreifen, das von Männern verfasst wurde. Ein nach wie vor eindrückliches Beispiel hierfür ist Barbara Dudens Analyse der Schriften des Eisenacher Arztes Johannes Pelargius Storch, an denen sie Körperwahrnehmungen von Patientinnen und die nicht unhinterfragte Autorität des Arztes herausarbeitet.11 Soziale Machtbeziehungen und damit verbundene gesellschaftliche Wahrnehmungen produzieren Auslassungen, da die Mitglieder von diskriminierten sozialen Gruppen (Klassen) nicht als politik- und handlungsfähig erachtet wurden und werden. Wenn man sich nicht auf strukturgeschichtliche Extrapolationen verlegen wollte, stand dabei häufig zunächst eine Heuristik des Entdeckens marginalisierter Akteur:innen, ihrer sozialen Praxis und ihrer Stimmen im Vordergrund.12 Zugriffe ermöglichten Oral History,13 das Aufsuchen und Bilden alternativer Archive (»Grabe, wo du stehst!«)14, die Anwendung der Ethnologie für europäische Situationen,15 zur Archäologie etwa in afrikanischen Geschichtsschreibungen oder das Lesen von behördlichen Überlieferungen ›gegen den Strich‹. Die Überraschung und Irritation war groß angesichts der Vielen und Namenlosen, denen plötzlich das Privileg zu Teil wurde, das bislang lediglich wenigen Denkern und Lenkern an der Spitze von Politik, Wissenschaft und Kultur vorbehalten war: die unmittelbare Manifestation von Subjektivität und Stimme in historischen Materialien und Medien.16 Inspiriert wurden diese Überschreitungen der Grenzen eines klassischen Historismus von sozialen Emanzipationsbewegungen, die ein Ende der Angst und des Schweigens marginalisierter Gruppen propagierten. Leitend und tragend war hierfür häufig ein emphatisches Verständnis von (Schrift-)Zeugnissen als unmittelbare Träger von Stimme, Gefühl, Erfahrung und Subjektivität.17 Schweigen als soziale Praxis kam in diesem Rahmen vor allem als Defizitkategorie in den Blick, die es durch einen Wandel der Untersuchungsperspektiven (›from below‹) und verfeinerter Methoden zu beseitigen galt.

Interventionen: Vom Suchen und Finden von Stimmen

Zentrale kritische Interventionen zur Diskussion um das Schweigen marginalisierter sozialer Gruppen kamen sowohl aus der (post-)strukturalistischen Philosophie als auch aus den postcolonial und subaltern studies. Bereits Anfang der 1970er Jahre formulierten Gilles Deleuze und Michel Foucault eine Kritik an dem Sprechen für andere. Geleitet von der Kritik an der Instanz des Subjekts im abendländischen Denken und der Reichweite des Subjektbegriffs für die Konzeptualisierung ganz unterschiedlicher Geschichten markierten sie eine dezidierte Gegenposition zu der Figur des Intellektuellen, der für andere stellvertretend die Stimme erhebt und spricht, und wandten sich damit ab von einem Modell, wie es Jean-Paul Sartre vertreten hatte und es langjährige Tradition in Frankreich war.18

Gegen das von Deleuze und Foucault postulierte Für-sich-selbst-sprechen-lassen formulierte die Literaturwissenschaftlerin Gayatri C. Spivak allerdings kritische Einwände. In ihrem legendären Essay »Can the Subaltern Speak?«19 machte sie auf die grundlegende Problematik des Schweigens subalterner Klassen, Gruppen bzw. Gesellschaften aufmerksam: Es handle sich um Schweigen, das nicht einfach durch Praktiken des Suchens nach Stimmen in entlegenen Archiven, des »Fürsprechens« oder des »Stimme-Verleihens« aufgehoben werden könne.20 Spivak kritisierte Foucault und Deleuze dafür, sich »die Maske abwesender Nicht-Repräsentierter an[zu]legen und die Unterdrückten für sich selbst sprechen [zu] lassen.«21 Und sie zog Kontinuitätslinien von den häufig missionarischen Rettungserzählungen des Kolonialismus des 19. Jahrhunderts bis zur bürgerlichen Soziologie mit universalem Anspruch im 20. Jahrhundert. Mit Spivak lässt sich von einer epistemic violence sprechen, die in solchen Praktiken der (Nicht-)Repräsentation durch Universalisierung der Positionen einzelner westlicher »Subjekte mit Stimme«, aber auch des simplen »Fürsprechens« (selbst wenn es als Für-sich-sprechen-lassen daherkommt) steckt. Gemeinsam mit der Problematisierung der Stimme tritt so das Schweigen als eigener historischer Gegenstand in den Blick, als Nicht-Äußerung, die nicht einfach durch Ersatz-Äußerungen beseitigt werden kann: »Die archivalische, historiographische, disziplinenkritische und unvermeidlich interventionistische Arbeit, die das mit sich bringt, stellt in der Tat die Aufgabe dar, die es erfordert, ›das Schweigen zu vermessen‹«.22

Im vorliegenden Band nehmen wir Spivaks Kritik als Impuls auf und versuchen, das Schweigen der Subalternen und das Schweigen über sie nicht aufzulösen und zu beseitigen, sondern uns im Gegenteil bei diesem Schweigen forschend eine Weile aufzuhalten.23 Damit einher geht auch ein zumindest zeitweiliger Abschied von einem emphatischen Konzept der Stimme, das geeignet ist, von der Suche nach Schweigepraktiken abzulenken. Nicht jedoch verabschieden wir uns von der Analyse von Differenz und Machtasymmetrien, die wir mit unserem Blickwechsel auf Schweigen vollziehen wollen.

Die Frage bleibt spannend, welche Praktiken des Überschreibens von Schweigen, des Fürsprechens und des Für-sich-sprechen-lassens in aktuellen Forschungen zu beobachten sind. Denn die Suche nach Erfahrungen marginalisierter Bevölkerungsgruppen oder beispielsweise nach der vielbeschworenen african voice hält nach wie vor an und gehört zu den viel beschrittenen Pfaden, um Multiperspektivität zu gewährleisten und Eurozentrismus zu vermeiden. Umgekehrt wird das Fehlen bestimmter Stimmen und die Einseitigkeit von Geschichte wieder zum Argument gemacht, um Objekte aus kolonialen Kontexten, die nicht für sich selbst sprechen können, in europäischer Obhut belassen zu können bzw. ihren Wert für die Sammlungen zu würdigen. So hat jüngst beispielsweise die Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin kritisiert, dass im Zuge der Restitutionsdebatten bei den Sammlungsgegenständen nur noch auf ihre mögliche koloniale Herkunft geschaut würde und dadurch das Wissen über Gesellschaften etc., das die Objekte vermittelten, verloren ginge oder zunehmend ignoriert würde.24 Die Rekonstruktion einer vermeintlichen Stimme kann zusammengefasst dazu dienen, die eigene Forschungsarbeit dem Vorwurf des Eurozentrismus zu entziehen. Sie kann zu emphatischen Fehldeutungen führen oder Anlass bieten, die Praxis des Fürsprechens oder Sprechen-lassens als bloßen (postkolonialen) Aktivismus abzutun und erneute Erzählungen einer objektiven Wissenschaft zu produzieren. An diesen Argumentationen und Forschungspraktiken wird deutlich, in welche asymmetrischen Machtverhältnisse auch das Aufdecken, das Auffinden und Sichtbarmachen von Schweigen eingebunden ist bzw. welche Asymmetrien es (re)produziert.

Das emphatische Konzept der Stimme für den Analyserahmen beiseitezulassen, bedeutet nicht, dass es nicht zum Gegenstand der Analyse gemacht werden kann. So eröffnet die Frage, wie marginalisierte Akteur:innen und Gruppen selbst »Stimme« reklamieren, unter welchen Bedingungen dies geschieht und auf welche Widerstände sie dabei treffen, ein spannendes Forschungsfeld. Das zugrundeliegende Problem hat Audre Lorde bereits 1978 auf den Punkt gebracht:

»Im Namen des Schweigens zeichnet sich für eine jede von uns das Gesicht ihrer eigenen Angst ab – Angst vor Verachtung, vor Zensur oder vor irgendwelchen Urteilen oder vor Erkenntnissen, Angst vor Herausforderung, Angst vor Vernichtung. […] Für die Transformation des Schweigens in Sprache und Handlung ist entscheidend, dass jede von uns ihre eigene Funktion in diesem Prozess aufnimmt oder überprüft […]. Es gibt so viele Schweigen zu brechen.«25

Die amerikanische Schriftstellerin Tillie Olson bezeichnete ein durch soziale Bedingungen induziertes Schweigen 1962 als »unnatürliches Schweigen«, das durch die lebensweltliche Verhinderung bzw. Zerstörung des kreativen Prozesses erzeugt werde, z.B. durch materielle Not oder soziale Verpflichtungen und Barrieren. Olson konturierte dieses Schweigen an Beispielen aus der Literaturgeschichte, indem sie Schweige-Phasen von bedeutenden Schriftstellern (etwa die abhängige Berufstätigkeit Franz Kafkas oder Herman Melvilles) sowie die Möglichkeitsbedingungen von Schriftstellerinnen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, etwa Ehe- und Kinderlosigkeit sowie materielle Unabhängigkeit, analysierte. Nicht zuletzt thematisierte Olson ihre eigenen Phasen des Schweigens, induziert durch Kindererziehungszeiten und die Notwenigkeit von dauerhafter, abhängiger Berufstätigkeit (als »office girl«).26 »Unnatürliches Schweigen« ist für Olson letztlich gleichbedeutend mit unwiederbringlichem Verlust, und die Analyse dieses Schweigens daher auch kein Akt des bloßen Wiederfindens einer Stimme. Man denke hier auch an Virginia Woolfs berühmt gewordene fiktive Schwester William Shakespeares, Judith Shakespeare, die – ebenso talentiert wie ihr Bruder – keine Existenz als Schriftstellerin haben durfte.27

Die Filmemacherin und Kulturwissenschaftlerin Trinh T. Minh-Ha unterstrich 1989 die Komplexität und Gebrochenheit eines Prozesses der Artikulation und Selbstrepräsentation. Für Frauen, besonders jene, die mit der »Dritten Welt« verbunden seien, gebe es unzählige innere und äußere Brüche auf dem Weg zur öffentlichen Artikulation, selbst dann, wenn sie sich bereits schreibend äußerten. Dies betreffe die Selbstzweifel und Schuldgefühle ob der privilegierten Stellung als Schreibende im Vergleich zu anderen weiblichen Rollen ebenso wie die Festlegung auf ihre Alterität, mit der ihr Schreiben von außen qualifiziert werde. Schweigen erscheint hier als ständiger Begleiter, ja als Drohung während eines mühseligen Prozesses der Artikulation.28 In einem späteren Interview beschrieb Minh-Ha den Umgang mit dem Schweigen Anderer als eigenes Sprechen »nahe am« Anderen:

»In meinen Filmen verfolge ich die Herangehensweise des Sprechens nahe am (»nearby«), anstatt für, im Namen von oder gegen den Anderen zu sprechen. Das ändert die Sprechweise, denn man bedenkt mit, dass der Andere jederzeit zurücksprechen kann, auch wenn sie oder er gar nicht da ist.«29

Damit ist ein Weg der Repräsentation formuliert, der ohne den Modus des Soufflierens oder des Voice-Overs auskommt.

Insgesamt heben diese unterschiedlichen Interventionen und skrupulösen Selbstthematisierungen nicht nur die Gefahr des Überschreibens marginalisierter Geschichten durch eine histoire engagé hervor. Sie helfen auch, Schweigen als Gegenstand von Forschung selbst zu konstituieren, indem sie es als Ereignis markieren, dass sich nicht einfach beseitigen lässt.

Aufbrüche zur historischen Erforschung des Schweigens

In den letzten Jahren haben Historiker:innen begonnen, die Methodik des Erforschens marginalisierter sozialer Gruppen zu differenzieren und sich dabei den verschiedenartigen tacit dimensions30 historischer Prozesse und Dynamiken zugewandt. Wichtig für diesen Band ist die Frage, wie sich Schweigen als Gegenstand der Geschichtsschreibung konstituiert, für den es eigene Herangehensweisen zu entwickeln gilt. Ein Beispiel ist unter anderem Michael Polyanis Begriff des tacit knowledge, mit dem er die stillen Praktiken der Wissensproduktion zum Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte machte. Es ging Polyani darum zu zeigen, dass offen artikulierte Akte der Wissensproduktion von einer ganzen Reihe vorbewusster, internalisierter Akte (»interiorisation«) präfiguriert würden, die einem forschenden Blick weniger durch analytische Beobachtung als durch hermeneutisches Verweilen zugänglich seien (»indwelling«).31

Mittlerweile wird ein Set an heuristischen Konzepten und Begriffen vorgeschlagen und in Einzelstudien angewendet, um die produktiven gesellschaftlichen Wirkungen von »Schweigen« in einzelnen Feldern des gesellschaftlichen Lebens und in historischer Perspektive zu untersuchen und kritisch aufzuarbeiten. Diese Ansätze entwickelten sich aus unterschiedlichen Traditionen heraus und nehmen sowohl Anregungen aus der Foucault’schen Diskursanalyse32 auf als auch aus der Psychoanalyse und der Erinnerungsforschung,33 der Medien- und Kommunikationsanalyse,34 der Linguistik,35 den Subaltern Studies36 und der historischen Anthropologie.37

Oft liegt dabei der Fokus auf Schweigen als ausschließender Praxis. Neuere Studien zeigen aber, dass Schweigen sich nicht darin erschöpft beziehungsweise nicht allein als Zeichen von Ohnmacht oder Repression interpretiert werden kann. Bestimmte Vorstellungen vom moralischen Wert des Schweigens (über Politik, über Religion) und daraus abgeleitete soziale Praktiken konnten das Nebeneinander von sozialen Gruppen entlang von Trennlinien wie Klasse, Religion oder Ethnie grundlegend gestalten, wie Armin Owzar für das deutsche Kaiserreich aufzeigte.38 Karsten Lichau hat in mehreren Beiträgen Schweigen aus der Perspektive der sound studies untersucht, indem er es als Klanghandeln auffasst und damit ebenfalls die aktive und produktive Qualität von Schweigepraktiken unterstreicht.39 Zu schweigen kann demnach eine aktive, eigensinnige und strategische Praxis sein, wenn beispielsweise auf die Bedeutung von Schweigen in Protesten aufmerksam gemacht wird und (Ver-)Schweigen dabei als eine (Nicht-)Handlung interpretiert wird.40

Wie Cheryl Glenn zeigte, kann Schweigen auch Möglichkeiten der Kommunikation eröffnen und Machtverhältnisse unterwandern oder umkehren.41 In diese Richtung argumentierte auch Jay Winter.42 Winter definiert Schweigen im historischen Kontext von Krieg und Gewalt als »sozial konstruierten Raum« und identifiziert drei verschiedene Schweigepraktiken. Erstens gebe es ein »liturgisches Schweigen« (liturgical silences) über Krieg und Gewalt, weil die beiden Extremformen menschlicher Kommunikation Tod und Verlust und damit etwas Sakrales enthalten würden bzw. etwas, das nicht in Worte gefasst werden kann.43 Zweitens lasse sich ein »politisches Schweigen« (political silences) identifizieren, das es Gruppen und Konfliktparteien nach Beendigung des Konfliktes erlaube, miteinander umzugehen, bis ein Verhandeln, ein Sprechen, wieder möglich sei. Drittens schließlich existiere ein »essentialistisches Schweigen« (essentialist silences), das nach dem Ende eines Krieges diejenigen betreffen würde, die nicht dabei waren. Personen, die einen Krieg oder Gewalt erlebt hätten, sähen sich in einer Position mit Deutungsmacht, sodass Erfahrung als Kategorie über Reden und Schweigen bestimme.44

Wie vielfältig gerade pragmatische Dimensionen von Schweigen waren, zeigt sich allerdings erst in der Analyse konkreter historischer Konstellationen. Dies meint erstens die kulturelle Einbettung von Schweigen, zweitens aber auch die Berücksichtigung von institutionellen Kommunikationszusammenhängen, von Machtdynamiken und Hierarchien zwischen Akteur:innen, von Erwartungshaltungen und den Konsequenzen von Schweigen.45 Die Beiträge in diesem Band legen deshalb das Augenmerk auf eine kritische und fallstudienbezogene Diskussion der bisher vorgelegten Theorieangebote, auf die Einbindung in die internationale Debatte und auch auf transnationale Perspektiven. Erst in der präzisen Analyse der Quellen, in dem Ernstnehmen von Auslassungen und Lücken, zeigt sich das Potenzial einer geschichtswissenschaftlichen praxeologischen Analyse der verschiedenen Dimensionen von Schweigen.

Die Praxeologie ist in der Geschichtswissenschaft inzwischen in weiten Teilen angekommen.46 Es handelt sich dabei um eine Methode, die insbesondere in der Anthropologie, der Soziologie und der Philosophie ausformuliert wurde, um Dichotomien wie Erfahrung und Diskurs, Körper und Verstand, Struktur und Handlung kritisch zu durchleuchten, zu überwinden oder ältere Versuche der Überwindung einer erneuten Befragung auszusetzen.47 Eine der bekanntesten Definitionen dieser Methode stammt von Andreas Reckwitz, demzufolge die Praxeologie drei Kernelemente hat: Praktiken sind erstens »›die kleinste Einheit‹ des Sozialen«.48 Zweitens haben Praktiken eine materielle Struktur, sie setzen sich aus routinisierten Tätigkeiten des Körpers und von Artefakten zusammen. Drittens enthalten Praktiken, Reckwitz zufolge, das bereits weiter oben genannte tacit knowledge im Sinne Polanyis, also ein implizites Wissen. Dieses Wissen ist einerseits gekennzeichnet durch Wiederholung und andererseits durch Offenheit bzw. Routine und Unberechenbarkeit. Für die Geschichtswissenschaft eröffnet die Praxeologie eine Chance, Dualismen wie Struktur und Handlung oder Makro- und Mikroperspektive zu überwinden.49 Sie bietet eine Heuristik zur Erforschung historischen Wandels an, die wir für Fragen nach den Bedeutungen von Schweigen fruchtbar machen wollen. Wichtige Grundlagen und Fragen zu einer praxeologischen Schweigensforschung liefern Ansätze zur Erforschung von Nicht-Wissen, kolonialgeschichtliche und postkoloniale Blickwinkel oder solche, die kollektive psychopathologische Begriffe in den Fokus rücken.

Nicht-Wissen und Ignoranz

Gegen Ignoranz besteht unter Wissenschaftler:innen eine wohl kultivierte und performative Aversion. Robert N. Proctors und Londa Schiebingers Vorschlag, Agnotology zu betreiben, also die Erforschung des Nicht-Wissens, versucht, die Aversion gegen Ignoranz in einen produktiven Forschungsansatz umzusetzen:

»We live in an age of ignorance, and it is important to understand how this came to be and why. Our goal here is to explore how ignorance is produced or maintained in diverse settings, through mechanisms such as deliberate or inadvertent neglect, secrecy and suppression, document destruction, unquestioned tradition, and myriad forms of inherent (or avoidable) culturopolitical selectivity. Agnotology is the study of ignorance making, the lost and forgotten.«50

In einem einführenden Artikel nennt Proctor als zentrales Beispiel die Versuche der Tabakindustrie, wissenschaftliche Erkenntnisse über gesundheitliche Schäden durch das Rauchen in Zweifel zu ziehen und den Ruf nach »mehr Forschung« zu nutzen, um gesetzliche Regulierung zu vermeiden.51 Schiebinger analysiert das Wissen über die abtreibende Wirkung karibischer Pflanzen (u.a. des Pfauenstrauches) und wie es nicht gemeinsam mit der Pflanze nach Europa transferiert wurde bzw. dort keine Verbreitung fand:

»Agnotology traces the cultural politics of ignorance. It takes the measure of our ignorance and analyzes why some knowledges are suppressed, lost, ignored, or abandoned, while others are embraced and come to shape our lives.«52

Proctors und Schiebingers Herangehensweise an das Problem des Nicht-Wissens ist beispielgebend für unsere Beschäftigung mit dem Schweigen. Zum einen betrifft das den Versuch, einem meist nur indirekt (ex negativo) greifbaren sozialen Phänomen eine heuristische produktive Form zu geben, und zwar über den Weg einer größeren Bandbreite von Fallstudien, die weitestgehend einem praxeologischen Zugang folgen. Zum anderen macht ihr Ansatz, eher unwillkürlich, auf ein grundlegendes Problem aufmerksam: Letztlich ergeben ihre Schlüsselbegriffe, ignorance und agnotology, ein Spannungsfeld, das die beiden Autor:innen nicht explizit benennen. Während Agnosie ein, womöglich physisch bedingtes, Nicht-Erkennen-Können beschreibt, meint Ignoranz häufiger eine kulturelle oder politische Haltung, die womöglich einem bewusst anti-aufklärerischen Programm entspringt. Ein ähnliches Spannungsfeld von Macht und Ohnmacht öffnen die von uns ins Zentrum gestellten Begriffe Schweigen, Verschweigen und zum Schweigen bringen.

Anders als Ignoranz und Agnosie sind sie aber weniger moralisch aufgeladen. Das bemerkt auch Jay Winter in seinen Ausführungen zum Schweigen, in denen er Schweigepraktiken explizit von Erinnern und Vergessen absetzt. Zwar ist zu fragen, ob »silence« tatsächlich »morally neutral« ist oder sein kann, wie Winter das formuliert,53 aber wir folgen ihm insoweit, als der Fokus auf Schweigen einen Zugang zum ›Wie‹ historischen Wandels erlaubt, der nicht durch die Provokation einer Begriffskonnotation verstellt ist.

Besonders deutlich konfrontiert mit derlei agnotologischen Phänomenen ist historisches Forschen im Archiv. Heute regulieren Archivgesetze, Urheberrecht und Datenschutz die öffentliche Benutzung von Archiven; im 19. Jahrhundert war es ein von arkanpolitischen Interessen geleiteter Imperativ der Geheimniswahrung, der zentral war für die Verwaltung der Archive und ihre politische Integrität bewahren sollte. Der historisch forschenden Neugierde und der Einsicht in Archivmaterial waren daher enge Grenzen gesetzt. Neben der Vorauswahl von Material war die Nachzensur angefertigter Notizen und verfasster Studien ein obligates Mittel der Kontrolle, und es musste mit Hilfe eines Bittgesuches eine Ausnahme von den strengen Regeln der Arkanpolitik erwirkt werden, um überhaupt die attraktiven Rechtsbeweise in Augenschein nehmen zu dürfen. Die vom secretum geprägte institutionelle Kultur folgte einer Politik des Schweigens, die das von den Gelehrten generierte historische Wissen beeinflusste, wenn sie das Verständnis, das Gelehrte von den Archiven entwickelten, ihre Wahrnehmung von Beständen sowie die Konzeptionalisierung ihres Quellenmaterials bestimmte. Mitunter wurden historische Forscher in die Archivpolitik proaktiv einbezogen. Diese ordneten sich – auch aus forschungspragmatischen Gründen – den getroffenen Abmachungen und Instruktionen unter, aber sie verschwiegen auch aus Gründen von Loyalität, Pietät und Vaterlandsliebe unliebsame historische Details. Eine auf öffentliche Publizität gerichtete historische Forschung war notwendigerweise in arkanpolitische Manöver verstrickt und setzte das Schweigen der Archive voraus.54

Lost in Translation55 – Schweigen und kulturelle Verflechtung

Schweigepraktiken konstituieren kulturelle Beziehungen über räumliche Grenzen hinweg und sie sind produktiver Teil von kulturellen Verflechtungsprozessen. Schweigen ist – so eine der Thesen dieses Bandes – als Kategorie unerlässlich, um zu zeigen, warum politisches boundary making in seinen Versuchen der Abschließung und räumlichen Fixierung von marginalisierten Gruppen nicht immer und nicht absolut erfolgreich sein konnte. Für diese Gruppen konnte ein ausgefeiltes Spiel von verschwiegenen, klandestinen Deutungen und öffentlichen Loyalitätsbekundungen manchmal geradezu überlebensnotwendig sein (von hidden transcripts und public transcripts).56

Schweigen als Kategorie der Geschichtsschreibung hilft aber auch, zu beschreiben, wie grundlegende Asymmetrien in kulturellen Beziehungen über große räumliche Distanz entstehen, bis hin zu jenen disjunctures, die globale kulturelle Beziehungen gleichsam mit Gewalt durchschneiden.57 Hier richtet sich der Blick besonders auf Praktiken des Übersetzens, Redigierens, des selektiven Löschens und des Framings von grenzüberschreitender Kommunikation. Rebekka Habermas etwa betont in unterschiedlichen Arbeiten die Produktivität des Nicht-Transferierens von Bedeutungen in der Skandalisierung kolonialer Gewalt im Kaiserreich. Gerade durch das Verschweigen konkreter ökonomischer Interessen und des tätigen Widerstands lokaler Gemeinschaften in den Kolonien konnten sich politische Akteure der Metropole – das Zentrum, die Missionen, die Sozialdemokratie – als Fürsprecher und Repräsentanten unterdrückter Bevölkerungen inszenieren und eigene politische Agenden etablieren. Ganz nebenbei unterstützten sie dabei die Wahrnehmung, Gewalt sei für den Kolonialismus exzeptionell und nicht wesenseigen.58

Psychopathologien des Schweigens: Verdrängung, Amnesie, Aphasie

In der Geschichtsschreibung zum Nationalsozialismus und auch zum Kolonialismus hat sich um das Nachdenken über »Schweigen« herum ein ganzes Feld an Begrifflichkeiten etabliert, die aus der Psychoanalyse und der Psychologie entlehnt wurden: Die zentrale Frage, die diese Ansätze gemeinsam haben, lautet: Warum schweigen Gesellschaften zu ihrer gewaltbeladenen Geschichte? Das Begriffsfeld markiert kollektive (kulturelle) Psychopathologien in Bezug auf die Verbrechen des Nationalsozialismus, zentral den Holocaust, aber auch auf koloniale Gewaltverbrechen und die umfassende Dynamik kolonialer Unterdrückung.59

Generell ruht diese Begriffsbildung auf dem Analogieschluss, dass Konzepte individueller Psychologie auf eine Art kollektive Psyche und auf deren Gedächtnis bzw. Erinnerungsvermögen übertragbar seien. So etwa Stanley Cohen:

»Cultural versions of psychological concepts – collective memory, cultural repression, collective denial, shared forgetting, social amnesia – assume that an entire society can forget, repress or dissociate itself from its discreditable past record.«60

Allerdings verweist Cohen auf Machtverhältnisse, die eine solche Analogie begrenzen: »Slow cultural forgetting works best when powerful forces have an interest in keeping people quiet«.61 In anderen Worten: Kollektives, kulturelles Vergessen muss auf der Ebene sozialer Gruppen in Machtbeziehungen und ihren Handlungen beobachtet, analysiert und interpretiert werden und darf nicht auf der metaphorischen Ebene stehenbleiben.

Ann Laura Stoler spricht etwa von colonial aphasia, um das weitgehende Schweigen der französischen Öffentlichkeit zur Geschichte kolonialer Gewalt zu beschreiben:

»Aphasia is a dismemberment, a difficulty in speaking, a difficulty in generating a vocabulary that associates appropriate words and concepts to appropriate things. Aphasia in its many forms describes a difficulty in retrieving both conceptual and lexical vocabularies and, most important, a difficulty in comprehending what is spoken.«62

Schweigen wäre somit nicht die Abwesenheit des Sprechens, sondern die Unfähigkeit, die Dinge adäquat zu benennen, weil das Vokabular dazu fehlt.

In der öffentlichen Debatte um die deutsche Kolonialvergangenheit ist allerdings ein weiterer, ähnlicher Begriff prominenter: die »koloniale Amnesie«. Henning Melber und Reinhart Kössler haben 2018 eine Art kritische Bestandsaufnahme zur Kolonialdebatte vorgelegt. Sie grenzen darin den Begriff koloniale Amnesie folgendermaßen ein:

»Amnesie bedeutet hier nicht die Ausschaltung von Wissen, sondern von Erinnerung. Wissen ist zwar vorhanden, wird aber weder thematisiert noch spielt es für die Gegenwartsbeschreibungen eine Rolle.«

Sie verstehen koloniale Amnesie als eine »Nicht-Thematisierung deutscher kolonialer Vergangenheit einschließlich der damit untrennbar verbundenen Gewaltgeschichte«. Gegenbewegungen, die ein Ende der kolonialen Amnesie verhindern wollten, charakterisieren sie als Versuche einer »Immunisierung« gegen eine kritische Aufarbeitung kolonialen Unrechts.63 Als Begriff eignet sich koloniale Amnesie für geschichtspolitische Interventionen sicher besser als Aphasie, nicht zuletzt, weil er klare umgangssprachliche Anknüpfungspunkte bietet, um konservative Zementierungen von Erinnerungspolitik zu erschüttern.

Hinsichtlich des heuristischen Potenzials in Bezug auf eine historische Schweigensforschung dürfte sich allerdings der Begriff der Aphasie eher eignen, weil er wichtige Ansatzpunkte – die Sprache und ihr ›Lexikon‹ bzw. dessen Fehlen – für eine historische Praxeologie des Schweigens liefert. So lässt sich hier fragen, wer mit welchen Mitteln eine Weiterentwicklung des ›Lexikons‹ seit dem Ende deutscher Kolonialherrschaft verhindert hat bzw. weshalb Perspektiven, Erfahrungen und Artikulationen von Kolonisierten nicht integriert werden konnten. Dauern womöglich koloniale Sprechnormen fort und perpetuieren diese Behinderung des Sprechens (Stoler spricht von »disabled histories«64)?

Nicht zuletzt durch Anregungen aus den postcolonial studies hat sich in der Kolonialgeschichte ein analytischer Blick auf das Verschweigen und Schweigen etabliert. Rebekka Habermas interessierte sich beispielsweise für den Raum zwischen Kolonie und Metropole und entdeckte ein politisch sehr produktives, für das koloniale Projekt zutiefst charakteristisches und gleichsam psychoanalytisch zu erfassendes Spiel des »cultural denial« (Stanley Cohen) zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen, medialen Dynamiken der Skandalisierung und am Ende der Stabilisierung kolonialer Herrschaft.65

Was können diese Psychopathologien historischen Schweigens für den hier verfolgten Ansatz, Schweigen als soziale, kulturelle und/oder politische Praktik zu begreifen und zu untersuchen, liefern? Zunächst sind sie ein Indikator für die gesamtgesellschaftliche Wirkmächtigkeit von Schweigen und den Problemdruck, den es erzeugt. Es ist allerdings kein triviales Problem, Begriffe wie kollektive Verdrängung, Aphasie oder Amnesie für die praxeologische Analyse konkreter historischer Ereignisse und Beziehungen von Akteur:innen fruchtbar zu machen. Hier liegen heuristische Potenziale und Gefahren der Mystifizierung eng beieinander.

Die Fallstudien dieses Bandes

Wie lässt sich Schweigen als historischer Gegenstand konkretisieren, wenn es als spezifische Handlung unter historischen gesellschaftlichen Bedingungen aufgefasst wird? Wie thematisierten historische Akteur:innen Schweigepraktiken und wie lässt sich Schweigen analysieren, wenn dies nicht oder nur sehr indirekt geschieht? Wie lässt sich die produktive soziale Kraft des Schweigens – sowohl um Ausschlüsse zu erzeugen als auch sie zu unterlaufen und zu bekämpfen – in konkreten historischen Settings untersuchen? Die Beiträge dieses Bandes vollziehen eine offene, deduktive Suchbewegung in teils sehr unterschiedlichen historischen Formationen. Es unterliegt ihnen keine gemeinsame Theorie des Schweigens und am Ende dieses Bandes steht auch keine solche theoretische Rahmung oder gar der Aufruf zu einem »tacit turn«. Denn Schweigen zu erforschen, so die These, erfordert eine große methodische Variabilität und Flexibilität, womöglich auch eine besondere Vorsicht, um es nicht zu übertönen beziehungsweise zu überschreiben.

Karsten Lichau nimmt in seinem Beitrag eine soundhistorische Einordnung von Schweigepraktiken vor, wenn er auf die Schweigeminute, die Materialität des Schweigens und die Verbindung von Sound und Gefühl eingeht. Der Beitrag argumentiert, dass die emotionale Wirkmächtigkeit von sounds, zu denen auch das Schweigen gehört, erst durch die Verbindung verschiedener Praktiken zustande kommt oder eben auch scheitert. Die Schweigeminute wird in dem Beitrag als machtvolle akustisch-emotionale Artikulation analysiert, in der sich emotionale und akustische Praktiken verbinden und mittels derer es gelingt, über Geschlechter- und Klassengrenzen hinweg Gemeinschaften herzustellen.

Theo Jung begreift Schweigen als performative Unterlassungspraxis, wenn er in einem transnationalen Vergleich die Entwicklung von Schweigemärschen als Protestform nachzeichnet. Das bewusste Schweigen als Mittel der Aufmerksamkeitserzeugung bei einem Protest erfüllte, so der Beitrag, unterschiedliche Funktionen; es entsprach früheren, zumeist religiösen Formen des Umzugs oder verhinderte die polizeiliche Verfolgung. Insbesondere beim Protest für Bürgerrechte ließ sich das Schweigen als Verweis auf die eigene Mundtotmachung inszenieren, eine Strategie, die besonders in Situationen, in denen andere Modi der politischen Artikulation den Akteur:innen vorenthalten war, Plausibilität erzeugte.

Eine präzise Analyse der politischen Dimension von Schweigen verweist auf das machtvolle Aussparen von Themen und die Setzung implizierter Sprachgrenzen.66 Wer zu welchem Thema und zu welchem Anlass an welchem Ort sprechen darf und wer schweigen muss, ist wesentlich von machtvollen Konstellationen abhängig. Eine Perspektive auf das Schweigen kann in diesem Zusammenhang helfen, neue Einsichten in Machtverhältnisse und deren Stabilisierung zu liefern.

Richard Hölzl analysiert Gewalt als kommunikatives Instrument kolonialer Herrschaft. Im Sprechen über Gewalt und in der Frage, wer unter welchen Umständen koloniale Gewalt thematisieren durfte, zeigt sich, wie koloniale Gewalt kommunikativ gerahmt wurde, sodass europäischen Akteur:innen die Rolle der Sprechenden und den Kolonisierten die der Schweigenden zufiel. Wenn Opfer kolonialer Gewalt hingegen ihre Positionen in der europäischen Metropole politisch artikulieren wollten, wurden sie zum Schweigen gebracht. Mit einem Fokus auf Praktiken des Schweigens wird der koloniale Gewaltbegriff hinsichtlich seiner Ver- und Entflechtungseffekte für kolonisierte und kolonisierende Gesellschaften differenziert.

Um ein politisch motiviertes aktives zum Schweigen bringen von Themen über das Verbot von Objekten geht es in dem Beitrag von Bettina Brockmeyer. Jeremy Adler hat im Jahr 2016 Mein Kampf als das »absolut Böse« bezeichnet und die Neuedition scharf kritisiert.67 Brockmeyer nähert sich – angeregt durch die von Adler und anderen angestoßene Debatte – dem Thema ›Das Böse zum Schweigen bringen‹ in zwei Schritten: Erstens geht es um die alliierten Versuche in den Jahren 1945 und 1946, auf die Gräuel des Nationalsozialismus mit der Beseitigung und dem Indizieren von Objekten zu reagieren; zweitens werden die heutigen Debatten zum Umgang mit nationalsozialistischen Filmen, Bauwerken oder Büchern wie Mein Kampf im Hinblick auf Fragen des Schweigens, Verschweigens und Beschweigens diskutiert.

Politischem Schweigen können also verschiedene Motive und Interessen zugrunde liegen, sei es das Generieren oder Verhindern von Konflikten oder sei es die Stabilisierung einer alten oder die Etablierung einer neuen Ordnung von Herrschaft. Schweigen erscheint so als machtvolles politisches Instrument und als Set von Praktiken, das politische Prozesse mit hervorbringt. Dies wird besonders in solchen Fällen möglich, in denen das Verschweigen, mithin das Aussparen von Themen, Kommunikation erst ermöglichte.

Julia Hauser zeigt in ihrem Beitrag zum Vegetarismus in Großbritannien und im kolonialen Indien auf, wie Schweigen als Möglichkeit politischer Kooperation ›genutzt‹ wurde. Seit den 1880er Jahren engagierten sich einige Europäer:innen in Indien für den Vegetarismus. Im gleichen Zeitraum suchten zunehmend indische Akteure, die sich um den Schutz von Kühen bemühten, den Kontakt zu vegetarischen Vereinen in Großbritannien. Während in Großbritannien Vegetarismus als Zeichen des Fortschritts gefeiert wurde, schwiegen sowohl indische als auch britische Korrespondenten, wenn es über die Frage des Kuhschutzes zu gewaltsamen Konflikten religiöser und sozialer Art kam. Schweigen und Nichtwissen, so Hausers These, waren insofern essenziell für eine vermeintliche Zusammenarbeit der verschiedenen Gruppierungen.

Mette Bartels zeigt am Beispiel von öffentlich geführten Debatten unterschiedlicher Gruppierungen in der Frauenbewegung um 1900 den diskursiven Umgang mit dem Thema Sexualität auf. Während Debatten um Körperlichkeit, Prostitution und Heterosexualität durchaus teils offensiv geführt wurden, zeigte sich insbesondere am Umgang mit weiblicher Homosexualität das Spannungsverhältnis von politischem Engagement und bürgerlicher Sexualmoral, das sich gar im zum Schweigen bringen sich offen zur Homosexualität bekennender Akteurinnen entlud. Insbesondere am Beispiel weiblicher Homosexualität zeigten sich die feinen Nuancen zwischen Sagbarkeit und Nichtsagbarkeit, zwischen Öffentlichem und Privatem.

Schweigen als Praxis kann zunächst im Foucaultschen Sinne als eine Praktik verstanden werden, die auf Machtlosigkeit und eine Anerkennung beziehungsweise Reproduktion bestehender Machtverhältnisse und Hegemonien verweist. Mithin kann auch das Beschweigen bzw. Nichtthematisieren dieser Machtverhältnisse zum Aufrechterhalten von Machtunterschieden beitragen, indem beispielsweise marginalisierte Gruppen nicht nur von einer Teilnahme am Diskurs per se ausgeschlossen werden, sondern auch deren Bedürfnisse oder Beiträge nicht thematisiert werden.

Niklas Pelizäus-Gengenbach zeigt dies am Beispiel von Phonogrammaufnahmen afrikanischer Sprachlektoren, die am Institut für Orientalische Sprachen in Berlin arbeiteten und in dieser Funktion für das Phonogrammarchiv Aufnahmen afrikanischer Sprachen tätigten. Obwohl die Sprachlektoren einen wichtigen Beitrag zur Wissensproduktion in der vergleichenden Musikwissenschaft leisteten, wurde ihre Bedeutung der Logik von Archiv und Sammlung folgend verschwiegen. Die afrikanischen Akteure wurden auf die Rolle von Repräsentanten einer bestimmten Ethnie reduziert. Die vergleichende musikwissenschaftliche Analyse ignorierte, dass die Sprachlehrer gezielt Inhalte und Aufnahme steuerten, aber auch dass diese bereits mehrere Jahre in Berlin lebten und arbeiteten und so dem Paradigma des »Ursprünglichen« nicht mehr entsprachen.

Die Relevanz von Schweigen im Spannungsfeld von humanitärer Hilfe und Immigration zeigt Philipp Müller in seinem Beitrag zu den Kindertransporten im Jahr 1938 und 1939 auf. Humanitäre Hilfe avancierte im Diskurs englischer Nachrichtenmedien zu einer symbolischen Form, die es den Erwachsenen ermöglichte, sowohl ihre eigene, von politischen Begriffen, Wünschen und Unsicherheit geprägte Wahrnehmung zu artikulieren als auch die Vorstellung von handlungsfähigen und zukunftsorientierten Kindern zu propagieren. In der sozialen Praxis der deutsch-jüdischen Kinder und Jugendlichen war Schweigen hingegen ein vielseitig eingesetztes Mittel, das mit der Logik humanitärer Hilfe und ihrer symbolischen Form wenig gemeinsam hatte: Mit ihrem Schweigen ermöglichten sie, Grenzen aufrechtzuerhalten, immigrationspolitische Vorgaben zu erfüllen und zugleich weiterzuentwickeln oder auch delikate Situationen zu stabilisieren.

Nicht zuletzt hier zeigt sich, dass Schweigen einerseits Möglichkeiten der Emulation eröffnete, Schweigen aber andererseits auch als eine aktive, mitunter auch widerständige Praktik zu verstehen ist. Schweigen kann als ein Mittel gesehen werden, mit dem gezielt Nichtwissen produziert und Zweifel genährt werden.68 Schweigen kann schließlich die Etablierung und Aufrechterhaltung von Handlungsspielräumen marginalisierter Gruppen ermöglichen.69 Wie konnte das Schweigen als bewusste Strategie von Akteur:innen eingesetzt werden? Daran schließt sich die weitergehende Frage an, inwiefern die Geschichtswissenschaft mit ihrer Abhängigkeit von schriftlichen, diskursiven Quellen es schaffen kann, diese verschwiegenen Perspektiven auszuloten und produktiv in eine Analyse mit einzubeziehen.

Am Beispiel des Diskurses über Sinti:zze und Rom:nja an der deutsch-französischen Grenze zeigt Sarah Frenking, wie sich hier einerseits kolonial geprägte Stereotypen manifestierten und sich in Polizeimaßnahmen wie Kontrollen und Durchsuchungen niederschlugen, wie andererseits die Gruppen aber das buchstäbliche Schweigen beispielsweise über ihre Identität und das im weiteren Sinne Sich-Entziehen nutzten, um den Kontrollen zu entgehen. Schweigen wird in dem Beitrag als räumliche Praxis begriffen. Gerade weil Medien und Polizei die räumlichen Logiken der Sinti:zze- und Rom:nja-Gruppen nicht thematisierten und so nachvollzogen, eröffneten sie diesen effektive Möglichkeiten, sich der Kontrolle zu entziehen und eigene Agenden zu verfolgen.

Der Frage, inwiefern das Beschweigen als eine geschlechterspezifische Praxis angewandt wurde, um Handlungsräume auszuweiten, geht Karolin Wetjen am Beispiel eines von einer Diakonisse im ostafrikanischen Missionsgebiet der Leipziger Mission gegründeten Kinderheims nach. Das von der Diakonisse Bertha Schulz (1878–1943) gegründete und vor der europäischen Öffentlichkeit und der Missionsleitung in seinem Ausmaß verschwiegene Kinderheim löste einen Konflikt aus, der Rückschlüsse auf Praktiken und Grenzen des Verschweigens innerhalb von Missionen als bürokratischen und religiösen Organisationen ermöglicht. Das Schweigen im Sinne eines aktiven Verschweigens lässt sich schließlich als Praxis interpretieren, die erstens innerhalb der männlichen hierarchischen Organisationen strukturell angelegt war, die aber zweitens dem weiblichen Missionspersonal Handlungsspielräume jenseits männlicher Missionsräume ermöglichte.

Nives Kinunda widmet sich in ihrem Beitrag weiblichen Handlungsspielräumen, dem Schweigen über sie und den stillen Praktiken, die Frauen einsetzten, um diese Räume zu erhalten. Kinunda kombiniert dazu gesellschaftsgeschichtliche Perspektiven mit Oral History und macht so ›stille‹ Praktiken in der jüngeren Zeitgeschichte Tansanias greifbar. In den 1980er und 1990er Jahren erlebte die tansanische Wirtschaft, insbesondere der Agrarsektor, einen grundlegenden Wandel von einer planwirtschaftlichen zu einer marktwirtschaftlichen Organisation. Die Implementierung von Stabilisierungs- und Strukturanpassungsprogrammen der Weltbank und des IWF zwang das Land zu Veränderungen, die jedoch, so Kinunda, die Bedürfnisse und Anforderungen der für die landwirtschaftliche Produktion so wichtigen Farmerinnen nicht berücksichtigten. Um ihre wirtschaftliche Situation zu sichern, entwickelten die Farmerinnen verschiedene Strategien, die vom illegalen Besorgen von Düngemittel, über Arbeitsplatzwechsel bis hin zu Migration reichten.

Dem Schweigen in Briefkorrespondenzen widmet sich der Beitrag von Andreas Günter Weis. Briefliche Kommunikation setzt ein stetes schweigendes Abwarten auf die Antwort des anderen voraus. Was aber, wenn diese Antwort ausbleibt? Anhand von internen Briefen zwischen deutschen und chinesischen Mitgliedern des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes geht Weis mit einem biographischen Zugang individuellen Handlungsspielräumen nach, die sich durch das Schweigen, das Nichtantworten, ergeben. Gleichzeitig bleibt dieses Schweigen aber unbestimmt und offenbart die Fragilität der Beziehungen innerhalb des chinesischen Kampfbundes und das Spannungsverhältnis, das sich aus kolonialen Stereotypen und einer antikolonialen Agenda ergab.

Schweigen konnte so auch als Vermeidungsstrategie, ja als Ausweg gesehen werden. Carolin Kosuch stellt in ihrem Beitrag verschiedene Modi der Sprachkrise um 1900 heraus, in denen die Garantie von Erkenntnis und Wissen eine grundlegende Relativierung erfuhr. Der deutsch-jüdische Sprachphilosoph Fritz Mauthner, der Dada-Begründer Hugo Ball und der Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal entwickelten auf die Sprachkrise hin unterschiedliche Lösungsansätze. Gleichwohl integrierten alle Schweigen als Gegenentwurf in ihre Konzepte und schufen in diesem Zuge nicht nur Raum für Skepsis, sondern auch Raum für eine neue Kreativität. Die konzeptionelle Aneignung des Schweigens resultierte in einer neuen Aushandlung der epistemischen Grenzen von Sprache und Schweigen, Religion und Säkularität, Kunst und Wissen.

Mit diesen Beiträgen sammeln wir die Instrumente und Fragen, die eine Erforschung von Schweigen als einem Phänomen ermöglichen, das für die Kohärenz von Gesellschaften ebenso wichtig ist wie für ihre Bruchlinien und Schichtungen. Die Textur von Gesellschaften kann nicht nur entlang von Geäußertem, Niedergeschriebenen, Ausgesprochenem beschrieben werden. Auch Schweigen macht Geschichte.

»In perfect stillness«? Die Schweigeminute als akustisch-emotionale Artikulation

Karsten Lichau

Am 7. November 1919 erschien in zahlreichen britischen Zeitungen ein Aufruf König Georges V., in dem er seine Untertanen zum geeinten Schweigen im Gedenken an die Soldaten aufrief, die im Ersten Weltkrieg ihr Leben gelassen hatten:

»The King invites all his people to join him in a special celebration of the anniversary of the cessation of war, as set forth in the following message: To all my People. Tuesday next, November 11, is the first anniversary of the Armistice which stayed the world-wide carnage of the four preceding years and marked the victory of Right and Freedom. I believe that my people in every part of the Empire fervently wish to perpetuate the memory of the Great Deliverance, and of those who have laid down their lives to achieve it. To afford an opportunity for the universal expression of this feeling it is my desire and hope that at the hour when the Armistice came into force, the eleventh hour of the eleventh day of the eleventh month, there may be for the brief space of two minutes, a complete suspension of all our normal activities. During that time […] all work, all sound, and all locomotion should cease, so that, in perfect stillness, the thoughts of every one may be concentrated on reverent remembrance of the Glorious Dead. […] At a given signal, which can easily be arranged to suit the circumstances of each locality, I believe that we shall all gladly interrupt our business and pleasure, whatever it may be, and unite in this simple service of Silence and Remembrance.«70

Im Aufruf Georges V. zum stillen Gedenken an die Weltkriegstoten verbinden sich zweierlei Praktiken des Schweigens: Zum einen fordert er die Untertanen zum kollektiven Ausdruck und zum individuellen Erleben von Gefühlen auf (»fervently wish«, »universal expression of […] feeling«, »concentrated on reverent remembrance«, »shall all gladly«). Zum anderen stehen akustische Praktiken im Mittelpunkt, die sich auf ›sounds‹ bzw. auf deren Unterdrückung richten (»all sound […] should cease«, »interrupt our business and pleasure«, »complete suspension of all […] activities«, »perfect stillness«). Mit dieser Verbindung von »feeling« und »sound« sowie mit den Herausforderungen und Problemen, vor die eine solche Verknüpfung akustischer und emotionaler Praktiken die Untertanen stellte, setzt sich der folgende Beitrag theoretisch und empirisch auseinander.

Georges invitation sollte sich als erfolgreich und wirkmächtig erweisen. Auch wenn sie verschiedene Vorläufer und Vorformen besaß,71 gilt die two minutes’ silence vom 11. November 1919, die den Höhepunkt der an diesem Tag erstmals abgehaltenen Zeremonien zum britischen armistice day bildete und durch zwei private Initiativen entscheidend angestoßen worden war,72 als Geburtsstunde der Schweigeminute. Sie wurde zum Modell, das sich in den Folgejahren auch andere Länder zum Vorbild nahmen: Frankreich und Belgien (1922), Deutschland (1924) oder Polen (1925).

Als moderne Form des Gedenkens ist die Schweigeminute im Lauf des zwanzigsten Jahrhunderts zum Bestandteil der Memorialkultur zahlreicher europäischer und nicht-europäischer Nationen geworden. Nach dem Zweiten Weltkrieg breitete sie sich einerseits in zahlreiche weitere, zum Teil sehr unterschiedliche nationale politische Kulturen aus: So kommen in Israel zweimal im Jahr Verkehr und öffentliches Leben für zwei Minuten zum Stillstand, am Yom Ha-Shoah im Gedenken an die Shoah und am Yom Ha-Zikaron für die in Kampfhandlungen getöteten israelischen Soldaten und Opfer terroristischer Anschläge. Obwohl dabei keine Stille herrscht, sondern überaus lautes Sirenengeheul zu hören ist, lautet die offizielle Bezeichnung ›Schweigeminute‹.73 In der Sowjetunion und nachfolgend in Russland wird seit 1965 jährlich am 9. Mai während der per Radio verbreiteten Minuta molčanija an die im ›Großen Vaterländischen Krieg‹ getöteten Soldaten erinnert. Schweigeminuten werden nach 1945 andererseits vermehrt in einem kleineren, regionalen, lokalen oder institutionellen Rahmen abgehalten; anlässlich von Ereignissen, die aufgrund ihrer starken Medialisierung globales Interesse wecken, überschreiten sie aber auch den nationalen Rahmen, etwa anlässlich der Beerdigung von Prinzessin Diana oder der Terroranschläge seit 9/11. Die Worte des britischen Königs stießen also auf eine langanhaltende Resonanz.

In einem jedoch irrte George V.: Seine Behauptung, die entsprechenden Maßnahmen und Praktiken, die das stille Gedenken erforderte, seien leicht zu bewerkstelligen (»easily arranged«), sollte sich als unzutreffend erweisen. Obwohl die Schweigeminute in England auf große Beteiligung stieß, sich schnell als nationale Tradition etablierte und bis heute erhalten hat, entpuppten sich die erforderlichen Schweigepraktiken dort ebenso wie in anderen Ländern als überaus komplex und störanfällig. Dies galt insbesondere für die Verbindung von akustischen und emotionalen Praktiken, deren individuelle und kollektive Koordination im Zentrum der Schweigeminute stand und sie zu einer potentiell ebenso wirkmächtigen wie fragilen politischen Inszenierung machte.

Dass Klänge, Töne und andere akustische Phänomene – und nicht zuletzt das Schweigen – eine enge Verbindung zu Gefühlen besitzen, scheint zunächst einmal nicht sonderlich bemerkenswert. Aus historischer Sicht gilt es jedoch die tiefverwurzelte und weitverbreitete Annahme zu hinterfragen, dass sounds und Emotionen immer und unausweichlich miteinander einhergehen. Zwar wurde – und wird – die emotionale Wirkung insbesondere musikalischer, aber auch anderer mehr oder weniger ästhetisch gestalteter Klänge immer wieder beschrieben und bezeugt. Die Affinität von Akustik und Affekt ist jedoch keine universale und ahistorische Naturkonstante, die stillschweigend vorausgesetzt werden kann; sie ist eine Erwartungshaltung, die in einer Vielzahl von Formen historisch etabliert und eingeübt werden musste.74 Es gilt daher zu erklären, wie und wo sich eine gemeinsame Wahrnehmung von feelings und sounds historisch einstellte – und wo sie ausblieb.

Gegen die Annahme, dass alles, was über das Ohr wahrgenommen wird, mit einer besonderen affektiven Wirkungsmacht ausgestattet ist, haben jüngere Forschungen aus dem Gebiet der sound history Einwand erhoben. Am einflussreichsten war dabei Jonathan Sternes Kritik am Essentialismus und Universalismus der »audio-visual litany«, die das Reich des Sichtbaren und das Reich des Hörbaren durch eine lange Reihe von binären Gegensatzpaaren einander gegenüberstellt, wie etwa: »hearing immerses its subject, vision offers a perspective; […] hearing is concerned with interiors, vision is concerned with surfaces; […] hearing tends toward subjectivity, vision tends toward objectivity; […] hearing is about affect, vision is about intellect«.75

Die folgende Auseinandersetzung mit der Geschichte der Schweigeminute zeigt, dass die emotionale Wirkmächtigkeit von sounds (zu denen auch das Schweigen gehört) keineswegs selbstverständlich ist, sondern durch die Verknüpfung unterschiedlichster Praxisformen erst zustande kommt – oder scheitert. Dazu werden im Folgenden zunächst praxistheoretische Überlegungen aus den Forschungsfeldern der sound history und der Gefühlsgeschichte kritisch miteinander verbunden, die die vermeintliche Selbstverständlichkeit von Handlungszusammenhängen in Frage zu stellen und ihre historische Gewordenheit auf komplexe, Wandel und Kontinuität ermöglichende Kontexte und Strukturen zurückzuführen erlauben. Anschließend soll der daraus entwickelte Begriff der akustisch-emotionalen Artikulation dann in zwei Fallstudien weiter entfaltet und sein Potential für die historische Untersuchung von Schweigepraktiken verdeutlicht werden.

»Mit allen zusammen hielt ich den Atem an«. Schweigen als Klanghandeln

Auch wenn das zunächst einmal paradox klingen mag: Praktiken des Schweigens und ihre Geschichte sind ein wichtiger, wenngleich vernachlässigter Teil dessen, was sich auch in der deutschen Geschichtswissenschaft als sound history etabliert hat. Dieses in jüngster Zeit äußerst lebendige und innovative Forschungsfeld hat zwar bis jetzt Phänomene des Schweigens weitgehend übersehen – oder überhört.76 Aber die Beschäftigung mit der Schweigeminute macht deutlich, warum eine soundhistorische Perspektive für die Geschichte von Schweigepraktiken unerlässlich ist. Umgekehrt kann die sound history – ebenso wie die Emotionengeschichte – von der Auseinandersetzung mit der Schweigeminute einiges lernen.

Insbesondere in ihrer Entstehungszeit war die Schweigeminute zumeist Höhepunkt einer großangelegten erinnerungspolitischen Zeremonie, die einer komplizierten akustischen und emotionalen Inszenierung folgte. Wichtig war dabei die Verbindung öffentlicher Veranstaltungen auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene mit einer dezentralen Beteiligung der Bevölkerung in kleinen Gruppen oder als einzelne Individuen.

Bei den Veranstaltungen war der eigentliche Moment des Schweigens in der Regel eingebettet in einen akustischen Rahmen, der zahlreiche, höchst unterschiedliche sounds umfasste: Dazu gehörten Musikstücke wie christliche Choräle, Militärmärsche, Nationalhymnen oder traditionelle Lieder, die in Verbindung mit kinästhetischen Praktiken, kognitiven Erinnerungsprozessen sowie in Interaktion mit räumlich-situativen Kontexten das Potential besitzen, Emotionen wie Trauer, Stolz, Ehrfurcht oder Freude zu wecken und damit Gefühle der Zugehörigkeit zu nationalen oder anderen Gemeinschaften zu beschwören. Sie können aber auch die Inszenierung nationaler Einheit stören oder unterlaufen, indem sie Gegensätze zwischen sozialen oder politischen Gruppen hörbar machen: So wurde etwa in Schottland oder Irland die britische Nationalhymne oft nur als Instrumentalversion gespielt oder in bescheidener Lautstärke und auf eine Strophe verkürzt gesungen, während lokal- oder regionalsprachliche Lieder mit Inbrunst und in voller Länge zum Vortrag kamen.

Innerhalb dieses größeren akustischen Rahmens der Zeremonie, der neben Musik auch Reden von Politikern oder Geistlichen und Gedichtvorträge von Kindern (oft Schülerinnen und Schülern) beinhalten konnte, wurde der eigentliche Moment des Schweigens nochmals durch einen zweiten, engeren Rahmen von »signal sounds«77 eingefasst: Während militärische Trompeten- oder Hornsignale (wie in England The Rouse, Last Post oder Reveille) dazu dienten, Aufmerksamkeit zu erzeugen, und das Bevorstehen des Schweigens zunächst ankündigten, wurden der unmittelbare Beginn und meist auch das Ende des Schweigens durch Kanonenschläge, Signalraketen, Glocken oder Sirenen kommuniziert. Die akustische Rahmung lud die gesamte Zeremonie mit politisch-kulturellen Bedeutungen auf und verlieh dem Schweigen eine eigene ›Klangfarbe‹: Ging ihm eine Nationalhymne oder ein Marsch voraus und wurde es von einer Militärtrompete eingeleitet, dann ›klang‹ das Schweigen anders, als wenn es von einem christlichen Klagegesang und Kirchenglocken ›eingeläutet‹ wurde.

Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, die soundhistorische Dimension der Schweigeminute nur auf ihre Einbettung in akustische Rahmen zu reduzieren. Schweigen ist – und dies gilt nicht allein für die Schweigeminute – ein sehr komplexer sound, dessen Klangspektrum durch eine Vielzahl von spezifischen Mikrosounds oder »hi-fi sounds«78 geprägt sein kann: Im Falle der Schweigeminute etwa kann es zunächst einmal all jene akustischen Ereignisse an der Grenze des (Un-)Hörbaren umfassen, die eine im öffentlichen Raum versammelte Menge von Menschen (oder auch Individuen und Gruppen in privaten Räumen) durch innere oder äußere Körperbewegungen erzeugt, wenn sie schweigend verharrt: Atem- und Verdauungsgeräusche, Rascheln von Stoff, Scharren von Füßen oder Schluchzen, um nur einige zu nennen, die häufig beschrieben wurden. Insofern die Zeremonie darauf ausgerichtet ist, genau diese für gewöhnlich der auditiven Wahrnehmung entzogenen Geräusche zu minimieren oder zu eliminieren, werden sie dort, wo sie sich nicht unterdrücken lassen, besonders deutlich gehört.

Dazu kommen Klänge und Geräusche, wie das Wehen des Windes, das Bellen von Hunden und das Zwitschern von Vögeln, oder das ›Rauschen der Großstadt‹, das sich aus entfernteren Geräuschquellen zusammensetzt, die oft nicht vollständig angehalten werden (wie industrielle Produktionsabläufe oder der Straßenverkehr).

Und schließlich ist die sound history der Schweigeminute auch eine Geschichte akustischer Störungen – bewusst herbeigeführter, oft politisch motivierter Störungen durch Singen, Rufen oder Schreien, aber auch unbeabsichtigter technischer oder logistischer Pannen: So besaß London in den zwanziger Jahren kein gut ausgebautes Netz synchronisierter öffentlicher Uhren – was zur Folge hatte, dass dort 1924 die Verwendung von Signalraketen untersagt wurde, weil sich die Bevölkerung immer wieder über die Störung des Schweigens durch Signalraketen aus benachbarten Stadtteilen beschwert hatte. Doch schon ein Jahr später, 1925, wurde dieses Verbot wieder aufgehoben, weil es ganz einfach an Alternativen mangelte.

Mit einem soundhistorischen Ansatz lässt sich also verdeutlichen, dass Schweigen nicht auf ein negatives und abstraktes Phänomen reduziert werden kann – auf die pure Absenz oder Negation von sound, auf den Mangel und Abbruch von Kommunikation oder auf das Verstummen von (politischen) Stimmen.79 Die völlige Abwesenheit von sound ist keine menschliche Erfahrung80 – und der Versuch, sie herzustellen, lässt sich sogar als zutiefst unmenschlich begreifen, wie der Einsatz von Stille als Foltermittel zeigt.81

Die akustische Materialität des Schweigens hervorzuheben, bedeutet jedoch keinesfalls, das Verschweigen oder Zum-Schweigen-Bringen, das silencing (unerwünschter) Geräusche und Stimmen zu vernachlässigen. Die Forderung nach einer sound history des Schweigens richtet sich daher nicht gegen Arbeiten zur Bedeutung von Verdrängen und Verschweigen als Medien der politischen Kommunikation82 oder zu den verstummten und überhörten Stimmen von Klassen, Geschlechtern oder Ethnien, von disabled oder deaf communities83 und anderen subalternen und marginalisierten Gruppen. Auch in diesem Sinne muss eine sound history des Schweigens lernen zu horchen »auf das, was man hört, wenn man nichts mehr vernimmt«84. Ein soundhistorisches Interesse für an der Schwelle des Hörbaren liegende Mikro-Sounds und die kritische Aufmerksamkeit für das Unterdrücken oder Verschweigen von Stimmen und anderen akustischen Artikulationsformen schließen sich keineswegs gegenseitig aus: Sie sind vielmehr zwei Seiten einer Medaille, die Schweigen als einen physisch und materiell sich artikulierenden Kommunikationsprozess kennzeichnen.85

Die Geschichte der Schweigeminute zeigt, dass Schweigen ein komplexes Geflecht unterschiedlichster Praktiken voraussetzt und impliziert: kinästhetische und kognitive, diskursive und logistische, akustische und emotionale. Eine soundhistorische Auseinandersetzung mit dem Schweigen bedarf also eines praxistheoretischen Ansatzes, wie er die Beiträge dieses Bandes verbindet.

Praxistheoretische Ansätze in der sound history

Wichtige Pioniere der jüngeren sound history – wie Alain Corbin oder Jonathan Sterne – haben auf die Bedeutung von Praktiken für die Auseinandersetzung mit historischen Klängen und Geräuschen hingewiesen. Gegen die älteren, von Schafer und seinem world soundscape project angeregten Arbeiten der sound(scape) studies, die sich vor allem der künstlerischen Konstruktion oder historischen Rekonstruktion von Klängen und Geräuschen, also von sound-Objekten, widmen, betonen Corbin und Sterne dabei die subjektive Seite der Klangwahrnehmung und deren historischen Wandel.

Daran anknüpfend hat Daniel Morat eine stärkere Berücksichtigung der performativen Dimension akustischer Praktiken gefordert und dabei kritisch angemerkt, dass die jüngere sound history in ihrer eigenen kritischen Auseinandersetzung mit der älteren, vornehmlich an akustischen Objekten und Umwelten interessierten soundscape