SchwimmSand - Beate Schibille - E-Book

SchwimmSand E-Book

Beate Schibille

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Beschreibung

Wer hat sich so ein Szenario nicht schon einmal vorgestellt. Oder zumindest davon geträumt. Ein Koffer voller Geld. Das Ende aller Sorgen. Der Beginn des guten Lebens. Mitten in der Nacht wird dieser Traum für Anne wahr. Ingo hämmert an die Tür und überlässt ihr den Koffer mit brisantem Inhalt. Er selbst verschwindet. Angeblich auf nimmer wiedersehen. Anne soll zwar für ihn erreichbar sein, ansonsten aber kann sie mit dem Geld machen was sie will. Ein Traum. Leider kommt schon nach kurzer Zeit eine neue Order von Ingo. Er will Anne treffen, samt Koffer und Geld. Die Übergabe ist in Italien geplant. Also macht sie sich auf den Weg. Aber nicht allein, denn etwas mulmig ist ihr bei der ganzen Sache schon. Ben und Claire sind mit von der Partie. Vier alte Freunde. Jeder hat so seine eigenen Ziele und Motive. Da bleiben gewisse Reibereien nicht aus.

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Beate Schibille wurde 1965 in Hannover geboren und lebt ganz in der Nähe auf dem Land. Sie hat eine Ausbildung zur Versicherungskauffrau gemacht und ist dieser Branche bis heute treu geblieben. Zunächst angestellt, später freiberuflich. SchwimmSand ist ihr Debütroman.

Wirf dich ins Wasser, wo es am wildesten tobt.

(Goethe, Faust II)

Inhaltsverzeichnis

1 Abflug

2 Verbuddelt

3 Schützenhilfe

4 Die Kühlbox

5 Genau richtig

6 Gardasee

7 Die Lage checken

8 Vietri

9 Vertröstet

10 Heimat

11 Wo ist Ingo?

12 Amalfitana

13 Bella Italia

14 Inkognito

15 Leichen im Keller

16 Wie gewonnen so zerronnen

17 FKK

18 Kein Stück weiter

19 Egal jetzt

20 Pizza Napoli

21 Höllenschlund

22 Unterschätzt

23 Party

24 Die Jukebox

25 Griffig

26 Durchsuchungen

27 Bella Marie

28 Cava

29 Donnergrollen I

30 Donnergrollen II

31 Donnergrollen III

32 Nasser Hund

33 Vor Gericht und auf hoher See

34 Robinson

35 Treibgut

36 Lena

37 Franco I

38 Franco II

39 Das Universum

40 Und der ganze Rest

1 Abflug

Anne schreckt aus dem Tiefschlaf hoch. Schockstarre unter der Bettdecke. Nicht eine einzige Bewegung traut sie sich zu, in diesem Moment.

Was war das? Wovon ist sie aufgewacht? Irgendein Geräusch. Soviel scheint sicher. Ihr erster Gedanke sind Einbrecher. Zwar eher unwahrscheinlich, aber wer weiß das schon. Das Handy liegt irgendwo auf der Kommode im Wohnzimmer. Wie immer. Anne findet, dass es nichts im Schlafzimmer zu suchen hat. Irgendwann muss auch mal Schluss sein mit der dauernden Erreichbarkeit. Grundsätzlich ja richtig. Eben in diesem Moment wünscht sie es sich allerdings auf ihren Nachttisch.

Da ist es wieder. Dieses Geräusch, das sie hochschrecken lässt. Jetzt ist es deutlich ein Klopfen, eher ein Hämmern, gegen die Wohnungstür. Also doch kein Einbrecher. Die klopfen nicht an.

Ein Blick aus dem Fenster mit Sicht auf die Tür, draußen steht Ingo. Was will der denn um diese Zeit?

„Ingo?“

„Sorry, dass ich so spät störe, aber es ist wichtig und ich hab echt nicht viel Zeit.“

„Komm erstmal rein. Willst Du verreisen?“, Anne deutet auf den Koffer, den Ingo in der Hand hält.

„Nein. Ja. Ich möchte, dass Du jetzt einfach nur zuhörst, nichts kommentierst und nicht nachfragst. Ok?“

„Klar, wenn Du meinst. Bin eh zu müde“, versucht Anne eine kleine Anspielung auf die Uhrzeit. Kommt aber nicht an.

„Ich bin auf dem Weg zum Flughafen. Der Flieger geht in drei Stunden. Wohin, werde ich Dir sicherheitshalber nicht sagen. Nur so viel: Ich muss verschwinden und zwar für immer“, mit diesen Worten hievt er den Koffer auf den Küchentisch und lässt sich schwer auf einen Stuhl fallen.

„Wie, für immer.“

„Du sollst das nicht machen“, fährt Ingo sie unwirsch an.

„Schon gut. Hab verstanden.“

„Der hier ist für Dich.“ Er legt seine rechte Hand mit gespreizten Fingern auf den Koffer.

„Wenn du es geschickt anstellst, reicht dessen Inhalt, um dir ein sorgenfreies Leben zu ermöglichen.“

Anne öffnet den Mund, schließt ihn aber sofort wieder, als sie Ingos warnenden Blick sieht. Stattdessen setzt sie sich ebenfalls, lehnt sich zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. Vermutlich wieder einer seiner verrückten Scherze. Meistens ganz witzig, aber nicht mitten in der Nacht, zumindest nicht heute. Anne überlegt, ob ein direkter Rauswurf die angemessene Antwort auf diesen Mist ist.

„Wie gesagt, wenn du nicht auf der Überholspur lebst, bleiben dir das frühe Aufstehen und der tägliche Trott künftig erspart“, macht Ingo unbeirrt weiter.

„Ich möchte, dass du hier für mich die Stellung hältst. Das ist die Gegenleistung. Ich breche meine Zelte ab. Ein paar Leute sind hinter mir her. Die werden mit allen Mitteln versuchen, mich zu finden. Ich darf also keine Spuren hinterlassen. Nur du bist eingeweiht.“

Er steht auf, geht zum Kühlschrank, nimmt ein Bier raus. Ganz klar, das ist wieder einer seiner verrückten Auftritte. Anne glaubt ihm kein Wort, greift sich auch eine Pulle. Ist jetzt auch egal. Soll er seine Show abziehen. Sie wird in Ruhe austrinken und ihn dann rausschmeißen.

„Das hier ist kein Witz, keine meiner Geschichten. Falls du das denkst. Mach den Koffer auf. Überzeug dich selbst.“

Anne trinkt erstmal einen großen Schluck und schaut genervt, ist dann doch neugierig. Aber auch vorsichtig. Wer weiß, was ihr entgegenspringt. Alles schon dagewesen.

„Wow.“

„Genau. Kein Witz also. Das ist ungefähr ne halbe Mille, und sie gehört Dir. Dafür bist du für den Rest unserer Tage meine Verbindung in die Heimat.“

„Warum ich?“

„Wer sonst?“

„Mensch Ingo!“

„Meine Familie kann ich da nicht mit reinziehen. Zu naheliegend und zu gefährlich. Die dürfen von nix wissen. Nicht, dass ich heute Nacht auf immer verschwinde und nicht, dass ich mit so viel Geld unterwegs bin, dass es für drei Leben reicht.“

Anne filtert ein Wort heraus.

„Gefährlich?“

„Vermutlich werden nicht nur die Bullen nach mir suchen, sondern auch noch ein paar andere. Es geht um viel Geld.“

„Woher?“

„Es ist besser, wenn du so wenig wie möglich weißt.“

„Du klingst wie ein zweitklassiger Ganove.“

„Es ist so. Du kannst ablehnen. Aber dann hab ich niemanden.“

„Warum?“

„Liegt das nicht auf der Hand?“

„Warum gerade ich?“

„Außer dir fällt mir nur noch Ben ein, und der ist schlappe 500 Kilometer weit weg. Nicht zu schaffen heute Nacht. Ich muss jetzt los. Was ist also?“

„Was muss ich tun?“, Anne beschließt mitzuspielen.

„Auf Standby bleiben. Ich werde mich irgendwann melden. Hier im Koffer liegt ein Handy. Sorg dafür, dass es immer aufgeladen ist und checke es regelmäßig auf eingehende Nachrichten. Du musst es nicht dauernd mit dir herumschleppen, oder so. Das nun wirklich nicht. Du weißt, was ich meine.“

Anne holt sich ein weiteres Bier aus dem Kühlschrank und stellt Ingo auch eins hin.

„Danke, ich muss los.“

Er steht auf und greift nach Annes Hand, zieht sie hoch, umschließt sie ganz fest mit seinen langen Armen. Das ist kein bloßes Umarmen. Das ist zerdrücken. So jedenfalls haben sie das früher genannt, schießt es Anne durch den Kopf. Zerdrück mich, haben sie immer gesagt, wenn es irgendwie ernst, schlimm oder wichtig wurde. Was eben so wichtig war, damals. Meist der ein oder andere Liebeskummer.

Ingo lässt plötzlich los. Schweiß steht auf seiner Stirn, die Hand ist eiskalt. Soll Anne das glauben?

„Du darfst mit niemandem darüber reden. Sie werden Nachforschungen anstellen, aber vielleicht nicht sofort auf dich kommen. Vielleicht geht auch was durch die Medien. Zeit für dich zu gucken, wie der Hase läuft.“

„Welcher Hase?“

„Wirklich keine Zeit mehr jetzt. Ciao.“

2 Verbuddelt

Wie eingeschweißt steht Anne im Türrahmen und blickt in die Dunkelheit, in die Ingo bereits vor geraumer Zeit entschwunden ist. Vielleicht klingelt ja gleich ein Wecker und reißt sie aus diesem merkwürdigen Traum. Aufstehen, frühstücken, ganz normal den Tag beginnen. Na ja, ein bisschen wird dieses wirre Zeugs noch den Vormittag über ihr Wegbegleiter sein. Wie es intensive Träume so an sich haben. Aber mit dem Fortschreiten des Tages, verblassen die Inhalte, das aktuelle Geschehen gewinnt mehr und mehr die Oberhand. Spätestens am Abend ist alles Schnee von gestern. Genau.

Anne löst sich von ihrem Platz und macht sich auf den Weg ins Schlafzimmer. Dummerweise führt sie dieser durch die Küche und dort steht der Koffer. Offen und vollgestopft mit Geld. Das zu der Traumvariante.

An Schlaf ist unter diesen Umständen nicht zu denken. Soviel ist jedenfalls klar. Anne lässt sich auf einen Küchenstuhl fallen und greift sich ihr Bier. Der Situation angemessen wäre eigentlich etwas Härteres. Das würde das Wirrwarr in ihrem Kopf aber nur vergrößern, befürchtet sie. Was sie braucht ist Klarheit. Sie wendet sich den vor ihr liegenden Fakten zu. Koffer und Handy.

Schon faszinierend, so viel Geld auf einem Haufen. Ingo hat was von einer halben Mille gesagt. Sie beginnt systematisch zu zählen, Häufchen zu bilden, wie man das halt so macht.

Einige Zeit später steht fest, dass es sogar mehr ist. Okay. Man. Woher hat Ingo die ganze Kohle? Und das hier ist nur ihr Anteil. Plötzlich muss Anne lachen. Wie sich das anhört. Ihr Anteil. Als hätten Sie gemeinsam eine Bank überfallen. Ha, ha.

Das Handy ist ein Vorkriegsmodell, kein Smartphone jedenfalls. Erstaunlich, dass es sowas überhaupt noch gibt. Aber für den ihm zugedachten Zweck wohl ausreichend. Wie waren nochmal Ingos Anweisungen? Immer darauf achten, dass es geladen ist und regelmäßig auf eingehende Nachrichten überprüfen. Er wird sich irgendwann melden, aber das kann dauern. Sie versucht sich vorzustellen, wie der Ablauf sein könnte. Erstmal muss er aus Deutschland raus, irgendwo ankommen und sich einrichten. So überstürzt wie das Ganze wirkt, ist es gut möglich, dass er für seine Flucht keinen bis ins Detail ausgearbeiteten Plan hat. Also muss er improvisieren. Und in der ersten Phase vielleicht auch mögliche Verfolger abschütteln. Falsche Fährten legen. Oh, man. In was ist sie da reingeraten. Ingo war schon immer ein bisschen schräger als alle anderen. Aber das ist mehr als nur schräg. Das ist kriminell. Irgendwie jedenfalls. Sie kennt ja keine Details.

Langsam nähert sie sich gedanklich dem Kern. Was hat Ingo angestellt, und was ist ihre Rolle in diesem Spiel? Zeit für ein neues Bier. Oder doch was Stärkeres? Das erscheint angesichts der Sachlage mehr als angebracht. Ja.

Kurz darauf verfolgt Anne fasziniert das Schaukeln der goldenen Flüssigkeit in ihrem Glas. Whisky. Eines von Ingos Lieblingsgetränken. Durch ihn ist sie auch draufgekommen. Sie schnuppert, atmet tief ein, inhaliert den holzig, torfigen Stoff, riecht die raue Küste dort oben. Dann gönnt sie sich einen ordentlichen Schluck, spürt wie die Flüssigkeit die Kehle runterrinnt, eine rauchige Spur hinterlässt. Sehr gut.

Der Trip zusammen mit Ingo durch die Highlands vor ewigen Zeiten. Gerade jetzt so präsent, wie der Koffer vor ihr. Beide hatten sie eine gescheiterte Beziehung hinter sich, waren unglücklich, brauchten sich als Freunde. Ingo, aufgekratzt, hibbelig und gleichzeitig total fertig, fast depressiv. Typisch. Immer volle Pulle emotional. Egal in welche Richtung.

„Lass uns nach Schottland fahren“, ruft er eines Abends. Springt auf und bestürmt Anne mit seiner Idee.

„Das ist genau der richtige Ort für unsere Stimmung. Die Highlands im Oktober, großartig! Verfaulendes Herbstlaub, erdige Erde und Hochmoore im Nebel. Dazu Guinness und Whisky.“

„Komm schon! Bitte!“

Schließlich fährt sie mit und es wird genauso, wie Ingo es beschrieben hat. Schottisch ohne Ende. Nicht zuletzt, weil Anne sich en passant nicht nur in das Land, sondern auch in einen seiner Bewohner verliebt. Aber das steht auf einem anderen Blatt. Eine andere Geschichte. Eine von vielen, die sie mit Ingo im Laufe der Jahre teilt.

Er ist einer ihrer ältesten Freunde. Oder der Älteste? Kann sein. Ingo ist immer irgendwie da. Auch wenn sie sich mal eine Zeitlang ein bisschen aus den Augen verlieren. Eines ist für Anne sicher. Sollte es mal hart auf hart kommen, gibt es Ingo. Ihr personifiziertes Backup. Nur, dass es jetzt anders herum zu sein scheint.

Anne stutzt, erinnert sich exakt an Ingos Worte. Eines davon ist Heimat. Oh man, kleiner gehts nicht. Heimat. Was für ein altmodischer Begriff. Wer benutzt den noch, außer den Amerikanern, die gleich ein ganzes Ministerium danach benennen. Aber das tut nichts zur Sache. Sie muss sich jetzt mal konzentrieren und diese Ingo-Geschichte zu Ende denken.

Gewohnt pathetisch überträgt er also die volle Verantwortung auf sie. Mit Worten wie Heimat, für immer und Rest unserer Tage hat er sie gekapert. Das klingt extrem schwerwiegend. Wer reagiert da schon normal? Oder überhaupt? Mal ganz davon abgesehen, dass sie eh keine Chance hat. So wie er ihr Backup ist, ist sie natürlich das seine. Das weiß er. Sie macht das auch ohne Geld.

Dass er ihr diesen Koffer trotzdem dagelassen hat, muss also irgendeinen Grund haben. Aber welchen?

Anne merkt, dass diese ganzen Überlegungen zu nichts führen und sie immer betrunkener wird. Vielleicht ist jetzt doch eine kleine Mütze Schlaf möglich. Morgen, oder besser nachher, wird sie sehen, wie es weitergeht. Shit, sie hasst es, wenn die Dinge sich ihrer Kontrolle entziehen. Letzter Gedanke vor dem Einschlafen.

Und erster beim Aufwachen. Die Erinnerung an die Ereignisse der letzten Nacht dringt nach und nach wieder in ihr Bewusstsein. Mit einem Mal ist Anne hellwach. Shit.

Bad, Kaffee, Croissant und schon sitzt sie am Laptop. Eine mehr oder minder wilde Recherche mit Schlagwörtern wie Flucht, Geld, Veruntreuung, Steuerberater, Abtauchen ergeben keinerlei relevante Informationen. Nach einer zweiten Tasse Kaffee gibt Anne auf. Sinnlose Zeitverschwendung.

Besser, sie befasst sich erstmal mit den akut anstehenden Problemen. Wohin mit dem Koffer und dem Handy? Beides darf auf gar keinen Fall gefunden werden. Und auch, wenn sie insgeheim immer noch glaubt, dass Ingo ein bisschen übertrieben hat, dann ist es doch besser, beides in Sicherheit zu bringen. Der Küchentisch ist definitiv nicht der richtige Ort.

Das Handy bleibt in der Wohnung. Sie muss es ja regelmäßig aufladen und auf eingehende Nachrichten checken. Anne überlegt, wie schlimm es wäre, wenn es gefunden würde. Sie denkt tatsächlich an eine Hausdurchsuchung. Krank oder paranoid? Egal jetzt. Ein uraltes Handy in geladenem Zustand würde zweifelsohne Fragen aufwerfen. Aber zurückverfolgen kann man es nicht und irgendeine Erklärung wird ihr schon einfallen. Immer vorausgesetzt, es findet überhaupt eine Hausdurchsuchung statt. Was in ihrem Fall ja tatsächlich einigermaßen unwahrscheinlich ist.

Okay. Weiter im Text. Der Koffer, die Kohle. Die muss definitiv raus aus der Wohnung. Wo also hin mit dieser Menge an Bargeld? Anne holt sich einen weiteren Kaffee und setzt sich damit auf die Terrasse. Die Sonne hat schon ihre Kraft und für einen Moment genießt Anne einfach nur die Wärme. Nach der löchrigen Nacht fühlt sie ein permanentes Frösteln. Der Kaffee und die Sonnenstrahlen tun richtig gut. Es duftet nach grünen Pflanzen und bunten Blumen. Zum ersten Mal an diesem Tag fühlt sie sich locker werden.

Das ist es! Die Gartenlösung! Sie wird das Geld in einem Loch im Garten verbuddeln. Ganz klassisch.

Ungefähr zwei Stunden später sitzt Anne unentschlossen an ihrem Schreibtisch. Das Handy ist einsatzbereit. Das Geld in einem Super-Erdloch im Blumenbeet. Total unauffällig, jederzeit im Zugriff.

Eben hat sie nochmal die Nachrichtenlage gecheckt. Nichts Neues. Shit. Dieses Warten macht sie wahnsinnig. Sie könnte ihre Kontakte abtelefonieren, um herauszufinden, ob es bereits irgendwo Informationen gibt. Als freie Journalistin verfügt sie über einige Quellen, die vielleicht ein wenig besser informiert sind, als der unwissende Rest der Welt. Anne verwirft diesen Gedanken. Viel zu auffällig. Wenn die ganze Chose dann publik wird, kann jeder unschwer die Querverbindung herstellen und hellhörig werden. Kommt also nicht in Frage.

Es klingelt. Anne schreckt zusammen. So kann das nicht weitergehen. Gott sei Dank ist es nicht Ingos Knochen, sondern ihr eigenes Handy. Auf dem Display steht ein großes C.

„Hi, Claire, was gibts?“

„Wo bleibst du? Wir sind seit einer Viertelstunde verabredet. Kleines Spätstück mit Prosecco, schon vergessen?“

Oh je, das hat sie tatsächlich vergessen. Es ist aber auch so verdammt viel passiert. Einem ersten Impuls folgend, will sie Claire sofort einweihen. Endlich mit jemandem darüber reden. Das wärs jetzt. Sie kriegt gerade noch die Kurve.

„Ehrlich?“

„Klar! Jetzt komm schon!“

„Ich bin echt drüber weggekommen. Hier überschlagen sich gerade die Ereignisse. Sei mir nicht böse, aber wir müssen das verschieben.“

„Schade. Na ja, dann lass ich es mir halt allein schmecken. Da verpasst du wirklich was. Du solltest nicht immer so verbissen an deiner Arbeit hängen. Ab und zu den Tag mal ein wenig entspannt angehen. Das kann selbst dir nicht schaden.“

„Du hast ja Recht. Holen wir nach. Versprochen.“

Anne hat ein schlechtes Gewissen. Claire anzulügen, gefällt ihr gar nicht. Und das, wo sie ihr am liebsten alles brühwarm erzählen würde. Außerdem besteht die Möglichkeit, dass die irgendwas hat läuten hören. Claire ist immer am Puls der Zeit.

„Sag mal, was schenken wir eigentlich Ingo zum Geburtstag?“

Bisschen plump die Überleitung, aber egal jetzt. Wenn Claire zum Thema Ingo irgendwas weiß, dann ist das der Moment, damit rauszurücken. Vielleicht.

„Na, du machst mir ja Spaß. Mich heute vergessen, aber Ingos Geburtstag in zwei Wochen, den hast du schon auf der Rechnung. Feiert er denn überhaupt?“

„Gehe ich mal von aus. Oder hat er dir was anderes erzählt?“

„Ich habe vor ein paar Tagen Betty getroffen, und die hat nichts gesagt. Nur, dass sie ihn kaum zu Gesicht bekommt. Viel Arbeit, diese Leier. Ich hab dann nicht mehr zugehört. Diese Tiraden von ihr gehen mir so was von auf die Nerven. Soll sie das doch mit ihm austragen und nicht dauernd in der ganzen Welt herumjammern.“

„Du kennst sie doch.“

„Und genau deshalb geht mir dieses permanente Geheule ja so auf die Nüsse. Sie und die Kinder leben ganz gut auf Ingos Kosten. Wäre er statt Geld zu verdienen mehr zu Hause, müsste die liebe Betty selbst ihren Arsch hochkriegen und was für ihren Lebensunterhalt tun. Aber dafür ist sie sich ja zu fein. Oder zu blöd.“

„Na ja, ganz so drastisch würde ich das nicht sehen. Aber nochmal zurück zum Geburtstagsgeschenk. Glaubst du tatsächlich, er macht dieses Jahr nichts?“

„Keine Ahnung. Ist ja aber auch egal, ein Geschenk können wir auf jeden Fall besorgen. Ich mach mir mal Gedanken.“

Anne hört im Hintergrund ein Handy bimmeln und schon beendet Claire das Gespräch mit dem Hinweis auf den eingehenden Anruf. Immer busy die Liebe. Aber scheinbar weiß sie von nichts. Am liebsten würde sie jetzt mal bei Ben anrufen und auch bei ihm vorsichtig nachfragen. Diese Geburtstagsgeschenksache ist wirklich ein prima Aufhänger.

Ingo, Ben, Claire und sie selbst. Beste Freunde seit Kindheitstagen. Und würde Ben noch in der Gegend wohnen, wäre Ingo mit dem ganzen Schlamassel ja auch zu ihm gegangen. Hat er selbst gesagt. Aber so ist er bei ihr gelandet.

Und warum nicht Claire? Die Antwort hat sie in dem eben geführten Telefonat eigentlich selbst geliefert. Ihr Verhältnis zu Betty, Ingos Frau, ist gelinde gesagt angestrengt. Vermutlich würde sie Ingo dazu beglückwünschen, endlich ein neues Leben zu beginnen. Mit genug Schotter auf einer Karibikinsel. Wie Betty und die Kinder sich dabei fühlen, wäre Claire total egal. Da muss die liebe Betty eben mal selbst ran und sehen, wo sie bleibt. Als emotionaler Anker in der Heimat ist Claire gänzlich ungeeignet.

3 Schützenhilfe

An den folgenden Tagen ist Anne abwechselnd hektisch, apathisch, voller Bewegungsdrang und dann wieder wie gelähmt. Meistens alles auf einmal. Konzentrieren kann sie sich so gut wie gar nicht. Den Großteil des Tages verbringt sie damit, alle möglichen Nachrichtenkanäle durchzukämmen. Immer auf der Suche nach der ersten Berichterstattung über das Ding, das Ingo gedreht hat. Aber da ist nichts. Frustrierend.

Die Nacht, in der Ingo bei ihr aufgetaucht ist, kommt Anne inzwischen irreal vor. In gewissen Momenten zweifelt sie an ihrer eigenen Wahrnehmung. Ständig geht sie im Kopf die Unterhaltung mit ihm durch. Sie muss das mit jemandem besprechen, sonst dreht sie durch. Gerade als Anne zum Telefon greift, piept es in der Schreibtischschublade. Das Handy von Ingo! Erhöhter Pulsschlag! Hastig kramt sie es raus und starrt auf das Display, liest die eingegangene Textnachricht mindestens 100 Mal.

Treffen am 28. 16.00 Uhr Vietri sul Mare Bar Da Franco bring die Kohle mit I

Vietri sul Mare? Was soll das denn sein? Ein Platz? Ein Ort? Klingt italienisch. Sie hätte eigentlich gedacht, Ingo wäre irgendwo in Übersee. Karibik oder Südostasien. Wohin man eben klassischerweise verschwindet.

Anne gibt Vietri sul Mare in die Suchmaschine ein. Und richtig, es handelt sich um ein kleines Kaff in Süditalien. Amalfiküste. Gleich um die Ecke von Capri. Auch ein Klassiker, wenn man so will. Entfernung zu ihrem Standort: schlappe 2000 Kilometer!

Sie wendet sich wieder der Nachricht zu und beginnt den Inhalt zu sezieren. Informativer wird er dadurch nicht. Sie soll Ingo in drei Tagen um 16.00 Uhr in dieser Bar in Vietri sul Mare treffen. Und, ach ja, das Geld mitbringen. Alles? Wenn dem so sein soll, dann kann sie definitiv nicht fliegen. Unmöglich mit so einer Menge Bargeld. Das wiederum bedeutet, dass sie quasi sofort losmuss.

Mit einem Seufzer greift sie zum Telefon und tut das, was sie vor dem Eingang der Nachricht schon im Begriff war zu tun, sie wählt die Nummer von Ben. Zeit, Unterstützung anzufordern.

„Hi. Gerade habe ich an Dich gedacht. Wie gehts?“, klingt Ben gut aufgelegt. Das wird sich schnell ändern, denkt Anne.

„Du, ich rufe aus einem bestimmten Grund an. Es geht um Ingo.“

„Also kein Smalltalk. Schade. Was hat er denn schon wieder angestellt?“

„Das weiß ich nicht so genau. Fest steht nur, dass er mich in knapp drei Tagen in einem Kaff an der Amalfiküste mit einem Koffer voller Geld treffen will. Und ich habe beschlossen, da nicht allein hinzufahren. Du musst mitkommen. Ich hole Dich in etwa fünf Stunden ab. Pack ein paar Klamotten ein.“

„Hallo? Ben? Bist du noch dran?“

Shit. Einfach weggedrückt. Verdutzt guckt Anne ihr Handy an. Da geht auch schon eine Textnachricht von Ben ein. Ungefähr 10 Kaputtlachsmileys. Sie wählt erneut.

„Ben, tut mir leid, aber das ist kein Witz. Bitte leg nicht wieder auf. Hör mir einfach zu, okay!“

Sie atmet tief ein, behält die Luft einen Augenblick in ihren Lungen und lässt sie langsam entweichen. Dann erzählt Anne alles, von Anfang an. Vom Klopfen an der Tür, das sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen hat, über Ingos dürftige Erklärungen, bis hin zu seinen, im Gegensatz dazu, recht eindeutigen Instruktionen. Schließlich berichtet sie auch von dem Koffer und dessen Inhalt.

„Ben? Hast du alles verstanden?

„Yep. Das sind jetzt aber nochmal doppelt so viele Lachsmileys. Gequirlte Entenkacke. Du kennst doch Ingo. Du, ich muss jetzt auch Schluss machen. Hab gleich noch ein Meeting.“

„Das kannst du mal gleich vergessen. Es geht ja noch weiter.“

„Dann erzähl. Aber beeil dich bitte“, stöhnt Ben mit einem halben Lacher.

„Ich habe das alles auch nicht ernst genommen. Schon klar. Aber nachdem ich das Geld gezählt und im Garten vergraben hatte “

„Moment“, unterbricht Ben, „du hast den Koffer vergraben? Wie im Film? Nicht dein Ernst!“

„Jahah, ich kann doch nicht mehr als eine halbe Million Euro bei mir in der Küche rumstehen lassen.“

„Und du bist sicher, dass es wirklich so viel ist? Hast du jeden Stapel auseinandergenommen? Vielleicht war nur jeweils der obere Schein echt?“

„Ben, ich bin nicht blöd. Klar habe ich alles auseinandergenommen.“

„Gut. Von mir aus. Aber warum vergraben?“

„Weil Ingo sagt, dass es Wirbel geben wird. Und dass vielleicht auch ich, als alte Freundin, ins Visier gerate. Da macht es sich nicht gut, wenn ein Koffer mit Bargeld in der Küche rumsteht.“

„Verstehe.“ Jetzt klingt Ben nicht mehr belustigt. Eher als telefoniere er mit seiner leicht dementen Tante.

„Ich weiß, das hört sich alles nach Kino an. Ging mir genauso. Aber dieser Koffer voller Fakten und Ingos Umarmung zum Abschied. Wenn du ihn erlebt hättest, würdest du das auch anders beurteilen.“

„Kann sein. Und was ist jetzt mit diesem Treffen? An der Amalfiküste? Wie Old School!“, klingt Ben ironisch.

„Wieso Old School?“

„Na ja, war doch in den 60ern das Reiseziel in Bella Italia. Passt gar nicht zu Ingo.“

„Keine Ahnung. Bring mich nicht ständig vom Thema ab.“

„Genau, stimmt, ich muss jetzt auch wirklich zu diesem Meeting, sorry.“

„Nein!“, Anne schreit fast.

„Dann los, erzähl die Story zu Ende. Husch.“

„Also. Ingo hat eben eine Textnachricht geschickt. Warte, ich leite sie mal eben an dich weiter. So.“

Schweigen auf Bens Seite. Anne lässt ihm einen Moment Zeit. Soll er mal nachdenken. Sie hat den Text schließlich auch dutzende Male gelesen. Aber ewig kann sie nicht warten. Sie müssen los.

„Okay, Ben. Ich packe jetzt ein paar Sachen zusammen und mache mich auf den Weg. Wenn ich gut durchkomme, bin ich in vier bis fünf Stunden bei dir. Da kannst du noch zu deinem Meeting gehen und dir ein paar Ausreden einfallen lassen, warum du plötzlich für ein paar Tage weg musst. Sei froh, soviel Zeit habe ich nicht. Bis nachher.“

Anne drückt ihn weg. Für lange Diskussionen ist jetzt keine Zeit. Und allein wird sie da nicht runterfahren. Soviel ist sicher.

4 Die Kühlbox

Die spinnt doch. Während er im Laufschritt zum Besprechungsraum hastet und sich im Geist auf das anstehende Thema einzustimmen versucht, gehen ihm ein paar Sätze von Anne durch den Kopf. Das ist doch alles totaler Quatsch. Keinen Moment glaubt er, dass auch nur ein Fünkchen Wahrheit an dieser Story ist. Ingo muss man manchmal einfach ignorieren. Anne weiß das eigentlich. Ob sie jetzt tatsächlich auf dem Weg zu ihm ist? Ben schüttelt den Kopf und beschließt, sich zur Abwechslung mal auf seine Arbeit zu konzentrieren. Nachher kann er Anne ja immer noch zurückrufen, um ein wenig zu plaudern.

Eine halbe Stunde später ist klar, dass das mit dem auf die Arbeit konzentrieren so nicht funktioniert. In den letzten 30 Minuten hat er einer inhaltsleeren Präsentation gelauscht, die alle auf Stand bringen soll. Sehr überflüssig und reine Zeitverschwendung. Da hört sich jemand gern reden. Allen Teilnehmern ist der Stoff hinreichend bekannt. Bereits unzählige Male haben sie in dieser Sache zusammengesessen. Alle Partner, die Sekretärinnen, die Angestellten. Rauf und runter alles diskutiert und von allen Seiten beleuchtet. Diverse externe Berater sind involviert. Das ganze Programm. Zeitraubend, teuer und von bisher zweifelhaftem Erfolg. Die Kanzlei soll neu, besser, moderner aufgestellt werden. Umstrukturierung ist das Schlagwort. Er kann es nicht mehr hören. Manchmal glaubt Ben, dass sie das Thema nur auf die Tagesordnung gehoben haben, weil das im Moment alle machen. Da kann man sich halt nicht entziehen. Aber warum eigentlich nicht?

Zuerst ist es nur ein Zeitvertreib, dieses daran denken, was wohl wäre, wenn Anne ihn nachher tatsächlich abholen würde. Um sich bei Laune zu halten, überlegt er, wie das alles ablaufen könnte. Er stellt sich vor, wie er den Besprechungsraum unter einem Vorwand verlässt, seine Sachen aus dem Büro holt und das Notwendigste organisiert. Nach Hause kann er nicht, da müsste er Dominique Rede und Antwort stehen. Und das ist immer anstrengend. Ganz zu schweigen von den Kids. Aber da gibt es bestimmt Alternativen. Er könnte zum Beispiel ohne irgendetwas starten. Sozusagen komplett frei. Was eigentlich braucht man wirklich, um ein paar Tage über die Runden zu kommen. Mitten in seine Überlegungen platzt das Bimmeln seines Handys. Hat er vergessen auf stumm zu schalten in der Hektik vorhin. Kommt ja wie gerufen!

„Sorry, da muss ich ran“, murmelt er in die Runde und verlässt den Konferenzraum.

Es ist Dominique. Dom, wie er und alle Welt sie nennen. Ben tut so, als würde er das Gespräch annehmen. Tatsächlich drückt er sie aber weg, sobald er den Raum verlassen hat und schreibt stattdessen eine Textnachricht. Für sie sitzt er noch im Meeting und kann gerade nicht sprechen.

Na also, das ging ja einfacher als gedacht. Er macht sich auf den Weg in sein Büro, holt seine Jacke, schreibt seiner Sekretärin einen Zettel und ist draußen.

Ein Blick auf die Uhr. Anne könnte in drei Stunden da sein. Jetzt hat es ihn gepackt. Fast hofft er, dass sie wirklich kommt, dass das alles kein Spiel ist.

Ben steht vor dem Bürokomplex und guckt sich um. Schönster Frühling rings herum. Es riecht nach Schule schwänzen und Mathe Nachhilfe. Und wenn es nur eine kleine Auszeit ist. Egal. Tief Luft holen und ab in den Supermarkt um die Ecke.

Erst die Nonfood Abteilung. Shirts, Shorts und Turnschuhe und was man halt sonst so braucht. Alles Supermarktware und spottbillig. Das Thema Herkunft, Kinderarbeit, Chemie verdrängt Ben. Dafür ist jetzt keine Zeit. Schon ist er im Gang für die Körperpflege. Zahnbürste, Duschgel und ganz wichtig Sonnencreme. Er stellt sich eine sengende Sonne an der Amalfiküste vor und greift gleich nach Schutzfaktor 30.

Dann rüber zu den Fressalien. Als erstes springt ihm eine Kühlbox ins Auge. Das ist schlicht und ergreifend perfekt. Gut zum Verstauen der leicht verderblichen Ware, und außerdem wollte er so ein Ding schon lange anschaffen. Dom fragt dann immer, wofür. Sie würden doch eh nie campen oder picknicken. Aber Ben findet, dass sie das vielleicht deswegen nicht tun, weil die notwendige Ausrüstung fehlt. Oft scheitert ein spontanes Vorhaben daran, dass die richtigen Dinge gerade nicht zur Hand sind. Da wird man quasi vom Start weg ausgebremst. Diesen Fehler wird er nicht machen. Er schnappt sich die Kühlbox, die sogar mit zwei verschiedenen Anschlüssen ausgestattet ist: 220 und 12 Volt. Ist also auch einfach an den Zigarettenanzünder anzuschließen. Für kalte Getränke auf der Fahrt nach Italien wäre damit gesorgt.

An Essbarem kommt alles in den Korb, was aus seiner Sicht gesund, nahrhaft und italienisch ist. Also Oliven, Käse und Wein. Zum Schluss packt er noch zwei Sporttaschen in den Einkaufswagen und ab zur Kasse.

Ein Blick auf die Uhr sagt ihm, dass er für den Spontaneinkauf viel länger gebraucht hat, als gedacht. Soll er Anne anrufen und fragen, wo sie ist und wann sie da sein kann? Ben zögert. Irgendwie möchte er nicht, dass sein schönes, kleines Luftschloss zusammenbricht. Wenn er Anne anruft, werden sie ganz sicher über den ausgefallenen Scherz von Ingo lachen und ein bisschen über ihn herziehen. Ben müsste dann wieder zurück in die Kanzlei. Womöglich ist das Meeting dann noch im Gange. Nein. An eine Rückkehr in den Besprechungsraum ist nun wirklich nicht zu denken. Das Schwänzen geht weiter. Was kommt als Nächstes?

Gegenüber ist eine Eisdiele. Genau das Richtige. Jetzt einen Cappuccino draußen in der Sonne. Das passt gut zu seinem italienischen Vormittag.

Ben streckt die Beine aus und schaut sich um. Unglaublich retro. Die Stühle aus Chrom und hellbraunem Kunstleder. Solche, an denen die Oberschenkel festkleben, wenn man Shorts anhat. Leicht eklig. Auch wenn man daran denkt, wer schon alles darauf gesessen hat. Na ja, hier vermutlich nicht so viele. Außer ihm ist lediglich ein weiterer Tisch besetzt. Apropos Tisch. Sehr klein und sehr rund, dicht nebeneinander gedrängt auf dem Bürgersteig. Ob die jemals alle besetzt sind? Ben hegt starke Zweifel. Vielleicht hätte er lieber dazu sagen sollen, dass er den Cappuccino mit Milchschaum und nicht mit Sahne möchte? Egal. Er wird sich jetzt ein wenig entspannen und dann mit einer vernünftigen Ausrede in die Kanzlei zurückgehen.

Sein Blick fällt auf die vor ihm stehenden Einkäufe. Vermutlich sollte er Anne anrufen. Aber da kommt erstmal der Cappuccino. Sieht gut aus. Mit Milchschaum, Gott sei Dank. Er probiert und lehnt sich ein weiteres Mal zufrieden zurück. Extrem lecker. Hätte er gar nicht erwartet. So kann man sich täuschen.

Eine Weile genießt Ben einfach nur seine Umgebung und die gestohlene Zeit. Wieder kommt es ihm vor, wie Schule schwänzen. Das intensiv verbotene Gefühl. Als wenn man solche Momente eher genießen kann, wenn man sich unerlaubt davongemacht hat. Vermutlich ist das so, sinniert er. Es ist eben eine Ausnahme und darum ist es ein Stück Zeit, die einem geschenkt wird. Etwas Besonderes. Er holt tief Luft. Es riecht nach Sommer, Sonne, faul sein in der Großstadt.

Und es hupt. Vermutlich eingedöst, muss er sich erstmal orientieren. Dann schmeckt er Cappuccino, riecht Resopal und ist wieder in dieser Eisdiele. Erneutes Hupen. Diesmal lauter und drängender. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite steht ein uralter Camper. Hinter dem Steuer sitzt ein ihm wohl bekannter Blondschopf. Sie hat die Scheibe heruntergekurbelt und rudert wild mit den Armen. Man.

Fünf Minuten später springt Ben zu Anne ins Führerhaus. Die Kühlbox und die zwei vollgepackten Sporttaschen zerrt er mit sich. Aber so alt der Camper ist, das Cockpit ist riesig. Alles passt rein.

5 Genau richtig

Anne wirft einen missbilligenden Blick auf Bens Sammelsurium, schüttelt den Kopf, sagt aber nichts, sondern fährt erstmal los. Hinten hupen schon die Ersten. Deutschland halt.

„Mensch Anne! Wo hast Du den denn her?“, keucht Ben etwas außer Atem während er noch dabei ist, sein ganzes Zeug unterzubringen.

„Du meinst die Karre? Die steht seit Wochen bei einem Kumpel rum. Eigentlich soll das Ding verkauft werden, aber jetzt habe ich es erstmal ausgeliehen. Was Besseres konnte ich in der Eile nicht auftreiben.“

„Machst du Witze! Das ist die coolste Karre unter der Sonne. Mensch, geil, ein Hymer! Hat der schon ein H-Kennzeichen?“

„Jetzt komm mal wieder runter. Dafür, dass du mir erst nicht glauben und schon gar nicht mitkommen wolltest, ist mir das ein bisschen zu viel Begeisterung.“

„Von diesen Dingern gibt es nicht mehr besonders viele. Totale Raumwunder. Voll durchdacht.“

„Wusste gar nicht, dass du dich so gut auskennst. Ist das der Ben, der mit seiner Familie immer diese Pauschalreisen macht?“

Anne lacht amüsiert vor sich hin. Im Radio erklingen die ersten Töne von Bat out of Hell. Meat Loaf. Sie dreht voll auf. Die Scheiben auf beiden Seiten runter. Ben sagt irgendwas, aber Anne sieht nur, wie sich sein Mund bewegt. Vermutlich gehts um die Karre in der sie sitzen und die tatsächlich ziemlich cool ist. Zugegeben. Hauptsache der Diesel hält durch.

Urplötzlich fühlt sich alles genau richtig an. Sie muss einfach grinsen und fängt an mitzusingen. Erst leise, dann immer lauter. Ganz automatisch kann sie den Text immer noch auswendig. Sie schreit die Wörter der Straße entgegen.

Like a bat out of hell, I'll be gone when the morning comes When the night is over, like a bat out of hell, I'll be gone, gone, gone

Like a bat out of hell, I'll be gone when the morning comes

But when the day is done

And the sun goes down

And the moonlight's shinin‘ through

Then like a sinner before the gates of heaven

I'll come crawlin‘ on back to you

Ben stimmt ein und beide rauschen sie zu den Klängen von Meat Loaf aus der Stadt. Richtung Süden.

Eine Weile kostet Anne das Gefühl noch aus. Sie kann sich nicht erinnern, wann sie sich das letzte Mal so lebendig gefühlt hat. Muss wohl an der Ausnahmesituation liegen. Die ist irgendwie schräg und beängstigend. Aber zur gleichen Zeit auch wie früher, denkt Anne. Und Ben neben sich. Ohne zu wissen, was sie erwartet. Wieder grinst Anne.

„Was grinst du eigentlich die ganze Zeit?“

„Komm schon, du grinst auch.“

„Quatsch.“

„Sollen wir uns noch eine Weile über das Grinsen unterhalten oder verrätst du mir, was du da alles mit dir rumschleppst?“

„Ich hab mal so das Nötigste eingekauft.“

„Und dazu gehört eine Kühltasche?“

„Das ist die ultimative Kühlbox! Mit Anschlüssen für 220 und 12 Volt. Also für normale Steckdosen und Zigarettenanzünder. Gut befüllt mit allem, was wir für die Fahrt brauchen.“

„Dreh dich mal um.“

„Hä?“

„Was siehst du? Genau! Einen großen, fest eingebauten Kühlschrank. Wir brauchen keine Kühltasche.“

„Kühlbox.“

„Brauchen wir auch nicht.“

„Woher sollte ich wissen, dass du mit so einer Karre kommst? Aber ganz davon abgesehen, kann zusätzliche Kühlung im Süden nicht schaden. Und ich wollte schon immer mal so ein Teil haben.“

„Ja, klar. Für Eure Pauschreisen ein unbedingtes Muss.“

„Jetzt hör schon auf, so darauf herumzureiten. Mit Familie geht es halt nicht anders.“

„Falsch Ben. Es geht anders, aber man muss es wollen.“

„Natürlich ist es auch Bequemlichkeit. Weiß ich ja. Umso geiler, dass wir das hier jetzt durchziehen.“

„Mit dem kleinen Unterscheid, dass wir nicht in den Urlaub fahren.“

„Komm schon, ein bisschen doch, oder? Italien, Amalfiküste, Pizza, Rotwein, Cappuccino. Davon hatte ich übrigens in dieser Retro-Eisdiele einen. Sah nach nix aus, hat aber geschmeckt wie Gianna Nannini.“

Nachdenklich betrachtet Ben das eingebaute Radio. Ist erfreulicherweise auf dem neuesten Stand. Ausgestattet mit allem Schnickschnack. Er stellt eine Verbindung zu seinem Smartphone her und sucht in seiner Musik-App nach Gianna Nannini. Großartig. Das passt. Das findet offensichtlich auch Anne.

„Cool, habe ich ewig nicht mehr gehört. Macht die eigentlich noch Musik?“

„Keine Ahnung. Ich gucke mal, ob es was Aktuelles von ihr gibt.“

„Nee, lass mal die alten Sachen hören. Das ist viel besser.“

Und so fahren sie eine Weile, hören dazu Musik. Irgendwann steht Ben auf und geht nach hinten. Eigentlich erwartet er, dass Anne ihn gleich zurückpfeifen wird. Ist ja vermutlich nicht erlaubt, während der Fahrt in den Wohnraum zu gehen. Aber von Anne kommt nichts. Er setzt sich an den Tisch und schaut sich alles in Ruhe an. Gemütlich, funktional und viel Platz.

„Was ist dein Plan? Sollen wir hier drin pennen?“, fragt er nach vorn.

„Klar, warum nicht? Ist das Einfachste, oder?“

„Platz ist jedenfalls genug. Ich sag ja – ein Raumwunder. Bietet theoretisch Schlafplätze für sechs Personen.“

„Ja, ja, ich habs begriffen. Du kennst dich mit dem Teil aus. Umso besser. War bei der Abholung echt in Eile.“

„Heißt?“

„Heißt, dass ich keine Lust hatte, mir den ganzen Kram über Elektrik, Wasser nachfüllen, Stauraum usw. anzuhören.“

„Du weißt aber schon, dass so ein Wohnmobil seine Tücken hat? Und erst recht so ein altes.“

Statt einer Antwort dreht Anne die Musik wieder lauter und widmet sich der Straße. Technische Details waren noch nie ihr Ding. Hauptsache drauf los. Ben weiß genau, was sie gerade denkt. Dass er kleinkariert ist, sich mal wieder in Unwichtigkeiten verheddert. Wie dieser Camper funktioniert, werden sie schon nach und nach herausfinden. Stimmt ja auch. Ben lehnt sich zurück und versucht, an nichts zu denken.

„Was hast du eigentlich Dom und in deiner Kanzlei erzählt?“

„Hä?“, schreckt Ben hoch. Schon wieder eingenickt. Das wird langsam zur Gewohnheit. Vielleicht ist er tatsächlich urlaubsreif.

„Na, warum du für ein paar Tage weg bist.“

„Nichts.“

Anne schüttelt den Kopf und dreht die Musik lauter. Wieder spürt er förmlich, was in ihrem Kopf vorgeht.

„Man. Erstens wusste ich echt nicht, ob du wirklich kommst und zweitens, keine Idee“, beendet er den Satz unbeholfen. Um seine Unsicherheit zu überspielen, versucht er es gleich darauf ein bisschen konstruktiver: „Was schätzt du? Wann sind wir zurück?“

„Mindestens vier Tage, nach oben offen. Hängt davon ab, was Ingo vorhat.“

„Zwei Tage ginge. Da könnte ich einen Mandantenbesuch in Süddeutschland faken. Mit einer Übernachtung“, sinniert Ben.

„Wie sollen wir in zwei Tagen an die Amalfiküste kommen und zurück. Utopisch. Wie wäre es, wenn du spontan Urlaub machst. Hast du ja vorhin selbst gesagt, dass es sich wie in Urlaub fahren anfühlt. Mach das zu deiner Story.“

Ben überlegt. Versucht, das im Kopf durchzuspielen. In der Kanzlei dürfte es kein Problem sein, schließlich ist er Partner, und die wirklich wichtigen Mandanten könnte er für ein paar Tage telefonisch hinhalten. Den Rest macht seine Sekretärin. Das ginge tatsächlich. Das große Problem ist wie immer Dom. Ihr muss er die Wahrheit sagen.

„Dom muss ich reinen Wein einschenken.“

„Kommt nicht in Frage. Ingo war da ganz klar. Schon, dass ich dich mit reinziehe ist nicht korrekt, aber das nehme ich auf meine Kappe.“

„Du sagst es. Es ist nicht korrekt. Dann lass mich da raus. Halt an, ich steige aus, und du ziehst das Ding allein durch. Dann muss ich niemand anlügen. Das fliegt früher oder später eh auf.“

„Kommt gar nicht in Frage. Du kommst mit. Basta. Und Dom erzählst du dasselbe, wie in der Kanzlei. Zwei unterschiedliche Geschichten gehen nicht. Los, ruf an. Brings hinter dich. Gleich sind wir in Österreich. Du musst das vorher regeln. Mach schon!“

Anne widmet ihre Aufmerksamkeit demonstrativ der Straße und versucht nicht daran zu denken, was wäre, wenn sie diese Sache allein durchziehen müsste. Ihr ist mulmig. Das ist alles so verrückt. Wahnsinn. Was hat Ingo vor? Und warum soll sie die Kohle mitbringen, die er ihr doch erst vor ein paar Tagen überlassen hat. Irgendwas muss schiefgelaufen sein. Sie spürt, wie ihr bei dem Gedanken an das viele Geld heiß wird. Der Koffer ist da verstaut, wo normalerweise das Reserverad liegt. Der Camper bietet optimale Verstecke. Anne klopft sich selbst auf die Schulter für die Idee, das alte Ding ausgeborgt zu haben. Sie muss wieder grinsen. Was für ein Abenteuer. Strenggenommen gibt es auch keinen Grund für diese Mulmigkeit. Schließlich ist nicht sie es, die dieses Geld auf vermutlich höchst illegale Weise ergaunert hat. Und Ben ist mit von der Partie. Wie früher. Jetzt würde sie gern wieder die Musik voll aufdrehen. Ihr ist gerade danach. Aber hinten telefoniert er tatsächlich herum, und da kommt es vermutlich gar nicht gut, wenn Gianna Nannini plötzlich los röhrt.

Nach einer Weile kommt Ben nach vorn gekrabbelt, fummelt an seinem Handy rum und die Musik verstummt gänzlich.

„Ich mach das jetzt aus.“

„Damit du nicht geortet wirst, verstehe“, lacht Anne.

„Quatsch. Damit ich tatsächlich nicht erreichbar bin.“

„Das ist also die Story. Du musst raus und brauchst ein paar Tage nur für dich, richtig? Ohne Anrufe und Mails.“

„Exakt. Und damit das auch glaubwürdig ist, geh ich offline. Zumindest offiziell.“

„Und inoffiziell?“