Secrets of Jade - Liza Patrick - E-Book

Secrets of Jade E-Book

Liza Patrick

3,0

Beschreibung

Die Studentin Jade verliebt sich in Joshua - und kann sich die Wucht ihrer Gefühle nicht erklären. Doch ihre Liebe wird mit gleicher Intensität erwidert. Joshua ist ein Jade-Mensch aus dem Edelsteinzirkel. Dieser will der Aussterben der Jade-Menschen verhindern und den Kreis der wenigen noch lebenden Mitglieder vergrößern. Trägt auch Jade diese besonderen Gene in sich? Kräfte innerhalb des Kreises stehen einer Liaison zwischen Joshua und Jade ablehnend gegenüber und wollen die beiden getrennt sehen. Auch die Liebe von Jade zu Joshua steht vor Zerreißproben. Können sie ihre Liebe bewahren und leben? Mit großer Eindringlichkeit erzählt Liza Patrick diese besondere Liebesgeschichte, deren Ausgang keinen Leser unberührt lässt.

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Liza Patrick

Secretsof Jade –

Mit den Augen der Liebe

Roman

Fabulus-Verlag

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2015 by Liza Patrick

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftlicheGenehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendungelektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Elmar Klupsch, Stuttgart

Umschlaggestaltung: Gestaltungsbüro Röger & Röttenbacher GbR, Leonberg

Satz und E-Book-Umsetzung: Fabulus-Verlag, Fellbach

ISBN 978-3-944788-37-1

Besuchen Sie uns im Internet unter:

www.fabulus-verlag.de

 

Für DICH!

Prolog

Wieder träumte sie von ihm.

»Bitte, vertraue mir.«

»Ich kann nicht. Ich weiß doch selbst nicht mehr, wer ich bin.«

»Aber ich weiß es, Jade. Du gehörst zu mir. Warum zweifelst du daran?«

»Weil … Ach, Josh, du bist der Mensch, den ich wie keinen anderen liebe. Aber es gibt für uns keine Zukunft.«

»Sag so etwas nicht, Jade. Bitte, wir müssen es versuchen. Glaube an dich und an uns. Nur so können wir es herausfinden.«

Joshua kam langsam auf sie zugelaufen. Sie hatte noch nie ein solch starkes Bedürfnis verspürt, jemanden zu umarmen. Sie wollte ihn spüren. Er war der Mann ihrer Träume.

Doch sie durften nichts riskieren.

Nicht, solange sie keine Gewissheit hatten.

Es war falsch.

Eins

Ihr war nicht nach Aufstehen zumute. Träge zog sich Jade die Decke über den Kopf und hoffte, damit diesem lästigen Geräusch zu ent rinnen.

Weit gefehlt. Es kam sogar noch schlimmer.

»Jade, wach auf. Und schalte diese Höllenmaschine endlich aus. Hörst du!«

Eine Hand begann auf dem Nachtisch nach allem Möglichen zu tasten, nur nicht nach der immer schriller werdenden Neuanschaffung.

Genervt trat Jades Mom ans Bett und versuchte energisch, ihr die Decke vom Kopf zu ziehen. Doch ohne Erfolg. Jade klammerte sich von unten mit beiden Händen an der Bettdecke fest.

Ein fernes Grummeln bekräftigte ihren Unmut.

Sie hatte gewonnen. Dachte sie zumindest. Der entsetzlich schrille Ton war tatsächlich verstummt.

Vorsichtig linste Jade mit einem Auge unter der Decke hervor.

Sie war wieder allein im Zimmer. Das hieß aber noch lange nicht, dass ihre Mutter sich damit zufriedengab.

Plötzlich hörte sie einen lauten Knall aus dem Badezimmer, danach herrschte absolute Stille.

Allmählich schob sie einen Fuß, dann das Bein aus dem Bett. Das  alles kostete Jade eine Menge Überwindung, da das morgendliche Aufstehen überhaupt nicht ihr Ding war. Deshalb hatte sie sich eigens  diesen unerträglichen Wecker zugelegt. Sie hatte an diesem Morgen etwas Wichtiges zu erledigen und musste rechtzeitig aus den Federn kommen.

Was, verdammt noch mal, war wichtiger, als ausgiebig zu schlafen?, fragte sie sich ganz gerädert auf dem Weg ins Bad.

Es war einfach zu früh am Morgen, um sich im Spiegel zu betrachten. Gott sei Dank sah sie bei dem wenigen Licht nicht alles, was sie vielleicht hätte stören können. Aber für eine schnelle Dusche reichte die Beleuchtung völlig.

Ein schriller Schrei entfuhr ihrer Kehle, und spätestens nun war Jade vollkommen wach.

»Ma«, schrie sie fast hysterisch »Ma, verdammt noch mal, was hast du getan?«

Aber ihre Mom kam nicht. Warum auch? Denn da war ohnehin nichts mehr zu retten. Jades neuer Wecker schwamm in der Toilettenschüssel und war nach nur einem Tag komplett ruiniert.

Wütend rannte Jade in ihr Zimmer und schlüpfte in die Jeans, die sie auf dem Schreibtischstuhl fand. Kurz überlegte sie, wie die am Abend zuvor dorthin gelangt sein mochte. Dann spürte sie den flüchtigen Kuss, den Sam ihr zum Abschied auf die Stirn gegeben hatte. Um das Gefühl noch ein wenig festzuhalten, erinnerte sie sich kurz an diese Zärtlichkeit. Sie mochte Sam, und sie mochte seine Küsse. Dann fiel ihr der Wecker wieder ein, und sie rannte, wobei sie sich das T-Shirt über die nassen Haare streifte, nach unten in die Küche.

Keiner da. Na super! Mom war wohl schon zur Arbeit gegangen. Warum musste sie ihre Wut über Jades Wecker so austoben, wenn alle schon aus den Betten und unterwegs waren?

»Jadie, Schätzchen. Guten Morgen. Bist du in Eile?«

Klar, Granny, war noch da. Daran musste sie sich erst noch gewöhnen, dass ihre Großmutter seit wenigen Wochen die Dachwohnung in ihrem Elternhaus bewohnte.

Früher war Granny immer nur für ein paar Wochen zu Besuch geblieben. Doch dieses Mal sollte es für länger, wenn nicht für immer sein.

»Älter werden ist nichts für Feiglinge«, hatte sie beim Umbau des Dachgeschosses in eine separate Wohnung einmal zu Jade gesagt. Sie erinnerte sich genau an diese Worte, deren Sinn sich ihr aber nicht so  ganz erschlossen hatte. Jedenfalls nicht im Zusammenhang mit Granny. Sie war erst Anfang siebzig und bei bester Gesundheit. Solch ein Satz aus dem Mund einer jung gebliebenen Rentnerin hörte sich irgendwie verkehrt an.

»Morgen, Granny. Entschuldige, falls dich mein Wecker unsanft aus den Träumen gerissen hat. Aber sei unbesorgt, deine Tochter hat das Problem auf eine ganz spezielle Art gelöst.«

Zeitgleich drückte Jade auf den Knopf des Kaffeeautomaten. Ein Latte macchiato musste her und dafür sorgen, dass sie wieder klar denken konnte.

»Das macht nichts. Du weißt doch, als Lieblingsenkeltochter hast du mehr Freiheiten als alle anderen.«

Coole Ansage, dachte Jade. Aber das war auch keine Kunst, da sie das einzige Enkelkind war.

»Hör mal, ich wollte schon seit Längerem mal mit dir reden. Hast du zufällig Zeit für mich? Es sind doch Semesterferien, oder? Es wäre ausnahmsweise wichtig …«

Exakt in diesem Moment wirkte der erste Schluck des Koffeins. Jade fiel siedend heiß ein, dass sie heute ein wichtiges Vorstellungsgespräch in der Stadt hatte.

»Wie spät ist es?«

»Zehn vor neun. Warum?«

»So ein Mist! Sag, dass das nicht stimmt. Ich muss noch nach Du blin. Wie um alles in der Welt soll ich das nur schaffen?«

Jade stürzte hektisch aus der Küche, sodass ihr der Latte macchiato aus dem Glas schwappte. Das konnte doch nicht wahr sein. Immer wenn man sich ein solches Getränk wirklich heiß wünschte, gab’s nur eine lauwarme Brühe.

Dieser Latte macchiato war aber echt heiß. Genervt ging Jade zum Esszimmertisch, stellte das Glas ab und leckte die Reste des Kaffee-Milch-Gemischs von der schmerzenden Hand ab.

Dann rannte sie nach oben, wobei sie mehrere Stufen auf einmal nahm. Im Badezimmer widmete sie sich ihren Haaren, um die roten Locken so schnell wie möglich zu bändigen.

Immer wieder musste sie feststellen, dass Kämmen nahezu zwecklos war. Deshalb machte sie sich einen lockeren Zopf und entschied, dass die einzelnen Strähnen in ihrem Gesicht genau dorthin gehörten.

Nach weiteren vier Minuten kam sie geschminkt und in einem beigefarbenen Kostüm zurück in die Küche. Die farblich passenden Pumps trug sie in der rechten Hand. Mit einem entschuldigenden Blick schaute sie in Richtung Granny. Doch die war so sehr in die Zeitung vertieft, dass sie noch nicht einmal auf Jades Räuspern reagierte.

»Granny!«

Nichts.

Etwas lauter: »Granny …«

Wieder nichts. Das war doch nicht möglich, dass Granny sie nicht hörte. Oder war das der wahre Grund, warum Granny in den Schoß der Familie zurückgekehrt war? Wegen Schwerhörigkeit?

Egal, darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Granny musste sie nach Dublin fahren, da die Zeit so furchtbar knapp war. Auf den Bus wollte Jade auf keinen Fall warten.

Da Granny keine Reaktion zeigte, zog ihr Jade mit einem Ruck die Zeitung weg.

»Jade, was soll das?«, empörte sich ihre Großmutter.

»Sorry, aber ich hatte dich mehrmals angesprochen, ohne dass du mir geantwortet hättest. Kannst du mich bitte nach Dublin fahren? Schnell, bitte!« Jade musste jetzt sofort von der Halbinsel Howth in die Hauptstadt kommen.

»Das würde ich auf der Stelle gern machen. Deine Mom hat heute jedoch irgendein wichtiges Meeting. Und da ihr Wagen in der Werkstatt ist, hat sie sich mein Auto …«

Mehr brauchte Jade nicht zu wissen. Flink hatte sie sich, auf einem Bein humpelnd, die Pumps angezogen, und schon flog die Haustür hinter ihr ins Schloss.

An der Haltestelle studierte Jade gerade den Fahrplan, als ganz unerwartet ein Bus hielt. Das war mehr Glück, als sie sich zu erträumen erhofft hatte.

Leicht erschöpft stieg Jade die Stufen ins Businnere, setzte sich auf einen der freien Plätze und zog ihr Handy aus der Tasche. Sie versuchte sich auszumalen, mit welcher Verspätung sie zu rechnen hatte und welche Ausrede sie sich dafür zur Entschuldigung einfallen musste. Der Bus würde bestimmt länger brauchen als die Bahn. Daran hatte Jade jedoch erst gedacht, als sie bereits im Bus war.

Sie brauchte den Job. Das Studium war teuer, und ihre Eltern hatten sich in den Kopf gesetzt, sie sollte endlich erwachsen werden. Mit  allem, was dazugehörte. Als wenn sie das nicht schon wäre!

Als Kellnerin in einem Dubliner Pub zu arbeiten war nicht gerade das, was sich ihre Eltern für sie vorgestellt hatten. Das wusste Jade. Aus diesem Grund hatte sie auch noch nicht mit ihnen darüber gesprochen.

Zum Erwachsensein gehörte schließlich auch, so fand sie, eigene Entscheidungen zu treffen. Oder wurde sie von ihren Eltern gefragt, ob sie Lust hatte umzuziehen, weil ihr Dad eine neue Stelle in einem anderen Betrieb bekommen hatte? Weg von ihren Freundinnen, weg von Grannys tollem Haus, weg vom alten Familienbesitz?

Natürlich hatte man sie zu keinem Zeitpunkt um ihre Meinung gefragt. Also würde auch sie wie eine Erwachsene handeln. Zumindest nach der Definition ihrer Eltern.

Du weißt doch, Kilian, wie sehr man bei einem Einzelkind dazu neigt, es zu verwöhnen, hörte Jade ihre Mom sagen. Auch wenn wir das Geld locker aufbringen könnten, soll sie trotzdem lernen, dass man dafür arbeiten muss.

Alles klar, Mom. Das werde ich. Mal sehen, was du davon hältst.

Der Busfahrer musste einen unfreiwilligen Stopp einlegen, da Schafe über die Fahrbahn getrieben wurden. Perfekt! Schon hatte Jade einen Grund, um dem Inhaber der Temple Bar ihre Verspätung erklären zu können. So war es eben in Irland: Jeder Einwohner dieser wunderschönen Insel war mit der Natur verbunden und hatte Verständnis für Tiere.

Jade versuchte aus dem Fenster zu schauen. Doch die Sonnenspiegelung führte dazu, dass sie sich selbst in der Scheibe sah.

Ihre Locken hatten sich schon wieder selbstständig gemacht. Doch das war es nicht, was ihre Aufmerksamkeit erregte. Es waren ihre grünen Augen, die sie plötzlich mit einem sonderbaren Blick zu fixieren, ja, zu durchdringen schienen. Sie konnte sich kaum davon losreißen. Sie schaute in ihre großen Augen, und doch hatte sie das Gefühl, in eine fremde Seele zu blicken. So tief und so unergründlich. Es war fast unheimlich. Erschrocken sah Jade zur Seite.

Zum ersten Mal in ihrem Leben verspürte sie den enormen Drang, vor sich selbst davonzulaufen. Einfach zu fliehen und alles von sich zurücklassen. In diesem einen kurzen Moment fühlte sie sich ganz anders als sonst oder als bisher.

In der Temple Bar hatte Jade dieses eigenartige Gefühl längst wieder vergessen. Der Inhaber, dessen Name Jade entfallen war, war sehr angetan von ihr und wollte sie am liebsten sofort einweisen.

Sie meinte jedoch, in dieser Woche noch einiges für das kommende Semester erledigen zu müssen. Wenn es ihm aber recht sei, könne sie ab Samstag bei ihm anfangen.

Beschwingt spazierte Jade die Temple Lane entlang. Sie hatte kein bestimmtes Ziel, sondern liebte einfach die vielen Brücken in Dublin. Allmählich begannen ihre Füße in den Pumps zu schmerzen. Sie hatte sich vom Puls der Stadt und dem herrlichen Sonnenschein unbeschwert treiben lassen.

Als sie unerwartet vor einem Café stand, kam ihr das gerade gelegen. Sie bestellte sich zur Feier des Tages und auf ihren ersten Job einen Latte macchiato. Der Kaffee war ein Genuss und schmeckte herrlich. So liebte sie ihn: heiß, mit einer leckeren Blume aus Milchschaum und dem dezenten Geschmack von Kakao, der die aufgeschlagene Milch schmückte.

Das Café war voll besetzt. So kam es, dass ein junger Mann sie ansprach und fragte: »Hey, viel los hier. Kann ich mich zu dir an den Tisch setzen? Auf Dauer ist der Macchiato zu heiß.« Erst da bemerkte Jade, dass er das Glas abwechselnd in einer Hand hielt. »Ja, klar.«

Irgendwie kam er ihr sein Gesicht bekannt vor. Doch angesichts der Tatsache, dass es am Trinity College so viele Studenten gab, hielt Jade jedes weitere Nachdenken für überflüssig.

Ihre Füße waren vom vielen Laufen geschwollen. Heimlich streifte sie sich unter dem Tisch die Pumps ab. Puh, das war eine richtige Wohltat, die sie mit einem Seufzer quittierte. Der war ihr unbewusst rausgerutscht, was sie jedoch erst an der Reaktion des jungen Mannes bemerkte. Er lächelte sie an. »Ich bin von diesem herrlichen Tag auch ganz begeistert. Immerhin hat es heute nicht ein einziges Mal ge regnet.«

Achtung, Alarmstufe Gelb: Er fing an, mit ihr übers Wetter zu plaudern. Wenn das nicht mal einen Einstieg bedeutete …

Jade war mit einem Schlag die Lust auf Konversation vergangen. Sie wollte mit ihren Gedanken allein sein und hatte keinen Bock auf Small Talk. Geschweige denn auf Dinge, die ihr Leben noch komplizierter machten, als es ohnehin schon war.

Seit drei Jahren war sie mit Sam liiert. Dann aber auch wieder nicht. Im Grunde war sie schon mit ihm zusammen. Ihre Beziehung ließ sich am ehesten mit »kompliziert« umschreiben.

Daher wollte sie einfach nur in Ruhe ihren Kaffee trinken. Ohne weitere Verwicklungen.

Da Jade nichts erwidert hatte, ging ihr Tischnachbar in die nächste Runde und fragte sie: »Welch ein Zufall. Kann es sein, dass wir uns im Bus begegnet sind? Solch wunderschöne Augen vergisst man nicht.«

Alarmstufe Rot! Er machte sie nicht nur an, sondern besaß auch noch die Frechheit, sie auf ihre Augen anzusprechen. Hatte er im Bus etwa mitbekommen, was in ihr vorging? Hatte er vielleicht ihren inneren Kampf beobachtet, bei dem sie mit sich gerungen hatte, ob sie aufspringen und die Flucht vor sich selbst ergreifen sollte?

Plötzlich bekam sie keine Luft mehr. Alles war ihr zu eng. Mit zittrigen Händen öffnete sie den obersten Knopf ihrer weißen Bluse.

Ihre Augen waren ihm aufgefallen. Sie ahnte plötzlich, dass damit etwas nicht stimmte.

O mein Gott! Und dann fummelte sie vor diesem fremden Kerl, der sie gerade angemacht hatte, auch noch an ihren Knöpfen herum. Wenn das keine Einladung war?

Hektisch suchte sie mit den Füßen nach den Pumps. Nachdem sie sie endlich gefunden und die geschwollenen Füße hineingezwängt hatte, erhob sie sich abrupt von ihrem Platz, ohne dass sie das gewollt hätte. Von einem Urinstinkt getrieben, verließ sie das Café.

»Sorry, ich wollte dir nicht zu nahe treten. Ich bin Mat …«, war das Letzte, was Jade noch hörte, bevor sie in den Regen trat.

Von wegen herrlicher Tag!

Obwohl der Regen unaufhörlich auf ihren Kopf trommelte, störte sie das komischerweise überhaupt nicht. Es waren große, warme Tropfen, die Dublins Straßen innerhalb von Minuten in eine kleine Seenlandschaft verwandelten.

Jade zog die durchweichten Pumps sowie die Strumpfhose aus. Das wollte sie schon immer mal machen, als sie noch kleiner war. Nie hatte sie sich getraut barfuß durch die verregnete Stadt zu laufen. Doch sie war erwachsen und stand auf eigenen Beinen. Bald auch in finanzieller Hinsicht.

All das löste in Jade einen Euphorie-Schub aus, der ihr unbekannt war. Sie lief zum St. Stephen’s Green, unweit des Cafés, und konnte es kaum erwarten, sich um die eigene Achse zu drehen. Das Gesicht nach oben, dem Regen entgegen gewandt und die Arme weit von sich gestreckt, verlor sie einen Schuh, um den sie sich später kümmern wollte. Nicht jetzt! Sie wollte leben und dieses Gefühl so intensiv wie nie zuvor spüren.

Das erste Mal in ihrem Leben war Jade unvernünftig, und es fühlte sich, verdammt noch mal, gut an.

Zwei

Triefend vor Nässe kam Jade zu Hause an. Als ihr auf mehrmalige Nachfrage im Erdgeschoss niemand antwortete, ging sie in ihr Zimmer im ersten Stock.

Die heiße Dusche war eine Wohltat und belebte ihre Geister. Danach wollte sie noch etwas Warmes zu sich nehmen. Aller guten Dinge sind drei?

Sie war nicht abergläubisch, auch wenn das beinahe unmöglich schien, wo sie doch mit Granny unter einem Dach lebte. Nachdem sie an diesem Tag mit zwei Latte macchiato kein Glück gehabt hatte, wollte sie es jetzt trotzdem lieber mit einem Cappuccino versuchen.

Der erste Schluck kam einem Feuerwerk an Wohltat gleich. Da rüber hinaus wärmte er auch ihre Seele, die sich nach dieser verrückten Aktion im Park sonderbar frei fühlte.

Jade setzte sich an den alten Bauerntisch in der Küche, zog den weißen Frotteemantel enger um sich und bedeckte damit ihr nacktes Bein, als sie dieses über das andere schlug.

Dann zog sie die Zeitung zu sich heran, in der ein Artikel fehlte.  Jemand hatte sich nicht die Mühe gemacht, diesen sorgfältig auszuschneiden, sondern ihn unachtsam herausgerissen.

Sofort musste Jade an Granny denken. Außer ihr war seit dem frühen Morgen niemand sonst im Haus gewesen. Oder?

Neugierig geworden ließ Jade den Blick über die Seite schweifen. In der Rubrik Partnergesuche fehlte ein Stück Zeitung. So, so, Granny, dachte Jade bei sich. Doch eine Notiz über dem fehlenden Artikel machte Jade stutzig.

Sie hörte Schritte. Dad tauchte in der Küche auf. Na, so etwas.

»Sag mal, Jadie, hast du Grandma Abby heute schon gesehen?«

»Granny? Ja, heute morgen. Warum?«

Möglichst unauffällig zog Jade den Artikel mit der Notiz in Grannys Handschrift zu sich herüber, legte den Ellbogen darauf und wartete auf eine Antwort ihres Dads.

»Ach, nur so. Ich muss auch noch mal los. Hatte meinen Artikel für die heutige Sitzung oben im Büro vergessen.«

Da Jade ebenso gut wie ihr Vater wusste, dass das nur eine fadenscheinige Ausrede war, wandte er sich zum Gehen.

Um etwas Klarheit in ihre Gedanken zu bekommen, sagte Jade noch: »Hm, sagtest du nicht gestern noch zu Ma, wie froh du doch wärst, diesen Monat keine Sitzung mehr zu haben?«

Jade erhielt darauf keine Antwort, denn ihr Vater hatte die Küche bereits verlassen. Sollte er ihre Frage noch gehört haben, und davon ging sie aus, stellte er sich mal wieder verdammt stur an.

Sie hörte die alte, schwere Holztür ins Schloss fallen. Ihr Handy meldete sich, und auf dem Display erschien die Nachricht:

Sam loves and calls you <3

»Hi, Sam.«

»Hey, Babe. Na, wie ist es in der Stadt gelaufen? Oder willst du mir etwa erzählen, du hättest verschlafen und lümmelst deshalb in deinem Bademantel am Küchentisch herum?«

»Auf deine erste Frage kann ich sagen: Danke, alles bestens gelaufen. Zu deiner Vermutung: Nein, ich habe heute Morgen nicht verschlafen. Zumindest nicht nennenswert. Und drittens lümmele ich weder am Küchentisch herum, noch habe ich einen Bademantel an.«

Ihr Blick wanderte zur großen Terrassentür in ihrem Rücken. Sam stand da und drückte sich die Nase an der Scheibe platt, sodass Jade bei seinem Anblick unweigerlich an einen kleinen Jungen denken musste.

»Dann erst einmal herzlichen Glückwunsch! Zweitens könnte ich eine gewisse Erfahrung erwähnen, die darin bestand, dass ich dich heute Morgen unglaublich vermisste, als ich allein in meinem Bett aufwachte. Und drittens: Und wie du lümmelst. So sehr, dass dich deine Granny wegen eines krummen Rückens tadeln würde.«

Granny …

Gedankenverloren las Jade noch einmal die Notiz auf der Zeitung.

»Sam, komm rein. Ich muss mir nur schnell etwas überziehen. Was hältst du von einem kleinen Picknick? Das haben wir schon ewig nicht mehr gemacht.«

Jade beendete das Telefonat und wartete an der geöffneten Haustür auf Sam. Ein flüchtiger Kuss zur Begrüßung und schon hatte sie ihn ins Wohnzimmer geschoben.

Sam setzte sich auf das cremefarbene Sofa in der Zimmermitte und nahm sich die Fernbedienung des Fernsehers vom Couchtisch.

Nachdem sie sich eiligst etwas übergezogen hatte, fuhr sie ihren Rechner hoch und strich den Artikel glatt. Der hatte in der Bademanteltasche ein wenig gelitten und war zerknittert. Mit zitterigen Händen gab sie bei Google-Maps die Adresse ein, die Granny unter anderem über den ausgerissenen Artikel notiert hatte.

Komisch, sie bekam keine Treffermeldung, sondern nur Alterna tiven.

Sie löschte hektisch den Eintrag und gab die Adresse noch einmal neu ein. Wieder nichts. Wahrscheinlich mal wieder ein Fehler des Systems, redete sie sich beruhigend ein.

Dann sollte eben Sams Navi sie zur angegeben Adresse führen.

Auf dem Weg ins Wohnzimmer kam sie am Wandspiegel im Flur vorbei. Große, grüne Augen starrten ihr entgegen. Aus Angst vor einer weiteren sonderbaren Reaktion ihres Körpers beendete sie den eigenen Blickkontakt.

Sie setzte sich neben Sam auf das Dreiersofa. Doch er nahm von  ihrer Anwesenheit kaum Notiz. Ohne sie anzusehen legte er wie  abwesend den Arm um ihre Schulter. In der Zwischenzeit hatte er den  Fernseher eingeschaltet und verfolgte aufmerksam das laufende Rugbyspiel. Umso besser. So konnte Jade unbehelligt ihren Gedanken nachhängen.

Das Spiel schien spannend zu sein. Doch Jade hörte nicht auf die Worte des Kommentators. Stattdessen griff jemand nach ihrem Verstand und beschäftigte ihn. So sehr, dass sie nicht anders konnte, als diesem Drang nachzugeben. Es war gerade so, als würde sie sich nichts sehnlicher wünschen, als loszulassen und alle Kontrolle über ihren Körper aus der Hand zu geben.

Unglaublich sanft schlummerte sie ein und träumte das erste Mal von ihm.

Er lehnte an einer Wand aus rotem Backstein, die Hände in den Hosentaschen, und sah zu ihr herüber. Leicht musste er sich nach ihr umdrehen, da sie in einer Gruppe junger Leute war.

Als sich ihre Augen trafen, war es ihr, als würde sie einen Stromstoß nach dem anderen durch den Körper gejagt bekommen.

Sie musste den Blickkontakt beenden, sich aus dessen Bann befreien.

Doch zur gleichen Zeit war es so unglaublich schön.

»Jade, Babe, wach auf. Du wolltest doch los.«

Sie wollte überhaupt nicht aufwachen. Doch es war zu spät. Die Realität dieser Kompliziert-Beziehung rüttelte bereits wie eine eiskalte Faust an ihr und zerrte ihre Gedanken zurück in die Gegenwart.

»Sorry, muss wohl eingeschlafen sein.«

»Ja, bist du. Macht ja nichts. Ich sollte so allmählich aufbrechen. Der Job ruft nach mir.«

Mit schlechtem Gewissen verabschiedete Jade sich von ihrem Freund. Seine Frage, ob sie in seiner Wohnung in der Innenstadt in ein paar Stunden auf ihn warten wolle, verneinte sie und meinte, sich bei dem Regen in Dublin wahrscheinlich etwas eingefangen zu haben.

Daran glaubte sie mittlerweile selbst, denn anders war ihr Traum nicht zu erklären. Sie vermutete dahinter einen Fieberwahn.

Nachdem Sam gegangen war, fasste Jade sich an die Stirn. Doch die war angenehm kühl. Was auch immer all das zu bedeuten hatte, es würde sich klären.

Bei diesen Gedanken lief Jade die Stufen hinauf zu Grannys Wohnung im dritten Stock. Sie klingelte und klopfte mehrmals, doch niemand reagierte. Plötzlich begann Jades Herz in ihrer Brust wie ein Vorschlaghammer zu klopfen.

Langsam drehte sie den Schlüssel im Schloss herum, öffnete die Tür und betrat die Wohnung ihrer Großmutter.

Warum nur reagierte ihr Körper heute so anders als sonst?

Alle drei Zimmer waren ordentlich aufgeräumt und verlassen. Typisch Granny eben.

Auf dem Nachttisch neben ihrem Bett sah Jade ein altes Büchlein. Es war nicht groß, wahrscheinlich DIN-A5, und es machte einen ziemlich abgegriffenen Eindruck. Zu abgegriffen nach Jades Geschmack, wenn sie an Grannys sonstigen Ordnungsfimmel dachte.

Wie von einem Magneten wurde sie von diesem Büchlein angezogen. Jade lief ums Bett herum. Dabei musste sie den Kopf leicht einziehen, um nicht gegen die Dachschräge zu stoßen.

Einen Meter vor dem Nachttisch, bevor sie das Buch in die Hand nehmen konnte, versteifte sie sich. Was war jetzt schon wieder mit ihr los? Sonst betrat sie auch nicht so unsensibel das Schlafzimmer anderer Leute und respektierte deren Intimsphäre.

Jade erschrak über sich selbst. Auf der Stelle verließ sie Grannys Wohnung, schnappte sich eine Lektüre, die sie noch vor Beginn des nächsten Semesters gelesen haben wollte, und verkroch sich damit unter ihrer warmen Bettdecke.

Schon bei der Einleitung musste sie den Text immer wieder von vorn lesen. Nichts, aber auch gar nichts erreichte ihren Kopf. Nur ihre grünen Augen glitten über die Buchstaben, ohne den Inhalt der Worte oder Sätze aufzunehmen.

Daran war dieser junge Mann aus ihrem Traum schuld, der jede Zelle ihres Gehirns für sich beanspruchte. Jade war sich sicher, ihm noch nie begegnet zu sein. Doch gleichzeitig kam er ihr unglaublich vertraut vor.

Langsam legte Jade das aufgeschlagene Buch mit dem Rücken nach oben auf Höhe ihres Bauchnabels ab, um beide Hände frei zu haben. Mit den Fingern glitt sie über die Stirn, rieb diese ein wenig, wanderte dann nach unten zu den Augen.

Waren sie es, die sie an dem Fremden so sehr in ihren Bann zogen? Konnte sie aus solch großer Entfernung sagen, dass all die Anziehung, die sie körperlich zu spüren glaubte, von seinen Augen ausging? Im Traum lehnte er, weit von ihr entfernt, an einer Hauswand. Dennoch wusste sie, er hatte nur Augen für sie. Egal, wie viel Raum zwischen  ihnen lag, Jade hatte seine Anwesenheit körperlich gespürt.

All das klang recht kitschig, wie sie fand. Aber es entsprach der Wahrheit.

Sie konnte immer noch diese verdrängte Empfindung hervorholen, von der sie im Traum wie von einer wohltuenden Brise bei unglaub licher Hitze gestreichelt worden war. Diese Hitze herrschte in ihrem Inneren.

Schön war dieser junge Mann mit seinen dunklen, leicht gewellten Haaren. Normalerweise nicht das erste Adjektiv, das Jade beim Anblick eines Mannes einfiel. Je mehr sie dieses Wort aber durch ein anderes zu ersetzen versuchte, umso passender kam es ihr vor.

Er war so schön, dass es kaum wahr sein konnte.

Mühelos erinnerte sie sich an viele kleine Details. Dabei strich er sich gerade eine Strähne seines fast schwarzen Haares aus der Stirn.

Allein diese Vorstellung reichte, um in Jades Innerem ein kleines,  loderndes Feuer zu einem Waldbrand zu entfachen.

Jetzt reichte es aber mit der Träumerei! Mit einem Satz war sie aus dem Bett und auf den Beinen. Mit lautem Knall flog das Buch auf den Holzboden. Doch Jade kümmerte sich nicht weiter um diese Art der Ablenkung, die bei ihr heute offensichtlich keine Wirkung zeigte.

Dann würde sie lieber zu Sam nach Dublin gehen, um auf ihn zu warten. Er hatte in den Semesterferien immer einen Job bei Tesco, wo er Regale auffüllte und ähnliche Dinge machte.

Unschlüssig lief Jade durchs Haus und landete schließlich im Wohnzimmer. Genervt stellte sie fest, dass sie immer noch allein war. Somit würde es ihr an diesem Abend kaum gelingen, von dieser Halbinsel Howth, im Osten von Dublin gelegen, wegzukommen. Nur mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, aber Jade hatte an diesem Abend nicht die geringste Lust, die zehn Meilen damit zurückzulegen.

Da ihre Eltern alles daran setzten, ihr einziges Kind nicht zu verwöhnen, hatte Jade jetzt auch keine Möglichkeit, mit dem eigenen Auto nach Dublin zu fahren. Es war zum Haareraufen! Alles hatte vor etlichen Jahren damit begonnen, dass Grace, eine gute Freundin von Mom, dieser einmal gesagt hatte: »Pass nur auf, Aimee O’Reilly, wenn das so weitergeht, dann tanzt dir deine kleine Tochter binnen kurzer Zeit auf dem Kopf herum.«

Diesen Spruch musste sie sich in der Folge bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit anhören. Und das, obwohl Jade damals erst zwei Jahre alt war. Sie hatte heftig geweint, weil sie kein Eis bekam, das sie sich so sehr wünschte.

Nur wegen dieses blöden Eises sitze ich mit 21 immer noch ohne Auto in dieser Einöde fest. Ihr habt ja so was von recht. Es ist wirklich an der Zeit, dass ich so schnell wie möglich mein eigenes Geld verdiene. Ab Samstag wird alles anders! Und kommt mir nicht damit, dass ihr nicht wollt, dass ich abends diesen Job bei Tesco mache. Mal sehen, was ihr dazu sagt, dass ich in einer Bar kellnere.

»Hallo, Jade, du bist ja zu Hause. Wie schön! Aber sag mal, Schätzchen, mit wem redest du da?«

Jade hatte gar nicht bemerkt, dass sie in ihrer Rage laut vor sich hin gesprochen hatte.

»Ma! Gut, dass du da bist. Kann ich den Wagen haben?«

»Sicher. Aber meiner ist in der Werkstatt.«

Richtig. Ihre Mom war heute mit Grannys Wagen unterwegs ge wesen.

»Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass Granny heute Abend noch wegfahren möchte. Wie du weißt, ist sie abends am liebsten zu Hause.«

Genau das war heute das Erstaunliche. Granny war in der Zwischenzeit noch nicht wieder nach Hause gekommen. Doch hätte sie das ihrer Tochter erzählt, wäre sich Jade seltsam schlecht vorgekommen. Es war Grannys gutes Recht, die Abende so zu verbringen, wie sie wollte. Wahrscheinlich war das sogar gut so. Denn Jade hatte noch nie einen Mann an Grannys Seite gesehen.

Mom sei zwar nicht geplant, dafür aber überaus gewollt gewesen, hatte Granny erzählt, als sie von der Schwangerschaft erfuhr. Zum Thema Kindsvater hatte sie nur gesagt, er sei nicht ganz der gewesen, den sie gesucht habe.

»Ein toller Kerl, aber das Beste, was er mir geben konnte, bist du, mein Schatz. Zu mehr waren wir nicht bestimmt.« Diese Worte hatte Granny häufig wiederholt und dabei ihre Tochter mit einem Zauber in den Augen angelächelt.

Eines musste man Granny lassen: Sie wusste schon immer sehr genau, was sie wollte. Vielleicht trifft sie endlich mal einen Mann, der zu ihr passte, dachte Jade. Besser spät als nie! Noch im gleichen Moment überkamen sie aber Zweifel. Irgendwie wollte sie nicht glauben, dass Granny ihr Glück über die Partnergesuche in der Zeitung finden würde.

»… so blass aus.«

»Wie bitte?«

»Ich fragte dich, ob du dich nicht wohl fühlst? Du siehst so blass aus, und selbst deine Sommersprossen sind kaum zu sehen.«

»Wahrscheinlich hast du recht, weil heute Morgen etwas Schreck liches geschehen ist. Leider konnte ich meinen neuen, fünfzig Euro teuren Wecker nicht mehr retten. Stell dir vor, er ist in der Kloschüssel jämmerlich ertrunken. Jemand muss ihn da hinein befördert haben, obwohl der Betreffende genau wusste, dass Wecker nicht schwimmen können. Aber mal im Ernst, Ma: Du weißt doch genauso gut wie ich, dass ich lautere Geschütze auffahren muss als den Sound meines Handys, um aufzuwachen. Und da ich weder Lust habe, den Wecker aus der Toilettenschüssel herauszufischen noch mein, sorry, euer Geld zum Fenster hinauszuwerfen, muss ich dich leider bitten, dich um beides zu kümmern und mir einen neuen Wecker zu besorgen. Ich wünsche dir eine gute Nacht!«

Jade ging jedoch nicht in ihr Zimmer, sondern suchte noch einmal Grannys Schlafzimmer auf. Die Wohnung lag immer noch verlassen da, und die letzten Sonnenstrahlen des Tages ließen wenige Staubkörnchen vor Jades Augen tanzen.

Sie öffnete das Fenster der Dachgaube. Es war ein herrlicher Abend – sicherlich einer von den selteneren in Irland. Jade sah nach Osten in Richtung Meer. Dunkle Wolken türmten sich auf zu einer Wand, die ihr die Energie des Mittags wieder in Erinnerung rief. Die tiefstehende Sonne im Westen war das andere Element, das Jade mit jeder Faser genoss.

Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen. Es war einer dieser erfüllten Momente, von denen es im Leben nur wenige gibt und die nur kurz andauern. Sie schloss vor Glück die Augen, doch es war nicht die übliche Dunkelheit, die sie vorfand. Vielmehr trugen die Sonnenstrahlen ein sanftes Orange in ihr Inneres. In sie mischte sich unvermittelt ein Gesicht. O nein, nicht schon wieder!, fuhr es Jade durch den Sinn.

Mit einem Ruck öffnete sie ihre Augen. Sie zwang sich dazu, länger als üblich und als es gut war, direkt in die Sonne zu schauen. Dieses Gesicht musste verschwinden, musste von ihrer Netzhaut gelöscht und aus ihrer Erinnerung getilgt werden. Am besten gleich ganz aus ihrem Leben verschwinden!

Tränen rannen Jade über die Wangen, und sie musste wegsehen, weil ihr die Augen schmerzten.

Immerhin hatten sich die grünen Augen danach in Luft aufgelöst, auch wenn Jade fast überhaupt nichts mehr sehen konnte.

Sie kniff die Augen zusammen. Helle Blitze und wild gewordene Sterne funkelten hinter ihren Augenlidern. Eigentlich müsste sie sich jetzt schlecht fühlen. Das sagte ihr zumindest der Verstand. Denn weder war sie am richtigen Ort noch Single, noch im richtigen Alter, um von einem fremden Mann zu träumen, der zu allem Überfluss auch noch bildschön war. Was war nur los mit ihr?

Klar, sie war romantisch. Wie jede andere junge Frau an ihrer Stelle auch. Weder zu viel noch zu wenig. Eine Durchschnittsromantikerin. Ja, das passte zu ihr. Vor zwei Jahren hatte sie das Leaving Certificate (Ardteist, wie die Iren es nennen, oder Abitur, wie es in Deutschland heißt) abgelegt. Momentan strebte sie einen Master of Science (MSc) in Banking and Finance an. Das hatte nicht viel mit Romantik zu tun.

Da ihr Alltag sehr Vernunft betont war, musste die romantische Seite an ihr vielleicht über das Land der Träume und Sehnsüchte abgedeckt werden?

Jade hörte den Schlüssel im Schloss. Dieses leise Schaben machte sie plötzlich nervös, und ein weiteres Mal fühlte sie sich wie ein Eindringling. Auf Zehenspitzen schlich sie in den Flur. Die Tür ging auf, und Granny stand vor ihr.

Drei

Jade war erleichtert, ihre Granny endlich wiederzusehen, und schloss sie vor Freude fest in die Arme.

»Schätzchen!«, begann Granny nach einer Weile. »Du wirkst heute so anders als sonst. Alles in Ordnung mit dir?«

Offenbar fiel es auch anderen Menschen schon auf, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Sie musste sich endlich ein wenig mehr zusammenreißen, um das zu verbergen, was sie innerlich bewegte.

»Ja. Ich meine Nein. Alles bestens. Um ehrlich zu sein, ich hatte mir Sorgen um dich gemacht. Das ist alles.«

Jade löste sich aus der Umarmung mit Granny und kramte den Artikel aus der Hosentasche hervor, den sie ihrer Großmutter kommentarlos unter die Nase hielt.

»Oh, so ist das also. Komm, ich mach uns eine Tasse Tee. Und wenn du etwas Zeit hast, würde ich dir gern etwas zeigen.«

Jade folgte Granny in die kleine, aber gemütlich eingerichtete Küche. Sie setzte sich auf einen der beiden weißen Stühle und sah ihrer Grandma zu, wie diese geschickt und mit wenigen Handgriffen einen herrlich duftenden, heiß dampfenden Tee zubereitete und eine Tasse damit vor ihr abstellte.

Dann verließ Granny die Küche, um kurz darauf mit einem kleinen Buch in der Hand wieder zu erscheinen.

Jade war sich sicher, dass es das kleine Büchlein vom Nachttisch war, das zuvor ihre Aufmerksamkeit so magisch in seinen Bann ge zogen hatte.

Die letzten Sonnenstrahlen waren erloschen. Anderswo würden sie jetzt andere Menschen wärmen. Jade war ein wenig neidisch darauf, dass diese magischen Momente in Orange gerade von anderen erlebt werden durften.

Auf der Insel herrschte inzwischen wieder Tristesse. Der Regen peitschte und trommelte gegen das Küchenfenster, als würde er mit  aller Macht um Einlass bitten. So sehr Jade ihre Heimat auch liebte, so wenig würde sie sich jemals an den vielen Regen hier gewöhnen.

Dann kehrte ihre Aufmerksamkeit in die Küche zurück, in der sie mit Granny war. Diese schob sich gerade einen Stuhl zurecht, auf dem sie Platz nahm.

»Da bin ich aber richtig froh, dass ich noch trockenen Fußes nach Hause gekommen bin. Wie schnell sich das Wetter hier auf der Insel binnen Sekunden ändern kann.«

Granny lächelte Jade an, und in ihrem Blick lag unglaublich viel Wärme. Und noch etwas konnte Jade in diesen grünen Augen ent decken, die den ihren so sehr ähnelten. Sie sah so etwas wie Weisheit darin.

»Schätzchen, schön, dich hier bei mir anzutreffen. Seit Langem schon suche ich den richtigen Zeitpunkt, um mit dir ein paar Dinge zu besprechen. Immer kam mir dabei in den Sinn, dass es gar keinen richtigen Zeitpunkt geben kann. Oder anders ausgedrückt, dass jeder Zeitpunkt der richtige ist. Es gibt keinen falschen. Ganz nach dem Motto: ›There is nothing wrong with somebody doing something!‹ Es ist nichts Falsches daran, wenn jemand etwas tut.«

Jade lächelte ihre Granny an. Gleichzeitig war sie in ihrem Inneren sehr gespannt darauf, was sie an diesem Abend noch zu hören bekommen sollte.

»O je, jetzt schweife ich schon wieder ab. Dann will ich versuchen, dir die Dinge direkt zu erzählen, ohne auf meine üblichen Sprüche und Lebensweisheiten zurückzugreifen. Einverstanden?«

Jade nickte zustimmend. Sie hatte einen fürchterlich trockenen Mund. Sachte blies sie über die Tasse, die sie mit der linken Hand hielt, und nahm vorsichtig einen kleinen Schluck. Der Tee wärmte sie herrlich und gab ihr zudem noch etwas Zeit, mit der Situation umzugehen.

Was war so dringend, das Granny ihr sagen wollte und wofür sie auch noch nach dem geeigneten Moment suchte?

Jade benötigte noch einen weiteren Augenblick, um sich auf die Situation einzustellen. Zu viel war an diesem Tag geschehen. Ihre Gedanken waren nur mühsam zu bändigen und in geordnete Bahnen zu lenken.

Granny hatte eine gute Antenne für andere Menschen und schien zu spüren, was in Jade vorging. Auch sie blies sachte über den Tee in der Tasse, allerdings mit dem kleinen, aber entscheidenden Unterschied, dass sie Jade dabei nicht aus den Augen ließ.

»Okay, Granny, was gibt es Wichtiges zu erzählen?«

»Gut, du hast wohl intuitiv gerade das richtige Wort gewählt. Denn es ist überaus wichtig, was ich dir zu sagen habe. Schließlich geht es um deine Zukunft wie auch um deine Vergangenheit. Die hängt in erster Linie mit meiner Vergangenheit zusammen. Es geht aber auch um deine Bestimmung.«

Sie nahm die zerknitterte Zeitungsnotiz in die Hand, strich das Papier zwischen ihren Fingern glatt und fuhr fort: »Diese Notiz hier ist wirklich wichtig. Hier laufen alle Fäden zusammen. Du bist sehr aufmerksam, Jade.«

Granny nannte sie nur sehr seltenen bei ihrem Vornamen. Fast immer benutzte sie einen Kosenamen oder ein Kosewort. Ihr wurde plötzlich der Ernst dessen bewusst, was Granny ihr erzählen wollte, dass sie sich am Tee verschluckte. Nach einem leichten Hüsteln versuchte Jade, sich möglichst schnell wieder zu beruhigen.

»Heute ist ein sehr wichtiger Tag …«

Das ist mir überhaupt nicht neu, schoss es Jade durch den Kopf.

»Jade, es kommt der Moment, in dem man spürt, dass ein neues Zeitalter beginnt. Das klingt ziemlich schwülstig, ich weiß. Aber es entspricht den Tatsachen. Hätte ich in jungen Jahren gewusst, was das Leben von mir erwartet, wüsste ich heute besser damit umzugehen. Nein, ich bin nicht unzufrieden mit meinem Leben, dass du mich nicht falsch verstehst. So ist es nicht. Aber mehr Wissen hätte mir in mancher Situation bestimmt viel geholfen.«

Jade nahm einen weiteren Schluck vom Tee. Sie hatte das Gefühl, Grannys Ausführungen nicht zu verstehen bzw. nicht richtig folgen zu können.

»Schon wieder dieses Abschweifen. Tut mir leid, Schätzchen. Ich sollte besser sachlich bleiben, damit du mich verstehst.«

Wieder nickte Jade nur. Der Blick beider Frauen richtete sich auf das kleine Büchlein, das zwischen ihnen auf dem Tisch lag.

»Ich muss wahrscheinlich weiter ausholen, damit du wichtige Details besser einordnen kannst. Vor langer Zeit hat ein bedeutender Mensch etwas sehr Entscheidendes für die Menschheit herausgefunden. Dieser Mann namens Rick O’Grady hatte eine … eine Fügung. Ja, das trifft es am besten. Aufgrund dieser Fügung begann er, sich intensiv mit gewissen menschlichen Eigenschaften zu beschäftigen. Im Lauf der Zeit stellte er fest, dass seine Erkenntnisse bestätigt wurden. Deshalb hat er sein Wissen schriftlich festgehalten und an Nachfolgende weitergegeben. Wichtiger noch war ihm aber eine Gruppe er lesener Menschen. Er selbst gründete diesen Kreis, wählte die Mitglieder aus und bezeichnete das Ganze als Zirkel.«

Jade verspürte den Drang, auf die Toilette zu gehen. Andererseits wollte sie Granny nicht unterbrechen, weil es zu spannend war, was sie  ihr erzählte. Unmerklich rutschte sie auf ihrem Stuhl ein wenig nach vorn. Das reichte aber schon, um Grannys Aufmerksamkeit zu er regen. Und es kam, was immer kam.

»Geh nur, ich werde mir merken, wo ich in der Erzählung gerade war.«

Jade ging kurz raus und hing nur wenige Minuten später wieder an Grannys Lippen.

»Erzähl weiter. Was ist?«

Granny starrte auf Jades Handy, das neben dem kleinen Buch auf dem Tisch lag. In dem Moment vibrierte es, und eine Nachricht erschien auf dem Display.

Das hatte sich vorhin anders angehört. Muss Schluss machen und arbeiten. Überleg dir das nächste Mal vorher, was du möchtest!

Jades Blick wanderte zu Granny, die jetzt einen Blickkontakt mit ihr  jedoch vermied.

»Das ist nicht dein Ernst? Sag, dass du das nicht getan hast! Granny, hast du Sam auf meinem Handy und in meinem Namen geantwortet?«

»Liebes, er ist nicht der, den du suchst.«

Jade hatte genug. Zu oft hatte sie genau die gleiche Diskussion schon mit Granny geführt, und sie brachte nichts.

Granny war immer der Meinung gewesen, dass Sam zwar ein netter Kerl sei, mehr aber auch nicht. Für ihre einzige Enkeltochter käme er überhaupt nicht infrage.

Und wenn schon, dachte sich Jade. Mit deinem Leben hat das nichts zu tun.

»Immerhin habe ich einen Mann, was du von dir nicht gerade behaupten kannst.«

Mit diesem Satz hatte Jade ihr Handy genommen und war gegangen.