Sehnsucht am Tegernsee - Hannah Lechner - E-Book

Sehnsucht am Tegernsee E-Book

Hannah Lechner

5,0

Beschreibung

Eine junge Frau zwischen Liebe und Loyalität. Eine berührende Liebesgeschichte aus dem Herzen Bayerns. Nach einer gescheiterten Beziehung verliebt sich Kira Wagner in Felix, der seit einem Unfall im Rollstuhl sitzt, und ihr Leben gerät in Turbulenzen. Zur selben Zeit erbt sie von ihrem Onkel ein Hotel am Tegernsee. Der sympathische Noah bietet ihr viel Geld für das Anwesen – Geld, mit dem Kira Felix eine wichtige Operation ermöglichen könnte. Doch ihr Onkel hat ihr zu Lebzeiten das Versprechen abgenommen, das Hotel niemals zu verkaufen. Kira muss eine folgenschwere Entscheidung treffen.

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Seitenzahl: 526

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Hannah Lechner, 1965 in Bayreuth geboren, arbeitet seit 2008 als Autorin. Sie schreibt Krimis, Thriller, erotische Bücher, Kurzgeschichten und Heftromane, teilweise unter Pseudonym. Hannah Lechner hat zwei erwachsene Töchter.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, unter Verwendung der Bildmotive mauritius images/Benedikt Kohl/Alamy/Alamy Stock Photos, shutterstock.com/Vanessa Grummet

Lektorat: Dr. Marion Heister

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-042-6

Roman

Originalausgabe

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1

Georg Sollinger duckte sich unter der niedrigen Tür seines Hauses hindurch ins Freie. Rudi, sein fünfjähriger Golden Retriever, quetschte sich an ihm vorbei.

Für einen Augenblick blieb Sollinger stehen, richtete seinen Rücken wieder gerade und streckte die Arme seitlich von sich, um sich zu dehnen, ehe er mit bedächtigen, schweren Schritten zu der Baumstammbank ging, die links neben der Tür in der Morgensonne stand. Rudi hatte sich bereits bäuchlings daneben niedergelassen und schmatzte behaglich.

Der Sommermorgen war warm, bestimmt hatte es schon an die zwanzig Grad, trotz der frühen Stunde. Sollinger warf einen Blick auf das schlichte Außenthermometer aus dunklem Gusseisen, das nahe der Haustür im Schatten hing, im Moment noch vor der Sonne geschützt von dem vorgezogenen Dach des Gebäudes. Zufrieden nickte er. Einundzwanzig Grad zeigte die Quecksilbersäule.

Behäbig nahm Sollinger auf der sonnengewärmten Sitzfläche Platz. Er legte seine Pfeife und das Beutelchen mit dem Tabak neben sich, ließ seinen Blick über die herrliche Landschaft schweifen und bemühte sich gleichzeitig, das stattliche Anwesen schräg gegenüber zu ignorieren – ein längst verlassener Ort, zu dem von seinem Wohnhaus aus ein Feldweg führte.

Sollinger konzentrierte sich auf die Schönheit der Landschaft.

Hinter weitläufigen sattgrünen Wiesen erstreckte sich die Kette der Tegernseer Berge. Direkt vor ihm, in etwa dreihundert Metern Entfernung, lag der Wallberg, breit, behäbig und dicht bewaldet. War der Tag so klar wie heute, konnte er von seiner Bank aus das Gipfelkreuz sehen und auch die kleine Kapelle rechts davon, die circa hundert Meter tiefer lag. Winzig nahm sich beides aus, auf die Entfernung und Höhe gesehen. Doch Sollingers Augen waren scharf, ihnen hatten die dreiundachtzig Jahre nichts anhaben können, die er mittlerweile zählte.

Etliche Male war er dort oben gewesen, auf dem Berg, als kleiner Junge schon. Er mochte vier oder fünf Jahre alt gewesen sein, als ihn sein Vater, ein wortkarger Mann, das erste Mal auf eine Tour mitgenommen hatte. Hinein in den Wald, den stetig ansteigenden Weg nach oben. Wie entsetzlich langweilig war es für ihn gewesen. Doch Richard Sollinger hatte kein Gequengel und Gemaule geduldet. Sein Sohn musste mit, und das ohne Widerworte. Er wollte die Ruhe des Waldes genießen und die eher geringe Anforderung, die der Weg nach oben stellte. Und sicher wollte er auch seinen Erinnerungen nachhängen und die Trauer um seine viel zu früh verstorbene Frau verarbeiten, Georgs Mutter. Doch das hatte er damals noch nicht verstanden.

Oft war es anfangs nicht vorgekommen, dass der Vater sich ein paar Stunden Auszeit von der Arbeit im Hotel gegönnt und die Gäste ganz den Angestellten überlassen hatte. Bis Georg ins Teenageralter gekommen war, hatte er eigenartigerweise die stummen Touren mit seinem Vater lieb gewonnen, auch wenn er das nicht einmal sich selbst gegenüber zugegeben hätte. Es war auch nicht beim Wallberg geblieben. Der Vater hatte ihn mit auf den Hirschberg genommen, auf den Setzberg, auf den Risserkogel und auf den Leonhardstein. Bei diesem hatte er die letzte halbe Stunde als durchaus anspruchsvoll in Erinnerung, musste man doch durch eine steile, felsige Rinne, um zum Gipfel zu kommen. Es war so lange her.

Sollinger griff nach seinem Tabakbeutelchen und klappte es auf. Sorgsam ließ er eine Lade in den Pfeifenkopf fallen. Er sollte nicht rauchen. Dr. Schmeling mahnte es immer wieder an. Sollinger gab Tabak nach, drückte ihn behutsam fest und legte die Pfeife wieder neben sich auf die Bank.

Nun wandte er den Blick doch zu dem Anwesen schräg gegenüber. Dort stand, etwa hundert Meter entfernt und den stattlichen Wallberg im Rücken, das Hotel. Über zehn Jahre war es nun schon geschlossen, und der Anblick des ehemals florierenden Hauses, das langsam verfiel, schmerzte ihn jeden Tag.

Von den herrlichen Balkonen blätterte die Farbe, die kunstvoll gedrechselten Balustraden waren verblichen. Es musste alles abgeschliffen und neu gestrichen werden. Die Blumenkästen, einst üppig gefüllt mit leuchtend blühenden Geranien in roter und rosa Färbung, hingen nutzlos an den Geländern, als rechneten sie damit, entsorgt zu werden. Und auch das große geschwungene Schild über der Eingangstür, auf dem in verwitterter Schrift »Hotel Sollinger« geschrieben stand, musste restauriert werden. Noch immer war zu erkennen, wie sorgsam es einstmals gearbeitet worden war, mit dem feinen Goldrand und den nach ordentlicher Handschrift gestalteten Buchstaben in moosgrüner Farbe.

Sollinger musste husten. Er tastete nach seiner Pfeife. Mühsam nestelte er ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche. Seine Hand zitterte ein wenig, während er den Tabak entzündete. Er ignorierte das Stechen in seiner Brust. So schlimm war es heute gar nicht, er hatte das schon ganz anders erfahren. Trotzdem. Er musste seine Belange regeln, solange er noch fit genug war. Nein, er musste nicht. Er wollte seine Belange regeln. Umso mehr, weil Alfons Erlinger, dessen Kuhstall fünf Minuten entfernt von Sollingers Wohnhaus stand, schon eine Weile ein Auge auf das Hotelgrundstück geworfen hatte. Immer wieder suchte Erlinger das Gespräch mit ihm. Das alte Gebäude, das sei doch nur noch eine Last für ihn, meinte er. Ob er schon mal über einen Verkauf nachgedacht habe. Ganz sicher nicht.

Beim Gedanken an den geschäftstüchtigen Nachbarn zwickte der Ärger in Sollingers Bauch. Vielleicht war es auch der heute zu stark geratene Kaffee. Er wollte eben bedächtig einen Beruhigungszug aus seiner Pfeife nehmen, als über die schmale Straße, die links an seinem Grundstück entlangführte, ein glänzender dunkler Mercedes rollte. Die Scheiben waren getönt, er konnte nicht sehen, wer darinnen saß.

Der Wagen trug ein Münchner Kennzeichen. Das war nicht ungewöhnlich hier in der Gegend. München war ja nur geschätzte fünfzig Kilometer entfernt. Doch wer solch ein edles Fahrzeug fuhr, verirrte sich selten in diese beschauliche Ecke von Rottach-Egern.

Der Mercedes hielt am Straßenrand, und ein schlanker Mann stieg aus. Er betrachtete die Gegend, als müsse er sich orientieren. Sollinger behielt ihn im Auge. Er schien etwas zu suchen. Eine Adresse war es wohl kaum. Heutzutage hatte doch jeder ein Navi. Die waren ja schon serienmäßig in den Autos, zumindest in den teuren. Der Mann klappte die Wagentür zu, und hinten am Fahrzeug blinkten kurz zwei Lichter auf. Er schwenkte etwas in der Hand, vielleicht seinen Schlüsselbund, und machte sich auf den direkten Weg zum Hotel.

In Sollinger rebellierte es augenblicklich, zudem bekam er einen bitteren Geschmack im Mund. Der Besucher war nicht der Erste, der das ehemalige Gästehaus in Augenschein nehmen wollte. Immer wieder betraten Neugierige das Gelände, stromerten ums Haus, versuchten, durch die blinden Fenster zu sehen, drückten verstohlen die Türklinke zum Eingang herunter oder betraten die ehemalige Terrasse, durch deren Fugen zwischen den Steinplatten Grasbüschel und Unkraut wucherten. Es ärgerte Sollinger fürchterlich. Da das Gelände aber weder durch einen Zaun gesichert noch durch eine Hecke vor Blicken geschützt war, blieb ihm nicht viel Handhabe. Außer er ging zum Gebäude und verwies die ungebetenen Besucher vom Platz. Doch dazu musste er mit ihnen reden, und Sollinger schätzte seine Ruhe und war auch nicht bereit, Auskunft zum Anwesen zu geben, falls eine solche ersucht wurde.

Rudi war ihm auch keine Hilfe. Er duldete jeden, solange er einen Sicherheitsabstand von etwa fünf Metern zum Wohnhaus einhielt.

Jetzt stand der Fremde vor der Terrasse. Er schien die Außenfassade des Hauses zu betrachten, lange und gründlich, und ging schließlich langsam um das Gebäude herum. Rudi hob den Kopf, schnupperte in die Richtung des Mannes, und legte sich wieder hin.

»Du bist mir ein rechter Wachhund«, murrte Sollinger. Der Hund spitzte die Ohren und wedelte einmal mit dem Schwanz.

Sollinger hatte keine Lust mehr auf seine Pfeife. Sobald der Kerl weg war, würde er hineingehen und telefonieren. Nein, nicht telefonieren. Er würde einen Brief schreiben, mit aller Sorgfalt, und ihn gleich nachher noch in den Postkasten in der Seestraße im Ort werfen. Der wurde, soweit er sich erinnern konnte, am Nachmittag geleert. Dann würde sein Schreiben vielleicht schon morgen ankommen.

Erlinger hatte recht. Er musste eine Entscheidung treffen. Aber keineswegs die, an die der Nachbar gedacht hatte.

2

Kira Wagner saß in dem dunkelblauen Sessel im Sprechzimmer ihrer Praxis, die Beine übereinandergeschlagen. Auf ihren Oberschenkeln lag ein Notizblock, in der rechten Hand hielt sie einen Kugelschreiber. Unauffällig ging ihr Blick zu dem Regal hinter dem Sessel ihrer Patientin. Dort stand die kleine Uhr, die Patrick ihr damals zur Eröffnung der Praxis geschenkt hatte. Es war siebzehn Uhr fünfzig. Die Therapiestunde war um.

Evelyn Braun knetete ihre geröteten Hände und hielt den Blick gesenkt.

»Über die möglichen Alkoholprobleme Ihres Mannes sollten wir in unserer nächsten Stunde sprechen«, sagte Kira sanft.

»Ja.« Evelyn Braun sah auf ihre Armbanduhr. »Liebe Güte, wir haben überzogen. Ich muss los, ich muss noch einkaufen.« Rasch stand sie auf. »Bis nächste Woche, Frau Wagner. Meinen Sie wirklich, ich brauche mir nicht so viele Gedanken zu machen?«

»Sicher nicht. Aber auch darüber reden wir beim nächsten Termin.«

Kira stand ebenfalls auf. Sie begleitete ihre Patientin bis zur Tür ihrer Praxis im ersten Stock des Ärztehauses im Stadtteil Meyernberg in Bayreuth.

»Eine gute Zeit für Sie, Frau Braun«, verabschiedete sie sie.

»Ebenso«, murmelte die Frau und eilte die marmornen Stufen hinunter.

Kira drückte die Tür wieder ins Schloss und ging zurück in ihr Sprechzimmer. Sie öffnete die beiden Fensterflügel, wie immer, wenn eine Sitzung beendet war. Die warme Luft des frühen Abends drang in den Raum. Kira wandte dem Fenster den Rücken zu und begann, ihre Papiere zu ordnen, die auf dem Schreibtisch lagen. Eigentlich standen jetzt noch Büroarbeiten an. Sie hatte etliche Berichte zu schreiben, musste die Anfrage einer Krankenkasse beantworten und ein Gutachten erstellen. Lust dazu hatte sie keine.

Sie setzte sich hinter ihren Schreibtisch, streckte die Beine von sich und betrachtete den unerledigten Papierkram. Es war kurz vor halb sieben, und es war Sommer. Ein herrlicher Sommer. Seit zwei Wochen war ein Tag schöner als der andere.

Kira stand auf, nahm ihre Handtasche aus dem Schrank, der neben ihrem Schreibtisch stand, kramte ihren Schlüsselbund daraus hervor und verließ die Praxis.

Sie trat ins Treppenhaus und sperrte hinter sich ab. Ehe sie ging, drückte sie noch einmal gegen die Klinke, um sich zu vergewissern, dass sie abgeschlossen hatte. Missmutig dachte sie, dass auch sie gegen gewisse Zwangshandlungen nicht ganz gefeit war, und ging langsam ins Erdgeschoss hinunter.

Sie war sicher die Einzige, die sich an diesem Freitagabend noch im Gebäude aufhielt. Im Stockwerk über ihr befand sich die Praxis eines Augenarztes, der sowohl sich als auch sein Personal jeden Freitag pünktlich um zwölf Uhr ins Wochenende entließ. Im Erdgeschoss arbeitete ein Gynäkologe, mit nahezu der gleichen Einstellung. Bei ihm war freitags um dreizehn Uhr Schluss. Nur Kira war oft bis in den Abend hinein im Gespräch mit ihren Patienten. Aber im Gegensatz zu den beiden Kollegen hatte sie ja auch keine Familie, die auf sie wartete.

Kira verließ das Haus. Ihr kleiner roter Dacia war das einzige Fahrzeug, das noch hinter dem Gebäude stand. Obwohl einige dicht belaubte Bäume den Parkplatz säumten, stand ihr Wagen in der prallen Sonne. Im Inneren herrschten mit Sicherheit backofenartige Temperaturen. Kira öffnete sämtliche Türen, um wenigstens einen Teil der Hitze herauszubekommen.

Neunzehn Uhr fünf. Ihr war nicht danach, den Abend zu Hause zu verbringen. Vielleicht sollte sie eine kleine Radtour zur Wilhelminenaue machen?

Recht überzeugt war sie nicht von ihrer Idee. Auf dem Gelände der ehemaligen Landesgartenschau gab es nur wenig Schatten, und je länger sie unter dem großen Kastanienbaum darauf wartete, sich in ihr Auto setzen zu können, umso wärmer empfand sie den Abend. Drückend warm sogar. Das war ihr in ihrer Praxis gar nicht aufgefallen.

Kira beschloss, erst einmal nach Hause zu fahren. Sie setzte sich in ihren Wagen, bereute die Entscheidung sofort, weil die Luft im Auto immer noch unerträglich war und das Lenkrad glühend heiß, und ließ dennoch mit zusammengebissenen Zähnen den Motor an.

Eine gute Viertelstunde später parkte sie vor dem Mietshaus mit drei Parteien, in dem sie eine Wohnung im Hochparterre gemietet hatte. Kira sah ihre Nachbarin Leonie Gerber über den Gehweg eilen. Leonie wohnte im Haus nebenan.

Vor Jahren hatten sie sich ab und zu ein wenig unterhalten, meist auf dem Gehweg, doch seit Leonie mit ihrem Freund Stefan zusammen war, waren diese Gespräche immer seltener geworden.

Kira nahm ihre Handtasche vom Beifahrersitz und stieg aus. Sie lächelte Leonie zu. Leonie hob grüßend die Hand. Außer Atem blieb sie vor ihr stehen.

»Kira, hallo. Endlich Feierabend?«, fragte sie. Über der Schulter trug sie eine offene Korbtasche aus geflochtenem Material. Darinnen lagen einige Plastikgefäße, mit Deckeln verschlossen.

»Ja. Und du? Du siehst aus, als wärst du in Eile.«

Leonie strich sich mit dem Handrücken eine dunkle Locke aus der Stirn. »Ich bin eigentlich nur noch in Eile.«

»Oje. Was ist los?«, erkundigte sich Kira und dachte im selben Moment, dass sie sie mit ihrer Frage unnötig aufhielt. Überhaupt sah Leonie verändert und erschöpft aus, fand Kira. Ihr gutmütiges rundes Gesicht war blass, ihre kinnlangen Locken, früher sorgfältig gepflegt und glänzend, wirkten struppig und zerzaust, und unter ihren Augen lagen Schatten.

»Ich … Ach, meine Güte. Das ist nicht in einem Satz erzählt. Aber … Stefan will sich mit einem Bio-Hof selbstständig machen. Obst, Gemüse und so weiter. Keine Tierhaltung. Ich finde das eine tolle Sache und helfe ihm, wo ich kann.« Sie brach ab.

»Aber es ist viel Arbeit, oder?« Es klang jedenfalls so, fand Kira. Wahrscheinlich mutete sich Leonie zu viel zu, um ihren Freund zu unterstützen. Oder hatten die beiden mittlerweile geheiratet? Kira versuchte, unauffällig nach einem Ring an der Hand der Nachbarin zu sehen. Leonie trug keinen, doch das musste nichts heißen. Vielleicht störte er bei der Arbeit auf dem Hof.

»Sicher. Aber das ist weniger das Problem, obwohl ich zugeben muss, von acht bis siebzehn Uhr in der Versicherung Schadensfälle bearbeiten und im Anschluss oft gleich auf den Hof, das ist schon anstrengend. Er ist hinter Bindlach, weißt du. Das sind ja von hier aus nur ein paar Kilometer, aber dort geht es dann mit der Arbeit weiter. Heute hatte ich ja schon mittags Feierabend. Jetzt muss ich jedenfalls zu Stefan. Der wartet seit zwei Stunden.«

Kira lag es auf der Zunge, zu fragen, was Leonie über den Nachmittag gemacht hatte, beschloss jedoch, dass es sie nichts anging. Aus ihren zwar netten, aber unverbindlichen Gesprächen seinerzeit war nie eine wirkliche Freundschaft geworden, was sie bedauert hatte. Schon gleich als ihre Beziehung mit Patrick vor sechs Jahren in die Brüche gegangen war. Für ihn hatte Kira ihre Heimat verlassen und war ins weit entfernte Bayreuth gezogen. Entsetzlich einsam war sie nach der Trennung gewesen. Damals hatte sie sich sehr nach einer Freundin gesehnt.

Unvermittelt fing Leonie an zu schluchzen. Kira erschrak.

»Leonie, was ist los?«

»Ich kann einfach nicht mehr. Es ist wegen Felix. Er braucht mich, und ich will auch für ihn da sein, aber … Ich schaffe das nicht mehr.« Sie nestelte ein Papiertuch aus ihrer Korbtasche und trocknete sich das Gesicht.

»Wer ist Felix?« Kira verstand überhaupt nichts.

»Mein Bruder. Entschuldige, Kira, dass ich hier so rumheule und dich aufhalte. Ich glaube, mir gehen gerade die Nerven durch.« Sie warf ihr Papiertuch zurück in die Tasche.

»Du hältst mich nicht auf. Ich weiß, du bist in Eile, aber … Ich wusste gar nicht, dass du einen Bruder hast.« Welch unsinnige Bemerkung, die danach klang, als wäre sie neugierig und wollte Leonies Zeitnot ignorieren. Andererseits war es indiskutabel, sie in ihrer Verzweiflung einfach stehen zu lassen.

»Dann habe ich ihn wohl nicht erwähnt. Ich …« Erneut fing sie an zu weinen, wandte das Gesicht ab und rührte sich nicht von der Stelle.

Kira strich ihr über den Arm. »Magst du kurz mit zu mir kommen? Nur für einen Eistee?«

Überraschenderweise nickte Leonie. Stumm folgte sie Kira in ihre Wohnung.

Leonie saß auf der Kante des Sofas im Wohnzimmer. Kira hatte eben zwei Gläser Pfirsich-Eistee aus der Küche geholt, je ein Stückchen Zitrone und ein paar Eiswürfel hineingegeben.

»Danke«, murmelte Leonie, als Kira ein Glas vor ihr auf den Tisch stellte.

Kira setzte sich ihr gegenüber. »Also, was ist mit deinem Bruder? Weswegen braucht er dich?«, fragte sie sanft, und ihr fiel auf, dass sie eben mit Leonie wie mit ihren Patienten gesprochen hatte.

Leonie trank einen Schluck. Eine typische Geste, um Zeit zu gewinnen, dachte Kira.

»Felix hatte vor gut zwei Jahren einen schlimmen Unfall, mit seinem verdammten Motorrad. Wie ich das Ding hasse! Jetzt liegt es in Trümmern, und Felix sitzt seither im Rollstuhl. Gelähmt! Das ist grauenhaft für ihn. Bei dem Unfall saß seine Freundin mit auf der Maschine. Sie hat es nicht überlebt. Felix ist am Ende. Er hat keinen Lebensmut mehr, fühlt sich schuldig an Katjas Tod, kann sein eigenes Schicksal nicht akzeptieren und hadert mit aller Welt.« Sie hatte schnell gesprochen, als wollte sie ihren Bericht hinter sich bringen.

»Das tut mir furchtbar leid«, sagte Kira aufrichtig. »Ich kann mir vorstellen, dass alles, was geschehen ist, ganz schrecklich für deinen Bruder ist.«

»Ist es«, bestätigte Leonie, nun etwas ruhiger.

»Und du kümmerst dich seither um ihn?«

»Ja. Mit allem, was sein muss. In erster Linie um den Haushalt, da rührt er keinen Finger, obwohl er schon einiges machen könnte. Er arbeitet nicht mehr, sitzt nur noch zu Hause und brütet dumpf vor sich hin. Ich koche für ihn, kaufe ein, helfe ihm beim Baden und Duschen und versuche, ihm Mut zu machen. Das Leben muss doch weitergehen.« Sie klang vollkommen niedergeschlagen. »Außerdem fahre ich ihn zweimal in der Woche zur Physiotherapie.«

»Du überforderst dich komplett, Leonie. Es gibt professionelle Hilfe, wenn dein Bruder wirklich nicht allein zurechtkommt. Du bist Vollzeit berufstätig und hilfst deinem Freund auf dem Hof. Das kannst du unmöglich auf Dauer schaffen.«

»Professionelle Hilfe lehnt er ausnahmslos ab. Ich helfe ihm jetzt seit etwa anderthalb Jahren. Felix lag lang in der Klinik, danach war er zur Reha. Seit er wieder zu Hause ist, kümmere ich mich«, sagte sie. »Die Ärzte haben dringend zu einer Psychotherapie geraten, um den Unfall und die Folgen zu verarbeiten. Aber man darf das nicht einmal aussprechen. Er ist vehement dagegen.«

»Wie denkt Stefan über deinen unermüdlichen Einsatz?«, fragte Kira und beschloss, auf das Thema Psychotherapie nicht einzugehen. Sie hatte Leonie gegenüber nie von ihrem Beruf gesprochen.

»Anfangs hatte er wirklich viel Verständnis. Aber allmählich … Ich weiß nicht. Ich habe schon den Eindruck, dass er langsam die Geduld verliert. Außerdem …«

»Ja?«

»Er hat mir einen Heiratsantrag gemacht, schon vor Wochen. Er will aber auch, dass ich mit Felix rede. Stefan sagt, so kann es nicht weitergehen. Andere Menschen sitzen auch im Rollstuhl und bewältigen ihr Leben. Da hat er ja auch recht! Aber ich schaffe es einfach nicht, Felix seinem Schicksal zu überlassen. Außerdem habe ich Angst, dass er sich etwas antut. Verstehst du? Ich habe ständig das Gefühl, ich müsste auf ihn aufpassen.« Sie presste die flache Hand vor den Mund und rang mit einem Schluchzen. Unerwartet rasch fing sie sich wieder. »Stefan wünscht sich eine große Hochzeit. Mit Kirche, Kutsche, Brautkleid, Familie und Freunden. Vielleicht sogar einer kurzen Reise im Anschluss. Ich möchte das auch! Aber wir finden nicht einmal die Zeit, irgendetwas zu planen, weil ich ständig mit meinem Bruder beschäftigt bin.«

Kira nickte nur.

»Ich habe schreckliche Angst, Felix von unseren Zukunftsplänen zu erzählen. Er und Katja wollten damals ja auch heiraten. Es kam nur nicht mehr dazu.« Leonie machte eine Pause. »Und ich habe schreckliche Angst, Stefan zu verlieren, wenn ich Felix weiterhin so viel Zeit gebe.«

Und Kraft, ergänzte Kira in Gedanken. Leonie gab ihrem Bruder Zeit und Kraft, die sie für ihr eigenes Leben brauchte.

Leonie griff nach ihrem Eistee und trank einen Schluck. »So«, sagte sie, stellte ihr Glas ab, und auf ihrem Gesicht erschien ein erzwungenes Lächeln. »Jetzt habe ich dir genug Leid geklagt. Du hast dir deinen Feierabend sicher auch redlich verdient und bestimmt Besseres zu tun, als dir das Elend meiner Welt anzuhören.«

Leonie erhob sich. Auch Kira stand auf und begleitete sie zur Tür. Unzählige Gedanken kreisten plötzlich durch ihren Kopf, doch noch konnte sie keinen greifen.

»Danke fürs Zuhören«, sagte Leonie.

»Gerne«, erwiderte Kira. Nachdenklich drückte sie hinter ihr die Wohnungstür ins Schloss.

Kira schenkte sich ein Glas gekühlten Weißwein ein und setzte sich damit auf den Balkon. Das Gespräch mit der Nachbarin wollte ihr nicht aus dem Kopf.

Leonie brach unter der Last ihrer Pflichten und der zum Teil selbst auferlegten Verantwortung für ihren Bruder beinahe zusammen.

Sie war nicht die Einzige, der es so ging.

Kira hatte in ihrer Praxis allein drei Patientinnen, die pflegebedürftige Angehörige versorgten und dabei dauerhaft über ihre Grenzen gingen. Auch ein Patient war dabei, der sich um seine frühzeitig an Demenz erkrankte Frau kümmerte, ganz allein und ohne jegliche Unterstützung.

Sie dagegen wusste mit ihrer Freizeit nichts anzufangen und wurde zunehmend frustrierter deswegen. Wie ungerecht die Lasten im Leben manchmal verteilt waren.

Ihre Patienten konnte sie nicht aktiv bei der Pflege ihrer Familienmitglieder unterstützen. Bei ihr konnten sie sich aussprechen, sie konnte versuchen, mentalen Beistand zu leisten und ihnen Wege aufzuzeigen, mit der Situation besser umzugehen. Auch praktische Tipps waren ab und an dabei, wie die Überlegung, einen Pflegedienst einzubinden. Mehr konnte sie nicht tun.

Aber für Leonie konnte sie mehr tun.

Ihr konnte sie aktive Hilfe anbieten, bei der Unterstützung ihres Bruders, zumindest vorübergehend. Die Frage war, ob sie das annahm. Und natürlich auch, wie dieser Felix darüber dachte.

Kira war nicht sicher, was sie von ihrer Idee hielt. Vielleicht würde Leonie sie als aufdringlich empfinden. Sie musste sich den Gedanken noch durch den Kopf gehen lassen, zumindest bis morgen. Doch im Grunde wusste sie jetzt schon, dass sie den Vorschlag machen würde.

Kira legte die Füße auf den zweiten Balkonstuhl und nippte an ihrem Wein. Auf dem Stuhl hatte seinerzeit Patrick gesessen, wenn er sie besucht hatte. Oft war das nicht gewesen, meistens war sie zu ihm gefahren.

Ob er glücklich geworden war, auf dem von ihm gewählten Lebensweg? Noch immer sah sie vor sich, mit welchem Enthusiasmus er von seinen Zukunftsplänen gesprochen hatte, als er das entscheidende Gespräch mit ihr geführt hatte. Von Plänen, die sie von vorneherein ausgeschlossen und die die Trennung bedeutet hatten.

Danach war er gegangen. Es war entsetzlich gewesen. Sie hatte Tage und Wochen geweint und gelitten und es nicht glauben wollen. Es schmerzte bis heute. Sie hatte nie wieder etwas von ihm gehört.

Kira trank wieder von ihrem Wein. Er schmeckte bitter. Das konnte nicht sein. Es war ihre Lieblingssorte, und die schmeckte lieblich-fruchtig. Sie probierte erneut. Der Wein war in Ordnung. Es war wohl die Erinnerung, die ihr den bitteren Geschmack beschert hatte. Wieder glitten ihre Gedanken zu Patrick.

Hinter ihrem Rücken hatte er alles vorbereitet. Sie hatte keine Ahnung gehabt, und als er sich ihr endlich mitgeteilt hatte, war alles beschlossene Sache gewesen.

Genug jetzt. Sie stellte ihr Weinglas auf den Tisch und drückte die Fingerspitzen gegen die Schläfen, als könnte sie so die Erinnerung vertreiben.

Vielleicht sollte sie wieder tanzen gehen. Das hatte ihr immer Freude gemacht. Sie musste wieder unter Menschen, neue Kontakte knüpfen, sich einen kleinen Freundes- oder wenigstens Bekanntenkreis aufbauen. Im Gespräch mit der unglücklichen Nachbarin war ihr bewusst geworden, wie sehr ihr ein wenig Anschluss fehlte. So erschütternd der Anlass auch war, weswegen Leonie eine Weile bei ihr auf dem Sofa gesessen hatte, so hatte sie doch kurz Besuch gehabt. Kira war nicht allein gewesen wie sonst jeden Abend. Am Wochenende war das Alleinsein besonders belastend.

Nein, sie würde den heutigen Abend nicht allein zu Hause verbringen. Sie würde in die Tanzbar »Harmonie« fahren, die früher ihr Stammlokal gewesen war.

Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Zehn Minuten vor neun. Eine sehr gute Zeit. Das »Harmonie« hatte früher entweder um halb neun oder um neun Uhr aufgemacht.

Jetzt nur nicht lange nachdenken, ehe sie der Mut verließ. Getrunken hatte sie quasi noch nichts, die wenigen kleinen Schlucke zählten nicht.

Rasch stand sie auf und stellte ihr Glas in den Kühlschrank. Sie würde den Wein später trinken, wenn sie zurück war. Ihr Herz schlug schnell. Allerdings weniger vor Vorfreude, sondern eher vor Nervosität. Früher hatte es ihr nichts ausgemacht, allein zu einer Tanzveranstaltung zu gehen, doch das war lange her.

Kira eilte ins Schlafzimmer. Sie nahm ein ärmelloses hellgrünes Kleid aus dem Schrank, hielt es vor sich und trat vor den Spiegel. Ja, das gefiel ihr. Es war oben eng geschnitten, das Rockteil fiel weit und glockig. Der Stoff war fein und leicht und für einen warmen Sommerabend geeignet. Sie streifte ihre Kleidung ab und warf sie aufs Bett. Ehe sie das Kleid überzog, frischte sie ihr Make-up auf, tuschte die Wimpern noch ein wenig und trug einen Lippenstift in softem Orangeton auf. Er passte wunderbar zu ihren blonden Haaren. Ob sie ein Paar ihrer Tanzschuhe mitnehmen sollte? Die lagen allesamt im Keller, in einem Karton, der mit Sicherheit gründlich eingestaubt war. Nein, das war für heute des Guten zu viel. Sie besaß ein Paar bequeme cremefarbene Pumps. Die waren das Richtige für den heutigen Abend.

Um kurz vor halb zehn fuhr Kira auf den Parkplatz des Lokals, auf dem verhältnismäßig wenig Autos standen. Augenblicklich sank ihr Mut, der schon auf der Fahrt hierher kontinuierlich geschrumpft war. Wie hatte sie für einen Neustart in Sachen Tanzen solch einen herrlichen Sommerabend wählen können? Bei dem Wetter und den Temperaturen hielten sich die meisten Menschen lieber in Biergärten auf als in einem geschlossenen Innenraum.

Vermutlich waren nur einige wenige Besucher im Lokal, die meisten paarweise. Alle würden auf sie aufmerksam werden, wenn sie allein kam. Sie würden sie neugierig mustern, und sie würde sich ganz schrecklich fühlen.

Es war überhaupt keine gute Idee gewesen, hierherzukommen. Kira hielt an, sah sich um, als hätte sie sich verfahren, und ließ den Motor laufen.

Ein paar Gäste standen neben dem überdachten Eingang, redeten, rauchten und schienen sie zu beobachten. Ihr Mund wurde trocken, und ihre Hände wurden feucht.

Sie würde es nicht schaffen, die Stufen zum Eingang hochzulaufen, an den Leuten vorbei, und ganz selbstverständlich die Tanzbar zu betreten, als wäre es das Normalste der Welt. Oder doch? Andere schafften es ja auch. Doch würden nicht alle Anwesenden denken, sie suchte Anschluss? Genau genommen suchte sie Anschluss.

Ihr Puls war zu hoch. Noch konnte sie umkehren. War sie erst einmal ausgestiegen, musste sie umsetzen, was sie sich vorgenommen hatte. Zwei der vier Gäste vor dem Eingang sahen eindeutig in ihre Richtung.

Sie sahen sehr genau in ihre Richtung. Himmel! Am Ende stand dort drüben einer ihrer Patienten? Glühendes Entsetzen durchfuhr sie. Auf die Idee war sie vorhin gar nicht gekommen.

Kira sah, dass einer der Gäste nun betont lässig die Stufen der Treppe hinunterschlenderte. Es war ein Mann mit kleinem Bauchansatz. Er schien in ihre Richtung zu wollen. Kira legte den Gang ein, wendete und fuhr vom Parkplatz. Zu Hause wartete eine stille, aber sichere Wohnung auf sie.

Kira kickte ihre Schuhe von den Füßen. Der zweite Schuh blieb an ihrem Fuß hängen. Ungehalten schüttelte sie ihn ab. So ein Reinfall, der Ausgehversuch. Barfuß lief sie in die Küche. Immerhin, die Kühle der Fliesen unter ihren nackten Füßen war angenehm. Sie holte ihr Weinglas aus dem Kühlschrank und trank in einem Zug die Hälfte aus. Dabei verschluckte sie sich, musste husten, und ein paar Tropfen Wein fielen auf ihr Kleid. Am liebsten hätte sie mit dem Fuß aufgestampft. Es lief wirklich alles schief.

Sie stellte das Glas ab, streifte das Kleid über den Kopf, eilte ins Bad und stopfte es mitsamt einer Ladung weiterer Wäsche, die im Wäschesammler lag, in die Maschine. Was für ein abwechslungsreicher Freitagabend! Sie schlüpfte in ihren Morgenmantel, der an der Badezimmertür hing, holte sich den restlichen Wein und setzte sich aufs Sofa. Auf dem Couchtisch lagen neben einer angebrochenen Tüte mit extrascharfen Kartoffelchips, der Fernsehzeitung und ihrem Strickzeug, das sie seit Wochen nicht mehr angefasst hatte, ein Notizblock und ein Kugelschreiber. Kira beschloss, Leonie eine Nachricht zu schreiben und morgen früh in den Briefkasten zu stecken.

Georg Sollinger stand in seiner Küche und packte ein paar Hundeleckerchen, einen kleinen Napf sowie eine Flasche mit Leitungswasser für Rudi in seinen Rucksack. Auch für sich selbst sorgte er, mit einer Flasche Mineralwasser und einem Salamibrot. Das Brot brauchte es eigentlich nicht. Er würde in der Almwirtschaft von Siebenhütten einkehren, die sein Ziel war. Aber vielleicht war ihm nach einer Stärkung, ehe er sich auf den Weg machte.

Rudi lag auf einem kleinen Teppich, den Sollinger extra für ihn zwischen Kühlschrank und Küchenbüfett gelegt hatte, und beobachtete ihn.

»Ja, mein Junge. Wir machen heute einen Ausflug. Ich würde gerne eine Bergtour mit dir machen, aber ich fürchte, das wird mir zu anstrengend. Wir laufen nach Siebenhütten. Es wird dir gefallen«, erklärte er dem Hund.

Rudi wedelte bedächtig.

»Die Strecke ist auch nicht so lang. Wir brauchen etwa eine Stunde, vom Parkplatz aus, wenn wir gemütlich gehen. Dann machen wir Rast. Ich bestelle dir ein Würstchen.«

Rudi wedelte immer noch.

Sollinger warf einen Blick aus dem Küchenfenster, von dem aus er das Hotel und den Wallberg dahinter sehen konnte. Das Wetter war herrlich, und der Tag lockte, ihn zu genießen.

Sein Blick ging weiter, vor zur Straße. Wenn er das Fenster geöffnet und sich hinausgelehnt hätte, hätte er zur Einfahrt seines Grundstückes sehen können. Dort stand auch der Postkasten.

Sacht zog es in seiner Brust. Auf seinen Brief, den er vor Tagen geschickt hatte, war noch keine Antwort gekommen. Vielleicht war er zu ungeduldig. Sehnsüchtig wartete er seither tagtäglich auf den Briefträger, doch meist fuhr der gelbe Wagen an seinem Grundstück vorbei. Sollinger bekam selten Post. Gleichwohl wusste er, sie würde ihm nicht per Brief antworten. Sie würde ihn anrufen oder eine Nachricht über das Handy schicken. Doch so oft er auch auf sein Mobiltelefon sah, auch hier kam nichts von ihr. Nun denn, ein bisschen Zeit wollte er ihr noch geben, und damit ihm diese nicht zu lange wurde, würde er sich mit einer kleinen Wanderung ablenken.

Sollinger nahm die dünne Strickjacke von der Lehne des Küchenstuhls, der ihm am nächsten stand, rollte sie zusammen und steckte sie mit in den Rucksack.

»Komm, Rudi«, forderte er den Hund auf und hängte sich den Rucksack mit einem Gurt über die Schulter. »Es geht los.«

Der Hund erhob sich, schüttelte sich und folgte seinem Herrn.

Sollinger verließ das Haus. Sein Jeep stand unter dem Carport, seitlich des Gebäudes. Er öffnete den Kofferraum, in dem eine Transportbox für seinen Gefährten stand. Rudi wartete, bis Sollinger ihm ein Zeichen gab, hineinzuspringen.

»Hopp«, sagte Sollinger und zeigte auf die Box. Mit einem Satz kam der Hund der Aufforderung nach.

Sollinger packte seinen Rucksack auf die Rückbank des Wagens und setzte sich hinter das Steuer.

Bis zum Wanderparkplatz Kreuth brauchte er mit dem Auto keine zehn Minuten. Er stellte den Jeep zwischen einem roten Kleinwagen und einem Wohnmobil ab und stieg aus.

Wenige Minuten später machte er sich gemächlich auf den Weg. Rudi lief ein paar Schritte voran, schnupperte hier und da und hob immer wieder eine Hinterpfote. Zwischendurch sah er, ob sein Herr ihm nachkam.

Sollinger genoss den Spaziergang. Mehr war es ja nicht, wenn er es genau nahm. Der Weg war breit und bequem und sogar für Familien geeignet, die einen Kinderwagen dabeihatten. Bescheidene hundert Höhenmeter waren auf dem Weg zur Almwirtschaft Siebenhütten zu bewältigen. Die merkte man gar nicht, auf der Strecke.

Tief atmete er die herrliche Sommerluft ein und den Duft des Waldes. Obwohl auf dem Parkplatz etliche Autos gestanden hatten, war es ruhig auf dem Weg. Er lauschte auf das leise Knirschen der feinen Steinchen unter seinen Schuhen, hörte dazwischen das Zwitschern der Vögel.

Ein älteres Ehepaar kam ihm entgegen, lächelte ihm zu und grüßte ihn. Sollinger grüßte zurück. Die beiden hielten sich an den Händen, die schon ganz runzelig waren. Sie waren zu zweit, sie hatten einander. Vielleicht hatten sie auch Kinder und Enkel.

Er horchte in sich hinein. Vermisste er etwas? Zeitlebens war er nicht verheiratet gewesen. Einmal, da hätte er es sich vorstellen können. Doch als er Alma den Antrag gemacht hatte, hatte sie Nein gesagt. Er brauche eine Frau, die sich für das Hotel genauso begeistern und engagieren würde wie er. Sie sei diejenige nicht. Sollinger wischte die Erinnerung beiseite. Da waren sie wieder, die Gedanken an das Hotel.

»Wuff«, machte Rudi und wandte sich ihm zu.

»Ja, tatsächlich, mein Junge. Wir sind da. Das ging ja schneller, als ich dachte.« Er tätschelte dem Hund den Rücken und ließ den Blick zur Almstation gehen, die im Licht der Sonne und eingebettet in der Natur lag, umgeben von Bäumen. Es herrschte reichlich Betrieb. Viele Ausflügler machten Brotzeit oder stärkten sich mit Kaffee und Kuchen. Hoffentlich bekam er überhaupt noch einen Platz.

Sollinger betrachtete die niedrigen Holzhäuser mit den sanft geneigten Dächern, die mit Kanthölzern und Steinen beschwert waren.

Sieben Hütten waren es einstmals gewesen, zu Zeiten, als diese noch von Bauern bewirtschaftet worden waren. Nunmehr war zwar der Name geblieben, doch es existierten nur noch drei Gebäude, von denen eines als Brotzeitstation diente. An dieser herrschte reichlich Betrieb.

Wofür die zwei weiteren Hütten genutzt wurden, wusste er nicht. Irgendwer hatte ihm einmal erzählt, sie wurden als Lager verwendet. Für was? Holz? Landwirtschaftliche Geräte? Es interessierte ihn nicht.

»Jetzt machen wir eine schöne Pause«, fuhr er, an den Hund gewandt, fort. »Danach könnten wir noch in die Wolfsschlucht laufen. Das ist von hier aus auch nicht weit. Komm, wir suchen uns einen Sitzplatz«, beschloss er.

Fast alle Stühle und Bänke waren besetzt. Hinter der Hütte, im Schatten, wurde ein Platz frei, gerade als Sollinger mit Rudi um die Hausecke bog. Erleichtert setzte er sich. Der Hund blieb hechelnd neben ihm stehen.

Sollinger kramte Napf und Wasser aus einem Rucksack und gab dem Tier zu trinken. Er stand auf. Wenn er eine Stärkung haben wollte, musste er zur Theke. In Siebenhütten gab es nur Selbstbedienung.

Er musste einige Minuten in der Schlange anstehen, ehe er seine Bestellung aufgeben konnte. Sollinger hatte sich für ein Radler entschieden, ein deftiges Rahmbrot mit Speck, Zwiebeln und Lauch und ein Paar Wiener für Rudi.

Mit seiner Mahlzeit ging er zu seinem Platz zurück. Er lobte den Hund, der offensichtlich aufgepasst hatte, dass ihm niemand seinen Platz streitig machte. Vielleicht hatten weitere Gäste aber auch seinen Rucksack dort stehen sehen und sich einen anderen Tisch gesucht.

Sollinger nahm einen großen Schluck von seinem Radler und stutzte. Dort drüben, nur wenige Meter weit entfernt, saß jemand, den er kannte und den er absolut nicht erwartet hatte hier zu sehen. Jemand, den er auch nicht sehen wollte. Augenblicklich stach es wieder in seiner Brust. Rudi drückte seine feuchte Nase gegen sein Bein. Sollinger konnte den Blick nicht abwenden. Er sah ihn nur schräg von hinten. Vielleicht war er es doch nicht? Doch, er war es. Was machte der Kerl hier? Am liebsten hätte er sich mit seiner Brotzeit einen anderen Platz gesucht. Einen, von dem aus er ihn nicht sehen musste. Wenn der Halunke sich umdrehte, würde er ihn bemerken. Bei dem Betrieb, der in Siebenhütten herrschte, hatte er keine Auswahl an Sitzmöglichkeiten. Tief senkte Sollinger den Kopf über sein Essen. Auf keinen Fall wollte er mit dem Kerl reden müssen.

3

An Leonies Körper klebte das dunkle Kleid, das das eine oder andere überflüssige Pfund kaschieren sollte.

Der Tag war wieder warm und sonnig, die kleine Rasenfläche vor dem Haus stellenweise vertrocknet und erinnerte an Stroh. Die Temperaturen drückten ihr auf Gemüt und Kreislauf. Ihr war, als könnte sie nicht richtig durchatmen. Doch das mochte nicht nur am Wetter liegen, allzu viel lastete ihr auf der Seele.

Leonie betrat den Hausflur. Hier war es kühler als draußen. Das tat gut. Sie öffnete ihren Briefkasten, der neben der Haustür hing. Zwischen der Tageszeitung, die sie schon lange abbestellen wollte, weil ihr die Zeit fehlte, sie zu lesen, einem Brief der Stadtwerke, die vermutlich wieder eine Erhöhung des Gaspreises ankündigen wollten, und einer Werbung für Sonnenmarkisen lag ein weißes Kuvert. In geschwungener Schrift und mit blauem Kugelschreiber stand lediglich ihr Vorname auf dem Umschlag. Leonie drehte den Brief um. Die dreieckige Lasche war nur eingesteckt, nicht zugeklebt. Sie stellte ihre Korbtasche auf den Boden, stopfte die übrige Post hinein und öffnete das Kuvert. Innen lag ein gefalteter Bogen Papier, vermutlich aus einem Notizblock herausgerissen.

Liebe Leonie, wenn es für dich und deinen Bruder in Ordnung ist, könnte ich dich vorübergehend bei seiner Versorgung entlasten. Bitte gib mir kurz Bescheid, ob ihr euch das vorstellen könnt. Gruß Kira

Darunter stand eine Handynummer. Perplex las Leonie den Text ein zweites Mal. Kira bot ihre Hilfe an. Damit hätte sie niemals gerechnet. Für einen winzigen Moment meinte sie, einen Hoffnungsschimmer zu sehen, ganz fern am Horizont. Hier war jemand, den sie nicht erst suchen musste, unter dem Druck, den Stefan machte, unter dem Schuldgefühl, Felix’ Versorgung weitergeben zu wollen, und in dem Wissen, dass sie gegen seinen Willen handelte.

Kira war eine Bekannte, eine Nachbarin. Kompetent, freundlich und zuverlässig. Zumindest schätzte Leonie sie so ein. Offenbar alleinstehend und mit Arbeitszeiten, die eine Zusatzbeschäftigung möglich machten. Kira war von sich aus auf sie zugekommen, und sie hatte von »vorübergehend« gesprochen. Mit der Zeitspanne konnte Leonie sich arrangieren, ohne dass sie ihr Gewissen erdrückte.

Sie schob den Brief zurück in den Umschlag und steckte ihn so behutsam in ihre Korbtasche, als fürchtete sie, eine umgeknickte Ecke würde den Hoffnungsschimmer zerstören.

Bis sie in ihrer Wohnung im ersten Stock den Schlüssel ins Schloss steckte, war die Hoffnung dennoch zerfallen. Felix würde niemals einverstanden sein. In einer plötzlichen zornigen Aufwallung ging sie in ihren Flur und trat die Tür mit aller Kraft ins Schloss. Es krachte, als hätte Zugluft sie in den Rahmen geknallt.

Zu Leonies Wut gesellte sich die Scham ob ihres Ausbruches, den sicherlich ein paar Nachbarn gehört hatten. Das Zuschlagen der Tür hatte sie nicht wirklich erleichtert. Eher hatte sie das Verlangen, noch ein paar Gegenstände an die nächstbeste Wand zu knallen. Stattdessen stellte sie ihre Korbtasche unter das Garderobenelement und bemühte sich, ihres Aufruhrs Herr zu werden.

Bebend verharrte sie im Flur, ballte die Fäuste zusammen und öffnete sie wieder. Nichts half. In zwei Stunden musste sie wieder bei Felix sein. Samstag war Bade- oder Duschtag. Bei der Wärme würde er lieber duschen wollen.

Danach musste sie sicher wieder einkaufen gehen und auch gleich etwas kochen, damit er für den morgigen Sonntag versorgt war. Sonntag war der einzige Tag in der Woche, an dem sie in der Regel nicht zu ihm fuhr.

Langsam flaute die Aggression in ihr ab. Ihr Puls war zwar noch immer zu schnell, doch der Zorn wurde von großer Erschöpfung abgelöst. Stefan hatte recht, und Kira hatte auch recht. So konnte es nicht weitergehen. Sie würde nachher mit Felix reden.

Ihr Bruder saß in seinem Rollstuhl neben dem weißen Ledersofa. Leonie hatte sich ihm gegenüber in einen der beiden Sessel gesetzt. Zwischen ihnen, auf dem niedrigen Tisch mit der Glasplatte, standen diverse Medikamente auf einem kleinen Tablett, vorwiegend Schmerzmittel, aber auch ein Blutverdünner und ein pflanzliches Beruhigungsmittel.

»Es wäre nur vorübergehend«, schloss Leonie ihren Bericht. Ihre Handflächen waren feucht, und ihr Herz klopfte heftig gegen die Rippen. Mühsam kontrollierte sie ihren Atem.

Felix’ Miene war undurchdringlich.

»Ich möchte keine Vertretung für dich«, ließ er sie wissen. Seine Stimme klang fest, und er sprach mit hörbarer Verbitterung.

»Felix, ich schaffe das nicht mehr, ständig für dich –«, setzte sie an und merkte zu ihrem Entsetzen, dass sie den Tränen nahe war.

»Das musst du ja auch nicht. Ich habe dich nie darum gebeten. Ich komme schon zurecht«, unterbrach er sie hart.

»Ja? Indem du in deinem Rollstuhl sitzt und aus dem Fenster starrst? Du machst nichts mehr, Felix! Keinen Einkauf, keinen Haushalt, ich höre nie etwas davon, dass du wieder arbeiten willst, egal was. Deine Medikamente muss ich dir zuteilen, damit du sie überhaupt nimmst. Ich kümmere mich um deine Termine bei der Physiotherapie, fahre dich hin und hole dich wieder ab. Du fragst nie, wie ich das alles schaffe.« Nun fing sie doch an zu schluchzen.

Felix gab keine Antwort, stattdessen sah er wie so häufig aus dem bodentiefen Wohnzimmerfenster, das fast eine ganze Wandseite einnahm. Mittig war eine doppelflügelige Tür eingelassen, durch die man auf die Terrasse kam. Ein Hindernis stellte die Türschwelle dar, über die er allein nur unter großen Mühen kam.

»Ich kann selbst fahren«, sagte er schließlich. Er klang nicht mehr ganz so kategorisch.

»Du weißt, wie ich darüber denke.« Langsam fasste Leonie sich wieder. Sie war überzeugt, er würde sämtliche Termine verstreichen lassen. »Was ist mit Einkaufen, Kochen, Körperpflege?«, fuhr sie fort, weil er nicht antwortete.

Felix schlug mit der flachen Hand auf die Lehne des Rollstuhls, traf sie jedoch nicht richtig. »Körperpflege? Denkst du, ich lasse mich von deiner Nachbarin ausziehen und unter die Dusche schieben?«, zürnte er und sah sie nun doch an. In seinen Augen blitzte die Wut. »Und von dir auch nicht! Dass das klar ist!«

»Schon gut. Aber es muss jemand im Haus sein, wenn du im Bad bist. Das Duschen können wir ja auch aufs Wochenende verschieben. Da kann ich sicher mal vorbeikommen.« Sie hatte ein Würgen im Hals.

»Kochen muss ich auch nichts. Es gibt schließlich Lieferservice«, fuhr er fort.

»Das ist keine gesunde Ernährung und kostet viel Geld.« Unwillkürlich sah Leonie sich in dem großzügigen Wohnraum um, den Felix und Katja zwei Jahre vor dem Unfall gemeinsam eingerichtet hatten. Für ihren Geschmack hatte er sich mit dem Haus übernommen. Jetzt konnte er es nicht einmal mehr wirklich nutzen. In den oberen Stock war kein Hochkommen mehr für ihn, einen Treppenlift wollte er nicht, und mittig durch den Wohnraum zogen sich zwei Stufen, über die man in einen Bereich mit einem offenen Kamin sowie einem Flügel kam. Felix konnte sich nur noch in den unteren Räumen aufhalten.

»Schreib du mir nicht vor, wie ich zu leben habe«, wies er sie in harschem Ton zurück.

»Aber du brauchst trotzdem ein paar Einkäufe. Fürs Frühstück zum Beispiel. Und du brauchst deine Medikamente, und dazu musst du erst zum Arzt, dann in die Apotheke …«, zählte sie auf und wurde von Felix durch eine aufgebrachte Handbewegung unterbrochen.

»Hör auf, Leo!«, fuhr er sie an.

»Nein.« Nun fing sie wieder zu schluchzen an. »Du gehst vor die Hunde, Felix. Du brauchst jemanden, der … dir ein bisschen zur Seite steht. Ich bekomme Schwierigkeiten mit Stefan, weil –«

»Aha«, unterbrach er sie erneut.

»Wir wollen heiraten.« Plötzlich wurde sie ruhiger. Dennoch senkte sie den Blick und betrachtete ihre Hände.

»Damit habe ich schon gerechnet«, erwiderte Felix ungehalten.

»Ja. Und ich möchte ihm auf dem Hof helfen. Es macht mir Freude.« Da war es wieder, dieses kleine Fünkchen Helligkeit, das sie mehr spürte, als dass sie es sah, und das ihr das Atmen leichter machte.

»Dann mach doch. Ich brauche deine Hilfe nicht. Wenn ich gewusst hätte, wie das ausartet, hätte ich sie damals schon nicht angenommen.« Aufgebracht schlug er erneut mit der Hand auf die Armlehne des Rollstuhls. Diesmal traf er.

»Du bist so was von gemein«, stieß Leonie hervor, plötzlich dermaßen verletzt, dass sie an sich halten musste, um nicht einfach aufzustehen und zu gehen.

»Leo.« Felix wandte ihr den Blick zu. In seinem Gesicht sah sie ein klares, unwiderrufliches Nein zu ihrem Vorschlag. »Auch wenn du es weder hören noch wissen willst, ich komme zurecht, auch ohne dich. Und schon gleich ohne diese Nachbarin von dir«, sagte er, ohne eine Miene zu verziehen.

»Ja, gut. Okay.« Leonie rutschte auf ihrem Sessel nach vorn auf die Kante und hielt sich sehr aufrecht, während sie weitersprach. »Dann tu es nicht für dich, sondern für mich. Probehalber, sagen wir, für vier Wochen.« Damit hatte sie eine Zeitangabe in den Raum gestellt, von der sie nicht wusste, ob sie sich mit Kiras Vorstellung von »vorübergehend« deckte. Doch sie hoffte, ihm mit der Befristung und dem Hinweis, dass er das Angebot für ihren Seelenfrieden annehmen sollte, doch noch eine Zusage abzuringen.

Felix schwieg. Wieder ging sein Blick zum Fenster.

»Felix!« Sie wurde ungeduldig, ihre Nerven waren allzu strapaziert. Sie hatte auch nicht die Zeit, endlos mit ihm zu verhandeln. Um achtzehn Uhr wollte sie wieder bei Stefan auf dem Hof sein, und vorher gab es hier noch reichlich zu tun.

Felix wandte sich ihr zu. »Eine Woche«, sagte er mit undurchdringlichem Gesicht.

»Eine?« Sie sah ihn entgeistert an.

»Eine. Weiter diskutiere ich nicht. Wenn dir das nicht reicht, dann gar nicht. Du musst dich nicht um mich kümmern. Wie gesagt, ich komme zurecht.«

Leonies Mund und Kehle fühlten sich schmerzhaft trocken an. Eine Woche. Nun gut. Ein winziges Zugeständnis hatte sie durchgesetzt.

»Bedingung ist: keine Anwesenheit oder Handreichungen bei der Körperpflege. Das steht überhaupt nicht zur Diskussion. Was ist das überhaupt für eine, deine Nachbarin? Typ Sozialhelferin? Gutmensch, Heile-Welt? Jemand, der sich für alles engagiert, was ihn eigentlich nichts angeht?« Sein Ton kippte ins Zynische.

»Sie heißt Kira Wagner und ist etwa so alt wie ich«, erwiderte Leonie ruhig.

»Ja, und? Was weißt du noch über sie?«

»Nicht so viel«, gab Leonie resigniert zu. »Ich glaube, sie ist alleinstehend. Sie hatte mal einen Freund, aber das ist schon eine Weile her. Sie arbeitet in irgendeiner Praxis. Wo, weiß ich nicht.«

»Praxis? Du schickst mir also eine Art Krankenschwester. Das trifft sich ja hervorragend.«

»Felix, ich habe es schon gesagt. Ich hatte nicht vor, sie dir zu schicken. Wir sind gestern ins Gespräch gekommen, und vorhin hatte ich ihre Nachricht im Briefkasten. Ich wollte erst mit dir sprechen, ehe ich Kira antworte.«

»Das war sehr großherzig von dir.«

»Weißt du was?« Abrupt erhob sich Leonie. »Nachdem du mich ja eben mehrfach darauf hingewiesen hast, dass du gut ohne mich auskommst, gehe ich jetzt. Im Vorratsschrank sind reichlich Nudeln und Fertigsoßen. Du musst also nicht verhungern, bis ich Montag am frühen Abend wiederkomme. Nur tun musst du was.«

Ihr fiel sein Hinweis auf diverse Lebensmittellieferanten wieder ein. Wahrscheinlich ließ er sich Pizzen kommen. Ihr lag auf der Zunge, ihn auch noch auf den unerledigten Abwasch in der Küche hinzuweisen. Sie verzichtete darauf. Möglich war es wohl, doch aus sitzender Position sehr beschwerlich. Spülbecken und Arbeitsfläche waren für einen Rollstuhlfahrer zu hoch montiert, und überall darunter gab es Schränke, sodass er schräg zum Becken hätte arbeiten müssen. Eigentlich war ein Umbau notwendig, wenn Felix das Haus weiter nutzen wollte. Nicht nur in der Küche, sondern im ganzen Haus.

Ein Zucken lief über Felix’ Gesicht, das sie nicht einordnen konnte. Hatte sie ihn aus der Fassung gebracht, weil er mit ihrer Entscheidung, ihm heute nicht zur Hand zu gehen, nicht gerechnet hatte?

»Ich rufe dich an, sowie ich mit Kira gesprochen habe, und sage dir, wann sie das erste Mal kommt.«

Das, so beschloss Leonie, war Kiras Entscheidung. Felix saß ohnehin nur zu Hause, hatte nie etwas vor und bekam auch schon lange keinen Besuch mehr. Das mochte daran liegen, dass er jeden, der seine Anteilnahme hatte zeigen wollen, zurückgewiesen hatte. Egal, ob derjenige lediglich angerufen hatte oder persönlich vorbeigekommen war.

»Ich werde dich nicht abhalten können«, erwiderte Felix.

Leonie zitterten die Knie, und ihr Herz schlug bis in ihre Kehle. Für einen Moment lehnte sie sich rücklings gegen die Haustür und drückte die flache Hand gegen die Brust. Sie hatte Felix die Stirn geboten und ihren Besuch abgebrochen, ehe sie auch nur angefangen hatte, ihm behilflich zu sein. Wirklich gut fühlte sich das nicht an. Sie war eher erschrocken über sich selbst. Gleichzeitig wühlte und bohrte in ihr sein Hinweis, dass er sie nie um Unterstützung gebeten hatte.

Über diese durchaus zutreffende Aussage durfte sie nicht nachdenken. Leonie stieß sich mit den Händen von der Haustür ab und eilte den geschwungenen, mit hellen würfelförmigen Pflastersteinen belegten Gehweg entlang, der zur Gartentür führte. Ihr Wagen parkte am Straßenrand, direkt vor dem Haus.

Sie warf ihre Tasche auf den Beifahrersitz und startete den Motor. Sie würde, sowie sie zu Hause war, Kira eine Nachricht schreiben und fragen, ob sie für ein kurzes Gespräch Zeit hätte.

4

Kira stieg aus der Dusche, zog ein Handtuch von der Stange, die knapp einen Meter über dem Heizkörper angebracht war, und wickelte es sich gleich einem Turban um die nassen Haare. Mit einem zweiten Handtuch trocknete sie sich notdürftig ab. Sie hatte den Vormittag damit verbracht, die Küche in Ordnung zu bringen, das Bad zu putzen und in der ganzen Wohnung zu wischen und zu saugen. Außerdem hatte sie die Wäsche, die sie gestern noch in die Waschmaschine gesteckt hatte, auf dem Wäscheständer auf dem Balkon aufgehängt. Bei der Wärme draußen würde sie rasch trocken sein.

Kira ging in ihr Schlafzimmer, holte aus der Kommode einen BH und ein Höschen, schlüpfte hinein, warf das feuchte Handtuch aufs Bett und streifte ein leichtes helles Sommerkleid über den Kopf. Aus dem Wohnzimmer hörte sie ein leises »Pling«. Das Geräusch kam von ihrem Handy und meldete den Eingang einer WhatsApp-Nachricht. Im Grunde konnte die Nachricht nur von Leonie sein. Ihr schrieb seit Langem niemand mehr privat, und daran war sie selbst nicht ganz unschuldig.

Kira rief die Nachricht auf.

Liebe Kira, herzlichen Dank für dein Angebot. Hast du eventuell heute Nachmittag ein paar Minuten Zeit für ein kurzes Gespräch? Herzlich Leonie

Kein Ja, kein Nein. Vermutlich wollte sie ihr absagen, das aber von Angesicht zu Angesicht, um sich persönlich zu erklären.

Sicher, schrieb sie zurück. Du kannst gerne in einer halben Stunde vorbeikommen.

Erst als sie die Nachricht weggeschickt hatte, fiel ihr auf, dass sie einen Abschiedsgruß vergessen hatte. Kira legte das Handy auf den Wohnzimmertisch, zuckte mit den Schultern und ging ins Bad, um ihre langen Haare vom Waschen zu entwirren.

Exakt eine halbe Stunde später läutete es an der Tür. Kira drückte den Türöffner, ohne nachzufragen, wer geklingelt hatte, und öffnete die Wohnungstür.

Leonie eilte die wenigen Stufen zum Hochparterre hinauf. »Hallo, Kira«, begrüßte sie sie.

»Hallo, Leonie. Komm rein«, forderte Kira sie auf, durchaus in der Annahme, dass Leonie dies ablehnen würde. Eine Absage war schneller vor der Wohnungstür erteilt, und dann wollte sie sicher gleich wieder gehen. Wider Erwarten folgte Leonie ihr in die Wohnung.

»Magst du was trinken?«, fragte Kira.

»Nein, vielen Dank. Ich war total überrascht von deiner Nachricht. Ich finde das phantastisch von dir«, begann Leonie.

Kira merkte, dass sie sich bemühte, Begeisterung und Bewunderung in ihre Stimme zu legen. Sie lächelte höflich.

»Setz dich doch«, sagte sie.

Wie am Vortag nahm Leonie auf dem Sessel Platz. »Also, es ist so. Felix ist nicht ganz einfach. Er lässt sich nicht gerne helfen, aber …« Sie brach ab und sah durchs Zimmer, als wollte sie Kiras Einrichtung inspizieren.

»Mach dir keine Gedanken«, nutzte Kira die Gesprächslücke. Unvermittelt fühlte sie sich dumm, ungewollt, zurückgewiesen. Wie war sie auf die Idee gekommen, Leonie bei der Versorgung ihres gelähmten Bruders helfen zu können? »Wenn er oder du das nicht wollt, hat es sich erledigt«, sprach sie eilig weiter. »Es war ein spontaner Gedanke. Er war wohl nicht so gut.«

»Doch!« Leonie sah sie an. »Er ist wunderbar. Das Problem ist, dass Felix sich sträubt. Er meint, er kommt allein zurecht. Offenbar duldet er auch meine Hilfe nur. Das ist bei mir bisher nicht so angekommen. Ich weiß schon, dass es ihm eigentlich nicht passt, Unterstützung zu brauchen. Trotzdem dachte ich bis heute Mittag, dass er es zumindest akzeptiert, weil es eben anders nicht geht.«

Kira sah einen Hauch Röte in ihre runden Wangen steigen.

»Jedenfalls haben wir uns darauf geeinigt, dass du eine Woche zu ihm kommst«, fuhr Leonie fort.

»Eine Woche?«, wiederholte Kira irritiert.

»Du lieber Himmel. Entschuldige. Das klingt jetzt so, als hätten wir etwas beschlossen und du würdest gar nicht mehr gefragt«, entschuldigte sich Leonie und legte die Finger einer Hand an die Lippen.

»Schon okay«, erwiderte Kira.

»Kannst du das denn überhaupt machen? Du musst doch auch arbeiten?«, forschte Leonie, die ihre Verlegenheit offenbar wieder überwunden hatte.

»Tagsüber geht nichts«, antwortete Kira. »Ich kann abends bei deinem Bruder vorbeisehen und am Wochenende.«

»Das genügt. Anders mache ich es ja auch nicht. Er hat nächste Woche zwei Termine bei der Physiotherapie. Einen am Dienstag und einen am Donnerstag. Beide Termine um neunzehn Uhr. Anders ist es nicht möglich, ich muss ja auch arbeiten. Und einen bei seinem Hausarzt. Der ist Freitagmittag, da habe ich eher Feierabend. Wie lange musst du am Freitag arbeiten? Ach egal. Wenn der Termin für dich nicht passt, kann ich den auf jeden Fall übernehmen. Ich schreibe dir alles auf, wann was ist und wo.«

»Ich denke, das kann mir Felix auch sagen«, entgegnete Kira.

Verdutzt sah Leonie sie an. »Ja«, sagte sie schließlich. »Es kann aber sein, dass er die Termine einfach absagt, wenn ich nicht mit ihm hinfahre, und dir gar nichts davon erzählt. Die Physio passt ihm sowieso nicht, weil er meint, sie bringt nichts.«

»Gut. Dann schreib es mir auf«, sagte Kira und schob ihr den Notizblock zu, der nach wie vor auf dem Couchtisch lag. »Mit einer Woche kann dir doch nicht wirklich geholfen sein«, bemerkte sie, während Leonie auf den Block kritzelte.

»Viel ist das nicht, das stimmt. Aber jeder Tag zählt«, gab sie zurück, ohne aufzusehen. »Außerdem hoffe ich, dass er, wenn er dich erst kennt, umdenkt«, ergänzte sie und legte den Kugelschreiber quer über ihre Notizen.

»Wie meinst du das?« Aufmerksam betrachtete Kira die junge Frau.

Leonie zuckte mit den Schultern. »Vielleicht gefällt es ihm besser, als er es sich vorstellen kann, wenn er mal wieder ein anderes Gesicht als meines sieht«, gab sie zurück. »Kommen wir jetzt zum Finanziellen. Ich dachte, das regeln wir unter uns. Wie viel möchtest du für die Stunde?«

Verblüfft sah Kira sie an. »Nichts. Das läuft unter Nachbarschaftshilfe, schon gleich, wenn es nur für eine Woche ist.«

»Nichts? Das geht nicht. Ich würde mich in Grund und Boden schämen«, protestierte Leonie.

Kira musste lachen. »Ja, dann mach das. Ich nehme jedenfalls kein Geld dafür. Wann soll ich das erste Mal zu deinem Bruder fahren? Und jetzt sag bloß nicht, wann ich will. Ich kann es auch mit ihm direkt absprechen, dazu brauche ich seine Telefonnummer. Ach ja, und die Adresse brauche ich auch noch.«

»Die schreibe ich dir auf. Die Telefonnummer von Felix auch, für alle Fälle. Auch seine Handynummer. Aber absprechen solltest du dich nicht mit ihm, er wird nur versuchen, dich zu überzeugen, dass ich hoffnungslos übertreibe und er niemanden braucht. Ich sage ihm, wann du das erste Mal kommst.«

»Okay. Also, wann?«

»Heute, wenn das bei dir geht«, platzte Leonie heraus.

»Grundsätzlich geht das«, stimmte Kira zu.

»Es ist nämlich so, ich habe mich vorhin derart über ihn geärgert, dass ich ihn einfach habe sitzen lassen, ohne irgendwas für ihn zu tun. Das lässt mir keine Ruhe«, gab Leonie zu. »Heute wäre eigentlich Duschtag gewesen. Das musst du natürlich nicht machen. Aber ich habe auch nichts eingekauft und nicht gekocht, und ich teile ihm jeden Tag seine Medikamente in so einem Schieber ein, damit er sie auch nimmt. Weißt du, was ich meine?«

»Eine Tablettenbox, ja«, sagte Kira.

»Genau. Heute hätte ich die für morgen vorbereiten müssen. Ach ja, Sonntag bin ich oft gar nicht bei ihm, wegen Stefan. Es wäre aber bestimmt kein Fehler, wenn du trotzdem auch morgen kurz nach ihm siehst. Ich schreibe dir das mit den Medikamenten auf.«

Kira nickte nur.

»Die Bügelwäsche kannst du liegen lassen. Um die kümmere ich mich. Es sei denn, dir ist schrecklich langweilig. Aber vielleicht unterhält er sich ja auch mit dir. Früher war er recht redselig.«

»Mach dir nicht so viele Gedanken. Ich fahre in etwa einer Stunde zu ihm.« Kira zog ihren Block heran und las, welche Adresse Leonie aufgeschrieben hatte.

Felix Gerber wohnte in Creußen. Creußen war eine Kleinstadt, etwa vierzehn Kilometer von Bayreuth entfernt und mit dem Auto über eine gut ausgebaute Bundesstraße in circa einer Viertelstunde erreichbar. Wenn man nicht gerade einen Traktor oder notorischen Langsamfahrer vor sich hatte. Für Leonie allerdings mochten die täglichen Strecken eine zusätzliche Belastung sein. Bayreuth lag sozusagen zwischen Bindlach und Creußen. Fuhr sie zwischen ihrem Bruder und ihrem Freund direkt hin und her, brauchte sie vermutlich jeweils etwa eine halbe Stunde.

»Danke.« Leonie blieb auf dem Sofa sitzen.

Abwartend sah Kira sie an. Irgendwas lag ihr wohl noch auf dem Herzen.

»Nimm es bitte nicht persönlich, wenn er nicht allzu freundlich ist«, sagte sie schließlich. »Der Unfall hat ihn verändert. Früher war er ganz anders.«

»Sicher«, erwiderte Kira.

»Du kannst es mir auch jederzeit sagen, wenn gleich dein erster Einsatz … Also, ich meine, wenn du es doch nicht machen willst, nachdem du Felix kennengelernt hast«, ergänzte sie.

»Es wird schon werden«, versuchte Kira, sie zu beruhigen.

Leonie nickte. Überzeugt sah sie nicht aus.

Rudi hatte ein Würstchen verschlungen und fixierte Sollinger mit seinem Blick. Es lag ja noch ein zweites auf dem Teller. Das hatte Sollinger sich für sich eingebildet, zusammen mit der Scheibe Brot dazu. Er schob den letzten Bissen seines Rahmbrotes in den Mund. Köstlich. Noch besser hätte es geschmeckt, wenn der Kerl nicht noch immer dort drüben hocken würde wie festgeklebt. Bisher schien er ihn nicht bemerkt zu haben. Sollinger hielt weiter den Kopf gesenkt, nur gelegentlich schielte er in die Richtung des Mannes, stets in der Hoffnung, er würde endlich seiner Wege gehen.

»Okay«, ließ er den Hund wissen. »Du bekommst noch ein Stückchen, der Rest ist für mich. Und dann verschwinden wir unauffällig. Und zwar so, dass der uns nicht bemerkt«, raunte er Rudi zu.

Rudi schnappte nach seinem Anteil. Sollingers Ärgernis schien ihn nicht zu interessieren. Sein Herrchen stippte das Brot in den Klecks Senf, der eigentlich für die Wurst gedacht war.

»Hallo, Herr Sollinger. Das ist ja eine Überraschung.«

Sollinger drohte sich an seinem Bissen Brot mit Senf zu verschlucken, den er gerade in den Mund geschoben hatte. Nun, wo er schon fast im Aufbruch war, stand der Typ doch noch vor ihm.

»Darf ich mich einen Moment zu Ihnen setzen?« Freundlich lächelte sein Gegenüber ihn an.

»Ich wüsste nicht, wozu.« Er hatte seinen Bissen bewältigt und auch seine Sprache wiedergefunden, von der er einen Moment befürchtet hatte, es hätte sie ihm verschlagen.

»Das heißt, Sie lehnen mein Angebot nach wie vor ab?«

»Gehen Sie Ihrer Wege und lassen Sie mir meinen Frieden. Ich sagte Nein, und dabei bleibt es auch.« Er beschloss, sich nicht aufzuregen. Zumindest nicht so, dass der Kerl es mitbekam.

»Möchten Sie nicht –«, begann der andere wieder zu sprechen.

»Nein! Ich möchte gar nichts!« Nun regte er sich doch auf.

»Schon gut. Es ist vielleicht nicht der richtige Moment. Schönen Tag noch.« Der andere wandte sich ab und ging mit gleichmäßigen Schritten davon, in aufrechter Haltung.

Sollinger schnürte es die Luft ab. Was für eine Dreistigkeit! Er trank sein Radler aus, packte das verbliebene Essen, auf das er nun keinen Appetit mehr hatte, in seinen Rucksack und stand auf.

»Komm, Rudi. Wir gehen noch zur Wolfsschlucht«, informierte er den Hund. Er würde nur bis zur kleinen Wolfsschlucht gehen. Zur großen Wolfsschlucht konnte er ein anderes Mal. Man musste nicht übertreiben.

Um kurz vor drei Uhr am Nachmittag verließ Kira ihre Wohnung. Sie gab die Anschrift von Felix Gerber in das Navigationsgerät ein und startete den Wagen.

Eine gute Viertelstunde später ließ sie ihn langsam über die Straße mit dem eigenartigen Namen »Bühler Äcker« rollen. Sie hatte das Haus sofort gefunden und zweifelte doch, ob sie an der richtigen Adresse war.

Das Haus machte einen noblen Eindruck. Es war mit Sicherheit nicht billig gewesen und von einem weiträumigen Garten umgeben. Die wenigen Bäume und Sträucher, geschmackvoll platziert, waren noch nicht allzu groß. Der dichte grüne Rasen war sorgsam geschnitten. Ob Leonie auch das übernahm? Bei der Weitläufigkeit des Grundstücks mochte sie stundenlang damit beschäftigt sein.

Auch das benachbarte Anwesen rechts hatte einen sehr großen Garten, sodass zwischen beiden Häusern reichlich Abstand war. Links von Gerbers Haus befand sich ein unbebautes Grundstück, auf dem der Rasen in Kniehöhe wucherte.