Sehnsucht nach Zypern - Julia Lehnen - E-Book

Sehnsucht nach Zypern E-Book

Julia Lehnen

0,0

Beschreibung

Zypern, die Insel der Liebe und Schönheit – dort ein Praktikum zu machen, muss traumhaft sein, glaubt die angehende Försterin Marie. Leider ist ihr Kollege Alexandros wenig entgegenkommend. Doch Marie bleibt. In ihrer Freizeit erkundet sie alle Aphrodite-Stätten der Insel für einen neuen Wanderführer. Dabei lernt sie den charmanten Archäologen Nikos kennen. Aber warum werden auf einmal keine Pflanzen mehr für den Wanderweg geliefert? Der Nationalpark ist bedroht und als der Zedernwald in Flammen steht, gerät ihr Kollege Alexandros in Lebensgefahr. "Schöne Liebesgeschichte mit viel Zypern-Atmosphäre", Sylvia Englert/ Katja Brandis (Autorin)

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 438

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

Titelei

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

Ortsverzeichnis

Nachwort

Danksagung

Julia Lehnen

Sehnsucht nach Zypern

Roman

Lehnen, Julia : Sehnsucht nach Zypern. Frankfurt am Main, Größenwahn Verlag 2021

1. Auflage 2021ISBN: 978-3-95771-291-2

Dieses Buch ist auch als eBook erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.ePub-eBook: 978-3-95771-292-9

Lektorat: Jessica Gelszus, FrankfurtKorrektorat: Sophia Krämer, FrankfurtSatz: 3w+p GmbH, RimparUmschlaggestaltung: Annelie Lamers, HamburgUmschlagmotiv: pixabay.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der Größenwahn Verlag ist ein Imprint der Bedey Media GmbH,Hermannstal 119k, 22119 Hamburg und Mitglied der Verlags-WG:https://www.verlags-wg.de

© Größenwahn Verlag, Frankfurt am Main 2021Alle Rechte vorbehalten.https://www.groessenwahn-verlag.deGedruckt in Deutschland

Land des Zitronen- und OlivenbaumsLand der Umarmung und der FreudeLand der Pinie und der Zypresseder ganzen Kerle und der Liebe

Goldgrünes Blattins offene Meer geworfen.

(Leonidas Malenis)

1.Kapitel

Ist das dort unten schon Zypern?«Marie schmunzelte über sich selbst, weil sie der Stewardess diese Frage schon zum zweiten Mal stellte. Diese verneinte freundlich, woraufhin Marie ihren Kopf so nah ans Fenster heran bewegte, bis ihre Nase die Kunststoffscheibe berührte. Sie war froh, dass sie einen Fensterplatz auf der linken Seite gebucht hatte, und versuchte, die Insel Zypern im offenen Meer auszumachen. Vergeblich, noch war nichts zu sehen.

Marie war zwar müde, weil sie so früh aufgestanden war, aber viel zu aufgeregt, um zu schlafen oder zu lesen. So schaute sie zu ihrer Sitznachbarin, einer jungen Frau, die gerade türkisfarbenen Lidschatten auftrug, der genau zu der Farbe ihres Strandkleides passte.

Während diese sich ausgiebig im Spiegel betrachtete, erhaschte auch Marie einen flüchtigen Blick auf ihr eigenes Spiegelbild: grüne Augen, blonde Haare, rosige Wangen; nur rosig, nicht rot vor Aufregung. Das beruhigte sie, bis ihre Nachbarin plötzlich rief:

»Da ist ja Aphrodite!«

Sie stieß die brünette junge Dame an, die rechts von ihr saß, offensichtlich ihre Freundin. Beide standen auf und drehten sich nach hinten.

Jetzt wandte auch Marie den Kopf. Tatsächlich: Auf der hinteren Kabinenwand der Economy-Class war der Kopf einer Frauenstatue zu sehen, die ein Schriftzug als »Aphrodite« auswies. Die Göttin hatte das Haar hochgesteckt und blickte in die Ferne.

»Schick mir den richtigen Mann, Aphrodite!«, bat laut eine der jungen Damen die Göttin.

»Und mir auch«, fiel die andere ein.

Marie lächelte, sie glaubte nicht an so etwas und war heilfroh, dass sie sich gerade nicht um Männer kümmern musste. Sie war Single und glücklich damit.

»Ein Urlaubsflirt würde auch reichen«, fuhr ihre Nachbarin fort, »also für mich müsste er dunkelhaarig und leidenschaftlich sein ...«

»Und für mich charmant und humorvoll«, ergänzte die Brünette, bevor sie Maries Schmunzeln zum Anlass nahm, sie anzusprechen. »Und du?«

»Ich bin frei und das genieße ich.«

Marie war kurz davor, über ihr Studium zu sprechen, doch dann erblickte sie durch das Fenster die Insel, die wie ein goldgrünes Blatt im offenen Meer lag. Eine Bergkette zeichnete sich wie der Rücken eines Dinosauriers im Westen der Insel ab. Das musste das Troodos-Gebirge sein, wo sie ihr Praxissemester absolvieren würde. Ihr Herz schlug schneller, und beide Mundwinkel hoben sich zu einem strahlenden Lächeln.

Sie konnte die Landung kaum erwarten.

***

Als sie das gläserne Flughafengebäude verließ, überraschte sie der plötzliche Schwall heißer Luft, die nach Meer und Lavendel duftete.

Marie ging beschwingt zu einer Bank und stellte ihren Koffer daneben ab.

Der Lavendelgeruch war so intensiv, dass die Pflanzen irgendwo in der Nähe sein mussten. Sie sah sich um, doch das flirrende Licht ließ sie mit den Augen zwinkern. In einiger Entfernung zur Bank entdeckte sie die duftenden violetten Stauden, die am Fuß von Olivenbäumen gepflanzt waren. Tatsächlich, hier auf dem Flughafen wuchsen knorrige mittelgroße Olivenbäume, die schwarze Früchte zwischen den dunkelgrünen Blättern trugen. Sie säumten die Straßen und lenkten ihren Blick in den Himmel, der sich unendlich hoch über sie wölbte.

Marie fand es gut, dass hier Olivenbäume und keine Palmen wuchsen, sie passten genau zu dieser Insel.

Sie genoss das Bad aus Licht, in dem sie stand. Auf den Schultern prickelten die Sonnenstrahlen wie kleine Nadelstiche, die belebend wirkten, doch im Nacken war ihr so heiß, dass sie die schulterlangen blonden Haare hochsteckte. Auch die Turnschuhe störten sie. Deshalb holte sie die neuen braunen Sandalen aus dem Koffer und zog sie an. Während sie die Lederriemen über die Fersen streifte, formten sich kleine Schweißperlen auf ihrer Stirn.

Als sie sich aufrichtete, entdeckte sie ein von Hand beschriftetes Pappschild, auf dem »Marie Sommer« stand. Der Mann, der es hielt, lehnte am Geländer der Brücke, die zum Parkplatz führte. Schnell nahm sie ihr Gepäck und ging in seine Richtung.

Er hatte schwarzes leicht gewelltes Haar und trug einen dunklen Vollbart. Sie war nicht in der Lage, sein genaues Alter einzuschätzen, weil der größte Teil seines Gesichts von einer Fliegerbrille bedeckt war. Da er neben einer Gruppe von Touristen in Shorts und Sandalen stand, wirkten seine khakifarbene Hose und seine schweren Arbeitsstiefel fehl am Platz.

Der Mann reichte ihr die Hand. Sein Händedruck war warm und fest.

»Hallo. Bist du Marie Sommer?«

»Ja, hallo.«

»Ich bin Alexandros Ioannou. Willkommen auf Zypern! Wie war dein Flug?«

»Der Flug war gut. Danke, dass du mich abholst.«

Er nahm ihren Koffer, sagte nur auf Griechisch »Ela« und ging voran. Das Wort kannte sie aus ihrem Reiseführer, es hieß »Komm«.

Als er schneller lief, humpelte er, irgendetwas stimmte mit seinem rechten Bein nicht.

Sie packte ihren Rucksack und folgte ihm zu einem dunkelgrünen Jeep, der von außen genauso schmutzig aussah wie die Dienstfahrzeuge bei ihr zu Hause. Getrockneter Schlamm bedeckte zur Hälfte das Emblem der zypriotischen Forstabteilung.

Er öffnete die Heckklappe und hievte ihren Koffer auf die sandige Ladefläche.

Marie setzte sich auf den durchgesessenen Beifahrersitz und drehte das Fenster nach unten, weil es so intensiv nach Rauch roch, als wäre der Wagen gerade durch einen Waldbrand gefahren.

Alexandros bewegte den Schlüssel mehrfach im Schloss, um den Wagen zu zünden, doch erst beim dritten Versuch startete der Wagen.

»Fenster zu! Sofort hochdrehen!« Er zeigte auf die Kurbel neben ihr, doch zu spät.

Eine graue Wolke von Dieselabgasen wehte direkt in den Wagen hinein. Daraufhin ließ Alexandros genervt sein Fenster herunter, sodass die Abgaswolke während der Fahrt abziehen konnte.

Marie hielt kurz die Luft an und versuchte sich anzuschnallen, doch der lange graue Gurt hing durch, er spannte nicht.

»Steck das Metallteil einfach ins Gurtschloss und zieh den oberen Teil des Gurtes straff«. Sie folgte seinen Anweisungen, doch der untere Teil des Gurtes hing immer noch durch.

»Wenn wir in eine Polizeikontrolle kommen, legst du deine Handtasche auf den Schoß, dann fällt das gar nicht auf.«

»Ich schnalle mich doch nicht zur Dekoration an, sondern um mich bei Unfällen ...«

»Wir werden keinen Unfall haben.«

Marie seufzte und streckte die Beine aus, doch sie zuckte sofort zurück, weil sich ihre Sandale in einem der Kabel verfangen hatte, die lose im Fußraum hingen. Da sie einen Stromschlag befürchtete, zog Marie ihre Füße an den Sitz heran.

Schon bei der ersten Kreuzung kam ein Wagen mit solcher Geschwindigkeit von links auf sie zu, dass sie einen Zusammenstoß voraussah, aber Alexandros fuhr unbeirrt weiter, sodass sich das Auto direkt hinter ihnen einordnete. Stimmt, auf Zypern war ja Linksverkehr, erinnerte sich Marie.

Sie ließen den Flughafen hinter sich und bogen nach kurzer Autobahnfahrt steil in die Berge ab, auf eine kurvige Straße ohne Leitplanken, auf der man bei Gegenverkehr kaum ausweichen konnte.

Alexandros schnallte seinen Gurt ab.

»In den Bergen gibt es keine Polizeikontrollen mehr.«

Marie wurde es noch mulmiger zumute, aber sie verzichtete darauf, ihm zu erklären, wozu man den Sicherheitsgurt ihrer Ansicht nach tragen sollte.

Sie umrundeten einen dunkelgrünen Stausee, der von Kiefern umgeben war, dann folgten sie dem Verlauf eines türkisfarbenen Gebirgsbaches, der sich tief in das Tal eingegraben hatte. Ein Stück Asphalt war aus der Straße herausgebrochen und fünf Meter tiefer auf einem Felsvorsprung hängen geblieben.

Sie beschloss, nicht nach draußen zu schauen, sondern musterte unauffällig ihren Begleiter. Goldbraune Arme hatte er und dunkle, glänzende Locken. Als nächstes blieb ihr Blick an dem runden Aufnäher auf seinem Ärmel hängen, dem Logo der Forstabteilung: drei Nadelbäume erhoben sich über einem Tal, durch das sich ein Fluss wandt. Es war ihr unangenehm, dass er stumm neben ihr saß und geradeaus starrte. Ihr ging so viel durch den Kopf, dass sie einfach anfing:

»Mir gefällt eure Idee mit den mehrtägigen Wanderwegen. Wie lange ist man denn genau unterwegs?«

»Drei bis vier Tage.« Marie hielt kurz inne, dann setzte sie erneut an.

»Ich habe mir auf der Karte den Nationalpark angeschaut, und wir könnten ja jedem Abschnitt des Wanderwegs ein anderes Motto geben, zum Beispiel Vögel, Bäume oder Artenvielfalt ...«

»Die Konzeption ist abgeschlossen. Was wir brauchen sind Leute, die anpacken.«

Während sie weiterfuhren, erklärte Alexandros einige der anstehenden Arbeiten wie Bäume fällen, Zedern pflanzen und Steinmauern errichten, um die Wanderwege vor Geröll zu schützen.

Marie schluckte; sie hing immer noch an den Worten »Konzeption abgeschlossen«. Sie war doch gekommen, um die Wanderwege mit zu planen; offensichtlich ging es jetzt hauptsächlich um die Ausführung. Laut ihres Praktikumsvertrages war ein gewisser Stavros Georgiou für das Projekt und die Betreuung der Studenten zuständig. Warum hatte er sie nicht informiert, dass sich etwas geändert hatte?

»Ich spreche am besten so bald wie möglich mit unserem Chef.«

»Stavros ist leider die nächsten Tage nicht da.«

Marie wurde es heiß und kalt im Nacken, sie kurbelte das Fenster herunter und suchte einen Baum, an dem sich ihre Augen festhalten konnten, das brauchte sie jetzt.

Sie mochte nicht, wenn Dinge sich plötzlich änderten, wenn Absprachen nicht eingehalten wurden. Genau deshalb liebte sie Bäume, weil die starke Stämme hatten, fest verwurzelt waren und hunderte von Jahren zuverlässig an einem Ort wuchsen. Doch statt Bäumen taten sich Schluchten neben der Straße auf, wie Abgründe, in die sich Lawinen von grauen Steinen ergossen hatten.

***

Vorbei an verlassenen Dörfern schraubte sich der Jeep weiter ins Gebirge hoch.

Maries Blick blieb an einer Siedlung aus zwanzig viereckigen, ockerfarbenen Gebäuden hängen, von denen nur noch die Grundmauern standen, sodass sie in die leeren Häuser hineinschauen konnte. Die Fußböden waren mit Gras bedeckt, aus einem Haus wuchs eine riesige Pappel. Der Stamm stand fest, und die Blätter leuchteten ihr silbrig-grün entgegen. Ihre Zuversicht kam zurück.

»Ich freue mich schon auf das Forsthaus. Aus meiner Heimat kenne ich natürlich Forsthäuser, aber hier auf Zypern ... Ich bin gespannt, wie es aussieht.«

»Das Haus muss erst noch renoviert werden. Du kannst es dir gern ansehen, das haben auch die anderen Praktikanten getan – wir haben hier dauernd Praktikanten – aber wohnen kann man dort nicht. Es gibt Wohnungen in Platres oder in Limassol. In den Forsthäusern lebt niemand mehr außer mir.«

»Moment! Im Praktikumsvertrag stand Unterbringung: Forsthaus Omodos.«

»Das ist nur für die ersten Tage.«

In ihrem Hals bildete sich ein Kloß. Das konnte doch nicht wahr sein. Ihre Vorstellungen begannen sich langsam in Luft aufzulösen, und sie hoffte, dass sie wenigstens noch andere Mitarbeiter kennenlernen würde, die sie freundlicher empfingen.

Allmählich wurde die Straße zur Teerpiste, Steinbrocken lagen auf der Fahrbahn.

Alexandros schaltete das Radio ein, ein Ansager sprach aufgekratzt auf Griechisch, seine Worte wurden durch Musik und Werbung unterbrochen.

Obwohl Marie sich vorher einen Sprachführer mit CD gekauft hatte, verstand sie kein Wort. Dagegen war der Englisch-Refresher-Intensivkurs, den sie besucht hatte, sinnvoll gewesen, genauso wie das Seminar auf Englisch, das sie im letzten Semester belegt hatte. Sie hatte geglaubt, dass die Zyprioten mit starkem griechischen Akzent sprechen würden, aber ihr Kollege sprach akzentfrei und flüssig. Sie verstand alles, was er sagte, und konnte antworten.

Plötzlich kamen laute, quäkende Töne aus einem Walkie-Talkie, das auf der Fahrerseite hing.

»Was ist los?«

»Es geht um Brandschutz. Im Sommer gibt es hier oft Waldbrände, deshalb beobachten unsere Leute den Wald von dreizehn Beobachtungsstationen aus und suchen die Gegend nach Feuern ab. Bis in den Dezember hinein können Brände auftreten.«

»Und wie sieht es im Moment aus?«

»Alles gut.«

Ständig kamen neue bellende Aussagen durch das Walkie-Talkie, die wohl Entwarnung gaben, denn Alexandros fuhr unbeirrt weiter.

Marie wurde es immer heißer im Jeep, der über keinerlei Klimaanlage verfügte. Sie nahm einen letzten Schluck aus ihrer Wasserflasche.

»Könntest du bitte an der nächsten Gaststätte halt machen?«, bat sie Alexandros.

»Tut mir leid, es gibt hier keine Gaststätten, da musst du dich noch eine halbe Stunde gedulden.«

Als in der Ferne die weißen Häuschen des Dorfes Omodos erschienen, war Marie erleichtert: hier würde sie die nächsten vier Monate verbringen.

Doch Alexandros fuhr weiter mit dem Kommentar:

»Das Forsthaus liegt oberhalb des Dorfes.

2.Kapitel

Vor einem Haus aus roten Backsteinen mit grünem Dach hielt er an. Die grünen Fensterläden standen halb offen und winkten ihr zu.

Marie dachte daran, dass das Haus noch renoviert werden musste; von außen gesehen verstand sie nicht warum. Vor der Hauswand waren Oleander-‍, Tamarisken- und Rosenbüsche gepflanzt. Ein Busch mit kräftigem Stamm rankte über die grüne Eingangstür, die durch die violette Blütenpracht im oberen Teil verdeckt wurde.

»Die Bougainvillea wächst wunderschön!« staunte Marie.

Alexandros nickte.

»Na, wenigstens hast du dich mit Mittelmeerfauna beschäftigt.«

Sein gönnerhafter Ton gefiel ihr nicht, ganz und gar nicht. Sie würde einiges klarstellen, sobald sie sich das Haus angesehen hatte.

Er stieß die schwere Haustür auf, die quietschend über den Fußboden schabte, und sie trat hinter ihm in den Flur, wo er Maries Koffer abstellte.

Nach links bogen sie durch eine halboffene Tür ins Büro ab. Zwei graue Metallschreibtische befanden sich darin, einer unter dem Fenster, ein anderer vor der Wand. Ein altes Telefon mit Wählscheibe fiel ihr ins Auge. Es kontrastierte mit dem Laptop, das auf einem der Schreibtische lag. An den Wänden entdeckte sie Poster von Pflanzen und Tieren: die häufigsten Giftpflanzen und Singvögel.

Sie verließen das Büro und gingen über das knarrende Holzparkett durch den Flur in das Wohn- und Esszimmer. Es gab einen Kamin aus rotem Backstein, daneben stand ein Korb mit Feuerholz.

Marie wurde unruhig: der Kamin, der Geruch nach Feuerholz, die aus Flusssteinen gemauerte Wand. Das erinnerte sie an das Haus ihrer Großeltern.

Neben dem Kamin stand ein Fernseher, den Bildschirm auf ein abgewetztes braunes Sofa gerichtet. In der Nähe der Tür befand sich ein Holztisch mit sechs Stühlen. Genau wie früher bei ihrem Großvater.

Sie suchte die Wände nach Hirschgeweihen ab, doch die gab es hier nicht. Die Holzbalken an der Decke? Sie waren da, dunkelbraun, aber nicht mit Engelsköpfen dekoriert, wie bei ihren Großeltern. Sie fragte sich, ob es hinter dem Haus auch einen Garten gab.

Alexandros führte sie weiter durch den Flur in die Küche.

»Der Gasherd ist uralt, eine Spülmaschine haben wir nicht, auch keine Kaffeemaschine oder Mikrowelle.«

Marie schaute sich um. Oft zeigten einem andere Leute ihre Wohnungseinrichtung mit Stolz. Warum wies Alexandros nur auf das Negative hin? Doch er hatte schon Recht, diese Küche erinnerte sie eher an die eines alten Bauernhauses.

Sie kamen an der geöffneten Tür der Abstellkammer vorbei und erreichten die Terrassentür, die tatsächlich nach draußen führte. Die Bank in der Sonne? Da war sie!

Marie ging nach draußen und setzte sich auf die Bank, als wollte sie sich überzeugen, dass sie nicht träumte. Zu ihrer Linken lag ein Gemüsegarten mit Stangenbohnen und Tomaten. Auf dem Kies unmittelbar hinter dem Haus befand sich ein weißer Metalltisch mit vier Stühlen.

Sie erhob sich und ging über den Weg zum anderen Ende des Gartens. Dabei nahm sie das Geräusch der kleinen Steine unter ihren Füßen bewusst wahr und den leichten Staub, der dabei hochwirbelte. Im hinteren Bereich ging der Kies in einen Rasen über, auf dem eine Liege stand. Im Garten ihrer Großeltern waren hinten rechts Bienenstöcke gewesen.

Sie wandte sich zu Alexandros, der in der Terassentür wartete.

»Gibt es hier Bienenstöcke?«

Alexandros betrachtete sie irritiert.

»Der letzte Förster hatte welche. Jetzt gibt es keine mehr.«

»Schade, meine Großeltern hatten damals welche. Mich wundert, dass du hier noch leben darfst. Mein Opa musste raus, weil aus den Forsthäusern Verwaltungsgebäude geworden sind.«

»Willst du dein Zimmer gar nicht sehen?«

»Doch, natürlich«

Durch Küche und Flur gingen sie zurück zu dem Zimmer, das direkt gegenüber dem Büro lag.

Es war spartanisch eingerichtet, ein schmales hölzernes Bett mit Nachttisch stand rechts an der Wand, auf der linken Seite befand sich ein Schrank; das Bett war nicht bezogen, aber ein Stapel Bettwäsche lag auf dem Kopfkissen. Auch ihr Zimmer hatte einen Kamin. Bis auf ein Poster, das die Pilze des Troodos-Gebirges auf Griechisch vorstellte, waren die Wände kahl, der Holzboden abgenutzt.

Aber ansonsten erschien ihr das Zimmer passabel, denn das Fenster eröffnete den Blick auf ein Feld mit Pfirsichbäumen, und im Hintergrund erstreckten sich Hügel, die von weitem dunkelblau wirkten. Wenn davor im Frühjahr die Pfirsichbäume rosafarben blühen, könnte das wie auf einer Postkarte aussehen, stellte sie sich vor. Jetzt hingen reife gelb-rote Früchte an den Zweigen.

Sie öffnete das Fenster und atmete den leichten Duft von Pfirsichen ein.

Alexandros führte sie in den Flur:

»Mein Zimmer ist direkt daneben, gegenüber vom Kaminzimmer.«

»Und wo sind unsere Kollegen?«

»Es gibt nur einen, und das ist unser Chef Stavros, der mit seiner Familie im Dorf wohnt.«

»Das heißt, wir leben hier ganz alleine, und das Auto gehört dir?« Erst jetzt wurde Marie so richtig klar, was das bedeutete. Und die Situation war ihr unangenehm.

Wenn sie mit einem Mann so nah zusammenwohnte, müsste sie sich richtig gut mit ihm verstehen, und sie bezweifelte, dass das bei Alexandros und ihr der Fall wäre. Sie hätte sich vielleicht doch ein Hotel in Larnaka nehmen sollen.

»Ich habe noch meinen eigenen Wagen und ein Mountain Bike. Das Rad kannst du benutzen«, ergänzte Alexandros.

Zwischen seinem Zimmer und der Werkzeugkammer lag das Bad. Der Blick ins Badezimmer ließ sie stutzen. Die kahle Dusche ohne Vorhang war zwar geputzt, doch daneben stand ein hoher weißer Wasserboiler, neben dem Holzscheite aufgestapelt lagen. Um mit warmem Wasser zu duschen, würde sie den Boiler mit Holzscheiten heizen müssen, hoffentlich funktionierte das!

Jetzt verstand Marie, was Alexandros mit renovierungsbedürftig meinte.

»Gibt es noch ein Bad?«

»Ja, aber das hat nur eine Toilette und liegt in der Scheune. Ich habe ja gesagt, dass das Haus nicht dem neuesten Standard entspricht.« Ruhig lehnte er sich in den Türrahmen, verschränkte die Arme, seine Gesichtsmuskeln entspannten sich. »Hier hat noch nie längere Zeit eine Praktikantin gewohnt. Sie verbringen ein paar Tage hier und suchen sich dann ein Zimmer im Dorf oder in der Stadt. Das stellt das Forest Department zur Verfügung, keine Sorge! Die Umgebung ist traumhaft, aber das Haus ist alt, nicht antik oder gemütlich, sondern einfach nur alt und abgenutzt.«

Er hatte Recht. Genau das war die sachliche Beschreibung des Zustands »alt und abgenutzt«. Im Dorf waren die Häuser wahrscheinlich alt und gemütlich und in der Stadt modern und komfortabel.

Aber es gab eine Ebene, die Alexandros nicht sah, und das war die Liebe zu ihrem Opa und zu alten abgelegenen Häusern, in deren Nähe sofort Bäume erreichbar waren, an denen sie sich festhalten konnte, wenn die Welt ins Wanken geriet.

In diesem Haus zu leben bedeutete, neben Alexandros zu wohnen. Sie würde ihre Interessen deutlich klarmachen müssen und sich nicht bevormunden lassen.

»Bei uns gibt es auch Forsthäuser mit ganz einfachen sanitären Anlagen.« Dass sie einen solchen Wasserboiler noch nie gesehen hatte, erwähnte sie nicht.

»Komm, ich zeige dir deinen Arbeitsplatz.«

Sie hoffte, dass sie nicht unmittelbar nach der langen Anreise loslegen musste. Doch zu ihrer Überraschung gingen sie an dem kleinen Büro vorbei nach draußen.

Wenige hundert Meter vom Haus begann ein Weg, der rechts und links mit kleinen Zedern bepflanzt war. In einigem Abstand ragten aus dem weißen, felsigen Boden einzelne Kiefern und Büsche hervor. Rechts vom Wegesrand standen zwanzig weitere Zedernsetzlinge, die auf das Einpflanzen warteten.

»Bei uns übernehmen die Forstangestellten das Einpflanzen.« Marie schaute ihn fragend an.

»Löcher graben, Zedern einpflanzen; wenn andere Bäume im Weg sind, mit der Motorsäge entfernen. Zieh dich um, dann legen wir los, oder bist du zu müde?«

»Heute bin ich wirklich zu erschöpft von der langen Reise, aber morgen kannst du mir gern alles erklären«, stellte sie klar, bevor sie zum Forsthaus zurücklief.

Alexandros murmelte etwas auf Griechisch vor sich hin, was sie nicht verstand, aber das war ihr im Moment egal.

Sie rief ihre Eltern an, erzählte vom Flug und vom Forsthaus und zog sich in ihr Zimmer zurück.

Als sie im Bett lag, kreisten die Gedanken. Wie es hier riecht, gefällt mir, nach Holz. Was man sieht, die Hügel, Felder, Bäume, das alte Haus. Was man hört, die Vogelstimmen, das Rauschen der Bäume.

Alles genau richtig.

Sie fühlte sich zuhause, weil sie auf einmal das große, weiße Steinhaus vor sich sah. Mit seinen grünen Fensterläden, der Glocke neben der Eingangstür und dem Brunnen im Hof. Und da öffnete sich ein Küchenfenster und ihre Oma hielt ihr einen Teller mit Rhabarberkuchen hin, den sie lächelnd entgegennahm.

Dann dachte sie an die Gegenwart und das Lächeln verschwand: In diesem Forsthaus gab es keine freundliche Großmutter, nur einen Kollegen, der sie anscheinend nicht da haben wollte. Hoffentlich ist der Chef anders.

Sie klammerte sich an diesen Gedanken und schlief langsam ein.

3.Kapitel

Am nächsten Morgen steckte sie ihre dichten blonden Haare mit Haarspangen hoch, trug Sonnencreme auf und zog die Arbeitskleidung der zypriotischen Forstabteilung an: das weite hellgrüne Hemd sowie die lange dunkelgrüne Hose, die Alexandros ihr auf das Sofa gelegt hatte.

Gut, dass das Hemd kurze Ärmel hatte, langärmlige Hemden endeten bei ihr meist mehrere Zentimeter vor dem Handgelenk, was ihre Arme noch länger erscheinen ließ. Die weite Hose musste sie mit Gürtel tragen – und sie würde ihrem Kollegen klarmachen, dass das Pflanzen nicht ihre Aufgabe war, sondern die Planung.

»Konzeption eines Zedernwanderwegs von den Weindörfern zu den Scheunendachkirchen, stand in der Aufgabenbeschreibung«, brach es aus ihr heraus, als sie wieder vor Alexandros stand, der auf dem Boden kniete und eine Zeder einsetzte. »Für die Ausführung gibt es doch sicherlich Angestellte.«

»Wir sind die Angestellten«, wiederholte Alexandros, etwas geduldiger legte er nach: »Für das Projekt gibt es zu wenig Geld, wir haben nicht genügend Zedern, geschweige denn Personal.«

»Und wie sollen wir das in vier Monaten schaffen?«

»Indem du mit anpackst, solange wir keinen männlichen Mitarbeiter bekommen. So, mit der Hacke ein zwanzig Zentimeter tiefes Loch ausheben, je nach Größe des Wurzelballens auch tiefer.« Er zeigte ihr, wie man das Loch grub und die Pflanze einsetzte.

Was bei ihm leicht aussah, gelang Marie nicht.

»Der Boden ist ja steinhart!«

»Kein Wunder bei der Trockenheit. Außerdem ist der Boden felsig, sehr kalkhaltig und für viele Pflanzen ungeeignet.«

Sie versuchte energisch, die harte Erde mit der Hacke zu durchdringen, doch als sie nach zehn Minuten kein ausreichend tiefes Loch zustande gebracht hatte, hörte sie auf.

Es war ihr extrem unangenehm, wenn sie etwas physisch nicht so gut konnte wie ihre männlichen Kollegen. Das hatte sie schon in der Ausbildung geärgert, weil es alle Vorurteile bestätigte: dass Frauen nicht stark genug wären, einfach körperlich nicht in der Lage, diesen Beruf auszuüben.

Was hatte damals geholfen? Das, wovon sie mehr hatte, als alle Männer ringsum: Verstand. Den würde sie jetzt einsetzen. Es war kein Chef da, der ihr klar sagen konnte, ob das Pflanzen wirklich ihre Aufgabe war, nur Alexandros, der darauf bestand.

Sie wollte auf ihn nicht den Eindruck machen, dass sie die Arbeit verweigerte.

»Wie wäre es, wenn du die Löcher gräbst und ich die Zedern einpflanze? Ich bin nicht an eure Böden gewöhnt.«

Da Alexandros wahrnahm, dass es keine bessere Lösung gab, ließ er sich darauf ein.

Nachdem er das erste Loch gegraben hatte, griff Marie mit beiden Händen eine Zedernpflanze aus der Schubkarre, die hellbraune Erde des Wurzelballens krümelte ihr durch die Hände. Stolz reckte sich die kleine Zeder in die Höhe.

Sie setzte die Pflanze in den harten, steinigen Boden. Vorsichtig, fast zärtlich wischte sie den Staub von den feinen kurzen Nadeln, die sternförmig angeordnet waren. Mit dieser Mission konnte sie sich identifizieren, der Zypern-Zeder, die noch vor wenigen Jahrzehnten vor dem Aussterben stand, einen neuen Lebensraum zu geben. – »Platsch«, ein Schwall Wasser ergoss sich über Maries Hose, Schuhe und die kleine Zeder.

»Nach dem Einsetzen wässern!« Alexandros schüttete schmunzelnd die letzten Tropfen Wasser aus dem Eimer.

»Beim nächsten Mal gießt du nur die Pflanze und nicht mich!« Marie richtete sich auf und wischte mit einem Taschentuch das Wasser von ihrer Hose.

Nach einer Weile schlug Alexandros einen verständnisvolleren Ton an:

»Wenn du Wege planen und anlegen möchtest, wirst du die Arbeit nicht interessant genug finden. Vielleicht kannst du in ein anderes Projekt wechseln.«

Trotz seines verbindlichen Tonfalls hatte Marie das Gefühl, dass er sie loswerden wollte. Von wegen, dachte sie, ich habe mich so dafür eingesetzt hier zu sein, ich gebe noch lange nicht auf.

Als sie die nächste Zeder in den weißen felsigen Boden setzte, fragte sie Alexandros:

»Ich kenne mich zwar nicht mit euren Böden aus, aber meinst du wirklich, dass die Zedern hier anwachsen? Und das Troodos-Gebirge ist so weit entfernt. Wie sollen wir das mit dem Zedernweg erreichen?«

Alexandros stützte den rechten Ellbogen auf seinen Spaten.

»Für Zedern ist der PH-Wert des Bodens nicht ideal und die Erde zu kalkhaltig, sie würden besser auf den eisenhaltigen Böden weiter oben im Troodos-Gebirge wachsen. Wir versuchen es trotzdem, wenn es funktioniert, können wir die ganze Insel aufforsten.«

Sein Gesicht wurde von der Sonne angestrahlt, hellbraune Reflexe leuchteten in seinen dunklen Augen. Er hatte die Augenfarbe von Mousse au Chocolat, aber wahrscheinlich dachte sie nur daran, weil sie hungrig war.

Nach zwei Stunden entschied er:

»Genug für heute.«

Sie gingen die wenigen hundert Meter zurück zum Haus und schauten vorher auf die zwölf Pflänzchen, die sie in dieser Zeit geschafft hatten. Die Arbeitsteilung war keine schlechte Idee gewesen.

Marie setzte sich auf einen der weißen Terrassenstühle, die hinter dem Haus standen.

Vögel zwitscherten, Jasminbüsche und einzelne Schwarzkiefern umgaben das Grundstück.

Sie bewunderte einen Mammutbaum und blickte durch die Baumkrone in der Hoffnung, einen Adler über sich kreisen zu sehen. Sie versuchte ihre Gedanken zu ordnen.

Wie komme ich von hier aus in den nächsten Ort, um Einkäufe zu erledigen? Alexandros später fragen. Erst einmal ausruhen ...

Sie genoss die Sonnenstrahlen auf ihrem Körper und den Geruch der Pinien. Auch die Rosenstöcke, die die Wiese umrahmten, rochen gut, doch sie nahm außer dem Pinien- und Rosenduft noch etwas anderes wahr, sie spürte, dass Wasser in der Nähe war.

Neben dem Haus ihrer Großeltern lag ein Teich, in dem sie und ihr Bruder im Sommer geschwommen waren. Es wäre wunderbar, wenn es hier auch einen See gäbe, in dem sie sich nach der Arbeit erfrischen könnte.

Sie ging Schritt für Schritt in Richtung der Pfirsichfelder, am Ende des Gartens lief sie einen kurzen Abhang hinunter, und da war er: kein See, aber dafür ein Bach, der über Steine und Wurzeln sprudelte. Am Ufer wuchs ein Erdbeerbaum und da, nah am Wasser eine Goldeiche.

Marie zog ihre Schuhe aus und ging mit den Füßen ins Wasser. Es war erfrischend und so kalt, dass sie für einen Moment ihre Füße nicht mehr spürte. Sie rutschte auf einem moosigen Stein aus und tat sich die Zehen weh. Sie brauchte Flusssandalen, genau, Kunststoffsandalen, dann könnte sie im Flussbett gehen.

Schließlich setzte sie sich ans Ufer auf weiches Moos und atmete die klare Luft ein, die nach Pinien und gleichzeitig nach Fluss und Algen roch. Das Plätschern des Baches entspannte sie. Wenn man eine Weile dasaß und das Licht sich auf den Blättern der Goldeiche spiegelte, dann funkelten sie tatsächlich golden und der Bach silbern.

Das würde ihr Lieblingsplatz sein.

Hier könnte sie lesen oder sich nach der Arbeit ausruhen. Wenn sie bleiben konnte ...

Sie legte ihre Hand auf die warmen Steine, sie wollte genau hier bleiben und hatte nicht die geringste Absicht, irgendwo anders eine Wohnung zu suchen. Denn der Geruch nach Flusssteinen und Algen rief die Erinnerung an den Arnsberger Wald in ihrer Heimat hervor.

Sie liebte es, mit ihrem Jagdhund Timmy dort spazieren zu gehen, meist mit den Wanderschuhen direkt durch das Flussbett der flachen Bäche, wo sie die Pflanzen am Ufer wie einen Urwald wahrnahm, wie eine Überraschung und ein Abenteuer, als wäre sie der erste Mensch und würde alles neu entdecken.

Den Geruch nach Wasser, Steinen und Moos hatte sie auch in der Nase, wenn sie um die Stauseen ihrer Heimat Fahrrad fuhr oder sich mit ihren Freunden im Ruderclub traf und den Hennesee im Boot überquerte.

Als sie wieder zum Haus zurückkam, fragte Alexandros, der gerade Tomaten aus dem Gemüsegarten pflückte:

»Willst du nicht duschen?«

»Das mache ich, wenn ich einen Duschvorhang besorgt habe.«

Alexandros schüttelte wortlos den Kopf, verschwand in der Küche und kam kurz darauf mit einem Tablett wieder zurück.

»Zum Mittagessen haben wir Horiatiki Salata, dazu gibt es Ofenkartoffeln mit Talattouri.«

Marie fragte sich, was »Horiatiki« hieß, das Wort war ihr im Griechischbuch nicht begegnet.

Als sie Tomaten, Gurken, Schafskäse und Oliven auf dem Teller hatte, schloss sie, dass es sich um einen Bauernsalat handeln musste. Er schmeckte wunderbar frisch, genauso wie Talattouri, was ein zypriotischer Begriff für »Tzatziki« zu sein schien.

Er beobachtete sie eine Weile stirnrunzelnd und fragte dann:

»Also: Was hast du bisher im Studium gemacht?«

Marie überlegte gut, bevor sie sprach. Sie wollte ihm klar machen, dass er es mit jemandem zu tun hatte, der auf Augenhöhe mit ihm war.

»Ich habe schon mehrere Praktika absolviert, das letzte im Hochsauerlandkreis. Wir haben Wanderkarten erstellt und die Wege möbliert, das heißt Schilder, Bänke, und Abfallbehälter aufgestellt.«

Marie holte Luft, bevor sie fortfuhr:

»Dann haben wir einen Aussichtsturm errichtet und einen Sinnespfad angelegt. Unsere Erfahrungen kann ich gern an euch weitergeben.« Selbstbewusst schaute sie ihn an.

»Ich bezweifle, dass sich die Situation in Deutschland mit der auf Zypern vergleichen lässt. Wir sind bisher gut allein zurechtgekommen. Und übrigens: Bänke gibt es auch auf unseren Wanderwegen, vielleicht schaust du sie dir mal an, bevor du uns gutgemeinte Ratschläge gibst.« Er stand auf, holte ein Büchlein in Din A5-Format aus dem Haus und schob es ihr zu: »Fünfzig Wanderwege auf Zypern«.

Das war ein deutsches Buch, das sie wohl bei ihrer Recherche übersehen hatte. Mist!

»Alles Weitere kannst du mit unserem Chef besprechen.«

Mit diesen Worten stand er vom Tisch auf und verschwand im Haus.

***

Als sie ihr Geschirr in die Küche brachte und in die Spüle stellte, saß Alexandros am Küchentisch und trank einen Kaffee. Sie fragte:

»Arbeiten wir eigentlich morgen auch?«

Zuerst nickte er gedankenverloren, doch dann fiel ihm etwas ein.

»Morgen ist Samstag, da bin ich nicht da, ich fahre für das Wochenende nach Nikosia. Zu Essen findest du genug im Kühlschrank.«

Marie schaltete erst nach einer Weile:

»Nikosia soll eine interessante Stadt sein.«

Alexandros reagierte nicht.

»Ich würde sie mir gern ansehen.«

Ihr Gegenüber schwieg.

»Würdest du mich mitnehmen? Ich werde mir dort eine Pension suchen.«

»Ich starte Punkt neun Uhr«, erwiderte Alexandros schlicht.

Abends rief sie ihre Freundin Corinna an. Dummerweise gab es nur das uralte Telefon im Büro, denn das Mobilnetz funktionierte im Haus nicht. Sie konnte das Gerät nicht mit in ihr Zimmer nehmen, da die Schnur zu kurz war.

Alexandros saß am Schreibtisch und arbeitete, sodass er das gesamte Gespräch mithörte. Gut, dass er kein Deutsch verstand.

Corinna erzählte von ihrem Arbeitstag und fragte schließlich:

»Und wie ist es, erzähl doch mal!«

»Ganz schön.« Sie schaute verstohlen zu Alexandros, der etwas aus einem Buch in seinen Computer tippte und immer wieder den Blick zum Telefon hob.

»Beschreib doch mal die Landschaft, die Menschen. Die Griechen sollen doch so leidenschaftlich sein.«

»Die Landschaft ist genau so, wie ich sie liebe. Ich wache morgens bei blauem Himmel auf und sehe die rotbraunen Berge, davor das Grün der Pfirsichbäume, deren Blätter sich langsam gelb färben.«

»Und wie sind die Städte?«

»Das kommt noch. Ich fühle mich ehrlich gesagt ein bisschen alleine.«

»Ich vermisse dich auch, Marie. Abends ins Brazil gehen macht gar keinen Spaß ohne dich. Warum hast du dich nicht für dieses Projekt in Belgien entschieden? Zypern ist so weit weg!« Sie seufzte. »Komm einfach zurück, wenn es dir nicht gut geht. Sei bloß nicht stur. Zuhause ging es dir doch gut. Du musst niemandem etwas beweisen!«

Alexandros war aufgestanden, füllte mit seinem Körper den gesamten Türrahmen aus und fixierte das Telefon.

»Doch«, sagte Marie laut und deutlich. Sie hatte das Gefühl, dass sie dann am lebendigsten wurde, wenn sie anderen etwas beweisen konnte, besonders Männern. »Ich melde mich noch einmal, wenn ich alleine bin und in Ruhe mit dir sprechen kann.«

4.Kapitel

Beim Frühstück saß sie in einem ärmellosen grünen Leinenkleid auf der Terrasse und freute sich auf ihren ersten Ausflug in die Inselhauptstadt.

Als Alexandros in lässigen Shorts und ebenso legerem Kurzarmhemd aus dem Haus kam, nahm sie die Narbe wahr, die sich längs über sein rechtes Knie zog.

Währenddessen wanderten seine Augen einmal von oben nach unten an ihrem Outfit entlang. Weil sie sich hingesetzt hatte, war das Kleid leicht nach oben gerutscht, sodass es ihre Knie freiließ.

Sie zog das Kleid nach unten und dachte auf einmal an Daniel, den Womanizer aus der Disco, in die sie früher manchmal mit ihren Freundinnen gegangen war. Alexandros hatte den gleichen Blick, was Frauen anging, als hätte er schon viele so angesehen.

Normalerweise reagierte sie allergisch auf solche Blicke, doch sie sagte nichts, weil Alexandros ihre Mitfahrgelegenheit war. Er schien unschlüssig, was er von ihrem Erscheinungsbild halten sollte, schließlich meinte er:

»Das geht so nicht, kannst du dich umziehen?«

»Warum?«

»Erkläre ich dir später. Zieh dich an wie zur Arbeit.«

Marie überlegte, ob sie auf Alexandros‘ Anliegen eingehen sollte. Warum sollte sie sich verkleiden? Sie war so froh gewesen, ihre Sommerkleider zu tragen. Der einzige Grund könnte sein, dass sie in dieser Einöde auf ihn angewiesen war. Widerwillig zog sie sich um.

Als sie mit ihrer dunkelgrünen Arbeitshose und einem schwarzen Top nach draußen kam, fragte Alexandros ungeduldig:

»Hast du kein Oberteil, das unscheinbarer ist?«

»Nein, habe ich nicht. Das hellgrüne Hemd muss ich erst noch waschen! Außerdem ist es total warm und der Jeep hat keine Klimaanlage. Warum soll ich überhaupt etwas Unscheinbares anziehen?«

»Dann gebe ich dir ein weißes T-Shirt von mir.«

Ihre Frage ignorierte er einfach.

Sie folgte ihm widerwillig in sein Zimmer, dabei hatte sie das Gefühl in eine Wolke von Aftershave zu treten. Sie lief nach Luft schnappend zum geöffneten Fenster, das den gleichen freien Blick über das ganze Tal eröffnete wie ihres.

Die Weinberge im Hintergrund waren sogar noch besser zu erkennen, auch das Gras zwischen den Pfirsichbäumen und die Hügel, die am Horizont bläulich schimmerten.

Als sie das Fenster schloss und sich im Zimmer umsah, stellte sie fest, dass alles aufgeräumt war. Die Bücher befanden sich geordnet im Regal, und die Schuhe standen genau nebeneinander. Wie beim Militär, dachte Marie.

Ihr Blick fiel auf ein Foto, das an einen Bilderrahmen neben dem Fenster geklemmt war. Zwei Jugendliche standen mit ihren Eltern vor einem Backsteingebäude, der junge Mann mochte sechzehn Jahre alt sein, das Mädchen zwei bis drei Jahre jünger. Seine Haare waren akkurat geschnitten, er trug einen Collegeblazer und ein Lächeln auf den Lippen. Die englische Fahne im Hintergrund deutete auf ein britisches College hin. War das Alexandros?

Es hingen noch andere Fotos dort: Wunderschöne Naturaufnahmen, eine zeigte Alexandros vor einem Wasserfall im Schnee, auf einem anderen Foto streckten Hunderte von filigranen hellgrünen Zedern ihre Äste in den Himmel.

Marie stand gebannt vor dem Foto und ließ die magische Atmosphäre des Zedernwaldes auf sich wirken.

Alexandros‘ Stimme durchbrach die Stille. »Deshalb arbeite ich hier. Damit es bei uns irgendwann auch so aussieht wie im Zederntal.«

Marie erwachte aus ihrer Trance.

»Probier das an, es dürfte weit genug ausfallen«, er reichte ihr das oberste T-Shirt von dem Stapel aus seinem Schrank.

Sie ging in ihr Zimmer und roch an dem Oberteil. Es duftete nach Sonne. Während sie sich umzog, erinnerte sie sich, dass er seine T-Shirts auf eine Wäscheleine neben der Terrasse aufgehängt hatte. Es war merkwürdig, eines seiner Kleidungsstücke anzuhaben. Sie mochte keine weißen T-Shirts, sie fand, sie standen ihr nicht und machten sie blass.

Na schön, dann wenigstens richtig, damit wir endlich losfahren können, dachte sie und band sich ihr Haar zu einem strengen Pferdeschwanz nach hinten. Sie zog einen Wanderrucksack über und die staubigen Sandalen vom Vortag wieder an.

Als sie die Treppe herunterkam, schaute er sie erst prüfend, dann zufrieden an.

***

Sie fuhren durch das Solea-Tal, vorbei an kleinen Dörfern mit alten Häusern aus Natursteinen und ockerfarbenen Kirchen unter strahlend blauem Himmel. Vor einem liebevoll restaurierten Haus saßen Dorfbewohner auf Holzstühlen. Genau so stellte sie sich den Süden vor.

»Können wir bitte anhalten? Ich möchte Fotos von der Umgebung machen.«

Alexandros, der gerade das Auto vor einer roten Ampel zum Stehen gebracht hatte, antwortete:

»Das geht nicht, wir haben noch eine weite Strecke vor uns.«

»Ich würde wirklich gerne etwas von Zypern sehen, verstehst du?«

Alexandros seufzte und antwortete nach kurzem Zögern:

»Na gut, aber nur ganz kurz!«

Sie stieg aus, bevor die Ampel auf Grün schaltete.

Er fuhr an.

»Halt!« Sie winkte ihm hinterher und rief: »Meine Kamera ist im Kofferraum.«

Während er nach einer Parkmöglichkeit Ausschau hielt, zeigte sie auf ein Geschäft an der Straße. Ein weißhaariger Mann saß unter der gewölbten Decke des uralten Hauses und lächelte ihr entgegen. Zwei Glühbirnen hingen über der Theke.

»Éna neró, parakaló.«

Er zeigte stumm auf ein Regal, in dem sie neben Shampooflaschen Wasser entdeckte.

Sie stellte eine kleine Flasche auf den Tresen und fragte:

»Pósso kostísi?«

»Enenínda«, nuschelte der Verkäufer.

»How much?«

Der Mann schwieg. Sie hatte kein Kleingeld dabei und legte einen Zwanzig-Euro-Schein auf den Tisch.

Ihr Gegenüber wiederholte:

»Enenínda.«

»One moment«, sagte Marie und verließ den Laden.

Zehn Meter weiter stand Alexandros vor einer Einfahrt. Marie bat ihn, kurz mitzukommen.

Alexandros betrat den Laden und sprach mit dem Verkäufer.

»Er möchte neunzig Cent als Kleingeld«

»Habe ich nicht, tut mir leid.« Sie hielt ihm ihren Schein entgegen.

Alexandros kramte gereizt in seinem Portemonnaie und legte schließlich eine Münze auf den Tisch, sie nahm stumm das Wasser und verließ den Laden.

Sie wollte sich durch seine schlechte Laune nicht den Tag verderben lassen, deshalb holte sie unbeirrt ihre Kamera aus dem Kofferraum.

Marie fotografierte einen rosafarbenen Oleanderbusch vor einem hellgelben Haus, eine Holzbrücke über einem türkisfarbenen Gebirgsbach, hellgrüne Obstbäume vor dem dunkelgrünen Troodos-Gebirge, drei grauhaarige, schwarzgekleidete Frauen, die vor einem Haus saßen.

Die Jüngste von ihnen lächelte ihr zu und holte zwei weitere Holzstühle aus dem Haus. Dann winkte sie Marie und Alexandros, der gerade eine Nachricht in sein Smartphone tippte.

Marie setzte sich und rief ihren Begleiter, doch der zeigte auf seine Uhr. Als die Damen zwei Kaffeetassen herausbrachten, kam er näher, setzte sich und trank zügig seinen Kaffee.

Die Frauen redeten auf ihn ein und deuteten schließlich auf Marie. Er übersetzte:

»Die meisten jungen Leute verlassen die Dörfer und gehen in die Stadt. Die Dorfbewohner schätzen es, wenn junge Paare sich für das Dorfleben interessieren. Sie brauchen Nachwuchs.«

Die drei Damen lächelten ihr zu. Marie lächelte zurück.

Alexandros zeigte auf seine Uhr und murmelte irgendetwas von »Lefkosia«.

Die Frauen protestierten, doch er stand auf, und Marie folgte ihm schweren Herzens.

Das mochte sie, dass die Menschen in den Dörfern sich die Zeit nahmen, draußen Kaffee zu trinken, miteinander zu reden und so offen zu Fremden waren.

***

Bald erreichten sie die Autobahn, die zur Hauptstadt führte.

Marie fuhr den Rest der Strecke mit geöffneter Fensterscheibe, um den Geruch seines Aftershaves abzumildern. Sie versuchte den Duft einzuordnen, holzig, ledrig ...

Generell fand sie, dass Männer nicht so viel Parfum auf–sprühen sollten, dass andere keine Luft mehr bekamen. Am besten gefiel ihr, wenn ein Mann nach Wald roch, aber das behielt sie für sich.

Auf dem Parkplatz am Fuße der alten Stadtmauer von Nikosia hielt Alexandros an und erklärte:

»Ich fahre Sonntagabend um sechs wieder hier ab.«

Marie nickte. Sie freute sich darauf, die Hauptstadt zu sehen, doch bevor sie losgehen konnte, kam eine junge Frau auf das Auto zu.

5.Kapitel

Die junge Frau hatte dunkle längere Haare mit einer pinken Strähne vorne und trug ein Piercing neben der rechten Augenbraue sowie einen Ring, der ihr linkes Ohrläppchen weitete. Große braune Augen, die durch schwarzen Kajalstift hervorgehoben wurden, bestimmten das herzförmige Gesicht.

Alexandros stieg aus, umarmte und küsste sie so lange, dass sie fast keine Luft mehr bekam.

Sie machte sich von ihm los, musterte Marie von oben bis unten und tuschelte dann mit Alexandros. Der ging gar nicht auf ihre Äußerungen ein, sondern legte eine Hand um ihre Taille und schlug mit rauer Stimme etwas vor, das Marie als: »Lass uns zu dir gehen. Sofort!« interpretierte.

Seine Begleiterin schaute in ihre Richtung und wechselte ins Englische:

»Machen wir, wir trinken nur einen Kaffee mit Dionissis, der will mir die Skripte für die Public Relations-Prüfung geben.«

Sie wies auf ein Café am Eingang der Altstadt hin, in dem sie sich offensichtlich verabredet hatte. Sie musterte Marie immer noch aus dem Augenwinkel, als überlegte sie, was sie mit ihr anfangen sollte. Schließlich reichte sie ihr die Hand und eröffnete das Gespräch mit den Worten:

»Ich bin Ariadne, Alexandros‘ Verlobte, und wer bist du?«

»Ich bin Marie. Schön dich kennenzulernen. Ich mache momentan ein Praxissemester und wollte mir heute die Stadt ansehen.«

»In Arbeitsuniform?«

Offensichtlich hatte Alexandros Ariadnes Eifersucht befürchtet, doch davon war nichts zu spüren.

Marie war genervt, besonders von ihrer dunkelgrünen Arbeitshose, die sie bei gefühlten fünfunddreißig Grad am liebsten sofort ausgezogen hätte.

Ariadne starrte sie immer noch an und verengte dabei die Augen. Plötzlich öffnete sie sie ganz weit, als käme ihr eine Idee. Sie winkte Marie, ihr zu folgen. Im Weggehen rief sie Alexandros zu:

»Bestell schon mal einen Kaffee, wir sind sofort wieder da.«

Dann wandte sie sich an Marie.

»Wir kaufen etwas anderes, so kannst du nicht rumlaufen, mit der Hose gehst du ein bei der Hitze.«

Marie stimmte ihr zu.

Gemeinsam gingen sie die Ledra-Straße entlang, bis sie vor dem Schaufenster eines Ladens ankamen, der mit dem Logo »Totally sexy« warb. Laute Musik drang aus dem Eingang heraus, neonfarbene Shirts hingen davor.

Während Ariadne schon in das Geschäft hineingehen wollte, blieb Marie wie angewurzelt stehen.

»Tut mir leid, aber in den Laden will ich nicht, Ariadne, das ist nicht meine Welt. Warum soll ich sexy aussehen? Ich arbeite mitten im Wald. Gibt es vielleicht einen Fairtrade-Shop?«

Ariadne runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf, dann blieb ihr Blick an einem Souvenirgeschäft hängen, vor dem Tischdecken aus Spitze ausgestellt waren.

»Hier, alles handgemacht. Du unterstützt die zypriotische Wirtschaft und das Handwerk.«

Sie begleitete Marie hinein, nahm ein wollweißes Spitzenkleid vom Bügel und reichte es ihr zum Anprobieren. Marie zog es an und trat vor die Kabine.

»Ich finde, das sieht wie ein Nachthemd aus.«

»Warte mal...« Ariadne holte einen braunen Ledergürtel dazu. Nachdem Marie ihn umgelegt hatte, empfahl Ariadne:

»Perfekt! Und was sagst du? Wenn du jetzt noch das Haargummi herausnimmst, dann fallen deine blonden Haare ganz locker über die Schultern. Du bist groß und blond, das ist total attraktiv!«

Marie hatte den Eindruck, sie wolle ihr Selbstsicherheit einflößen, aber wozu?

»Attraktivität gut und schön, aber Frauen sollten nicht nur nach ihrem Äußeren beurteilt werden.«

»Das sehe ich genau so, aber Attraktivität und Intelligenz müssen sich doch nicht widersprechen! Du könntest deine wunderschönen grünen Augen noch etwas hervorheben. Schminkst du dich gerne?«

»Wenn ich abends mal ausgehe und am liebsten mit Naturkosmetik, aber gibt es die auf Zypern?«

Ariadne zuckte die Achseln.

»Nein, ich glaube nicht ... Ach doch, die Rosenkosmetik aus Agros, alles ganz natürlich, aber da kommen wir jetzt nicht hin. Es muss auch so gehen.« Sie schaute zufrieden an Marie herunter, als wäre sie ihre Stilberaterin.

Obwohl Marie immer noch überrascht von der Einkaufstour war, fühlte sie sich viel besser als in Alexandros’ T-Shirt und ihrer Arbeitshose.

Der Stoff ihres neuen Kleides fiel angenehm leicht, und ihre Finger ertasteten die zarten Stickereien. Sie liebte die feinen Muster und war beeindruckt, dass zypriotische Frauen die filigranen Linien und Verzierungen selbst gestickt hatten. Mit dem Gürtel sah ihr neues Kleid gut aus.

Unauffällig musterte sie Ariadnes Gesicht. Sie hatte zarte, helle Haut, sorgfältig gezupfte Augenbrauen und war perfekt geschminkt.

Nachdem sie bezahlt hatte, wandte sie sich an ihre Begleiterin:

»Und, was machst du? Studierst du auch?«

Ariadne lächelte sie an.

»Ja, Kommunikationswissenschaften, ich suche gerade ein Thema für meine Masterarbeit. Bis jetzt habe ich ›Wie Internet und soziale Medien unsere Kommunikation verändern‹.«

»Das klingt wirklich spannend.«

Sie gingen zum Café zurück, wo neben Alexandros ein junger Mann wartete, der einen halben Kopf kleiner war als Marie. Er trug eine Brille mit ovalen Gläsern, war weniger muskulös und durchtrainiert als Alexandros und hatte den Kopf kahl rasiert. Bewundernd, fast andächtig schaute er zu ihr auf, wie zu einer Madonnenstatue.

Erst als ihm Ariadne eine Frage stellte, holte er einen Stapel Prüfungsunterlagen aus seiner Tasche und überreichte sie ihr. Daraufhin präsentierte Ariadne ihm Marie, als wäre sie die Belohnung für seine Bemühungen:

»Das ist Marie, sie ist ganz allein auf Zypern und sieht sich heute die Stadt an.«

Marie setzte sich auf das weiße Kunstledersofa und schaute unbehaglich auf den Kristallleuchter, der das Café dominierte.

Offensichtlich hatte Ariadne sie gestylt, um sie mit Dionissis zu verkuppeln. Immerhin machte er einen netten Eindruck.

Sie bestellten Frappés, und Ariadne fragte nach Maries Plänen. Sie sagte, sie würde gerne die wichtigsten Sehenswürdigkeiten anschauen.

»Okay, dann zeigen wir dir die Altstadt.«

»Marie schaut sie sich lieber in ihrem eigenen Tempo an«, meinte Alexandros. Und dann zu Ariadne gewandt auf Griechisch etwas wie: »Wir wollen auch Zeit miteinander verbringen.«

»Wir gehen doch sowieso in die Richtung«, beschwichtigte ihn Ariadne mit einem Lächeln.

***

Während sie an belebten Straßencafés vorbei durch die Altstadt schlenderten, blieb Alexandros plötzlich vor einem hellgelben Haus stehen.

Er hob den Kopf und fixierte das Schild, das an einem Fenster der oberen Etage angebracht war: »To rent«.

»Hier kannst du einziehen«, schlug er vor, »mitten in der Altstadt. Das ist doch perfekt. Notier dir am besten die Telefonnummer, da du nur noch ein paar Tage im Forsthaus bleiben kannst.«

Ein zaghaftes Lächeln bewegte Dionissis’ Mundwinkel nach oben.

»Gute Idee! Wir könnten abends ausgehen: Theater, Kino, Restaurant – und mit dem Auto fährst du morgens zum Forsthaus.«

Ariadne stimmte zu:

»Ich finde es sowieso komisch, dass sie dir nicht sofort eine Wohnung anbieten.«

»Dann müsste ich jeden Morgen mit dem Auto zur Arbeit und nachmittags wieder zurück. Zwei Stunden Fahrzeit wären unökologisch. Es ist doch viel einfacher, genau da zu wohnen, wo man arbeitet.«

Wie wohl sie sich in dem alten Forsthaus fühlte, sagte sie nicht. Mitten im Wald war sie genau richtig, der Geruch beruhigte sie. Wenn Bäume in der Nähe waren, hatte sie etwas, woran sie sich festhalten konnte. In der Stadt war sie immer ein wenig desorientiert, am falschen Platz. Die vielen Menschen und der Lärm verwirrten sie.

Alexandros schüttelte den Kopf, als wäre sie ein hoffnungsloser Fall, und ging mit Ariadne weiter.

Dionissis dagegen nickte verständnisvoll, schloss sich den anderen an und verwickelte Marie in ein Gespräch über die Kunstschätze der Insel. Als er von den Mosaiken in Pafos schwärmte, die sie sich unbedingt ansehen sollte, schlug er spontan vor:

»Lasst uns doch nächstes Wochenende gemeinsam hinfahren.«

Dionissis schaute zu Ariadne, die klarstellte:

»Ich habe keine Zeit, ich muss lernen.«

»Es ist gut, wenn wir mal herauskommen«, versuchte Dionissis, sie zu überzeugen, »wir können nicht die ganze Zeit lernen. Das würde dich auf andere Gedanken bringen. Denk noch mal darüber nach!«

Alexandros schüttelte ablehnend den Kopf. Sie hatten mittlerweile die Altstadt durch die meterdicke ockergelbe Stadtmauer verlassen und standen vor dem archäologischen Museum.

»Das solltest du unbedingt besichtigen«, empfahl Dionissis, indem er sie durch seine runden Brillengläser ansah. Er zögerte, ob er sie begleiten sollte, dann seufzte er: »Ich muss leider zurück an den Schreibtisch.«

Marie bedankte sich für den Tipp, trennte sich von den anderen und erkundete das Museum auf eigene Faust. Sie vertiefte sich in die Keramik, versuchte sich die unterschiedlichen Stile seit der Bronzezeit einzuprägen und bestaunte die drei Löwenstatuen von Tamassós.

Besonders zog sie die Statue der Aphrodite von Soloi in Bann, die schön und stolz in der Mitte von Saal 5 stand und ihren Blick in die Ferne richtete. Was sah Aphrodite? Ihr gefiel die Art, wie die Göttin den Kopf hob, dadurch sah sie sehr selbstbewusst aus.

Marie ging näher an die Statue heran und berührte unauffällig den Marmor. Früher haben die Menschen wirklich an diese Götter geglaubt, dachte Marie, sie haben um etwas gebeten, aber wurde es auch erfüllt? Haben sie eine Antwort bekommen? Marie wurde nachdenklich, sie dachte an ihr Studium, das sehr naturwissenschaftlich ausgerichtet war. Die griechischen Götter kannte sie nur aus dem Geschichtsbuch.

Sie dachte plötzlich an die beiden jungen Frauen aus dem Flugzeug zurück, die sich von Aphrodite den richtigen Mann gewünscht hatten. Komisch, die Göttin sah gar nicht aus, als ob sie einen Mann brauchen würde. Vollkommen schön und stolz schaute sie in die Weite. Die Haltung gefiel ihr: auch ohne Mann selbstbewusst durchs Leben zu gehen.

Am Abend schlenderte Marie durch die belebten Straßen. In einem großen Kaufhaus besorgte sie einen Duschvorhang und setzte sich anschließend in ein Café, beobachtete das Treiben der Menschen, trank ein Glas Weißwein in der warmen Abendluft und rief Corinna von ihrem Handy aus an. Dann ging sie zu der netten Pension, die Ariadne ihr empfohlen hatte.

Am nächsten Tag erkundete sie die Altstadt, die innerhalb der venezianischen Festungsmauern lag, besichtigte die Johanneskathedrale und fuhr nachmittags mit Alexandros zurück zum Forsthaus nach Omodos.

Auf die neue Woche freute sie sich. Sie hatte sich gut mit Ariadne verstanden, dadurch würde ihr hoffentlich auch die Zusammenarbeit mit Alexandros leichter fallen.

6.Kapitel

Als sie am nächsten Morgen den Wanderweg betrat, standen fünfzig Zedernsetzlinge vor ihr.

Alexandros wartete mit verschränkten Armen im Schatten und schaute sie herausfordernd an. Er trug ein dunkles Muskelshirt, das seine kräftigen Arme freiließ. Er war wirklich sehr breitschultrig. Wollte er demonstrieren, dass er der Arbeit besser gewachsen war als sie? Kein Wunder, dass er durchtrainiert und braungebrannt war, wenn er Tag für Tag draußen arbeitete.

»Hör zu, wir sind hier nicht zum Spaß. Es geht um was! Wenn du ernsthaft in diesem Projekt arbeiten willst, ist das dein Tagespensum.«

Immerhin, er zog die Möglichkeit in Betracht, dass sie bleiben würde, das war ein Fortschritt.

Dann rechnete sie im Geiste nach: das bedeutete alle zehn Minuten eine Zeder pflanzen.

Auf einmal dachte Marie an ihren ersten Lehrer in der Ausbildung, der behauptet hatte, Frauen würden sich nicht für die Forstwirtschaft eignen. Sie fühlte wieder die dreißig Augenpaare der männlichen Klassenkameraden auf sich, die beobachteten, ob der Lehrer Recht behalten würde.

Von wegen! Sie hatte die Ausbildung abgeschlossen und dann das Studium begonnen. Genau so würde sie es Alexandros zeigen!

»Das ist kein Problem.«

Sie begann sofort, nahm sich eine Hacke und fing an Löcher auszuheben. Sie wollte Alexandros beweisen, dass sie genauso schnell arbeiten konnte wie er. Auf der anderen Seite des Wanderweges pflanzte er. Immer wieder schaute sie herüber, um mit seinem Tempo schrittzuhalten.

Nach einer Stunde schmerzte ihr Rücken, doch sie arbeitete unermüdlich weiter.

Alexandros kam plötzlich zu ihr. Vielleicht würde er ein Wort der Anerkennung äußern.

»Tut mir leid, aber die letzten drei kannst du neu pflanzen, ich finde, sie stehen zu eng. Stell dir vor, wie viel Platz die Pflanzen in Anspruch nehmen, wenn sie ausgewachsen sind.«