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Im Herbst 1861 bricht der südfranzösische Seidenhändler Hervé Joncour auf zu einer beschwerlichen Reise nach Japan, um Seidenraupen zu kaufen. Die Begegnung mit einer rätselhaften Schönheit erlaubt nur heimliche Blicke und eine kurze Botschaft - doch das reicht, um Hervés Leidenschaft zu entfachen. Jahr für Jahr treibt es ihn fortan wieder nach Japan. Doch niemals wird er auch nur die Stimme dieses Mädchens hören. Erst viele Jahre später begreift er das Geschehen.
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Seitenzahl: 81
Alessandro Baricco
Seide
Roman
Aus dem Italienischen von Karin Krieger
Hoffmann und Campe
Obgleich sein Vater eine glänzende Militärlaufbahn für ihn ins Auge gefasst hatte, bestritt Hervé Joncour seinen Lebensunterhalt schließlich mit einem ungewöhnlichen Beruf, dem ironischerweise zudem ein so liebenswerter Zug anhaftete, dass er eine unbestimmte weibliche Färbung verriet.
Für seinen Lebensunterhalt kaufte und verkaufte Hervé Joncour Seidenraupen.
Es war das Jahr 1861. Flaubert schrieb gerade ›Salammbô‹, das elektrische Licht war noch graue Theorie, und Abraham Lincoln führte jenseits des Ozeans einen Krieg, dessen Ende er nie erleben sollte.
Hervé Joncour war zweiunddreißig Jahre alt.
Er kaufte und verkaufte.
Seidenraupen.
Genau genommen kaufte und verkaufte Hervé Joncour die Raupen, solange sich ihr Raupendasein darauf beschränkte, aus winzigen Eiern von gelber oder grauer Farbe zu bestehen, reglos und dem Anschein nach tot. Man konnte Tausende von ihnen in nur eine Hand nehmen. »Das nennt man ›sein Glück in Händen halten‹.«
Anfang Mai öffneten sich die Eier und ließen eine Larve frei, die sich nach dreißig Tagen zügelloser Nahrungsaufnahme auf der Grundlage von Maulbeerblättern anschickte, sich in einem Kokon erneut einzuschließen, um dann zwei Wochen später endgültig herauszukommen, wobei sie einen Schatz hinterließ, der in Seide tausend Meter Rohgarn und in Geld eine hübsche Summe französischer Francs ausmachte, vorausgesetzt, dies alles geschah nach Vorschrift und, wie im Fall von Hervé Joncour, irgendwo in Südfrankreich.
Lavilledieu war der Name des Städtchens, in dem Hervé Joncour lebte. Hélène der seiner Frau.
Sie hatten keine Kinder.
Um Schäden durch Seuchen zu vermeiden, die die europäischen Aufzuchten immer häufiger heimsuchten, ging Hervé Joncour dazu über, die Seidenraupeneier jenseits des Mittelmeers in Syrien und Ägypten zu erwerben. Dies blieb die bei weitem abenteuerlichste Seite seiner Arbeit. Jedes Jahr Anfang Januar machte er sich auf den Weg. Er legte eintausendsechshundert Seemeilen auf dem Meer und achthundert Kilometer auf dem Land zurück. Er suchte die Eier aus, verhandelte über den Preis und kaufte sie. Dann machte er kehrt, legte achthundert Kilometer auf dem Land und eintausendsechshundert Seemeilen auf dem Meer zurück und kam für gewöhnlich am ersten Sonntag im April und für gewöhnlich gerade rechtzeitig zum Hochamt wieder in Lavilledieu an.
Er arbeitete noch zwei Wochen, um die Eier zu verpacken und zu verkaufen.
Den Rest des Jahres ruhte er sich aus.
»Wie ist Afrika?«, fragten sie ihn.
»Müde.«
Er hatte ein großes Haus direkt vor den Toren des Städtchens und ein kleines Laboratorium im Zentrum, direkt gegenüber von Jean Berbecks verlassenem Haus.
Jean Berbeck hatte eines Tages beschlossen, dass er nie wieder sprechen wollte. Er hielt sein Versprechen. Seine Frau und seine beiden Töchter verließen ihn. Er starb. Niemand wollte sein Haus haben, so war es nun ein verlassenes Haus.
Mit dem Kauf und dem Verkauf der Seidenraupen verdiente Hervé Joncour genug Geld, um sich und seiner Frau jene Annehmlichkeiten zu sichern, die man in der Provinz gern als Luxus ansieht. Er genoss sein Vermögen ohne viel Aufhebens, und die naheliegende Aussicht, tatsächlich reich zu werden, ließ ihn vollkommen kalt. Er war übrigens einer jener Menschen, die dem eigenen Leben gern beiwohnen, während sie jegliches Bestreben, es zu leben, für unangebracht halten.
Man wird bemerkt haben, dass diese Menschen ihr Schicksal betrachten, wie die meisten für gewöhnlich einen Regentag betrachten.
Wenn man ihn danach gefragt hätte, hätte Hervé Joncour geantwortet, dass sein Leben immer so weitergehen würde. Anfang der sechziger Jahre jedoch griff die Nosemaseuche, die bereits die Eier der europäischen Aufzuchten unbrauchbar gemacht hatte, auf die andere Seite des Meeres über, wo sie Afrika und manchen Stimmen zufolge sogar Indien erreichte. Hervé Joncour kam 1861 von seiner üblichen Reise mit einem Vorrat an Eiern zurück, der sich zwei Monate später als fast vollständig infiziert herausstellte. Für Lavilledieu wie für viele andere Städte, die ihren Reichtum auf die Seidenherstellung gründeten, schien dieses Jahr der Anfang vom Ende zu sein. Die Wissenschaft erwies sich als unfähig, die Ursachen für die Seuche zu finden. Und die ganze Welt bis in ihre entlegensten Winkel schien dieser Hexerei ohne Erklärungen ausgeliefert zu sein.
»Fast die ganze Welt«, sagte leise Baldabiou. »Fast«, und er goss sich zwei Schluck Wasser in seinen Pernod.
Baldabiou war der Mann, der vor zwanzig Jahren in das Städtchen gekommen war, schnurstracks auf das Büro des Bürgermeisters zusteuerte, dann, ohne sich anmelden zu lassen, eintrat, ihm ein Seidentuch in der Farbe des Sonnenuntergangs auf den Schreibtisch legte und ihn fragte: »Wissen Sie, was das ist?«
»Frauenkram.«
»Falsch. Männersache: Geld.«
Der Bürgermeister ließ ihn hinauswerfen. Er baute unten am Fluss eine Spinnerei, am Waldrand eine Halle für die Seidenraupenzucht und an der Kreuzung mit der Straße nach Vivier eine kleine Kirche, die der heiligen Agnes geweiht war. Er stellte etwa dreißig Arbeiter ein, ließ aus Italien eine mysteriöse hölzerne Maschine kommen, ganz Räderwerk und Getriebe, und sagte sieben Monate lang überhaupt nichts mehr. Dann ging er wieder zum Bürgermeister und legte ihm wohlsortiert dreißigtausend Francs in großen Scheinen auf den Schreibtisch.
»Wissen Sie, was das ist?«
»Geld.«
»Falsch. Es ist der Beweis, dass Sie ein Vollidiot sind.«
Er nahm die Scheine wieder auf, steckte sie in seine Börse und wollte gehen.
Der Bürgermeister hielt ihn zurück.
»Was zum Teufel soll ich tun?«
»Nichts, und Sie werden der Bürgermeister eines reichen Städtchens sein.«
Fünf Jahre später hatte Lavilledieu sieben Spinnereien und war zu einem der wichtigsten Zentren der Seidenraupenzucht und der Seidenspinnerei in Europa geworden. Nicht alles gehörte Baldabiou. Andere Honoratioren und Grundbesitzer der Gegend waren ihm in dieses kuriose unternehmerische Abenteuer gefolgt. Jedem von ihnen hatte Baldabiou anstandslos die Geheimnisse des Handwerks enthüllt. Das machte ihm weitaus mehr Spaß als scheffelweise Geld anzuhäufen: zu lehren. Und Geheimnisse zu haben, die er erzählen konnte. So einer war er.
Baldabiou war außerdem der Mann, der acht Jahre zuvor Hervé Joncours Leben verändert hatte. Es war die Zeit, in der die ersten Seuchen begonnen hatten, die europäische Raupeneierproduktion anzugreifen. Mit kühlem Kopf hatte Baldabiou die Lage analysiert und war zu dem Schluss gekommen, dass das Problem nicht gelöst, sondern umgangen werden musste.
Er hatte eine Idee, allein ihm fehlte der richtige Mann. Er wusste, dass er ihn gefunden hatte, als er Hervé Joncour an Verduns Café vorbeigehen sah – elegant in seiner Uniform eines Leutnants der Infanterie und mit dem stolzen Gang eines Militärs auf Urlaub. Er war damals vierundzwanzig Jahre alt. Baldabiou lud ihn in sein Haus ein, hielt ihm einen Atlas voll exotischer Namen unter die Nase und sagte: »Herzlichen Glückwunsch, mein Junge! Du hast endlich eine anständige Arbeit gefunden.«
Hervé Joncour hörte sich von Anfang bis Ende eine Geschichte von Raupen, Eiern, Pyramiden und Schiffsreisen an. Dann sagte er: »Ich kann nicht.«
»Wieso nicht?«
»In zwei Tagen ist mein Urlaub zu Ende, ich muss nach Paris zurück.«
»Militärlaufbahn?«
»Ja. Mein Vater wollte es so.«
»Kein Problem.«
Er nahm Hervé Joncour und brachte ihn zu seinem Vater.
»Wissen Sie, wer das ist?«, fragte er ihn, nachdem er unangemeldet in sein Büro getreten war.
»Mein Sohn.«
»Sehen Sie genauer hin!«
Der Bürgermeister ließ sich gegen die Rückenlehne seines Ledersessels fallen und begann zu schwitzen.
»Mein Sohn Hervé, der in zwei Tagen nach Paris zurückfährt, wo ihn eine glänzende Karriere in unserer Armee erwartet, so Gott und die heilige Agnes es wollen.«
»Genau. Nur dass Gott anderweitig beschäftigt ist und die heilige Agnes Soldaten nicht ausstehen kann.«
Einen Monat später brach Hervé Joncour nach Ägypten auf. Er fuhr mit einem Schiff, das Adel hieß. Küchengerüche zogen in die Kabinen, es gab einen Engländer, der behauptete, in Waterloo gekämpft zu haben, am Abend des dritten Tages sahen sie Delphine wie trunkene Wellen am Horizont glitzern, und im Roulette kam immer die Sechzehn.
Er kehrte nach zwei Monaten – am ersten Sonntag im April, gerade rechtzeitig zum Hochamt – mit Tausenden von Eiern zurück, die in Watte gepackt in zwei großen Holzkisten lagen. Er hatte eine Menge zu erzählen. Doch Baldabiou sagte, als sie allein waren: »Erzähl mir von den Delphinen!«
»Von den Delphinen?«
»Als du sie gesehen hast!«
Das war Baldabiou.
Niemand wusste, wie alt er war.
»Fast die ganze Welt«, sagte leise Baldabiou. »Fast«, und er goss sich zwei Schluck Wasser in seinen Pernod.
Eine Nacht im August, nach Mitternacht. Um diese Zeit hatte Verdun normalerweise schon eine Weile geschlossen. Die Stühle waren ordentlich hochgestellt. Den Tresen hatte er geputzt und alles andere auch. Er brauchte nur noch das Licht zu löschen und abzuschließen. Doch Verdun wartete. Baldabiou redete.
Ihm gegenüber saß Hervé Joncour mit einer erloschenen Zigarette zwischen den Lippen und hörte ihm reglos zu. Wie acht Jahre zuvor ließ er es sich gefallen, dass dieser Mann sein Schicksal neu ordnete. Seine Stimme drang leise und deutlich zu ihm hinüber, synkopiert von regelmäßigen Pernodschlucken. Sein Mund stand minutenlang nicht still. Das Letzte, was er sagte, war: »Es bleibt uns keine andere Wahl. Wenn wir überleben wollen, müssen wir dorthin.«
Schweigen.
Auf den Tresen gestützt, schaute Verdun zu den beiden hoch.
Baldabiou bemühte sich, auf dem Grund des Glases noch einen Tropfen Pernod ausfindig zu machen.
Hervé Joncour legte seine Zigarette auf die Tischkante und sagte: »Und wo genau soll dieses Japan liegen?«
Baldabiou hob die Spitze seines Spazierstocks und wies damit über die Dächer von Saint-August.
»Immer geradeaus.«
Sagte er.
»Am Ende der Welt.«