Seidenes Schweigen - Susanne Löffler - E-Book

Seidenes Schweigen E-Book

Susanne Löffler

4,8

Beschreibung

In Heidelberg wird eine Lehrerin tot aufgefunden. Der Eberbacher Andreas hilft beim Lösen des Mordfalls und verliebt sich in die Frau seines Lebens. Der Roman spielt im zauberhaften Neckartal an Originalschauplätzen.

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Handlung und Personen dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit wirklichen Personen oder tatsächlichen Ereignissen sind nicht beabsichtigt und rein zufällig.

D as Erste, was allmählich in seine Wahrnehmung sickerte, war das durchdringende Vibrieren an seinem Oberschenkel und der aufdringliche Klingelton eines Handys. Als er die Augenlider wenige Millimeter nach oben bewegte, drang stechende Morgenhelligkeit ein und veranlasste ihn zu einem gequälten Grunzen. Er lag hart. Holz oder Stein? Eher warm. Also Holz. Seine Fingerkuppen bewegten sich über den Boden, auf dem er bis vor wenigen Augenblicken geschlafen hatte. Sein Kopf dröhnte und ein wenig Übelkeit schaukelte hin und her. Plötzlich spießte sich ein kleiner, gemeiner Spreißel in den Ringfinger seiner rechten Hand und beendete die Wanderung. Der doch unangenehme, leise und ziehende Schmerz veranlasste Andreas, jetzt endgültig die Augen zu öffnen. Eine Nadel schien sich in sein Hirn zu bohren. Durch die entstandenen Sehschlitze sah er sich um.

Der Treppenabsatz wurde deutlicher, je mehr seine Augen sich an das Licht gewöhnten. Er lag vor seiner Wohnungstür. Der Schlüssel steckte von außen im Schloss. Er hatte keine Ahnung, wie und wann er hierhin gekommen war. Das Schaukeln in seiner Hirnmasse wurde weniger. Schwerfällig rückte er seine Beine unter seinen Körper, um aufstehen zu können. Unwillig schienen sie noch ein Eigenleben zu führen und befolgten seine Bewegungsanweisungen nur zögernd. Es gab Augenblicke in seinem Leben, in denen er sich erinnerte, wie viele Muskeln die Natur in seinen Körper gebaut hatte. Leider schmerzlich. Wankend und abgehackt bewegte er sich auf die Tür zu und betrat seine Wohnung. Den Schlüssel nahm er mit und lies ihn der Einfachheit halber innen neben der Tür zu Boden gleiten. Abgestandene Luft und alter Zigarettenrauch umhüllten ihn. Er schaffte es, die Tür mit einem Fuß zuzutreten, ohne dabei wieder zu Boden zu gehen. Mit einer Hand baumelte er dabei an der Jeansjacke, die einsam an der Garderobe hing. Als seine Beine zu weiteren Bewegungen bereit zu sein schienen, hangelte er sich weiter ins Bad.

Dort kippte er auf die Toilettenbrille und atmete schwer. Dann zog er die Jeans kurzerhand komplett aus. Halb sitzend, halb wankend. Das war manchmal sicherer, als das bloße Öffnen. Es wäre nicht das erste Mal, dass er sich betrunken angepinkelt hätte. Während er saß, drängte sich für einen kurzen Augenblick Scham in ihm hoch. Und Trauer. Die letzten fünf Jahre waren wirklich wenig ruhmvoll verlaufen. Das Spülgeräusch verursachte neue Schmerzen. Seine Hand versuchte kurz, seinen Kopf zu halten, um das Schaukeln zu verlangsamen. Nur, der Kopf schaukelte nicht. Er verließ das Bad und überquerte den Flur.

In der Küche holte er eine der beiden Glasflaschen unter der Spüle heraus und nahm einen Schluck in den Mund. Er bewegte die scharfe Flüssigkeit um seine Zähne herum und spielte ein wenig mit der Zunge darin. Dann schluckte er den Wodka herunter. Wie eine kurze Stichflamme rann die glasklare Flüssigkeit zu seinem Magen. Sofort setzten diese eigentümliche Wärme und das Gefühl ein, das damit für ihn verbunden war. Jetzt fühlte er sich schon anders. Mit der Hand wischte er die verbliebene Feuchtigkeit von seinen Lippen. Blinzelnd trat er ans Küchenfenster und öffnete es. Er musste sich immer noch am Fensterrahmen leicht abstützen.

Keine zehn Meter trennten ihn von der älteren Dame, die die kühle Morgenluft zum Gießen ihrer Begonien nutzte. Sie beobachtete, wie das Wasser über den Rand der Blumenkästen quoll, und fragte sich, ob unten jemand langging, der das überschüssige Gießwasser auf den Kopf bekommen könnte. Ein frecher kleiner Singvogel zwitscherte lautstark und lebhaft.

Erst grüßte sie den jungen Mann freundlich, der vor ein paar Wochen in die Wohnung gegenüber gezogen war. Dann wanderte ihr Blick zu seinen nackten Beinen, die unter dem zerknautschten Hemd zu sehen waren. Verwirrt überlegte sie, ob es sein könne, dass Herr Raab nur ein Herrenhemd trug oder ob sie ohne Brille einfach zu wenig sah. Sie beschloss, erst einmal zu frühstücken.

Die Arterie an Sabines Hals wurde immer hektischer. Warum ging dieser Mensch nicht an sein Telefon! Was heißt Mensch. Mann! Unglaublich. Seit gestern versuchte sie mit steigender Wut, Andreas telefonisch zu erreichen. Sie konnte sich nicht beruhigen. Im Gegenteil. Mittlerweile war sie sich nicht mehr sicher, ob sie ihm noch gewaltfrei gegenübertreten konnte. Eigentlich lehnte sie jede Art von körperlicher Gewalt ab, aber Andreas brachte sie zur Weißglut. Knurrend drückte sie auf den Knopf mit dem roten Hörer ihres Handys. »Wenn er nicht umgehend erreichbar ist, fahre ich nach Eberbach. Und dann gnade ihm Gott, falls es den gibt.« Ihre Gedanken rollten wie eine Ladung ausgeschütteter Murmeln in ihrem Kopf umher.

Im Moment war es unmöglich, die Murmeln in die dafür vorgesehenen Löcher zu versenken. Die Gedanken rollten und sprangen einfach in alle Richtungen.

Sie hatten sich 2003 in Bad Orb bei der Jahrestagung einer Hypnosegesellschaft kennengelernt und vor zwei Jahren beschlossen, zusammenzuarbeiten. Beide hatten ein abgeschlossenes Psychologiestudium ohne Kassenzulassung. Sabine hatte bisher im Coaching großer Wirtschaftsunternehmen gearbeitet und veranstaltete Kurse in NLP. Sie hatte im Großen und Ganzen eine gute Auftragslage, aber immer so, dass große Sprünge nicht drin waren. Sie war unabhängig, stark und Single. Eine Powerfrau. Nur leider war es vor allem ein ganz bestimmter Typ Mann, der die Qualitäten dieser wundervollen Frau zu schätzen wusste. Und den fand Sabine ganz und gar indiskutabel. Dennoch war sie sich sicher: Es dauerte nicht mehr lange und ihr Traumprinz war da. Denn trotz aller Unabhängigkeit war Sabine sensibel und romantisch.

Andreas war ein eigenartiger Mensch, aber ein Meister der Beobachtung. Begegnete er Menschen, wurde er von einer Welle von Informationen erfasst – kein Detail entging ihm. Innerhalb kürzester Zeit hatte er das Gefühl, in den Kern der Persönlichkeit und deren Vergangenheit einzutauchen. Wie eine Wolke rauschten die Einzelheiten um ihn herum und wickelten ihn ein.

Dummerweise sprach er vieles davon auch aus. Nicht jeder Mensch mochte das Gefühl, sein Inneres wie einen Spiegel vorgehalten zu bekommen. So kam es häufig vor, dass seine Mitmenschen entsetzt, verletzt oder erschrocken auf ihn reagierten. Eine Weile hatte er sich mit Aufstellungsarbeit und systemischen Modellen beschäftigt. Aber er konnte die Gedanken, die wie Blitze in seinem Kopf erschienen, kaum ausblenden, und so war ein klientenzentriertes Arbeiten kaum möglich.

Schon in seiner Ausbildung hatte er das gesamte Curriculum Hypnose einer renommierten Fachgesellschaft im Medizinsektor durchlaufen. Dieses Eintauchen in andere Menschen verstärkte sich fast noch mehr durch diese Kenntnisse.

Er arbeitete nach seinem Studium einige Zeit therapeutisch und beratend, aber zunehmend blieben ihm die Klienten aus. Dieses fremde Gefühl, anderen zu nahe zu kommen, sorgte dafür, dass er mehr und mehr Alkohol trank. Jeder Klient hinterließ, jeder auf seine Art, Spuren in Andreas Seele. Er war als Therapeut schlecht. Er konnte sich schlecht schützen.

Nachdem das immer klarer wurde, versuchte er sich einige Jahre als Körpersprachetrainer bei Versicherungsunternehmen. Aber die Trivialität dieser Seminare erschöpfte ihn auch zunehmend. Die Teilnehmer erschienen ihm oft völlig unfähig, sich in andere Menschen hineinzufühlen. Dieses Gespür für andere Menschen. Es war schlicht ermüdend, es mit Menschen zu tun zu haben, die genaue Anleitungen für das Lesen von Körpersprache wünschten. Die Realität hielt das aber nicht bereit. Man konnte nun einmal nicht sagen, dass ein Verschränken der Arme vor der Brust immer das Gleiche bedeutete …

Doch von etwas musste er leben. Durch seinen unsteten Lebenswandel gab es immer häufiger Ärger mit seinen Auftraggebern. Seine unberechenbaren Ausfälle setzen seinen Geschäftsbeziehungen weiter zu. Mehrmals im Jahr zog er sich in einen alten Wohnwagen zurück, der als Zivilisationsruine an einem Jugendzeltplatz im Odenwald vor sich hin rottete. Andreas kannte den Eutersee in Schöllenbach schon seit seiner Jugend. Den Wohnwagen hatte er von einem Bekannten »übernommen«, der sich dort einige Jahre als Platzwart versucht hatte. Das war ein Platz auf der Erde, der eine Kraft und Magie enthielt. Am Seeufer konnte er ungehindert dem Übel der Welt gedenken und sein Unglück besaufen. Oder er konnte Kraft schöpfen, auftanken, gesund werden. Wie ein krankes Tier, das sich in die Einsamkeit zurückzieht, um seine Wunden zu lecken.

Für die Stunden im Wohnwagen bevorzugte er Odenwälder Birnenschnaps. Das schien ihm passender als Wodka oder profanes Bier. Odenwälder Schnaps erschien ihm als die Essenz der Odenwälder Natur: die Kraft des Waldes und der Berge und Hügel um ihn herum; die Kraft der beiden großen Flüsse Main und Neckar und der vielen kleinen Bäche, die sich sprudelnd über den Buntsandstein ergossen. Der Odenwald – Platz der Mythen und Sagen. Wo Siegfried von Xanten, der den Drachen schlug, sein Leben ließ. Wo der Schinderhannes und der Hölzerlips ihr Unwesen trieben.

Vor zwei Jahren hatte er beschlossen, mit Sabine Wagner eine kleine Beratungsfirma zu gründen. Sie wollten aus wirtschaftlichen Gründen den Schwerpunkt auf Raucherentwöhnungsseminare mit Hypnose und Firmencoaching legen. Eine interessante Idee, anderen zu helfen, Nichtraucher zu werden, aber selbst zu rauchen und zu saufen, fand Andreas. Die Auftragslage war gut. Im naturverbundenen Heidelberg gab es viele Menschen, die dem Laster der Zigaretten ein für alle Mal entsagen wollten.

Er hatte lange in Nürnberg gelebt und anfangs blieb er auch noch dort und pendelte zu den Kursen zu Sabine nach Heidelberg. Aber die Fahrerei wurde immer beschwerlicher; sie zerrieb ihn immer mehr. Die vielen, vielen Stunden auf den Autobahnen. Die Staus an den Knotenpunkten. Er hatte den Eindruck, jeden Meter Autobahn um Sinsheim-Steinsfurt vom Warten und Stehen im Auto zu kennen. Von heißen Sommertagen und der Hitze, die auf das Dach brannte, oder eisigen Winterfahrten, bei denen er sich in warme Wolldecken zum Warten einwickelte. So viele Baustellen hatten sich an seine Fahrten angeschmiegt und seine Geschwindigkeit gedrosselt.

Bis er vor fünf Monaten letztlich den Führerschein kurzzeitig entzogen bekam. Der Alkohol. Oder eine Verkettung unglücklicher Umstände. Danach hatte er sein Auto verkauft und beschlossen, mehr das Rad zu nutzen. War auch günstiger. Sein Körper dankte es ihm mit einer immer besser werdenden Form und Belastbarkeit und durch das Treten der Pedale kamen die Dinge in seinem Kopf wieder in Fluss. Wenn Spazieren nichts half, konnten stundenlange Radtouren die Gedankennebel auflösen.

Andreas saß inzwischen mit nacktem Unterkörper auf seiner Bettkante und versuchte, in den Untiefen seines Kopfes den vergangenen Abend zu finden. In seinem Schlafzimmer war es stickig und dämmrig.

So ganz war er sich nicht im Klaren darüber, ob er sich lieber erinnern wollte oder lieber nicht. Seit vielen Jahren wusste er, dass man mit Hypnose so manche Erinnerung reaktivieren konnte. Der Alkohol war ein für ihn bewusst sicherer Weg geworden, vieles vergessen zu können. Anfangs war das für ihn ein Segen gewesen. Aber mittlerweile verschwanden viele Dinge, die möglicherweise Zweck bringend gewesen wären, und zersetzten sich in den Bodenbereichen seiner Wodkaflaschen.

Das Gesicht einer jungen Frau mit einem relativ kräftigen Lippenstift tauchte auf. Ja, sie war gestern auch im »Braumeister« und hatte irgendwann neben ihm gesessen. Sie war höchstens dreißig. Und schön. Ihre Augen lächelten und sie hatte einen sinnlichen Mund.

Gut, er hatte sich für seine 44 Jahre sehr gut gehalten. Er war von einer zeitlosen, unbeschreiblichen, herben, männlichen Attraktivität. Sein Gang glich dem einer Raubkatze und er war aufrecht und selbstbewusst. Er strahlte Sicherheit aus. Seine Stimme war intensiv und sonor. Die perfekte Stimme, die Menschen mit einer angenehmen Decke des Wohlbefindens zu umschlingen. Sehr gut für Hypnose.

Trotzdem.

Hatte er sie in ihre Wohnung begleitet? Was war dann? Wie eine Sekundenaufnahme spülten ein Lachen und eine Stimme in seinen Kopf. In seinem Brustkorb hüpfte etwas. Schade, auf eine Art hätte er zu gern gewusst, wem dieses sympathische Lachen gehörte, das so warme und liebevolle Gefühle in seinem Bauch wecken konnte. Er spürte: Wenn er dem Gedanken folgen würde, dann hätte er alle wichtigen Details parat. Aber er zog es vor, noch einmal in einen tiefen Schlaf zu gleiten und die Welt, die junge Frau mit den gepflegten Zähnen und traurigen Augen, noch einmal in einem fahlen Zwielicht zu versenken.

Sabines Golf quälte sich erst durch die Heidelberger Innenstadt und dann das Neckartal hinauf. Das Wetter war ein Traum. Die Luft war sauber und samtig. Viele Cabrios waren unterwegs und aus den geöffneten Fenstern der anderen Wagen drang Musik. Die milde Luft duftete nach Gras und Sonne. Der Sommer im Neckartal war unbeschreiblich. Die Pflanzen lagen in diesem ganz besonderen Licht, das man nur an warmen Sommertagen am frühen Morgen findet. Der Neckar war spiegelglatt und wie auf einer Postkarte. Selbst der Verkehr schien noch in harmonischer Eleganz miteinander zu tanzen.

Aber Sabine hatte dafür keine Augen und keinen Sinn. Ihre Finger beklopften hektisch das Lenkrad und starrten auf den vor ihr fahrenden Wagen. »Bieg ab!«, betete sie in Gedanken vor sich hin. Bei der nächsten Ampel setzte der Fahrer des vor ihr fahrenden Fahrzeugs den Blinker und ordnete sich in eine andere Spur ein. »Geht doch«, beruhigte sie sich etwas und bog auf die Neckarbrücke bei Neckargemünd ab. Wenigstens fuhr sie entgegengesetzt dem Berufsverkehr, der um diese Tageszeit Richtung Heidelberg floss.

Ihre Wut stieg weiter an. Im Normalfall hätte sie jetzt geklopft. PEP, also »Prozessorientierte energetische Psychologie« war die neuste Errungenschaft in ihrem psychologischen Handwerkskoffer. Dabei beklopft man systematisch verschiedene Punkte auf dem Körper, um Emotionen zu verarbeiten, zu verändern oder mit der Kopfarbeit zu synchronisieren. Das funktionierte sehr gut. Aber jetzt wollte sie sich nicht beruhigen. Und ihre klopfenden und trommelnden Finger auf dem Lenkrad bauten erstaunlicherweise den Stress auch nicht ab. Sie hatte Mühe, keinen Unfall zu verursachen.

Andreas hatte ihr hoch und heilig versichert, dass er den Termin einhalten würde. Es war erst der zweite Abend ihres aktuell laufenden Raucherentwöhnungsseminars. Dieser Termin war für die Klienten besonders wichtig. Doch er hatte eine 10-Personen-Gruppe einfach vor verschlossenem Seminarraum stehen lassen! Zum Glück war es ihr gelungen, alle Anrufer, die sich bei ihr gemeldet hatten, zu beruhigen. Aber wenn die Teilnehmer schlecht von ihrem kleinen Unternehmen redeten, konnte ihr dies das Genick brechen. Heidelberg war auf eine sympathische Art und Weise ein Dorf. Die Heidelberger waren eine Gemeinschaft, in der sich Informationen schnell verbreiteten und man sich kannte. Gerüchte nahmen einen großen Stellenwert ein und hielten sich hartnäckig. Obwohl die Stadt auch durch die vielen Studenten liberal und weltoffen wirkte, waren die »echten« Heidelberger eher werterhaltend, bodenständig und konservativ.

Sie hoffte, dass sie die Teilnehmer beim nächsten Termin wieder voll auf ihren Kurs ziehen konnte. Es reichte schon, dass Andreas selbst wie ein Schlot rauchte und auch dem Alkohol sehr zugetan war.

Er konnte sich auf etwas gefasst machen. Ihn ließ sie in diesem 5-Termine-Durchlauf nicht mehr auf die Raucher los. Wäre ja noch schöner.

Mittlerweile hatte sie den Hirschhorner Tunnel erreicht. Sie setzte ihre Sonnenbrille ab und schaltete ihr Licht ein. Seit Jahren wünschte sie sich eine Sonnenbrille mit »Drivers polarized«-Gläsern, die sich einfach den Lichtverhältnissen anpassten. Bisher erschien ihr die Ausgabe aber schlicht zu hoch. So eine Wüstensonnenbrille kostete so viel wie eine halbe Monatsmiete ihrer Wohnung. Da benutzte sie doch lieber Sonnenbrillen aus der Drogerie und setzte sie eben ab und zu ab. Es war für diese Tageszeit schon erstaunlich warm und sonnig. Das würde ein ziemlich heißer Tag werden. Vermutlich in mehrfacher Hinsicht.

Nach dem Tunnel gab sie Gas. Hier war die Bundesstraße gut ausgebaut und sie beschleunigte nachdrücklich.

Sabine erreichte das Ortsschild von Eberbach. Auf der gegenüberliegenden Schwimmbadwiese waren bereits die ersten, frühen Badegäste mit ihren bunten Liegetüchern sichtbar und die Parkplätze am Neckarufer waren überwiegend belegt. Sie fuhr den Neckarlauer entlang bis ans Ortsende, hier bog sie zweimal links ab und fuhr an den Parkplätzen des »Grünen Baumes« vorbei bis zum blauen Hut. Der schöne alte Turm hatte ihr schon immer gefallen. Seine efeubewachsene Fassade wirkte freundlich, beständig und erhaben. Sabine war früher häufig in Eberbach gewesen. Ihr Exfreund lebte hier. Die Erinnerungen waren durchwachsen.

Da sie nicht in die Innenstadt fahren durfte, suchte sie sich einen Parkplatz und ging zu Fuß weiter. Am Pfarrhof vorbei ging sie zum Marktplatz mit seinem alten Rathaus, in dem schon seit vielen Jahren das Heimatmuseum untergebracht war. Leise plätscherten die Brunnen am alten Rathaus. Neben wunderschönen Gemälden Eberbacher Künstler und liebevollen Schaubildern gab es hier den letzten Wolf des Odenwaldes. Sabine fühlte sich im Moment auch wie ein Raubtier. Das ehrwürdige und gutbürgerliche Hotel »Zum Karpfen« begrüßte sie. Vor dem Lokal im Thalheim’schen Haus saßen noch keine Gäste. Die Stühle waren noch um die Sonnenschirme zusammengeschlossen. Aber eine rege junge Frau war schon dabei, die Tischplatten gründlich für das Tagesgeschäft abzuwischen. Sie ging weiter die Hauptstraße entlang und bog schließlich in die schummrigen Gässchen in Richtung Kornmarkt ab. Am Kornmarkt angekommen klingelte sie Sturm an Andreas’ Wohnung. Wütend sah sie an dem alten Häuschen empor.

Andreas war nach seiner Scheidung vor drei Jahren erst weiter in Nürnberg geblieben. Auf eine sentimentale Art fühlte er sich mit der Stadt und den Trümmern seiner 12-jährigen Ehe verbunden. Er wäre nicht gegangen. Seine Frau war Lehrerin und stammte aus Franken. Sie wollte nach dem Studium in Heidelberg zurück in ihre Heimat und landete schließlich in Nürnberg auf einem Gymnasium. Damals war es ein großes Glück und harte Arbeit von Baden Württemberg in das Bundesland Bayern zu wechseln. Aber sie hatte alles erreicht.

Mittlerweile hatte sie einen Rechtsanwalt geheiratet und verachtete ihn aus tiefster Seele. Andreas war schon immer ein großer Genießer der Weiblichkeit gewesen und konnte den Versuchungen während seiner Ehe nicht widerstehen. Seine Exfrau sah das weniger poetisch.

Letztlich war er vor neun Wochen in seine Geburtsstadt Eberbach gezogen. Hier hatte er als Kind die Dr.-Weiß-Schule und das Hohenstaufen-Gymnasium besucht. Hier konnte er die Schatten der gescheiterten Ehe vielleicht hinter sich lassen und einen neuen Lebensabschnitt beginnen.

Aber heute sah die gesamte Stadt anders aus als damals. In den 1980er-Jahren hatte man einen Teil der Altstadt zur Fußgängerzone erklärt und die Bahnhofsstraße wurde im Laufe der Jahrtausendwende immer mehr beruhigt. Man hatte die Neckarstraße stillgelegt und den Verkehr umgeleitet. Viele Bausünden aus Wirtschaftswunderzeiten waren wieder den Baggern zum Opfer gefallen und gemäß dem Trend, sich an das Alte zu erinnern, hatte man viele Fachwerkfassaden freigelegt und die kleinen, alten Häuschen liebevoll wieder hergerichtet.

Mit dem Fahrrad erreichte er trotzdem immer noch in vier Minuten den Bahnhof, von wo er in einer halben Stunde mit einem Zug in Heidelberg sein konnte.

Eberbach! So ein Kaff! Mit jedem Tritt gegen die Haustür veränderte sich Sabines Gemütslage. Auch eine Art energetischer Psychologie.… Nach einer Weile summte der Türöffner. Sabine stürmte zwei Stufen auf einmal nehmend die enge Holztreppe des alten Fachwerkhauses empor. Im ersten Stock stand ein junger Mann mit verschränkten Armen in einer Wohnungstür und blickte ihr zynisch entgegen. »Darf ich ihnen meine Wanderstiefel anbieten? Mit denen treten sie die Tür höchstwahrscheinlich leichter ein …« »Ich wollte eigentlich zu Herrn Raab! Ich fürchte, ihm ist etwas geschehen, da er die Tür nicht öffnet.« Nach kurzem Überlegen ging der junge Mann in seine Wohnung und kehrte mit einem Schlüssel zurück. »Hat er mir für Notfälle gegeben. Das scheint einer zu sein.«

Sabine stieg mit dem Ersatzschlüssel auf der knarzenden Holztreppe ein Stockwerk höher und öffnete Andreas’ Wohnungstür. Der abgestandene Rauch in der Wohnung war mittlerweile nicht mehr kalt, sondern durch die hohe Außentemperatur warm und noch stickiger. Sabine wurde fast übel.

»Er muss tot sein, wenn er hier drin ist! Diese Luft erträgt kein normaler Mensch!«, schoss es Sabine durch den Kopf. Durch den Flur betrat sie das Schlafzimmer. Andreas lag nur mit einem ehemals weißen Oberhemd bekleidet halb auf seinem Bett. Sein Unterkörper war nackt und seine Füße hingen auf den Boden. Er sah aus, als sei er im Sitzen eingeschlafen und umgekippt. Dieser Anblick machte sie irgendwie sprachlos. Er schnarchte. Ihr Kopf geriet automatisch in eine unbewusste Schüttelbewegung. Im ganzen Raum waberten die Alkoholausdünstungen vor sich hin. Sabine durchschritt den kleinen Raum und riss das Fenster auf. Einen tiefen Luftzug später brüllte sie Andreas wütend an. Er regte sich nicht. Aber Puls war da. Sie rüttelte kräftig an seinen Schultern. Keine Reaktion. Im Bad fand sie neben einer Jeans mit Unterhose einen Putzeimer auf dem Fußboden. Wütend füllte sie den Eimer auf. Mit dem mit Wasser gefüllten Eimer kehrte sie ins Schlafzimmer zurück.

Andreas fuhr empor. Ein Teil seines Nervensystems hatte seinen Oberkörper aufgesetzt. Jetzt arbeitete eine Ecke seines Kopfes daran, das schwankende Pendeln einzudämmen und Sabines wutverzerrtes Gesicht scharf und deutlich werden zu lassen. Er und das Bett waren nass. So ganz konnte er sich noch nicht erklären, warum er nass und halb nackt vor der wütenden Sabine saß. Sabine schien ihm klar im Vorteil und Herrin der Lage. Und das schien sie rasend zu machen.

»Du hast kaum geschlafen. Dafür hast du lange geduscht und viel Zeit auf dein Make-up verwendet. Vermutlich bist du sehr früh aufgestanden, da du schlaflos im Bett gelegen hast. Das sind die Schuhe, in denen du dich sicher und erfolgreich fühlst. Die trägst du normalerweise nur, wenn du Angst hast, eine Situation nicht gut zu meistern. Sie haben flache Absätze, die dich fest stehen lassen. Außerdem ist es draußen heiß. Dein Nacken ist verschwitzt. Dein Atem riecht nach Kaffee ohne Frühstück. Es hat dir etwas dein rituelles Frühstücksmüsli verhagelt«, lallte er stark verlangsamt vor sich hin. Dann kippte er wieder nach hinten.

Unglaublich! Bevor Sabine darüber nachdenken konnte, wie sie am gefälligsten den Andreas-Mord ausüben könne, klingelte es aus der Hose auf dem Badezimmerboden. Sabine wechselte vom Schlafzimmer ins Bad und hob die Jeans auf. Sie schälte ein Handy aus der Hosentasche.

»Bei Raab?«, meldete sie sich.

»Hier ist Christian. Christian Schäffer. Ich bin ein alter Schulfreund von Andreas. Kann ich ihn bitte sprechen?«

»Nein«, antwortete sie schlicht.

»Bitte richten Sie ihm aus, dass er mich dringend anrufen soll.« Seine Stimme klang sehr nachdrücklich.

»Gut, mache ich.« Sie legte auf, bevor er ihre Lage noch mehr verwickeln konnten. Sie beschloss, Andreas einen Zettel zu hinterlassen und ihn erst dann zu töten, wenn er wieder bei vollem Bewusstsein war. Das war wirkungsvoller.

Andreas wachte mit einem schlechten Gewissen auf. Warum, war ihm nicht wirklich klar. Er hatte von Sabine geträumt. Seltsam. Sein Bett war teilweise nass. In seiner Wohnung war es brütend heiß, aber wenigstens stand das Schlafzimmerfenster offen. Kurz fragte er sich, welcher Art die Nässe in seinem Bett sein konnte. Stöhnend richtete er sich auf und wankte in die Küche. Auf dem Tisch lag neben der Wodkaflasche ein Zettel. Man hatte ihn aus einem Terminkalender herausgerissen.