Seitensprung - William Trevor - E-Book

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William Trevor

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Beschreibung

Flüchtige Momentaufnahmen, dem Fluss der Zeit entrissene Episoden aus dem Leben verschiedener Menschen. Egal ob es sich um einen betrogenen Ehemann, ein behindertes Mädchen oder einen verkannten Künstler handelt - stets gibt es den einen Moment, der das Leben für immer verändert: eine unerwartete Begegnung, ein großes Ereignis, eine schwerwiegende Entscheidung. Trevors Geschichten zeigen von Mal zu Mal, dass es keinen Sinn hat, sich gegen das Schicksal aufzulehnen, dass die Suche nach Glück müßig, wenn auch allzu menschlich ist. »Mit der Genauigkeit eines Chirurgen und der Eloquenz eines Dichters präsentiert Trevor dem Leser die Nischen des menschlichen Herzens.« (Literary Review)

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William Trevor

Seitensprung

Erzählungen

Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit

Hoffmann und Campe

In einem Totenhaus

Seine Augen waren geschlossen, dann öffnete er sie und sagte, er wolle nach dem Pferdestall sehen.

Emilys Miene zeigte keine Reaktion. In ihrem Gesicht, dem man nicht ansah, dass sie jünger war als er, spiegelte sich nur Leere und Erschöpfung. »Vom Fenster aus?«, fragte sie.

Nein, er werde hinuntergehen, entgegnete er. »Bringst du mir den Mantel? Und stell die Stiefel an die Tür.«

Sie wandte sich vom Bett ab. Wenn sie ihm nicht half, würde er es allein tun; sie kannte ihn seit achtundzwanzig Jahren, war dreiundzwanzig davon mit ihm verheiratet. Ob sie ihm den Mantel brachte oder nicht, an seinem Entschluss würde das ebenso wenig ändern wie irgendwelche Einwände ihrerseits.

»Es könnte dein Tod sein«, sagte sie.

»Frische Luft tut einem Mann gut.«

Unten stellte sie ihm die Stiefel an der Hintertür bereit. Dann brachte sie ihm Mütze und Schal mit dem Mantel nach oben. Zwischen dem linken Ärmel und der Schulter waren ein, zwei Stiche nötig, stellte sie fest. Es war ihr bisher nicht aufgefallen, aber sie wusste, er würde nicht warten, wenn sie es jetzt richtete.

»Was willst du denn dort?«, fragte sie, und er erwiderte: Nichts weiter. Nur ein bisschen aufräumen.

Acht Tage später starb er, und Dr. Ann versicherte ihr, dass er im Stall aufgeräumt hatte und dabei nur mit einem Mantel über dem Schlafanzug bekleidet war, hätte seinen Tod nicht beschleunigt. Eine Stunde nachdem sich die Ärztin verabschiedet hatte, kamen die Geraghtys, die nicht wussten, dass er tot war.

Es war jetzt halb acht am Abend. Um die gleiche Zeit am nächsten Morgen erwartete sie Keane, den Bestattungsunternehmer. Das erklärte sie den Geraghtys mit sorgsam gewählten Worten, denn sie sollten nicht denken, dass Emily sie aus einem anderen Grund abwimmeln wollte. Obwohl sie natürlich wusste, dass ihr Mann, wäre er noch am Leben, die Geraghtys nie und nimmer an seinem Bett geduldet hätte. Wie gut, dass sie zu spät gekommen waren.

Die Geraghtys waren zwei Frauen mittleren Alters, Schwestern, auch die Misses Geraghty genannt, und hatten es sich zur Aufgabe gemacht, den Sterbenden Beistand zu leisten. Emily hatte von ihnen gehört, kannte sie jedoch nicht, nicht einmal vom Sehen; sie mussten sich vorstellen, als sie ihnen die Tür öffnete. Ihr wäre nie in den Sinn gekommen, dass die Geraghtys ihr gutes Werk in dem Krankenzimmer verrichten wollten, um das sich ihr eigenes Leben in den vergangenen sieben Monaten gedreht hatte. Sie waren Frauen der Legion of Mary, berühmt für ihre Nächstenliebe, unermüdlich in ihrer Unterstützung der Hilfsorganisation St. Vincent de Paul und der Verbreitung der Schriften von Pater Xavier O’Shea, einem Priester aus der Gegend, der in jungen Jahren um 1880 bei seiner missionarischen Tätigkeit im Fernen Osten an Malaria erkrankt war.

»Wir haben erst am Dienstag von Ihrem Kummer erfahren«, sagte die Dünnere und Kleinere der beiden entschuldigend. »Manchmal kommt es eben doch vor, dass uns etwas entgeht.«

Die andere Frau, kräftiger und älter, erlaubte sich Schmuck und Make-up und achtete mehr auf ihre Kleidung. Doch es war ihre schlichte Schwester mit den strengen Gesichtszügen, die das Heft in die Hand nahm.

»Wir haben bei MacClincy davon gehört«, sagte sie.

»Tut mir Leid, dass Sie umsonst gekommen sind.«

»Es ist nie umsonst.« Eine Pause schloss sich an, als wäre sie an dieser Stelle notwendig. »Sie haben unser Mitgefühl«, wurde dann hinzugefügt, offenbar als Erklärung, warum ihr Kommen nicht umsonst war.

Die Unterhaltung fand die ganze Zeit an der Haustür statt. Langsam wurde es dunkel, aber hinter der weiß getünchten Mauer des kleinen Vorgartens konnte Emily noch ein Auto erkennen, das an der Straße geparkt stand. Es war kalt, der Wind hatte auf Osten gedreht. Sie meinten es gut, diese Frauen, auch wenn ihr Unternehmen völlig umsonst war: ihre Fahrt von Carra hierher, um einen Mann zu besuchen, dem sie nicht willkommen gewesen wären, und auch noch zu spät zu kommen, einen Mann, dessen Tod ihnen eine peinliche Situation erspart hatte.

»Möchten Sie vielleicht einen Tee?«, bot Emily an.

Sie dachte, die beiden würden ablehnen und sich auf den Heimweg machen, weil sie die Witwe in einem solchen Augenblick nicht stören wollten. Doch die große, breitschultrige Frau blickte kurz zu ihrer Schwester und zögerte.

»Wenn Sie allein sind«, sagte die Kleinere, »leisten wir Ihnen gern noch Gesellschaft. Wenn es Ihnen hilft.«

Der Tote war nicht gläubig gewesen. Jeder hätte ihnen das sagen können, überlegte Emily beim Teekochen. Er hätte unterstellt, dass sich diese Frauen sicherlich nicht ohne Hintergedanken zu Kranken ans Bett setzten, und sie fragte sich, ob das wohl stimmte. Hofften sie bei ihren barmherzigen Einsätzen auf die ersten Anzeichen eines Glaubens, der sich oft wie aus dem Nichts einstellte, wenn der Tod an die Tür klopfte? Oder fuhren sie nach ihren Hausbesuchen gleich wieder in ein Pfarrhaus und sahen ihre Pflicht als erledigt an? Sie hatte nie dergleichen über die Geraghtys gehört und wollte so etwas auch nicht glauben. Sie meinten es gut, redete sie sich wieder zu.

Wenn die beiden gingen, würde sie nicht mehr nach oben gehen und den Toten betrachten. Sie würde ihn morgen früh Keane überlassen. In der kurzen Zeit, die seit seinem Tod verstrichen war, hatten sie einen Tag für die Beerdigung festgesetzt, Donnerstag nächster Woche; morgen früh wollte sie ein paar Leute benachrichtigen und im Advertiser eine Anzeige aufgeben. Kinder hatten sie keine, nach dem Donnerstag war alles vorbei, und es blieben nur noch die Schulden. Sie bestrich Früchtebrot mit Butter und rührte den Tee in der Kanne um, dann trug sie das Tablett ins Zimmer.

Die Geraghtys hatten ihre Mäntel nicht ausgezogen, saßen aber, mit ein bisschen Abstand zwischen sich, still wie zwei Statuen da.

»Es ist kalt«, sagte Emily. »Ich mache Feuer.«

»Ach nein. Wirklich nicht, nur keine Umstände.« Beide protestierten, aber sie ignorierte es, und das Reisig, das den ganzen Sommer im Kamin gelagert hatte, flammte sogleich auf. Sie schenkte ihnen Tee ein und fragte, ob sie Zucker wollten, dann bot sie ihnen das Früchtebrot an. Sie sagten jetzt Emily zu ihr, als sei sie eine gute Bekannte, und nannten ihre eigenen Namen: Kathleen, die ältere Schwester, und Norah.

»Ich hätte nicht gedacht«, setzte Kathleen an, aber Norah fiel ihr ins Wort.

»Wir wissen es natürlich«, sagte sie. »Sie sind Protestantin, aber das hat noch nie eine Rolle gespielt.«

Auch Reverend Wolfe, dem Methodistenpfarrer, hätten sie Beistand geleistet, sagte Kathleen. Ihm vorgelesen und alles gebracht, was er wünschte. Und sie waren da, als er verstarb.

»Das hat noch nie eine Rolle gespielt«, wiederholte Norah, dann nahm eine nach der andern ein Stück Früchtebrot. Beide bemerkten, dass es ganz ausgezeichnet schmecke.

»Es ist nicht leicht«, sagte Kathleen, als das Gespräch stockte. »Vor allem die ersten paar Stunden. Wir bleiben dann oft noch eine Weile.«

»Es war sehr freundlich, dass Sie an ihn gedacht haben.«

»Gemütlich ist das jetzt mit dem Feuer, Emily«, sagte Kathleen.

Die Geraghtys erkundigten sich nach den Pferden, weil sie von ihnen gehört hatten, und Emily erklärte, die gebe es längst nicht mehr. Sie werde den Hof jetzt wohl verkaufen, sagte sie.

»Ihnen ist es hier sicher zu abgelegen, Emily«, meinte Kathleen. Ihr Lippenstift hatte auf dem Rand der Teetasse eine Spur hinterlassen, und Norah wies sie mit einer Geste darauf hin. Kathleen wischte sie weg. »Wir beide sind eben Stadtmenschen«, sagte sie.

Emily empfand das Haus, in dem sie seit fast dreißig Jahren wohnte, nicht als abgelegen. Fünf Minuten mit dem Auto, und man war mitten in Carra. Nach Mangan’s Bridge, in der anderen Richtung, brauchte man nicht mal eine Minute.

»Man gewöhnt sich an einen Ort«, sagte Emily.

Die Geraghtys erklärten ihr, in welchem Haus sie wohnten, am Ortsrand von Carra, an der Straße nach Athy. Emily kannte es, ein hübsches, von Kletterpflanzen bedecktes Haus mit einem schmiedeeisernen Zaun davor, nicht groß, aber von Wohlstand zeugend. Sie hatte gedacht, es gehöre Corrigan, dem Landvermesser.

»Ich weiß nicht, wieso ich das dachte.«

»Wir haben es von Mr. Corrigan gekauft«, sagte Norah, »als wir vor drei Jahren nach Carra gezogen sind.« Und ihre Schwester ergänzte, davor hätten sie in Athy gewohnt.

»Carra war genau das, was wir gesucht haben«, sagte Norah.

Die Geraghtys bemühten sich, sie mit ihrem Geplauder aufzuheitern. Carra hätte sich in den letzten Jahren gut entwickelt, sagten sie, und es ginge weiter bergauf. Man merke das einem Ort gleich an, andere dagegen kämen auch in hundert Jahren auf keinen grünen Zweig.

»Vielleicht ziehen Sie jetzt auch bald nach Carra«, sagte Kathleen.

»Ich weiß noch nicht, was ich mache.«

Sie schenkte Tee nach und ließ das Früchtebrot ein weiteres Mal herumgehen. Dr. Ann hatte ihr Tabletten dagelassen, aber sie beabsichtigte nicht, welche zu nehmen. So erschöpft sie auch war, sie wollte nicht schlafen.

»Vor einer Woche war er draußen«, sagte sie. »Er ist aufgestanden und nur mit einem Mantel über dem Schlafanzug in den Stall gegangen. Ich dachte, das hätte alles beschleunigt, aber es war anscheinend nicht so.«

Die Geraghtys sagten nichts dazu, sie nickten nur alle beide. Sieben Monate habe er im Sterben gelegen, sagte Emily, und in der ganzen Zeit nicht einmal Zeitung gelesen. Am Ende kriegte er nur noch Maismehl runter.

»Wir haben Ihren Mann ja nicht gekannt«, sagte Norah, »genauso wenig wie Sie. Aber ich glaube, wir sind ihm einmal auf der Straße begegnet.«

Sie spürte ein Gefühl der Beklommenheit in sich aufsteigen, eine vertraute Furcht, die sie unwillkürlich trieb, eine Hand mit der anderen zu umklammern und die Finger fest zu schließen. Die Leute begegneten ihm oft, wenn er eines seiner Pferde trainierte. Manchmal drosselten Autos das Tempo für ihn, doch das kümmerte ihn wenig, nicht mal die Reitgerte hob er zum Dank. Einen Moment lang vergaß sie, dass er tot war.

»Er war viel unterwegs«, sagte sie.

»Ach, es ist schon lange her.«

»Das letzte Pferd hat er vor einem Jahr verkauft. Er wollte nicht, dass sie zurückbleiben.«

»Ist es richtig, dass er mit ihnen Rennen gelaufen ist?«, fragte Kathleen.

»Geländerennen. Hin und wieder in Punchestown.«

»Ach, wie schön.«

»Leider ohne großen Erfolg.«

»Sicher, in diesem Geschäft geht es immer auf und ab.«

Im Haus hatte sich jedes Mal Enttäuschung breit gemacht, wenn wieder ein Pferd beim Rennen zurücklag, wenn die monatelange Vorbereitung umsonst war. Viel Grund zu Optimismus hatte es nie gegeben, trotzdem waren die Erwartungen immer hoch gesteckt, als würde alles, was dem nicht entsprach, nur Pech bringen. Als Emily heiratete, trainierte er mit ein paar Einjährigen auf der Curragh-Rennbahn. Es laufe bestens, hatte er gesagt, obwohl es nicht stimmte.

»Sie hatten nie Kinder, Emily?«, fragte Kathleen.

»Nein.«

»Ich glaube, das hat uns schon jemand erzählt.«

Das Haus war ihr von einer Tante mütterlicherseits vermacht worden. Dreiundvierzig Morgen Land, mit Schafhaltung; auch die Möbel gehörten zum Erbe. »Als Kind bin ich oft hier gewesen. Bei meiner Tante, Miss Edgill hieß sie. Haben Sie von ihr gehört?«

Sie schüttelten den Kopf. Das müsse lange vor ihrer Zeit gewesen sein, sagte Kathleen und sah sich um. Ein schönes Haus, sagte sie.

»Außer mir gab es keinen, dem sie es hätte vermachen können.« Emily sagte nicht, dass weder das Anwesen noch das Land in ihren Besitz übergegangen wären, wenn ihre Tante geahnt hätte, wen sie heiraten würde.

»Aber Sie wollen es aufgeben?«, erkundigte sich Kathleen, nach Kräften bemüht, das Gespräch in Gang zu halten. »Haben Sie nicht gesagt, so wie die Dinge stehen, wollen Sie es aufgeben?«

»Ich weiß es nicht.«

»In so einer Situation braucht jeder ein bisschen Zeit.«

»Wir sind oft mit frisch verwitweten Frauen zusammen«, murmelte Norah.

»Fast auf den Tag genau dreiundzwanzig Jahre waren wir verheiratet.«

»Gott hat ihn zu sich genommen, weil Er es so wollte, Emily.«

Die Geraghtys bekundeten weiter ihre Anteilnahme, eine knüpfte an das an, was die andere sagte, auch der Unterschied in Tonfall und Haltung blieb gewahrt. Und wieder – und mit jeder Tröstung, die ihr aufgedrängt wurde, immer häufiger – empfand Emily es als glückliche Fügung, dass den beiden der Versuch, ihrem Mann Gesellschaft zu leisten, erspart geblieben war. Er hätte sie zurückgerufen, sobald sie ihn mit den Geraghtys allein gelassen hätte, und gefragt, wer die beiden seien, obwohl er es genau wusste; er hätte ihr befohlen, sie wegzuschicken. Nie hatte er ein Blatt vor den Mund genommen – wenn jemand über eines der Felder ging, folgte ein Schwall derber Beschimpfungen, jedes Wort gebrüllt, manchmal war es beängstigend. Es lief immer gleich ab: Er hob die Stimme, benutzte unflätige Ausdrücke; er war nie handgreiflich geworden, nicht ein einziges Mal. Dabei hätte sie es sich oft gewünscht, denn sie war überzeugt, Gewaltausbrüche wären leichter zu ertragen gewesen als die Macht seiner zornigen Worte. Für sie war es Macht, was ihr da immer entgegenschlug, schwelend und dann losgelassen, um sein Scheitern zu verleugnen.

»Pferde. Punchestown. Die Welt der Rennbahnen«, sagte Kathleen. »Ein interessantes Leben haben Sie geführt, Emily.«

Sie hatte den Eindruck, dass Norah den Kopf schütteln wollte, dass die beiden Schwestern zum ersten Mal nicht so recht einer Meinung waren. Das überraschte sie nicht; was sie jedoch erstaunlich fand, war die Bemerkung, die eben gefallen war.

»Ein ungewöhnliches Leben, wollte meine Schwester sagen.« Norah nickte zur Bestätigung ihrer Korrektur, ihr Tonfall milderte den Widerspruch zusätzlich ab.

»Es gibt viele Frauen, die nicht weit herumkommen«, sagte Kathleen.

Emily schenkte Tee nach und legte Torfbriketts auf das Feuer. Sie hatte vergessen, die Vorhänge zuzuziehen, und holte es jetzt nach. Das Zimmer war nur schwach beleuchtet, er hatte immer auf Glühbirnen mit geringer Wattzahl bestanden. Doch das matte Licht machte den Raum gemütlich, und es kam ihr unrecht vor, dass es irgendwo gemütlich sein sollte, während er erst ein paar Stunden tot war. Sie überlegte, was sie wohl tun würde, wenn die nächste Glühbirne hier oder sonst irgendwo im Haus kaputtging. Ob sie dann eine stärkere einsetzen würde, oder gehörte das schwache Licht mittlerweile zu ihrem Leben? Und diese Nervosität, gehörte die jetzt auch zu ihr? Eigentlich glaubte sie es nicht, aber in dem Punkt konnte sie sich natürlich auch täuschen.

»Ich bin nicht viel herumgekommen«, sagte sie, weil ein Schweigen sich breit machte. Beide Besucherinnen rührten Zucker in ihren Tee. Nachdem die Löffel wieder auf den Untertassen lagen, sagte Norah:

»Manche Leute legen auch gar keinen Wert darauf.«

»Er war ein schwieriger Mensch. Das hat man Ihnen sicher erzählt.«

Dem widersprachen sie nicht. Sie sagten nichts, bis Emily fortfuhr:

»Er hat sein Vertrauen in die Pferde gesetzt. Von Kindesbeinen an wollte er nur Rennen gewinnen, damit wollte er sich einen Namen machen. Aber er hat es nie weit gebracht.«

»Armer Mann«, murmelte Kathleen. »Armer Mann.«

»Ja.«

Sie hätte sich nicht beklagen sollen und wollte es eigentlich auch nicht; Emily versuchte ihnen das zu sagen, aber die Worte kamen einfach nicht. Sie wandte den Blick von den Frauen, die bei ihr zu Besuch waren, und starrte auf die Möbel eines Zimmers, das sie nur allzu gut kannte. Als sie die Vorhänge abgenommen hatte, um sie zu waschen, war er wütend geworden; jeder könnte hereinglotzen, hatte er gesagt, und sie verstand nicht, was er damit meinte. Auf der Straße kam fast nie jemand vorbei.

»Er hat mich wegen des Hauses geheiratet«, sagte sie, auch das kam ihr über die Lippen, ohne dass sie es verhindern konnte. Die Frauen waren Fremde, und sie sprach schlecht über den Toten. Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie das eben Gesagte zurücknehmen, aber das schien ihr unehrlich und noch schlimmer, als schlecht über ihn zu sprechen.

Die beiden Frauen hoben gleichzeitig die Tassen an den Mund und tranken einen Schluck Tee.

»Er hat mich wegen der vierzig Morgen geheiratet«, sagte Emily, wieder getrieben, etwas zu sagen, was sie gar nicht sagen wollte. »Ich war ein protestantisches Mädchen, das keiner beachtet hat, bis er auf mich setzte, und ich fand alles romantisch, wie er selbst ja auch – die Rennprogramme und Siegerschleifen, die Farben der Jockeys, die vielen Zuschauer. So sind wir zusammengekommen.«

»Lassen Sie’s gut sein, meine Liebe«, sagte Kathleen. »Nicht doch.«

»Ich war dumm, und für Dummheit muss man büßen. Ich war gierig auf die Ehe, und für Gier muss man büßen. Nach allem, was wir letztes Jahr zurückgezahlt haben, blieb uns noch ein halber Morgen. Auf das Haus hat er eine Hypothek aufgenommen. In der Zeit, als er im Sterben lag, war ich kurz davor, ihn zu fragen: ›Was soll ich denn jetzt machen?‹ Aber ich ließ es sein, und er sprach es auch nie an. Nur Gott weiß, was seine letzten Gedanken waren.«

Die Geraghtys sagten, sie sei aufgewühlt und durcheinander. Eine nach der andern versicherten sie ihr, das ginge jeder Witwe so, etwas anderes könne man nicht erwarten. Norah sagte es zweimal. Kathleen meinte, Emily könne sich in ihrem Kummer ruhig an sie wenden.

»In diesem Haus herrscht kein Kummer.«

»Lassen Sie’s gut sein«, sagte Kathleen, und ihr großes Gesicht wurde vor Verzweiflung ganz faltig. »Nicht doch.«

»Ihm war es immer egal, wie die Wahrheit herauskam, ob er sie aussprach oder nicht. Er hat nicht gesagt, dass ich nichts tauge, aber man sah es an seinem Blick. Einmal habe ich den Stallhof gefegt, und er fragte, wozu das gut sein soll. Er schob den Teller beiseite, ohne das Essen anzurühren. Eine Zeit lang hatten wir zwei Collies, die uns Gesellschaft leisteten. Als sie starben, sagte er, dass er nie wieder einen Hund haben will. Der Tierarzt machte einen großen Bogen um uns. Der Mann, der zum Ablesen des Zählers kam, war verärgert wegen der Beleidigungen, die er sich anhören musste, weil er mit seinem Transporter in den Hof gefahren war.«

»Jeder hat seine guten und schlechten Seiten, Emily«, sagte Norah im Flüsterton und wiederholte es noch einmal, immer noch flüsternd.

»Bleiben Sie sitzen, Emily«, sagte Kathleen, »ich mache uns noch eine Kanne Tee.«

Sie stand auf, hielt die Teekanne schon in der Hand. Sie war es gewöhnt, in fremden Küchen Tee zu machen. Sie würde sich schon zurechtfinden, sagte sie.

Emily protestierte, aber eigentlich war es ihr gleichgültig. In den vielen Jahren ihrer Ehe hatte in dieser Küche keine andere Frau Tee gemacht, und sie stellte sich vor, er käme vom Hof herein und fände dort eine andere vor. Als sie damals anfing, die Spülküche zu streichen, machte es ihr Angst, wie er plötzlich in der Tür stand, ohne ein Wort zu sagen. Und als sie die Zuckertüte fallen ließ und der Zucker verschüttet überall am Boden lag, sah er zu, wie sie ihn mitsamt den Torfbröseln auf die Kehrschaufel fegte. Er schnauzte sie an, was sie sich eigentlich dabei dachte, Zucker wegzuwerfen, den man noch für den Tee verwenden konnte. Bis zum heutigen Tag war die Spülküche nur zur Hälfte gestrichen.

»Er hat in seiner eigenen fremden Welt gelebt«, sagte Emily zu der Schwester, die bei ihr geblieben war. »Selbst im Alter war er noch überzeugt, ein Pferd könnte ihm neuen Schwung geben. Auch als das einzige, das ihm noch geblieben war, krank wurde und zu nichts mehr taugte. Als sie alle weg waren, schrubbte er die leeren Boxen und füllte sie mit frischem Stroh. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, noch einmal von vorn anzufangen, mit einem Pferd, das günstig zu haben war. Er sagte es zwar nie, aber das war sein Plan.«

Das Haus war nicht sauber. Seit Jahren schon nicht mehr. Sie hatte es aufgegeben – das Haus, sich selbst, das nicht funktionierende Radio, ihr Fahrrad mit den platten Reifen. Ihren Besucherinnen war sicher nicht entgangen, dass die Sommerfliegen nicht aufgefegt waren und überall Staub lag.

»Drei Löffel und noch einen extra«, sagte Kathleen und stellte die Teekanne auf den Kamin. »Ist das richtig so, Emily? Lassen wir ihn eine Minute ziehen?«

Ein paar Scheiben Früchtebrot habe sie noch aufgeschnitten, auf dem Schneidebrett hatte sie es liegen sehen, mit dem Brotmesser daneben, zusammen mit der Butter. Sie hoffe, das sei nicht unverschämt von ihr, sie hoffe, Emily empfinde es nicht als Einmischung, sagte sie, doch auf alles erhielt sie keine Antwort.

»Er saß da und hat mich angestarrt«, sagte Emily. »Sein Blick ist mir durch die ganze Küche gefolgt. Einmal war ein Käfer auf dem Tisch, und er hat sich nicht gerührt. Der Käfer ist ins Mehl gekrabbelt, und er hat ihn nicht rausgeholt.«

»Ist es nicht erstaunlich, Emily«, sagte Norah, »dass Sie nicht fortgegangen sind, so wie die Dinge standen? Womit ich nicht sagen will, Sie hätten es tun sollen.«

Emily war sich bewusst, dass die Frage im Raum stand. Sie blieb die Antwort schuldig; sie wusste nicht, warum sie nicht gegangen war. Rückblickend gesehen, verstand sie es auch nicht. Aber sie erinnerte sich an die Argumente, die ihr eingefallen waren, als sie erwogen hatte, ihn zu verlassen; sie hatte sich gefragt, wohin sie gehen könnte, und sich eingeredet, es sei nicht richtig, ein Haus aufzugeben, das man ihr in gutem Glauben und aus Zuneigung vermacht hatte. Und dann war da natürlich die Sorge, wie er zurechtkommen würde.

»Nehmen Sie noch eine Tasse, Emily?«

Sie schüttelte den Kopf. Der Wind war stärker geworden. Sie hörte ihn oben an den Türen rütteln. In dem Zimmer hatte sie das Licht brennen lassen.

»Ich sollte Sie nicht länger aufhalten«, sagte sie.

Doch die Geraghtys hatten es sich wieder gemütlich gemacht, mit dem frischen Tee zur Stärkung. Sie hielte sie in keiner Weise auf, sagte Kathleen. Im schummrigen Licht der Vierzig-Watt-Birne zeigte der Wecker auf dem Kaminsims zwanzig nach elf an, obgleich es in Wirklichkeit schon eine halbe Stunde später war.

»Ich bin nur einfach müde«, sagte Emily. »An so einem Tag, da wollte ich eigentlich nicht stundenlang über Dinge reden, die vorbei sind.«

Kathleen sagte, es sei der Schock. Der Schock über einen Todesfall verändere alles, sagte sie; ganz gleich, wie sicher man mit dem Tod rechnete, wenn er kam, war es immer ein Schock.

»Ich möchte nicht, dass Sie denken, ich hätte meinen Mann nicht geliebt.«

Die Schwestern wirkten überrascht; Kathleen kniete vor dem Kamin und legte Torfbriketts nach, Norah goss Milch in ihren Tee. Ob diese beiden unverheirateten Frauen das überhaupt verstehen konnten?, dachte Emily. Konnten sie verstehen, dass sie den Toten, auch wenn sie weder Kummer noch Trauer empfand, trotzdem noch ein bisschen geliebt hatte? Es war von Anfang an ihr Fehler gewesen, ihre Dummheit; niemand hatte sie zu etwas gezwungen.

Die Witwe und die Schwestern unterhielten sich weiter, Geplauder und Beileidsbekundungen, Trost und Bestärkung. Die Vergangenheit wurde heraufbeschworen, je mehr erzählt wurde: die Hochzeit, seine polierten Schuhe und das glänzende Haar, die Feier danach auf der Curragh-Rennbahn, in der Jockey Hall, weil er den Betreiber dort kannte. Leute wurden aufgezählt, deren Namen die Geraghtys kannten, andere hatten vor ihrer Zeit hier gelebt; Ereignisse wurden erwähnt – das Jahr, in dem er in Cheltenham mitgeritten war, als die alte Grauschimmelstute, die sich beim Geländerennen in Glanbyre das Bein brach, erschossen werden musste. Die Geraghtys erzählten von ihrer Kindheit in Galway, der »City of the Tribes«, und dass man den Ort kaum noch erkennen würde, so schick und quirlig, wie er jetzt war. Sie erzählten, wie sie später in der Nähe von Enniscorthy gewohnt hatten und Kathleen damals von dem Wunsch beseelt war, ein frommes Leben zu führen, dann jedoch wieder davon Abstand genommen hatte, und wie sie allmählich erkannt hatte, dass dieser Irrtum eine Prüfung gewesen war. Mit solchen Geschichten trugen die Geraghtys zur Unterhaltung bei. Im Laufe der Nacht wurde Emily klar, dass sie so handelten, weil es bei einem traurigen Anlass wichtig war, die Trauer in andere Bahnen zu lenken. Sie entschuldigte sich dafür, schlecht über den Toten gesprochen zu haben, und gab sich wieder die Schuld. Als die Geraghtys schließlich aufbrachen, war es halb vier.

»Danke«, sagte Emily und hielt ihnen die Haustür auf. Der Wind, der anfangs eine leichte Brise und dann stärker geworden war, hatte sich ganz gelegt. Die Luft war frisch und rein. Sie würde zurechtkommen, sagte sie.

Die Innenbeleuchtung des Wagens flackerte, als die Frauen die Türen öffneten. Die Rücklichter glühten rot auf, dann sprang der Motor an, und eine kleine Rauchwolke kam aus dem Auspuff, bevor der Wagen langsam davonfuhr und schneller wurde.

Oben im Zimmer zog Emily das Laken über die faltigen, starr werdenden Gesichtszüge und betete. Sie kniete am Bett und bat um Erlösung für ihren Mann, der sie so lange schlecht behandelt hatte. Durch ihre Angst war die Liebe, von der sie gesprochen hatte, zu einer leeren Hülse verkümmert, doch dass es diesen letzten Rest noch gab, leugnete sie jetzt ebenso wenig wie vorher im Beisein ihrer Besucherinnen. Sie konnte nicht weinen, und sie konnte nicht trauern; zu wenig war geblieben, zu viel zerstört. Wussten das die Frauen, als sie in der Dunkelheit davonfuhren? Würden sie es den Leuten erklären, wenn die Leute sie fragten?

Unten spülte sie das Teegeschirr ab. Sie würde nicht schlafen und auch nicht ins Bett gehen. Die Stunden würden verstreichen, und dann würde der Mann vom Bestattungsunternehmen kommen.

Das Scheinwerferlicht fiel auf niedrige Steinmauern, auf die Seitenstreifen mit dem wuchernden Jakobskraut, auf eingezäunte Felder mit schlafenden Schafen zwischen Stechginsterbüschen. Kathleen saß am Steuer wie immer, Norah hatte nie fahren gelernt. Noch nie hatte sich ein Besuch so seltsam gestaltet, so anders, als die Schwestern es aus ihrer Erfahrung kannten. Sie unterhielten sich darüber und schwiegen dann eine Zeit lang, bis Kathleen abschließend bemerkte, was sie den ganzen Abend gehört hätten, sei umso schlimmer gewesen, weil oben in dem Zimmer ein Toter lag.

Norah saß vornübergebeugt im dunklen Wagen und runzelte nachdenklich die Stirn. Sie antwortete nicht sofort, doch nach längerem Schweigen sagte sie:

»Ich würde sagen, heute waren wir in einem Totenhaus.«

Im Haus war wieder die Stille eingekehrt, die von den Besucherinnen gestört worden war. Kein Geist erhob sich aus den körperlichen Überresten des Mannes, der nun endlich in Frieden ruhte. Doch als die Morgendämmerung die Umrisse der Vorhänge erhellte, spürte die Frau, die am Torffeuer saß und es in Gang hielt, eine Regung in ihrem Innern. Die Müdigkeit setzte ihr weniger zu, etwas wie Ruhe überkam sie. In dem vernachlässigten Zimmer bereute sie nichts von dem, was sie den wohlmeinenden Schwestern gesagt hatte; und es war auch nicht wichtig, ob die beiden das eine oder andere nicht ganz verstanden hatten. Emily blieb noch eine Weile sitzen, dann zog sie die Vorhänge auf und ließ den Tag herein. Es war ihr eigener Geist, den die Nacht geweckt hatte, das Bild ihrer selbst, wie sie einst gewesen war.

Traditionen

Sie kamen einer nach dem andern herein, so wie immer. Hambrose, dann Forrogale, Accrington, Olivier, Macluse, Newcombe und Napier. Jeder sah die toten Dohlen auf der gestampften Erde liegen: sieben Stück, für jeden eine.

»Leggett«, sagte Macluse, die Übrigen schwiegen. Nur Napier hatte Leggett auch im Verdacht. Die anderen waren verwirrt, außer Olivier. Jemand hatte den Vögeln den Hals umgedreht und einem den Kopf abgerissen. Wie sie da im Staub lagen, sah das Gefieder schon matt aus, der wache Blick ihrer Augen war getrübt. »Leute gibt’s, das glaubt man nicht«, sagte Newcombe trocken, seine Stimme bar von Protest oder Emotion. Olivier wusste gleich, es war das Mädchen.

Eine Glocke läutete und rief sie zur Andacht. Jeden Morgen blieben ihnen nur diese wenigen Minuten, gerade Zeit genug, um zur Scheune zu laufen und nachzusehen, ob mit den Vögeln alles in Ordnung war. Meistens setzte das Läuten ein, wenn die sieben schon auf dem Rückweg waren. Nicht lange davor hatten sie ihre Morgenzigarette geraucht.

»Mein Gott!«, stieß Macluse aus, während sie dahineilten. Auch Forrogale und Accrington waren jetzt der Meinung, dass es Leggett war. Die anderen sagten nichts dazu.

Sie brachten ihren Vögeln das Sprechen bei, wie schon Generationen von Jungen vor ihnen. Sie lockten die Dohlen an, wenn sie noch ganz jung waren, stutzten ihnen dann die Flügel und zähmten sie. Man hätte sie vielleicht auch anderswo unterbringen können, aber die leere, geräumige Scheune eignete sich am besten; Hühnerdraht war über eine fensterartige Öffnung gespannt und unten an die Türen genagelt. Sie wurde zu keinem anderen Zweck genutzt, war verlassen und vergessen, bis wieder offiziell daran erinnert wurde, dass das Betreten des ganzen Geländes untersagt war – ein Verbot, das ebenso regelmäßig wieder in Vergessenheit geriet. So lief es seit Generationen. Aber ein solches Gemetzel hatte es noch nie gegeben.

Die Dohlen redeten nicht deutlich, wenn man sie unterrichtete. Sie unterhielten sich weder miteinander, noch gaben sie einen einzigen Laut von sich, den man als Wort bezeichnen konnte. Die Geräusche, die nach stundenlangem Unterricht aus ihren Schnäbeln kamen, waren diffus und mussten vom Zuhörer interpretiert werden. Bessere Resultate ließen sich erzielen, so hieß es, wenn man ihnen die Zunge spaltete, wie es früher praktiziert worden war, nun aber schon seit vielen Jahren nicht mehr. Man fand, das sei doch nicht so das Richtige.

Fast auf die Minute genau erreichten die sieben Jungen die Kirche, liefen an der Reihe der Lehrer vorbei, die an den Kreuzgängen auf ihren Einmarsch warteten, und setzten sich nebeneinander auf ihre Plätze. Dass an diesem Morgen etwas nicht stimmte, sahen ihre Mitschüler sofort; die Neugier wuchs, während Gebete gemurmelt und Choräle geschmettert wurden. Der Kaplan mit dem ernsten Gesicht führte durch die Andacht und sprach kurz über die Versuchungen in der Wüste, denn es war die Zeit dafür im Kirchenjahr. Seine ernste Art war eine allgemein bekannte Eigenschaft, die keineswegs auf das Ereignis der vorigen Nacht zurückzuführen war, von dem er ja nichts wusste. »Denn es steht geschrieben«, zitierte der Kaplan, »er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen.« Mit diesen Worten schloss er den Gottesdienst ordnungsgemäß ab. Während Schüler und Lehrer, alle in formellen Talaren, nacheinander wieder an die frische Luft trotteten, erklang ein Orgelsolo von Händel.

In der folgenden allgemeinen Auflösung kamen, mit zunehmender Lautstärke, die Gespräche in Gang. Die Jungen strebten den weit verstreut liegenden Klassenzimmern entgegen, die Lehrer schlugen nur eine Richtung ein, um aus ihrem Aufenthaltsraum die aktuell benötigten Bücher zu holen. Hambrose und Accrington blieben zusammen, ebenso Macluse und Napier und Newcombe, die alle drei einer klügeren Gruppe angehörten. Forrogale hatte eine Klavierstunde. Olivier war zum Direktor bestellt worden. Alle sieben hatten sie noch die Schandtat vor Augen, und weder Bitterkeit noch Zorn waren gewichen.

Forrogale vertrieb sich die Wartezeit mit Klavierspielen, denn er hatte seit seiner letzten Stunde bei Mr. Hancock nicht viel geübt. Im Haus des Direktors wurde das blaue Licht über der Wohnzimmertür gelöscht, als der Schulschlachter und Mann für alles, Dynes, aus dem Zimmer kam. Er zwinkerte Olivier unheilvoll zu, um anzudeuten, dass er mehr über die Vorladung wusste, als es der Wahrheit entsprach. Doch das Zwinkern blieb unbeantwortet, da es einer von Dynes’ üblichen Tricks war. Olivier klopfte leise an die Tür und wurde zum Eintreten aufgefordert.

»Ich bin enttäuscht«, erklärte der Direktor unvermittelt und führte Olivier vom Kamin, an dem er sich gewärmt hatte, in ein kleines angrenzendes Zimmer, wo Bücher und Papiere und beschlagnahmte Sachen unordentlich herumlagen. Der kräftig gebaute Mann ließ sich schwerfällig hinter seinem Schreibtisch nieder, während Olivier stehen blieb. »Enttäuscht, festzustellen«, fuhr er fort, »dass du in keinem der drei naturwissenschaftlichen Fächer den Anforderungen entsprochen hast. Dabei sieht es so aus, als hättest du diesen Zweig aus freien Stücken gewählt.« Er brach ab, um einen Blick auf ein Blatt Papier zu werfen, das er zu sich herangezogen hatte. »Liegen deine Interessen in dieser Richtung?«

»Ich war neugierig und wollte mehr über Naturwissenschaften wissen, Sir.«

»Setz dich, Olivier.«

»Danke, Sir.«

»Neugierig, sagst du?«

»Ja, Sir.«

»Dann sag mir, warum du in dieser Richtung neugierig bist. Du weißt ja, ich habe eine Verpflichtung – und ein schlechtes Gewissen, wenn ich begriffsstutzige und ungebildete Schüler wissentlich in die unschuldige Welt entlasse. Die Gebühren an dieser Schule sind hoch, Olivier. Sie sind hoch, weil die Erwartungen hoch sind. Dein Hausaufseher hat dir das auch gesagt. Du bist heute Morgen hier, damit dir bewusst wird, wie ernst es uns damit ist. Als du dich für den naturwissenschaftlichen Zweig entschieden hast, bist du also keiner inneren Berufung gefolgt?«

»Nein, Sir.«

»Du hast eine Neugierde befriedigt. Du hast dich befriedigt: Das kann gefährlich sein.«

Warum musste der Mann bloß immer so schwülstig und gestelzt daherreden? fragte sich Olivier. Wenn der schlichte Wunsch, mehr lernen zu wollen, weil man so wenig wusste, Selbstbefriedigung war, dann war es eben Selbstbefriedigung. Was war daran gefährlich?, überlegte er, fragte aber nicht. Seine unzureichenden Leistungen im Labor hatten ihn nicht überrascht und überraschten ihn auch jetzt nicht.

Olivier sagte, es täte ihm Leid, und der Direktor redete, wie bei jeder sich bietenden Gelegenheit, von der Schule und ihrem Glauben an Traditionen. Was er da rühmte, hatte wenig, wenn überhaupt etwas, mit Oliviers Versagen zu tun. Dass das so war, war an sich schon eine Tradition, denn jedes Abweichen von den erwünschten Verhaltensnormen wurde auf das leichtsinnige Missachten altbewährter Grundsätze und Moralvorstellungen zurückgeführt. Auch die Vorgänger dieses Direktors hatten zu ihrer Zeit großen Wert auf die Vergangenheit gelegt, auf die Erfolge der Jungen, wenn sie erwachsen wurden, auf das, was sie der Schule schuldeten. Und Oliviers Vorgänger wiederum hatten ebenso skeptisch und verächtlich zugehört.

»Wollen wir so verbleiben«, schlug der jetzige Direktor vor, »dass du mir heute Morgen versprichst, dich dahinter zu klemmen? Dass wir die Angelegenheit in, sagen wir, fünf Wochen erneut besprechen?«

»Ich könnte die Naturwissenschaften auch aufgeben, Sir.«

»Aufgeben? Das Wort will ich überhaupt nicht hören.«

»Ich habe einen Fehler gemacht, Sir.«

»Mach ihn nicht noch schlimmer, Olivier. Versagen an sich ist schon eine Strafe. Vielleicht lässt du dir das einmal durch den Kopf gehen.«

Mit diesem Vorschlag wurde Olivier entlassen. In der großen steingepflasterten Halle hinter dem Arbeitszimmer und dem Wohnzimmer vergaß er sofort alles, was man ihm eben gesagt hatte, und widmete sich wieder dem Thema der toten Vögel. Er kam zu dem gleichen Schluss wie schon vorher: Der Schuldige war kein Schüler. Heute Nachmittag nach dem Training würden sie sich Leggett schnappen und ihn verhören. Olivier, der sich auf dem Weg zum Klassenzimmer Zeit ließ, nahm diese ungerechte Rache in Kauf, wusste aber, er würde seinen Verdacht trotzdem nicht preisgeben. Er empfand es als Genugtuung, zu schweigen, etwas zurückzuhalten, zu wissen, was andere nicht wussten.

Den Mittwoch hatte sie immer bis zum Abendbrot für sich. Das war seit jeher so, und jede Veränderung wäre ihr zuwider gewesen. Inzwischen sah sie diesen Tag mitten in der Woche als ihren persönlichen Sonntag – wenn der Wecker nicht klingelte, wenn sie die Glocken der Kirche und Grundschule, die in der Ferne läuteten, ignorieren durfte. Selbst ihr Unterbewusstsein wusste, was zu tun war: den halben Vormittag verschlafen. Es war ein zerrissener Schlaf, unruhig durch endlose Träume, die um diese Zeit besonders lebhaft waren, doch das störte sie nie. Nichts war lustvoller als ein Mittwochmorgen, als sich zwischen Dösen und Aufwachen den unordentlichen Speisesaal nach dem Frühstück vorzustellen, und die Stille, die plötzlich einkehrte, wenn der Unterricht begann, das in die Speisekammern getragene Besteck, wo es sauber poliert und dann wieder zurückgebracht wurde, die großen, zum Mittagessen gedeckten Eichentische. Auch samstagabends hatte sie frei, aber das war anders, nichts wirklich Besonderes, und oft sprang sie für eine der anderen ein, ohne dafür eine Entschädigung zu wollen.

An diesem Morgen stand sie um halb elf auf, ihre übliche Mittwochszeit. Sie las eine farbige Beilage, bis das Wasser im Kessel kochte. Dann öffnete sie die Hintertür,