Sektenkinder - Kathrin Kaufmann - E-Book

Sektenkinder E-Book

Kathrin Kaufmann

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Beschreibung

Neustart nach dem Ausstieg »Es gehört so viel Mut dazu, ein System, in dem du groß geworden bist, zu hinterfragen und dem den Rücken zuzukehren. Das ist ein Glaubens- und Heimatverlust und ein völliger Neustart in einer fremden Welt. Es ist so mutig. Das ist einfach ganz, ganz groß.« Melanie, 38 Jahre, Sektenkind In sektiererischen Gruppierungen aufzuwachsen bedeutet häufig, gravierenden Einschränkungen, Belastungen und Traumatisierungen ausgesetzt zu sein. Der Ausstieg wird oft nicht als Erleichterung empfunden, sondern als belastende Verlustsituation. Ausgestiegene verlieren ihre Heimat und fühlen sich in der fremden Welt hilf- und orientierungslos. Dass es ein Leben nach der Sekte und positive Perspektiven gibt, zeigt dieses Buch eindrücklich anhand vieler O-Töne erwachsener Sektenkinder. Ihre Erfahrungsberichte ermutigen, sich Hilfe zu suchen und das Erlebte in die eigene Biografie einzuordnen.

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Seitenzahl: 218

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Neustart nach dem Ausstieg

»Es gehört so viel Mut dazu, ein System, in dem du groß geworden bist, zu hinterfragen und dem den Rücken zuzukehren. Das ist ein Glaubens- und Heimatverlust und ein völliger Neustart in einer fremden Welt. Es ist so mutig. Das ist einfach ganz, ganz groß.« Melanie, 38 Jahre, Sektenkind

Kathrin Kaufmann, Laura Illig, Johannes Jungbauer

Sektenkinder

Über das Aufwachsen in neureligiösen Gruppierungen und das Leben nach dem Ausstieg

Mit Beiträgen von Katharina Meredith und Dieter Rohmann

Kathrin Kaufmann, Laura Illig, Johannes Jungbauer Sektenkinder

Über das Aufwachsen in neureligiösen Gruppierungen und das Leben nach dem Ausstieg

BALANCE erfahrungen

1. Auflage 2021

ISBN: 978-3-86739-182-5

ISBN E-Book (PDF): 978-3-86739-193-1

ISBN E-Book (EPUB): 978-3-86739-194-8

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Weitere Ratgeber, Selbsthilfebücher und Erfahrungsberichte unter

www.balance-verlag.de

© BALANCE buch + medien verlag, Köln 2021

Der BALANCE buch + medien verlag ist ein Imprint der Psychiatrie Verlag GmbH, Köln.

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne Zustimmung des Verlags vervielfältigt, digitalisiert oder verbreitet werden.

Lektorat: Katrin Klünter, Köln

Umschlagkonzeption und -gestaltung: GRAFIKSCHMITZ, Köln, unter Verwendung eines Bildes von REHvolution.de / photocase.de

Typografiekonzeption, Grafiken und Satz: Iga Bielejec, Nierstein

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2020

Über dieses Buch

»Nach dem Ausstieg bekam ich die Chance, mir mein Leben zurückzuholen« – ein Erfahrungsbericht

Wie Kinder in sogenannten Sekten aufwachsen

Die Beziehung zu den Eltern: Unerfüllte Grundbedürfnisse

Die Glaubensgemeinschaft als wichtigste Instanz

Abgrenzung nach außen: »Wir gegen den Rest der Welt«

Der Ausstieg: Heimatverlust und Neuanfang

Der innere Ausstieg: Zweifel und innere Konflikte

Der vollzogene Ausstieg: Alles aufgeben müssen

Die Zeit nach dem Ausstieg: Weiterleben lernen

Sich in einer völlig fremden Welt zurechtfinden

(Professionelle) Hilfe und Unterstützung

Von Sektenkind zu Sektenkind

Von Experte zu Expertin – therapeutische Begleitung und Beratung|von Dieter Rohmann

Familieneinheit und Bindung in geschlossenen Gruppen – Perspektive einer Expertin und Aussteigerin|von Katharina Meredith

Zum Schluss

Serviceteil

Literatur

Über dieses Buch

Im Mittelpunkt dieses Buchs steht eine Personengruppe, über deren Lebenssituation leider viel zu selten gesprochen wird. Es geht um »Sektenkinder«, also um Menschen, die in eine sogenannte Sekte hineingeboren wurden und in ihr aufgewachsen sind – und die irgendwann den Mut gefunden haben, sie zu verlassen. Die Erfahrungen und Lebensgeschichten dieser Menschen aufzuschreiben, ihre Belastungen und ihre Not öffentlich zu machen und für ihre Hilfsbedürfnisse zu sensibilisieren, sind die Anliegen, die uns zu diesem Buchprojekt motiviert haben.

Auch wenn einige Namen neureligiöser Glaubensgemeinschaften weithin bekannt sind, wissen die meisten Menschen relativ wenig über das Leben in sogenannten Sekten oder – wie es in der Fachliteratur auch heißt – »Kulte«, insbesondere über das von Kindern und Jugendlichen. Dies liegt unter anderem daran, dass sich viele sogenannte Sekten stark abschotten und Kontakte der Kinder zur Außenwelt durch unterschiedliche Maßnahmen erschweren oder unterbinden. Ihre Mitglieder werden häufig als harmlose Sonderlinge wahrgenommen, die zwar ein gesellschaftliches Nischendasein fristen, aber im Grunde niemandem Schaden zufügen. In der Regel wird es als Gebot der Toleranz betrachtet, den Glauben und den Lebensstil von Sektenmitgliedern zu respektieren. Dies bedeutet auch, sich nicht in die Erziehung ihrer Kinder einzumischen – auch wenn das, was man gelegentlich vielleicht davon mitbekommt, altertümlich und rückständig erscheint. Was betroffene Kinder und Jugendliche mitunter als Normalität erleben und wie stark ihr weiterer Lebensweg in vielen Fällen dadurch geprägt ist, können sich Außenstehende meist nicht vorstellen. Die 38-jährige Melanie, die als Sektenkind aufgewachsen ist, beschrieb uns dies im Gespräch mit folgenden Worten:

»Nach meinem Ausstieg benötigte ich viele Jahre, um auch jene Seiten an mir zu entdecken, die in der Sekte jahrelang unterdrückt worden waren. Ich merkte, dass ich teilweise gar keinen Zugang zu meinen Gefühlen hatte, weil ich diese über eine so lange Zeit verdrängt hatte. Meine Sektenkindheit hatte mich regelrecht zu einem gefühlsamputierten Menschen gemacht, und nun bekam ich endlich die Chance, mir mein Leben Stück für Stück wieder zurückzuholen.«

Die Idee, die Erfahrungen von Sektenkindern in einem Buch festzuhalten und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, entstand im Zuge des Forschungsprojekts »Cultic Childhood« und einer daraus hervorgegangenen Masterarbeit (ILLIG, KAUFMANN 2018). In den Sozialwissenschaften versteht man unter sogenannten Sekten religiöse Organisationen oder Glaubensgemeinschaften, die von ihren Mitgliedern bedingungslose Loyalität und Gehorsam verlangen, zum Beispiel gegenüber einer Ideologie oder einer Führerperson. Dabei üben sie ein hohes Maß an Kontrolle aus und schränken die persönliche Autonomie der Mitglieder stark ein (LALICH, MCLAREN 2018). Für unsere wissenschaftliche Studie suchten wir Menschen, die sich nach dieser Definition als »Sektenkind« identifizierten und bekundeten, in einer solchen Gruppierung aufgewachsen zu sein. Es meldeten sich 19 Personen zwischen 21 und 59 Jahren aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, die in ihrer Vergangenheit den folgenden neun Gruppierungen angehört hatten: der Neuapostolischen Kirche, den Zeugen Jehovas, der Moon-Bewegung, der OCG, kleineren esoterischen Sekten und diversen Freikirchen. Aus Datenschutzgründen haben wir in den Zitaten alle persönlichen Informationen anonymisiert oder verfremdet; bei den jeweils angegebenen Eigennamen handelt es sich durchweg um Pseudonyme. Sämtliche in diesem Buch vorgestellten Situationen, Erlebnisse und Gefühle beziehen sich auf die Lebenserfahrungen und Sichtweisen der von uns interviewten Sektenkinder, die ihre Gruppe als unterdrückend und vielfach als grenzüberschreitend empfunden haben. Die Aussagen dieser persönlichen Erfahrungsberichte lassen sich jedoch nicht allgemein auf sogenannte Sekten oder neureligiöse Glaubensgemeinschaften übertragen.

Die befragten Sektenkinder erzählten uns in den Gesprächen mit großer Offenheit über ihre Kindheitserinnerungen, insbesondere über die Beziehung zu ihren Eltern und anderen nahestehenden Personen. Sie berichteten über einengende Praktiken ihrer ehemaligen Glaubensgemeinschaften, durch die grundlegende kindliche Bedürfnisse, wie das Bedürfnis nach liebevoller Nähe und Sicherheit, nach bedingungsloser Wertschätzung sowie nach Freiräumen, missachtet und den Interessen der sogenannten Sekte, des Gurus oder dem angeblichen Willen Gottes untergeordnet wurden. Wenn Kinder und Jugendliche in einem solchen Klima aufwachsen, werden sie in ihrer Persönlichkeitsentwicklung nachhaltig unterdrückt und manipuliert. Die befragten Sektenkinder schilderten Zweifel, Ängste und Belastungen, die sie vor, während und nach ihrem Ausstieg aus der Gruppe erlebt hatten.

Die uns anvertrauten Lebensgeschichten der befragten Sektenkinder empfinden wir als großes Geschenk. Sie zeigen auf berührende Weise, dass das Erzählen der eigenen Geschichte immer eine intensive Auseinandersetzung mit sich selbst bedeutet, die schmerzlich, aber oft auch heilsam sein kann. Und sie machen eindrucksvoll deutlich, dass auch Menschen mit noch so schwierigen Kindheitserfahrungen den Mut und die Kraft finden können, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen und dieses selbstbestimmt zu gestalten. Leserinnen und Leser, die selbst in einer Sekte aufgewachsen sind, die einen Ausstieg erwägen oder diesen Schritt bereits gegangen sind, soll dieses Buch vor allem stärken und ermutigen. Die vielen darin zusammengetragenen Erfahrungsberichte und Zeugnisse anderer Sektenkinder sollen ihnen bewusst machen, dass sie mit ihren Zweifeln und Ängsten auf dem schwierigen Weg des Ausstiegs nicht allein sind.

Möglicherweise löst die Lektüre bei einigen Betroffenen zunächst auch schmerzliche Erinnerungen und belastende Gefühle aus, weil sie in ihrer Kindheit und Jugend ähnliche Verletzungen erlebt haben, wie sie in diesem Buch beschrieben werden. Umso wichtiger ist es uns, gerade diese Menschen darauf hinzuweisen, dass es zahlreiche Hilfemöglichkeiten gibt, und sie dazu zu ermutigen, diese in Anspruch zu nehmen. Eine Auswahl an empfehlenswerten Informations-, Beratungs- und Therapieangeboten sowie an sehenswerten TV-Reportagen und Dokumentationen ist im Serviceteil am Ende dieses Buchs zusammengestellt. Nicht zuletzt möchten wir Sektenaussteigerinnen und -aussteigern vermitteln, dass ihre mutige Entscheidung ein Zeichen innerer Stärke ist – ihre Geschichte macht sie besonders, und deshalb darf auch ihr persönlicher Weg besonders und anders sein.

Dieses Buch richtet sich somit in erster Linie an Menschen, die selbst in einer sogenannten Sekte aufgewachsen sind, sowie deren Angehörige, Freunde und Unterstützer. Doch auch für Personen, die beruflich mit minderjährigen und erwachsenen Sektenkindern in Berührung kommen, kann die Lektüre dieses Buchs interessant und lohnenswert sein. Dies gilt beispielsweise für Lehrerinnen und Lehrer, Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagogen sowie für Psychotherapeutinnen, Ärztinnen und Richter. Gerade für professionelle Helfer ist es unseres Erachtens sehr wichtig, zu verstehen, warum ein Ausstieg aus der Gruppierung für Sektenkinder ein so einschneidendes und existenziell verunsicherndes Ereignis ist.

Ergänzend zu den Erfahrungen der befragten Sektenkinder finden sich in diesem Buch auch zwei fachliche Kapitel. Zum einen handelt es sich um einen Beitrag des Psychologen und Sektenexperten Dieter Rohmann. Er ist in erster Linie für Kolleginnen und Kollegen gedacht, die im Rahmen ihrer beraterischen und therapeutischen Tätigkeit mit Sektenkindern in Kontakt kommen. Der Autor zeigt darin fachliche Perspektiven auf, die professionelle Helfer darin unterstützen sollen, Betroffene besser zu verstehen, aufzufangen und zu begleiten. Der zweite Beitrag stammt von Katharina Meredith, die selbst zehn Jahre in einer esoterischen Sekte gelebt hat und sich aktuell in den USA als PhD-Studentin insbesondere mit den Themen Psychologie, Terrorismus und Extremismus auseinandersetzt, sowie Beratung und Seminare für Sektenaussteiger anbietet. Die Autorin widmet sich darin der Frage, warum Menschen destruktiven Gruppen beitreten. Denn für Sektenkinder ist es wichtig, auch die Perspektive ihrer Eltern zu verstehen, um sich mit dem Erlebten auseinandersetzen zu können.

Um den Leserinnen und Lesern den Einstieg in die Lebenswelt der Sektenkinder zu erleichtern, findet sich im Anschluss an dieses Vorwort der vollständige Erfahrungsbericht einer jungen Frau, die in einer Guru-Sekte aufwuchs und den Ausstieg wagte. In den danach folgenden Kapiteln beschreiben wir eine Reihe von wichtigen Aspekten, die das Aufwachsen in sogenannten Sekten, so wie es die befragten Sektenkinder erlebt haben, nachzeichnen. Detailliert wird darauf eingegangen, wie die Interviewten als Kinder und Jugendliche Gruppendruck, Manipulation, Gedankenkontrolle und Strafandrohung wahrnahmen und wie sich diese auf ihre persönliche Entwicklung auswirkten. Ausführlich dargestellt wird schließlich, wie die Sektenkinder ihren Ausstieg oder Ausschluss aus ihrer Glaubensgemeinschaft erlebten, was sie dabei als belastend oder auch als hilfreich empfanden und was für das Weiterleben nach dem Verlassen der Gruppierung wichtig für sie war.

Es war uns von Beginn an ein großes Anliegen, aufklärerisch über die Praktiken neureligiöser Gruppierungen zu berichten. Gleichwohl ist uns im Veröffentlichungsprozess von juristischer Seite empfohlen worden, gerade im Zusammenhang mit kindeswohlgefährdenden Vorkommnissen (z. B. Misshandlung oder Missbrauch) auf die namentliche Nennung der betreffenden Gruppierung zu verzichten. Nach sorgfältiger Abwägung hielten wir dies für geboten, um sowohl die befragten Sektenkinder als auch uns als Autorinnen und Autoren vor möglichen rechtlichen Auseinandersetzungen zu schützen. Denn die meisten sogenannten Sekten verfügen über die finanziellen Mittel, juristisch gegen Aussagen ehemaliger Mitglieder vorzugehen, die aus ihrer Sicht rufschädigend oder diffamierend sind. Erfahrungen zeigen, dass solche Gerichtsverfahren sehr langwierig und zermürbend für die Betroffenen sein können, selbst wenn das Gericht am Ende zu dem Urteil kommt, dass die strittigen Aussagen rechtlich zulässig waren1.

Bei dieser Gelegenheit noch ein weiterer Hinweis: Um einen besseren Lesefluss zu gewährleisten, haben wir nicht durchgängig sowohl die männliche als auch die weibliche Form benannt; ebenso haben wir von einer »gendergerechten« Schreibweise (z. B. Asterisk) abgesehen. Wenn also in diesem Buch von »Lehrern«, »politischen Entscheidungsträgerinnen« oder »professionellen Helfern« die Rede ist, so sind alle Geschlechtsidentitäten mitgemeint.

An dieser Stelle möchten wir uns bei all den Menschen bedanken, die zur Entstehung und zum Gelingen dieses Buchs beigetragen haben. In erster Linie sind das natürlich die erwachsenen Sektenkinder, die uns ihr Vertrauen geschenkt haben und dazu bereit waren, uns ihre persönlichen Geschichten für dieses Buch zur Verfügung zu stellen. Bedanken möchten wir uns auch bei unserer Kollegin Chantal Kern, die an der Durchführung des ursprünglichen Forschungsprojekts »Cultic Childhood« beteiligt war und dazu beigetragen hat, den Grundstein für dieses Buchprojekt zu legen. Besonderer Dank gebührt dem Psychiatrie Verlag für die engagierte Unterstützung dieses Buchprojekts von Beginn an, trotz anfänglicher Besorgnis im Hinblick auf eine aus rechtlicher Sicht unbedenkliche Form der Darstellung. Insbesondere bei Frau Katrin Klünter möchten wir uns ganz herzlich für ihre Geduld, ihre nützlichen Anregungen und das sorgfältige Lektorat bedanken.

1 So wurde z. B. jüngst eine Klage der Zeugen Jehovas gegen eine Journalistin wegen »übler Nachrede« von einem Schweizer Bezirksgericht abgewiesen. Siehe Neue Züricher Zeitung vom 08. 07. 2020: Die Zeugen Jehovas betreiben Mobbing, das bestätigt ein Zürcher Gericht – und bringt die Gemeinschaft damit auch in Deutschland in Verlegenheit.

»Nach dem Ausstieg bekam ich die Chance, mir mein Leben zurückzuholen«

Melanie, 38 Jahre, ist in einer Guru-Sekte aufgewachsen

Das mittelalterliche Dorf

Als ich ungefähr zwei Jahre alt war, entschieden sich meine Eltern dazu, ihrem bisherigen Leben den Rücken zu kehren und sich einer religiösen Glaubens-, Arbeits- und Lebensgemeinschaft anzuschließen – einer Sekte, die von einem Guru geleitet wurde. Dadurch änderte sich unser Leben fundamental. Wir zogen von der Stadt in ein kleines Dorf, in dem die Zeit stehen geblieben zu sein schien und in dem der moderne Fortschritt offenbar nie richtig angekommen war. Dieses fast mittelalterlich anmutende Dorf sollte nun zu unserem neuen Zuhause werden. Doch als Kind empfand ich das Dorf überhaupt nicht idyllisch und friedlich – im Gegenteil! Auf mich wirkte die Atmosphäre dort immer sehr kühl, unterdrückend und bedrohlich. Dieses Gefühl hatte sicherlich auch mit den örtlichen Begebenheiten zu tun, denn das Dorf bestand fast ausschließlich aus Häusern, in denen die Sektenmitglieder zusammenlebten, sowie aus einem Kindergarten und einem Seniorenheim, unter dessen Deckmantel sich die Sekte finanzierte.

Wie unser Familiengefühl zerstört wurde

Durch den Eintritt in die Sekte und den damit verbundenen Umzug in das mittelalterliche Dorf veränderte sich unser Familienalltag sehr stark. Man könnte fast sagen, dass sich unser bisheriges Familiensystem in der Sekte auflöste. Weil in der Sektengemeinschaft »konventionelle« Familienstrukturen nicht erwünscht waren, lebten wir von nun an mit fremden Menschen in einer Hausgemeinschaft. Innerhalb der Gruppe konnten wir leider nie wieder die familiäre Nähe und Privatheit erleben, die zwischen Eltern und Kindern eigentlich normal ist. Hinzu kam, dass meine Eltern auf Anweisung des Gurus immer wieder verschiedene Pflegekinder aufnahmen, die ihre Aufmerksamkeit sehr stark beanspruchten. Auch dadurch gerieten meine beiden Geschwister und ich immer mehr aus dem elterlichen Blickfeld. Doch der wohl wichtigste Grund für die Zerstörung unseres Familiengefühls war die in der Sekte vertretene Auffassung zur Erziehung. Denn nach dem Willen des Gurus mussten wir Kinder von unseren Eltern freigegeben werden, wir wurden als »Kinder der Gemeinschaft« betrachtet. Nicht die Eltern waren für die Kindererziehung zuständig, sondern alle erwachsenen Sektenmitglieder. Dies hatte zur Folge, dass wir von dem Kollektiv nicht nur erzogen, sondern auch nach seinem Ermessen bestraft werden konnten. Und diese Strafen waren oft streng und willkürlich. Noch heute erinnere ich mich an eine Situation, in der ich als kleines Mädchen durch das Dorf ging. Als ich einem Mann begegnete, der meinen Gesichtsausdruck als respektlos wahrnahm, schlug er mir zur Strafe auf offener Straße ins Gesicht! In diesem Moment spürte ich nicht nur körperliche Schmerzen, sondern ich fühlte mich auch schrecklich gedemütigt und schutzlos der Willkür der erwachsenen Sektenmitglieder im Dorf ausgeliefert. Und ich fühlte mich von meinen Eltern im Stich gelassen. Mir wurde bewusst, dass sie mich nicht beschützen konnten, sodass ich als Kind ständig mit der Angst lebte, wegen nichtiger Anlässe misshandelt und gedemütigt zu werden. Rückblickend habe ich den Eindruck, dass ich in einem absolut rechtsfreien Raum ohne jeglichen Schutz der Kinderrechte aufgewachsen bin.

Zur Auflösung unseres Familiengefühls trug auch eine andere Maßnahme des Gurus bei, die ich im Nachhinein als besonders grausam empfinde: Ab einem Alter von drei Jahren wurden wir Kinder immer wieder allein und ohne unsere Eltern in eine Außenstelle der Sekte im Ausland entsandt – bis zu einem Jahr lang. Der Guru organisierte diese Kinderentsendungen so, dass wir als Familie zu keinem Zeitpunkt mehr gemeinsam zusammenleben konnten. Wenn ich ins Ausland entsandt wurde, blieben meine Geschwister bei meinen Eltern. Kehrte ich nach einem Jahr wieder zurück, musste sich im Gegenzug einer meiner beiden Brüder von zu Hause verabschieden. Wenn ich heute an diese Kinderentsendungen zurückdenke, empfinde ich Ohnmacht, Hilflosigkeit und Wut! In meiner Erinnerung sehe ich mich als kleines eingeschüchtertes Mädchen fernab von zu Hause, das unfassbar einsam und verzweifelt ist und seine Familie auf das Schmerzlichste vermisst. Über Monate hinweg war ich mit all meinen Ängsten und Bedürfnissen völlig auf mich allein gestellt. Die Kinderentsendung zählt bis heute zu den schlimmsten Dingen, die man mir und meiner Familie je angetan hat. All das hat uns als Familie massiv traumatisiert.

Mein Alltag als Sektenkind

Wenn ich nicht im Ausland, sondern zu Hause bei meinen Eltern lebte, war mein Alltag durch vielfältige Regeln bestimmt, die sich aus dem Glaubenssystem der Sekte ergaben. Weil die Gruppierung ein sehr rückschrittliches Frauenbild vertrat, musste ich schon als kleines Mädchen tagtäglich zahlreiche Verpflichtungen im Haushalt übernehmen. Wir Mädchen mussten bereits ab dem Kleinkindalter Arbeitsschürzen über unseren Kleidern tragen, damit wir von Beginn an lernten, dass wir nur zum Arbeiten geboren waren. Jeder Tag begann gleich: Wir mussten morgens um halb sechs aufstehen, das Frühstück für alle herrichten und alle Toiletten, Duschen und Flure putzen. So begannen wir unseren Tag, und das war jeden Tag so. Danach gab es Frühstück, und kurz darauf ging es schon in die Schule oder in den Kindergarten. Im Anschluss besuchten die jüngeren Kinder eine Kinderbetreuung, die von älteren Sektenmitgliedern beaufsichtigt wurde. Die älteren Kinder und Jugendlichen waren hingegen direkt nach Schulschluss dazu verpflichtet, verschiedene Aufgaben für die Sekte zu übernehmen. Vielfach waren das auch körperlich anstrengende Arbeiten. So mussten wir unter anderem bei der Ernte auf dem Feld helfen, Unkraut in der Gärtnerei jäten, Holz hacken, die Tiere versorgen oder haushälterische Arbeiten übernehmen. Nach Erledigung dieser Arbeiten galt es noch, die Hausaufgaben für die Schule zu machen und im Anschluss daran an den allabendlichen Bibelrunden teilzunehmen. Alles in allem war unser Alltag sehr stark vorgegeben und durchstrukturiert.

In diesem System hatte keines der Sektenmitglieder auch nur annähernd die Zeit, an den Regeln und Vorschriften der Sekte zu zweifeln. Angesichts der vielen Verpflichtungen hatte ich während meiner gesamten Kindheit und Jugend keine Zeit für »unnützes« Spielen, Freizeitaktivitäten oder persönliche Interessen. Eine Privatsphäre gab es so gut wie gar nicht. Von Kindesbeinen an sollte ich von morgens bis abends fleißig sein, für Gott leben und der Sekte dienen. Erst im Nachhinein habe ich begriffen, dass ich dadurch nie einfach Kind sein durfte – im Grunde genommen wurde mir meine Kindheit von der Sekte genommen.

Körperliche und sexuelle Misshandlungen

Bei den oft willkürlichen Bestrafungen durch erwachsene Sektenmitglieder wurde ich als Kind häufig geschlagen. Die Gruppenmitglieder waren der Auffassung, dass Gewalt ein richtiges und legitimes Mittel der Erziehung zu gehorsamen und zuverlässigen Kindern im Sinne der Sekte sei. Auch meine Mutter schlug mich häufig, um mich zu erziehen und zu bestrafen. Sie verhielt sich dabei allerdings ambivalent, weshalb ich nie einschätzen konnte, wann es passierte. In manchen Momenten zeigte sie sich liebevoll und völlig zugewandt. Im nächsten Moment schlug sie mich mit den Holzstäben aus meinem Kinderbett. Kurz darauf cremte sie mich wieder mit Johannisöl ein, damit meine Wunden nicht so stark schmerzten. Über die körperlichen Züchtigungen hinaus sperrte sie mich häufig in unseren dunklen Keller oder ließ mich zur Strafe stundenlang in irgendwelchen Ecken knien. Auch während meines ersten Schuljahres, das ich in dem Internat der Sekte im Ausland verbringen musste, machte ich massive Gewalterfahrungen. Beispielsweise wurden wir Schüler von dem Internatsleiter wiederholt geschlagen. Wir mussten uns – Jungen wie Mädchen – vor ihm ausziehen, und er schlug uns aus ganzer Kraft mit seinem Ledergürtel auf das nackte Gesäß. Dabei rief er immer wieder: »Je lauter du schreist, desto fester schlag ich und desto öfter schlag ich!« Dass ich außerdem während des Aufenthalts im Internat sexuell missbraucht wurde, war für mich eine traumatische Erfahrung, über die ich bis heute nicht gern spreche. Insgesamt würde ich rückblickend sagen, dass neben der Trennung von meiner Familie die körperlichen und sexuellen Gewalterfahrungen für mich am allerschlimmsten waren.

Gehorsam und Unterwerfung

Eine eigene Meinung war innerhalb der Sekte nicht erwünscht, wir Kinder sollten sie am besten gar nicht erst ausbilden. Nach dem Willen des Gurus sollten wir kein »Ich« sein, wir sollten zum »Wir« werden. Am besten war es, wenn man überhaupt nichts sagte, sondern lediglich all das hinnahm, was der Guru von sich gab. Wenn man sich in irgendeiner Weise unpassend äußerte oder wenn man von einer Norm der Sekte abwich, wurde man gedemütigt, beschimpft und vor der gesamten Gruppe an den Pranger gestellt. In solchen Fällen redeten alle anderen Sektenmitglieder auf die betreffende Person ein und erklärten ihr, was sie für ein schlechter Mensch sei. Einmal hatte meine Mutter beispielsweise vergessen, auf unserer Terrasse das Unkraut zu jäten, obwohl dies zu ihren Aufgaben gehörte. Es dauerte nicht lange, bis sie von den anderen Sektenmitgliedern auf ihr verwerfliches Fehlverhalten angesprochen wurde. Sie beschimpften sie grob und warfen ihr vor, dass sie es sich gut gehen lasse, während der Garten verwahrlose. Sie ermahnten sie streng, Gott besser zu dienen und pflichtbewusster zu arbeiten.

Die Schule als Insel der Normalität

Meine gesamte Kindheit verbrachte ich völlig isoliert von der Außenwelt, da ich den sekteneigenen Kindergarten besuchte und keine Freundschaften außerhalb der Gruppe führen durfte. Radio, Fernsehen und Zeitung waren verboten. Alles Weltliche außerhalb der Sekte wurde vom Guru als sündhaft und schlecht abgestempelt. Das gesamte System der Sekte glich einem engen Käfig, aus dem mich lediglich die Schulpflicht für einige Zeit befreite. Da die Sekte ausschließlich über ein einziges Internat im Ausland verfügte und sie in Deutschland meine gesetzliche Schulpflicht nicht ignorieren konnte, musste man mir in der Zeit, in der ich bei meinen Eltern lebte, den Besuch einer regulären Schule erlauben. Das war für mich ein großes Glück, obwohl ich in der Schule auch negative Erfahrungen machte. So wurde ich zeitweise von einigen Mitschülerinnen aufgrund meiner Sektenzugehörigkeit gemobbt. Einmal schlug mir ein Klassenkamerad in der Hauptschule mit den Worten »Du Sektenschwein!« ins Gesicht. Trotzdem entwickelte sich die Schule für mich im Laufe der Zeit zu einem Ort der Freiheit.

Glücklicherweise war ich in meiner Klasse das einzige Kind aus der Sekte, sodass ich mich innerhalb des Klassenraumes relativ frei und unbeobachtet fühlen konnte. Ich war eine gute Schülerin, fand vereinzelt Freunde, hatte meine ersten kleinen heimlichen Liebeleien. Die Schule war ein Stück Normalität in meinem Leben, das ansonsten von Zwängen und Unterdrückung geprägt war. Sehr gern hätte ich die Schule bis zum Abitur besucht, doch das war nicht mit dem Frauenbild der Sekte vereinbar. Deswegen sollte ich direkt nach dem Ende der Schulpflicht eine praktische Ausbildung machen. Wir sollten schließlich nur jene Dinge lernen, die für die Sekte von Nutzen waren und zu deren Weltbild passten. Für mich hatte die Gruppierung ausschließlich hauswirtschaftliche Tätigkeiten vorgesehen. So kam es, dass ich – entgegen meinem Wunsch und meinen Fähigkeiten – den Beruf der Hauswirtschafterin erlernen musste, mit dem ich bis heute nur wenig anzufangen weiß.

Aschenputtel-Spiele und Verzweiflung

Als junge Frau lernte ich dann einen Mann kennen, der ebenfalls Mitglied der Sekte war. Wir verliebten uns ineinander und gaben der Gruppe unsere Verlobung einige Zeit später bekannt. Doch um heiraten zu dürfen, musste auch der Guru unsere Beziehung gutheißen. Nun begann ein nervenaufreibendes Spiel, das sich über sechs Jahre hinzog. Mal tolerierte der Guru unsere Beziehung, mal untersagte er sie – warum, wussten wir nicht, es war völlig willkürlich. Letztendlich forderte er uns dazu auf, einen Beweis dafür zu erbringen, dass wir uns wirklich liebten und es ernst miteinander meinten. Er befahl mir, unser Dorf zu verlassen und ein Jahr lang in einem anderen Ort und einer anderen Gemeinschaft zu leben. Er versprach uns, dass wir heiraten dürften, wenn wir nach dieser Zeit trotz räumlicher Trennung und eingeschränktem Briefkontakt noch immer der Meinung waren, füreinander bestimmt zu sein.

Völlig verzweifelt und entkräftet von den vorangegangenen Schikanen folgten wir seiner Anweisung, in der Hoffnung danach endlich die Legitimation unserer Beziehung zu erhalten. Als ich jedoch nach einem Jahr zurückkehrte, stellte sich das Versprechen des Gurus als Lüge heraus. Trotz des erbrachten Beweises unserer Liebe durften wir immer noch nicht heiraten, und unsere Beziehung wurde von dem Guru weiterhin untersagt! Meine spätere Therapeutin nannte dies ein »Aschenputtel-Spiel«, wie es in der Sekte viele gab: Immer, wenn ich eine Aufgabe erfüllt hatte, wurde alles entwertet – wie in dem Märchen von Aschenputtel, in dem die mühsam aussortierten Linsen wieder zusammengeschüttet werden. Ob die vorgegebene Aufgabe gelöst war, entschied der Guru ganz beliebig. An diesem Punkt brach ich innerlich zusammen. Ich war völlig am Boden zerstört und konnte so einfach nicht mehr weiterleben.

Da ich im Rahmen der Trennung bereits ein Jahr lang in einer anderen Gruppierung gelebt hatte, konnte ich mir auch ein Leben außerhalb der Gruppe vorstellen. Dies erzählte ich meinem Verlobten und schlug ihm vor, dass wir gemeinsam die Gruppe verlassen und heiraten könnten. Ansonsten, so erklärte ich ihm, würde ich die Gruppe allein verlassen, da ich es so nicht mehr aushielte. Doch mein Verlobter, der sich in meinen Augen schon seit meiner Rückkehr seltsam verhalten hatte, entgegnete mir, dass er die Sekte auf keinen Fall verlassen würde, da er der nächste Guru werden solle. Außerdem sei er sicher, dass nicht nur die Gruppe, sondern auch Gott gegen unsere Beziehung sei und wir kein Paar mehr sein könnten. Im Anschluss an dieses Gespräch trennten wir uns unter Tränen, woraufhin der Guru noch am selben Abend bekannt gab, dass er eine andere Verbindung für meinen Ex-Verlobten vorgesehen habe. Aufgrund dieser Umstände und aus meiner emotionalen Verzweiflung heraus, entschloss ich mich dazu, aus der Sekte auszusteigen.

Wenige Tage später ging ich zu meinen Eltern und erklärte ihnen, dass ich die Gruppe verlassen wolle. Sie hatten zu diesem Zeitpunkt anscheinend bereits selbst an den Lehren des Gurus gezweifelt, waren jedoch dortgeblieben, da sie sich noch für die jüngeren Pflegekinder verantwortlich fühlten und diese nicht im Stich lassen wollten. Sie unterstützten mich in meinem Vorhaben und ermutigten auch meinen ältesten Bruder, mit mir gemeinsam auszusteigen. Das war eine sehr folgenschwere Entscheidung, denn alle, die die Sekte verlassen, müssen nach ihrem Ausstieg offiziell von ihren Eltern verstoßen werden. Danach darf es keinen Kontakt mehr geben. Doch ich habe sehr mutige und verantwortungsvolle Eltern, und ich bin ihnen sehr dankbar dafür, dass sie uns bei unserem Ausstieg so sehr unterstützt haben – schließlich war das auch für sie ein sehr einschneidender Schritt.

Weiterleben nach dem Ausstieg

Nach unserem Ausstieg mussten mein Bruder und ich praktisch bei null anfangen. Innerhalb der Sekte wurden wir für unsere Arbeiten nicht entlohnt, weshalb wir über keinerlei finanzielle Rücklagen verfügten. Hinzu kam, dass ich mit der Ausbildung, die ich während meiner Sektenzeit absolvierte, nichts anfangen konnte. Wir lebten in einer winzigen Wohnung am Existenzminimum, begannen neue Ausbildungen und holten schließlich beide das Abitur nach. Doch noch Jahre nach meinem Ausstieg lebte ich weiterhin nach den strengen Regeln der Sekte. Diese hatte ich so sehr verinnerlicht, dass ich sie auch außerhalb der Gruppierung befolgte – ich konnte nicht anders.