Selbermachen - Reinhild Kreis - E-Book

Selbermachen E-Book

Reinhild Kreis

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Beschreibung

Vom Heimwerken bis zum Kuchenbacken: Warum stellen viele Menschen selbst her, was sie auch kaufen könnten? Der Blick auf Praktiken des Selbermachens eröffnet eine ganz neue Perspektive auf die Konsumgeschichte. Diese historische Studie (1880-1990) zeigt Selbermachen als Praxis, als großen Markt und als »moral economy«, in der Versorgungsfragen an Vorstellungen über richtiges und falsches Handeln, Identitäten und Rollenbilder gekoppelt waren. So wird sichtbar, wie sehr gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung von der Frage geprägt sind: Selbermachen oder Kaufen?

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Reinhild Kreis

Selbermachen

Eine andere Geschichte des Konsumzeitalters

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Vom Heimwerken bis zum Kuchenbacken: Warum stellen viele Menschen selbst her, was sie auch kaufen könnten? Der Blick auf Praktiken des Selbermachens eröffnet eine ganz neue Perspektive auf die Konsumgeschichte. Diese historische Studie (1880-1990) zeigt Selbermachen als Praxis, als großen Markt und als »moral economy«, in der Versorgungsfragen an Vorstellungen über richtiges und falsches Handeln, Identitäten und Rollenbilder gekoppelt waren. So wird sichtbar, wie sehr gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung von der Frage geprägt sind: Selbermachen oder Kaufen?

Vita

Reinhild Kreis, PD Dr., ist Akademische Rätin a. Z. am Lehrstuhl für Zeitgeschichte der Universität Mannheim.

Inhalt

1.Gebrauchsanweisung

1.1Zutaten und Utensilien

Begriffe

Themenzuschnitt und Fallstudien

Forschungsstand und Quellen

Aufbau

1.2Konstruktionen und Baupläne: Praktiken des Selbermachens zwischen Produktion und Konsum, Arbeit und Freizeit

2.Anleitungen zum Selbermachen

2.1Neue Formen des Zeitgebrauchs: Selbermachen als Mittel der Disziplinierung

Gefährdet und gefährlich: Kinder, Jugendliche und Frauen

Eine Werkstatt für das Leben und für die Gesellschaft: Knabenhandfertigkeit

Die Schule der Frauen: Handarbeits-, Koch- und Hauswirtschaftsunterricht

Die ideale Hausfrau zwischen häuslicher Produktion und Konsum

Vati macht die tollsten Sachen

2.2Die Kommerzialisierung des Selbermachens

Selbermachen als Konsumanlass

Dr. Oetker und Weck

Gesundheit und Fürsorge ‒ selbstgemacht

Heimwerken vor dem Heimwerken: erste Ansätze der Kommerzialisierung bis zu den 1950er Jahren

Laien als KundInnen: die Kommerzialisierung des Heimwerkens seit den 1950er Jahren

Anlässe und Möglichkeiten schaffen: Anleitungen zum Selbermachen und kommerzielle Interessen

2.3Besser wissen und besser machen: Selbermachen als konstruktive Konsumkritik

Bessere KonsumentInnen: Praktiken des Selbermachens als Orientierungswissen

Besser selbstgemacht: Lebensreform und Umweltbewegung

Handwerklicher Einsatz als politischer Ansatz: InstandbesetzerInnen und Wohnungspolitik in den 1980er Jahren

Praktiken des Selbermachens und die Produktion von Wissen

Anleitungen zum Selbermachen, Identitäten und Wissen

3.Kriegs- und Nachkriegszeiten: Praktiken des Selbermachens zwischen staatlicher Verbrauchslenkung und Notbehelf

3.1Der Staat als Verteilungsinstanz im totalen Krieg: verbotene und unerwünschte Praktiken des Selbermachens

Massenspeisungen statt häuslicher Küche

Staatliche Steuerung und SelbstversorgerInnen

Ungehorsame SelbstversorgerInnen

Bauliche Selbsthilfe gegen die Vorschrift: wilde Siedlungen

3.2Politische Aufforderungen zur Selbsthilfe

Staatliche Aufrufe zum Selbermachen

»Muskelhypothek« und Selbstversorgung: Heimstätten und Kleinsiedlungen

Das »genormte Paradies«: Kleinsiedlungen und Wirtschaftsgärten als reguliertes Selbermachen

Bauliche Selbsthilfe im Wiederaufbau nach 1945

3.3Die Realität des Notbehelfs: Selbermachen in Kriegs- und Nachkriegszeiten

Die selbst erlebte Vergangenheit in der Erinnerung und in Fragmenten

Improvisieren in Kriegs- und Nachkriegszeiten

Gender, Beruf, Gesetze und Zeit: Praktiken des Selbermachens als Grenzüberschreitungen

Notbehelfe und Sinnstiftungen

Moral und VerbraucherInnenbilder in Kriegs- und Nachkriegszeiten

4.Selbermachen in der Massenkonsumgesellschaft des 20. Jahrhunderts

4.1Warum Selbermachen? Werbung zwischen Versprechen und Verunsicherung

Eine kurze Typologie der Versprechungen

Werbung für das Selbermachen und Geschlechterrollen

Besser als selbstgemacht! Werbung gegen das Selbermachen

Make and buy. Marktforschung und Werbung für Hilfsmittel zwischen Selbermachen und Konsumprodukt

Von Großmüttern und anderen Profis: Praktiken des Selbermachens als umkämpfter Markt

4.2Den Sozialismus aufbauen: Konsumpolitik und Praktiken des Selbermachens in der DDR

Geschulte SelbermacherInnen. Polytechnischer Unterricht und praktische Schulfächer in der DDR

»Mach mit!« Der eigenhändige Aufbau des Sozialismus

»Häusliche Kleinproduktion« vs. Gemeinschaftsverpflegung

Warenwelten, Werbung und Praktiken des Selbermachens in der DDR

»Hier gibt es scheinbar alles.« Baumärkte und Heimwerken nach 1989

4.3Selbermachen als Alltagspraxis

Lernzusammenhänge und Kontaktzonen

Entscheiden und abwägen

Risiken und Nebenwirkungen

Vieldeutige Kennzeichen: Selbstgemachtes im Vergleich

»Suche netten, handwerklichen Partner«. Der Heimwerker als idealer Mann

Zeitgenössische Interpretationen des Selbermachens

Praktiken des Selbermachens als Praktiken des Gestaltens

5.Fazit: Praktiken des Selbermachens als Regulativ

Abkürzungen

Quellen und Literatur

Ungedruckte Quellen

Bundesarchiv (BArch) Berlin

Hauptstaatsarchiv Weimar (HStA Weimar)

Staatsarchiv Hamburg (StAHH)

Stadtarchiv Göttingen (StadtA Gö)

Stadtarchiv Leipzig (StadtA Leipzig)

Institut für Stadtgeschichte (IfS) Mannheim

Archiv der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF), Berlin

Bosch-Archiv, Stuttgart

Konzernarchiv Henkel, Düsseldorf

Firmenarchiv J. Weck GmbH, Öflingen

Deutsches Technikmuseum Berlin (DTMB), Historisches Archiv, Bestände AEG

Gesellschaft für Konsumforschung (GfK), Nürnberg

Ernest Dichter Archiv, Wien

Hagley Museum and Library

Deutsches Rundfunkarchiv (DRA), Frankfurt a. M.

Historisches Archiv des SWR

Duke University, Hartmann Center

Archiv für alltägliches Erzählen, Hamburg

Deutsches Tagebucharchiv, Emmendingen

Dokumentation lebensgeschichtliche Aufzeichnungen, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien

Forschungsstelle für Zeitgeschichte Hamburg, Werkstatt der Erinnerung (WdE)

Geschichtswerkstatt Berlin, Interview-Archiv

Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt

Archiv Papiertiger, Berlin

Gedruckte Quellen

Zeitungen und Zeitschriften

Online-Ressourcen

Politik: Parlamentsprotokolle und Drucksachen, Gesetze, Verfassungen, Parteiprogramme

Digitalisierte Zeitschriften und Zeitungen

Deutsches Institut für Erwachsenenbildung

Volkshochschule Wien, Veranstaltungsprogramm

Firmenhomepages, Werbung

Einzelne Objekte und Dokumente

Aktuelle Zeitungsartikel

Literatur

Dank

1.Gebrauchsanweisung

1.1Zutaten und Utensilien

Prosumieren Sie? So gefragt, würden die meisten Menschen wohl zunächst antworten: Was ist das? Fast alle Menschen in modernen Konsumgesellschaften sind Prosumentinnen oder Prosumenten, ohne viel darüber nachzudenken. Sie kaufen Backzutaten, Bohrmaschinen, Kleiderstoff, Fliesenkleber, Haartönungen und Bausätze und machen daraus Kuchen, Möbel, Hosen, Fußböden, Frisuren und Computer. Sie konsumieren und verarbeiten das Gekaufte in ihrem Haushalt weiter, produzieren also. Der amerikanische Futurologe Alvin Toffler, der den Begriff des »Prosumenten« 1980 prägte, sagte dieser Versorgungsstrategie eine große Zukunft voraus. Er ging von zwei Wirtschaftssektoren aus: »Sektor A umfasst die unbezahlte Arbeit, die von Menschen direkt für sich selbst oder ihre Familien geleistet wird. Sektor B enthält die gesamte Produktion von Gütern und Dienstleistungen, die zum Verkauf oder Tausch auf den Markt kommen.«1 Künftig würde sich die Produktion immer stärker von Sektor B auf Sektor A verlagern, so Toffler. Auch Kategorien wie Arbeit und Freizeit, Hausarbeit und Erwerbsarbeit würden dann an Bedeutung verlieren. Er begrüßte diese Entwicklung hin zum Selbermachen, denn sie schien ihm Teil einer »Zukunftschance« und der Entwicklung hin »zu einer humaneren Zivilisation« zu sein.2

Während Tofflers Fokus auf der Zukunft lag, beschäftigt sich das vorliegende Buch mit der Vergangenheit des Selbermachens als einer zentralen Versorgungsstrategie in modernen Konsumgesellschaften. Tofflers Buch ist Teil dieser Vergangenheit, in der Menschen über Versorgungsstrategien nachdachten, sie voneinander abgrenzten und vergleichend-bewertend einordneten. Seine Überlegungen sind dabei gewöhnlich und außergewöhnlich zugleich: gewöhnlich, weil seit dem Beginn der industriellen Massenproduktion von Gütern stets über die verschiedenen Formen der Versorgung, deren Bedeutungsgehalt, ihre Chancen und Risiken gestritten wurde; außergewöhnlich, weil Haushaltsproduktion trotz ihrer immensen Bedeutung ein »vergessene[s] Wirtschaftssystem« und eine »unsichtbare Ökonomie« blieb, deren Ausmaße kaum zu berechnen sind und zu der es bis heute kaum Studien gibt.3

Praktiken des Selbermachens sind eine Blindstelle moderner Industrie- und Konsumgesellschaften. »ProsumentInnen« kommen weder in den Darstellungen zur Konsumgeschichte noch zu historischen VerbraucherInnenbildern vor.4 Einer der Gründe für die Blindheit gegenüber der Versorgungsstrategie des Selbermachens liegt in der Schwierigkeit, die entsprechenden Praktiken zu verorten. Sie entziehen sich eindeutigen Zuordnungen in gängige Kategorien, sondern können je nach Kontext an unterschiedlichen Stellen im Koordinatensystem von Arbeit, Freizeit, Konsum und Produktion angesiedelt werden. Daher werden sie oft ‒ wenn überhaupt ‒ als vernachlässigbare Größe, als Relikt vergangener Zeiten, als kurzfristiger Modetrend oder Anachronismus behandelt.

Die geringe Aufmerksamkeit gegenüber Praktiken des Selbermachens steht im Kontrast zu ihrer tatsächlichen Relevanz in mindestens vierfacher Perspektive:

als Teil der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, insofern es sich um produktive Tätigkeiten im Sinne von Wertschöpfung handelte;

als politisch und rechtlich gestaltetes Feld. Praktiken des Selbermachens werden hier als Teil einer moral economy sichtbar, in der wirtschaftliches Denken und Handeln stets auch moralisch gedacht, begründet und legitimiert wurden.5 Diese moralische Durchdringung von Diskussionen, Praktiken und Regelungen häuslicher Versorgungsstrategien zeigt sich beispielsweise im Arbeits-, Sozial- und Familienrecht, bei Bauvorschriften sowie in der Verbraucher-, Erziehungs- oder Gesundheitspolitik. Sie deklarierten bestimmte Versorgungsstrategien als besser oder schlechter, legten die einen nahe und machten andere unattraktiv.6 Ihre Auswirkungen waren weitreichend, denn solche Rahmensetzungen regulierten nicht nur Tätigkeitsfelder, sondern transportierten auch soziale Normen und Rollenbilder;

als Markt. Industriell hergestellte Produkte veränderten Praktiken des Selbermachens tiefgreifend. Sie ermöglichten neue und erleichterten oder verdrängten bisherige Versorgungsstrategien. Damit stellten sie immer wieder Vorstellungen von Zuständigkeiten und von gesellschaftlicher Ordnung entlang der Grenzen von Geschlecht, Schicht, Profession, Generation und Region und auch Unterscheidungen wie die zwischen Laientum und Professionalität in Frage.

Vor allem aber waren Praktiken des Selbermachens

bedeutender Teil der Lebensrealität von Menschen, die substanzielle Anteile ihres Zeitbudgets auf Praktiken des Selbermachens verwendeten. Diese waren eingebettet in dynamische Diskurse über Normen, Werte und Rollenbilder mit Bezug auf Zeitverwendung, Konsumverhalten und Tätigkeitsspektrum verschiedener gesellschaftlicher Gruppierungen.

Die vorliegende Untersuchung stellt das Narrativ eines einfachen und linear gedachten Verdrängungsprozesses in Frage, demzufolge der Kauf industriell gefertigter Waren angeblich rückständige Praktiken des Selbermachens im Verlauf des späten 19. und 20. Jahrhunderts nach und nach ersetzt hätten. Vielmehr zeigt das Buch die Entwicklung eines veränderlichen und abgestuften Repertoires an Praktiken und Produkten, das vielfältige Handlungsoptionen zwischen Selbermachen und Kaufen ermöglichte.

Versorgungsstrategien zwischen Kaufen und Selbermachen waren in vielfältige Bedeutungszusammenhänge eingebettet. Sie berührten Fragen von Zuständigkeiten und Standards bei der häuslichen Versorgung, die wiederum eng mit Vorstellungen über gesellschaftliche Ordnung zusammenhingen. Sie bildeten ein wichtiges Versatzstück bei der Ausprägung von Lebensweisen, Konsumentenstilen und -bildern und eröffnen damit eine neue Perspektive auf die Frage nach der Ausgestaltung der Konsumgesellschaft und die Geschichte des Sozialen in Deutschland.

Es ist an der Zeit, die Perspektive zu wechseln und Praktiken des Selbermachens nicht mehr als Störfaktor, sondern als Regulativ in modernen Konsumgesellschaften zu betrachten. Dann erscheinen Praktiken des Selbermachens nicht mehr als Fremdkörper, als reine Armuts- oder Modeerscheinung in den vorgeblich so klaren Verhältnissen, sondern als Schmiermittel beim Austarieren von Produktion, Konsum, Arbeit und Freizeit. Praktiken des Selbermachens setzen im persönlichen Nahraum an, in der unmittelbaren Lebensumgebung und beim Individuum. Sie sind an eine konkrete Person oder allenfalls eine kleine Gruppe benennbarer Mitglieder gebunden und ebenso überschaubar sind die Gegenstände des Selbermachens. Ein Eigenheim ist, was Umfang, Aufwand und Schwierigkeit angeht, eines der größten Unterfangen für Praktiken des Selbermachens. Ein Hochhaus oder eine Lokomotive können kaum selbst hergestellt werden.7 In diesen nahräumlichen, oftmals sehr unauffälligen Kontexten, so die These dieses Buches, bieten Praktiken des Selbermachens die Möglichkeit, empfundene Ungleichgewichte auszutarieren und die eigene Lebensumwelt inklusive des Selbst zu gestalten. Der flexible Einsatz von Ressourcen ‒ Zeit, Geld, Arbeitskraft, Wissen, Kreativität, Beziehungen, Materialien und Werkzeugen ‒ vervielfältigt die Möglichkeiten der Versorgung und der Subjektivierung. Praktiken des Selbermachens sind eine Stellschraube, an der einerseits individuelle KonsumentInnen, andererseits aber auch Regierungen, Parteien, Wirtschaftsunternehmen und gesellschaftliche AkteurInnen aller Couleur drehten, um industrie- und konsumgesellschaftlichen Entwicklungen zu bewältigen, zu gestalten und zu regulieren. Als solche waren Praktiken des Selbermachens nicht Sonderfall, Überbleibsel oder Modeerscheinung, sondern konstitutiver Teil der Konsumgesellschaft.

Begriffe

Doch was bedeutet »Selbermachen« in einer industrialisierten, seit Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend auf Massenproduktion und -konsum ausgelegten Gesellschaft wie der deutschen? Ganz offensichtlich gilt in einer solchen Gesellschaft nicht nur als selbstgemacht, was ohne jeden Kauf von Waren oder Dienstleistungen entstanden ist.8 Die Kategorie des Selbermachens ist eher eine Richtungsangabe, die Differenz anzeigt. Sie grenzt subsistenzwirtschaftliche, meist aber aus produktiven und konsumtiven Elementen kombinierte Versorgungsstrategien vom Kauf fertiger Waren oder Dienstleistungen ab. Wo genau die Grenze verläuft, ab wann etwas also noch oder nicht mehr als selbstgemacht gilt, ist Ansichtssache. Ob beispielsweise ein Kuchen auf der Grundlage einer Backmischung als selbstgebacken bezeichnet wird oder nicht, unterscheidet sich je nach zeitlichem, kulturellem und gesellschaftlichem Kontext.9 Dass ein Kuchen nur dann als selbstgebacken bezeichnet werden kann, wenn Mehl, Butter, Eier und Zucker selbst erzeugt und auch die Schüssel oder der Rührlöffel selbst geschnitzt wurden, behauptet hingegen wohl kaum jemand. Diese Zutaten und Utensilien dürfen eingekauft werden, ohne dass der Status des Kuchens fraglich wird. Beide Formen des Kuchenbackens lassen sich aber eindeutig abgrenzen gegenüber dem Einkauf in der Bäckerei oder im Supermarkt.

Das Urteil »selbstgemacht« ist also stets das Ergebnis eines Vergleichs, in dem verschiedene Versorgungswege wie kaufen, erben, finden und selber machen identifiziert, gewichtet und miteinander in Bezug gesetzt werden.10 Vergleiche gehören zur menschlichen Alltagspraxis. Sie dienen der »Relationierung von Objekten oder Phänomenen«, um Erkenntnisse zu gewinnen und zu ordnen.11 Wer vergleicht, geht von der Vergleichbarkeit mindestens zweier Phänomene, Dinge, Ereignisse oder Prozesse aus. Dem Vergleich liegen dabei, ob bewusst oder unbewusst, individuelle Zuschreibungen zugrunde, die den Vergleich erst möglich machen, aber »in ihrer eigenen Voraussetzungshaftigkeit zumeist nicht hinterfragt werden […] und als ›natürlich‹ erscheinen können«. Ähnlich verhält es sich mit der Auswahl der Vergleichsgegenstände. Sie sind ebenso wenig objektiv und selbstverständlich wie die Maßstäbe, anhand derer sie verglichen werden, sondern konstruiert. Vergleiche, so der Kunsthistoriker Johannes Grave, »dürften daher nicht unwesentlich an der Herausbildung von sozialen und kulturellen Entitäten beteiligt sein«.12 Die Kategorie des Selbermachens bzw. des Selbstgemachten ist eine solche Entität.

Mit der Konstruktion solcher Kategorien verbunden sind hierarchisierende Wertungen, die einen Teil der ordnungsstiftenden Funktion von Vergleichen ausmachen. Wenn es bei der Kaffeeeinladung ein selbstgebackener Kuchen sein muss, wenn die selbstgenähte Hose als peinlich empfunden wird, wenn der selbstverlegte Fußboden stolz vorgezeigt wird, dann geht es weniger um den Gegenstand in seiner Funktionalität oder auch Ästhetik, sondern um damit verbundene Zuschreibungen, die sich aus dem Wissen um seinen Entstehungszusammenhang ableiten. Solche wertenden Zuschreibungen sind je nach gesellschaftlichem, kulturellem, politischem und ökonomischem Zusammenhang unterschiedlich gelagert und auch historisch wandelbar. Sie drücken Präferenzen im Umgang mit Zeit, Geld und stofflichen Ressourcen aus oder werden zumindest so gedeutet.

Der Soziologe Alan Warde hat ein Modell entwickelt, das den Blick auf das Zusammenspiel von Produktion und Konsum lenkt. Er beschreibt die Versorgung mit Gebrauchs- und Verbrauchsgütern als »episodes«, als Abfolge einzelner Sequenzen der Herstellung, des Tauschs und Gebrauchs innerhalb und außerhalb des Privathaushaltes: Zutaten, Materialien und Werkzeuge werden industriell hergestellt, gekauft und im Haushalt weiterverarbeitet, ge- oder verbraucht, wobei jeder dieser Schritte unter Umständen wiederum mehrfach unterteilt ist.13 Diese Untergliederung entlang einzelner Fertigungsschritte sensibilisiert für die vielfältigen Mischungsverhältnisse bei der Versorgung eines Haushalts und für die Auswahlentscheidungen bei der Kombination produktiver und konsumtiver Anteile. Daher ist es sinnvoll, auch dann von Praktiken des Selbermachens zu sprechen, wenn das Urteil »selbstgemacht« im strengen Sinne nur in wenigen Fällen für den gesamten Herstellungsprozess zutrifft.

Selbermachen beschreibt meist eine oder mehrere Sequenzen innerhalb des Herstellungsprozesses. Der Blick auf die Auswahl- und Kombinationsmöglichkeiten von Praktiken des Selbermachens mit Konsumgütern bildet den Ausgangspunkt dieses Buches, das Praktiken des Selbermachens als inhärenten und konstitutiven Teil moderner Konsumgesellschaften zeigt. Der Begriff »Konsumgesellschaft« verdeckt die produktiven Sequenzen der Versorgung. Allenfalls prozessbetonte Formulierungen wie »entstehende« und »entwickelte« Konsumgesellschaft oder die Rede vom »Durchbruch« zur Konsumgesellschaft geben indirekt zu verstehen, dass es da noch etwas anderes gibt, ohne dass dieses andere benannt oder gar nach Überlappungen und Gleichzeitigkeiten gesucht würde. Es gilt also, Versorgungsstrategien in ihre Einzelschritte zu zerlegen und diese auf ihre ökonomischen, gesellschaftlich-kulturellen und politischen Funktionen zu untersuchen. Dafür ist der Begriff des Selbermachens unabdingbar. Welches Ausmaß der Anteil solcher Sequenzen des Selbermachens annimmt, ist zunächst unerheblich. Entscheidend ist vielmehr, dass Privatpersonen einen »arbeitsförmige[n] Beitrag« leisten, ohne den der Produktionsprozess für eine »Sach- oder Dienstleistung, die vornehmlich für den Eigengebrauch gedacht ist und von daher ihren Gebrauchswert bezieht«, unabgeschlossen bliebe.14

Selbermachen setzt zudem eine Alternative voraus. Nur wenn der eigenhändige »arbeitsförmige Beitrag« auch durch eine Ware oder eine Dienstleistung ersetzt werden könnte, kann von »selber machen« gesprochen werden. Selbermachen bedarf also des Konsumbegriffs. Beide sind aneinander gebunden und ohne einander nicht denkbar. Was Konsum ist und wie er zu definieren sei, gehört zu den bis heute umstrittenen Fragen in den Kultur-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften.15 Im Zusammenhang mit Versorgungsstrategien bietet sich die von Thomas Welskopp vorgeschlagene Definition an, wonach »›moderner Konsum‹ […] eine Form ökonomischen Handelns [ist], die den potenziellen (privaten) Endverbrauch von Gütern und Dienstleistungen an einen vorhergehenden Markttransfer koppelt«.16 Die Beschreibung einer Gesellschaft als »Konsumgesellschaft« ist dann gerechtfertigt, »wenn die Mehrheit der Bevölkerung oder zumindest große und vor allem wachsende Anteile der Bevölkerung ihre Angelegenheiten überwiegend im Modus des [so verstandenen, R. K.] Konsums regeln«.17 Damit ist nur die Art der Versorgung beschrieben, nicht jedoch ihr Niveau in Abhängigkeit sowohl vom Einkommen als auch vom Angebot an Waren und Dienstleistungen. Gerade in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts schwankten Kaufkraft und Konsummöglichkeiten immer wieder beträchtlich und erst ab den 1960er Jahren erlebten zumindest die Westdeutschen die dauerhafte und massenhafte Versorgung über den Markt.18

Erst unter den Bedingungen einer überwiegend marktbasierten Versorgung wurden Praktiken des Selbermachens abgrenzbar und zu einer von mehreren, optionalen Versorgungsstrategien für breitere Massen. Zwar war es zu allen Zeiten möglich, bestimmte Tätigkeiten an andere zu delegieren und etwas nicht selbst zu machen. Rebekka Habermas’ Studie über Frauen und Männer des Bürgertums zeigt eindrücklich, wie eine Nürnberger Kaufmannstochter aus wohlhabender Familie ihre Aussteuer zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit Hilfe ihrer Freundinnen selbst anfertigte, statt sie durch SchneiderInnen nähen zu lassen. Der Mutter erschien dieses Verhalten als törichte »Mode«, denn in ihrer Jugend war es üblich gewesen, die Aussteuer außer Haus herstellen zu lassen.19

Mit der industriellen Massenfertigung von Ge- und Verbrauchsgütern gewannen die Wahlmöglichkeiten jedoch eine vollkommen neue Dimension und Qualität. Wer schreinerte, buk oder nähte, tat dies unter Umständen auf die gleiche Weise wie zuvor. Doch die Bedeutung solcher Tätigkeiten veränderte sich angesichts der industriellen Herstellung von Möbeln, Brot und Kleidung: Die eigenhändige, einer bestimmten Person zuordenbare Herstellung wurde von der einzigen zu einer von vielen Produktionsweisen, vom »Machen« zum »Selbermachen«.

Das Kriterium einer Alternative zum Selbermachen wirft jedoch auch Fragen auf. Was, wenn es an einem Ort keine Bäckerei, keine Marmelade aus Industrieproduktion oder keinen Tapezierer gab, bestimmte Waren oder Dienstleistungen also nicht erhältlich waren? Wenn während Kriegen oder anderer Not- und Mangelzeiten die Läden leer waren? Oder wenn zwar das Angebot stimmte, die finanziellen Möglichkeiten aber keinen Kauf ermöglichten? Für solche Konstellationen kann von »›suspendierte[n]‹ Konsumgesellschaften« gesprochen werden, wie es Thomas Welskopp mit Blick auf Kriegs- und Nachkriegsgesellschaften tut, von »Konsumkulturen« im Unterschied zu »Konsumgesellschaften« ‒ so grenzt die Kulturwissenschaftlerin Ina Merkel die DDR von der Bundesrepublik ab ‒ oder von einem Mangel an Teilhabemöglichkeiten an der Konsumgesellschaft.20 Die Kategorie des Selbermachens verliert jedoch auch unter solchen Bedingungen nichts von ihrer Relevanz. Auch wenn Konsum als das »andere« des Selbermachens nicht möglich war, so blieb doch das Bewusstsein, etwas selbst zu machen, was unter anderen Umständen oder in anderen Haushalten über den Markt bezogen werden konnte. Einmal in das Stadium einer Konsumgesellschaft eingetreten, blieben Konsummöglichkeiten auch in Situationen des Mangels der Referenzpunkt, der die eigenhändige Herstellung zum Selbermachen und damit zu einer bewertbaren Option von mehreren machte.

Wenn Selbermachen als die zumindest teilweise eigenhändige Herstellung bzw. Ausführung auch marktgehandelter Güter und Dienstleistungen verstanden wird, muss erklärt werden, warum im Folgenden nicht nur von Individuen, sondern oftmals von Haushalten die Rede ist. Haushalt meint im Normalfall des späten 19. und 20. Jahrhunderts die Familie oder einen familienzentrierten sozialen Nahraum, aber auch eine Einzelperson kann einen Haushalt bilden. Häusliche Versorgungsstrategien waren stets Haushaltsentscheidungen, ob die Interessen anderer Haushaltsmitglieder dabei explizit Beachtung fanden oder nicht.21 Sie betrafen den gesamten Haushalt und beeinflussten dessen Ressourcen an Zeit, Geld, Materialien, Werkzeugen und Arbeitskraft. Selbst wenn in einer Situation keine Wahlmöglichkeit zwischen Versorgungsstrategien bestand, blieb Haushalten immer noch die Entscheidung über Aufgabenverteilungen, Herstellungsweisen sowie funktionale, ästhetische und qualitative Standards. Der Fokus auf Haushaltsproduktion bedeutet auch, dass es um die Produktionsprozesse geht, in denen Haushalte für sich selbst produzieren und nicht für den Markt. Wie industriell hergestellte Produkte als »selbstgemacht«, »handgemacht«, »selbstgebacken« o. ä. beworben wurden, wird daher nur am Rande thematisiert.

Wie Menschen mit Ressourcen umgehen, gehört zu den zentralen Themen menschlicher Moral, und zwar unabhängig von Zeit und sozialem Kontext.22 Der Blick auf die soziale Formation des Haushaltes zeigt Hierarchien und Machtgefälle bei der Wahl von Versorgungsstrategien und den damit verbundenen ökonomischer Praktiken, die genau beobachtet und anhand moralischer Kriterien als nützlich oder schädlich, angemessen oder unangemessen klassifiziert werden.23 Diese Systeme zur Bewertung von Ressourcenverwendung und -transfers innerhalb von Privathaushalten galten innerhalb des Haushalts, leiteten aber auch den Blick derer, die Haushalte als funktionale soziale und ökonomische Einheit in größeren Zusammenhängen sahen. PolitikerInnen, SozialreformerInnen und WissenschaftlerInnen beobachteten und bewerteten den Umgang von Haushalten mit materiellen und immateriellen Ressourcen und versuchten, lenkend auf häusliche Versorgungsstrategien einzuwirken.

Ein weiterer Begriff bedarf der Klärung: Praktiken. In den vergangenen Jahren haben Praktiken und praxistheoretische Ansätze viel Aufmerksamkeit erfahren.24 Für die Erforschung des Selbermachens sind diese Ansätze vor allem aus zwei Gründen wertvoll. Erstens lenken sie den Blick auf Praktiken als »creative interplay with materiality«, als Zusammenspiel von Körpern, Artefakten und Rohstoffen.25 Der Hinweis auf »materiality« und Artefakte betont, dass Praktiken ohne Dinge gerade im Bereich des Selbermachens unmöglich sind.26 Die Praktiken, wie sie im hier vorliegenden Buch untersucht werden, richteten sich auf die Herstellung stofflich-materieller Gegenstände und benötigten dazu Werkzeuge und Utensilien ‒ Dinge also, mit deren Hilfe andere Dinge wie Zutaten und Materialien verändert werden können, indem sie ver- und bearbeitet werden.27

Vor diesem Hintergrund ist zweitens der »Zusammenhang von körperlichen Verhaltensmustern, kollektiven Sinnmustern und subjektiven Sinnzuschreibungen« bedeutsam.28 Praktiken des Selbermachens, wie sie in diesem Buch untersucht werden, sind besonders komplexe Formen eines solchen Zusammenspiels von Körpern, Materialien und Werkzeugen, das in bewertende Sinnzusammenhänge eingebettet ist. Praxistheoretische Ansätze interessieren sich weniger für Intentionen hinter Handlungen als für deren Form und ihren Beitrag zur Gestaltung sozialer und kultureller Ordnungen. Solche Ordnungen »im Sinne sozialer Regeln, Wertmaßstäbe usw. reproduzieren sich häufig unreflektiert, ohne eindeutig bestimmbare individuelle Ziele und Absichten«.29 Sie stehen wie andere Praktiken auch zwischen »Gewohnheit und Reflexion« sowie zwischen »Repetitivität und […] Innovativität«.30 Selbst routinierte SelbermacherInnen müssen stets Risiken in Kauf nehmen. Ein Rest an Unberechenbarkeit bleibt ebenso wie die Möglichkeit des Misslingens oder der innovativen Veränderung.31

Neben allem erlernbaren Fachwissen spielt daher implizites Wissen oder tacit knowledge eine wichtige Rolle für das Selbermachen. Es ist »kein explizierbares Aussagewissen (knowing that) von Überzeugungen«, sondern routinisiertes, »praktisches Wissen, ein Können im Sinne eines ›know how‹ und eines praktischen Verstehens«.32 Explizites und implizites Wissen wirken zusammen, zum einen also Wissen, das über Sprache und Schrift vermittelt werden kann, zum anderen Körperwissen, das kaum über solche Kanäle kommuniziert werden kann, sondern mittels Erfahrungen, Erinnerungen oder Beobachtung gleichsam verinnerlicht wurde.33 Die Geschichte des Selbermachens ist stets die Geschichte von Körpern, die Praktiken wie Stricken, Dübeln oder Teiganrühren lernen, vollziehen und verändern. Auf welche Gegenstände sich diese Praktiken richten und auf welche Weise sie vollzogen werden, ist nicht naturgegeben, sondern in deutende Sinn- und Ordnungszusammenhänge eingebettet.34 Der Vollzug von Praktiken wird als Ausdruck von Kompetenzen gedeutet (wenn auch nicht zu allen Zeiten mit diesem Begriff benannt), in denen »Anlagen, Werthaltungen, Einstellungen, Fertigkeiten und Fähigkeiten« gebündelt sind.35 Dieses Zusammenspiel verschiedener ‒ auch deutender ‒ Wissensformen ist essenziell für eine Analyse von Praktiken des Selbermachens, die Vermittlungs-, Lern-, Anwendungs- und Deutungszusammenhänge gleichermaßen in den Blick nimmt.

Praktiken des Selbermachens sind also weitaus mehr als eine Abfolge von Arbeitsschritten, um ein materielles Produkt wie einen Pullover, ein Regal oder ein Abendessen herzustellen. Wer etwas selber macht oder nicht, »macht« gleichzeitig auch sich selbst: zu einer ›schlechten Hausfrau‹, einem ›ökologisch bewussten Menschen‹, einer ›patriotischen Bürgerin‹ oder einem ›echten Mann‹. »Um sich als Subjekt herzustellen«, müssen Individuen Erwartungen erfüllen (oder eben nicht), die sich »nicht nur auf die äußerliche Repräsentanz [beziehen] wie es im Konzept der sozialen Rolle angelegt ist. Vielmehr werden sie [die Erwartungen, R. K.] im Prozess ihrer Subjektivierung angeeignet, verinnerlicht und sichtbar verkörpert, d. h. zu einem Teil des Subjekts.« Der Körper ist keine »bloß passive Projektionsfläche bzw. das fertige ›Schaustück‹ eines idealen Selbst«, sondern auch »Medium und Schauplatz der Subjektwerdung«.36

In dieser Perspektive sind Praktiken des Selbermachens »Technologien des Selbst«, die als Modi der Fremd- und Selbstführung auf Körper und Geist, also auf Verhalten und Denken, einwirkten und in eine bestimmte Richtung lenken sollten.37 Praktiken des Selbermachens werden einerseits als Mittel zur Disziplinierung sichtbar, mit dem Körper zugerichtet wurden und Körpergebrauch an gesellschaftliche Normen gekoppelt wurde. Das Beispiel der weiblichen Handarbeiten zeigt diese Dimension eindrücklich.38 Andererseits ermöglichen Praktiken des Selbermachens vielfältige Möglichkeiten, eigene Vorstellungen kreativ umzusetzen und dabei Grenzen aller Art zu überschreiten.39 »Gesellschaftliche Zurichtung und Selbstmodellierung« sind Seiten derselben Medaille.40 Praktiken des Selbermachens sind ebenso Bestandteil von Identitäten, Rollenbildern und sozialen Ordnungsvorstellungen, wie es für Kaufkonsum schon lange untersucht wird.41 Als solche dürfen sie in einer Geschichte moderner Konsumgesellschaften nicht fehlen.

Wenn von Praktiken des Selbermachens im Konsumzeitalter die Rede ist, gerät also eine Vielzahl von AkteurInnen und Perspektiven in den Blick: erstens ProsumentInnen sowie jene, die sich ohne industriell erzeugte Hilfsmittel zum Selbermachen subsistenzwirtschaftlich versorgen, zweitens die Produzenten solcher Hilfsmittel zum Selbermachen, drittens der große Kreis derer, die Praktiken des Selbermachens als eine abgrenzbare Versorgungsstrategie identifizierten, diskutierten und interpretierten, und nicht zuletzt viertens diejenigen Instanzen, die den rechtlichen und institutionellen Rahmen für solche Tätigkeiten setzten.

Themenzuschnitt und Fallstudien

Die bisherigen Überlegungen zum Thema Selbermachen zeigen die Umrisse eines riesigen Forschungsfeldes, das über ein Jahrhundert sowie eine kaum zu überblickende Zahl an Konsum- und Praxisfeldern umfasst. Um daraus eine aussagekräftige, aber handhabbare Untersuchung zu formen, bedarf es der zeitlichen, thematischen und räumlichen Eingrenzung.

Da es keine vergleichbare Untersuchung gibt, die sich mit dem Thema Selbermachen im Konsumzeitalter umfassend auseinandersetzt, wird Deutschland im zeitlichen Längsschnitt als exemplarische Fallstudie für die Bedingungen, Strukturen, Praktiken und Diskurse des Selbermachens in einer modernen Industriegesellschaft untersucht. Eine rein deutsche Geschichte wird dennoch nicht erzählt. Zum einen dienten andere Staaten und Gesellschaften immer wieder als Referenzpunkt für Argumente, Praktiken, Regelungen und Konsumstrukturen. Insbesondere die USA waren während des gesamten Untersuchungszeitraums Vor- und Gegenbild zugleich. Zum anderen kommen über die deutsch-deutsche Vergleichs- und Beziehungsgeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die DDR als Teil des sozialistischen Ostblocks und der Kalte Krieg als internationaler Rahmen in den Blick. Weitere Forschung, insbesondere zu nichtwestlichen und nichtkapitalistischen Gesellschaften, steht allerdings noch aus, um eine vergleichende Einordnung des deutschen Falls zu ermöglichen.

Die Einheitlichkeit suggerierenden Begriffe »Deutschland« und »Konsumgesellschaft« verdecken die regional-, kultur- und schichtspezifischen Bedingungen im Bereich des Konsums und der Versorgungsstrategien, die unterschiedlichen Tempi seiner Ausprägungen sowie die »Ungleichzeitigkeit und Vielfalt, Unterbrechungen und Verwerfungen«.42 Der Historiker Frank Trentmann spricht daher von einem »Relief der Konsumgesellschaft«, das »regionale und soziale Unebenheiten aufweist« und damit die vielgestaltige Realität dessen zeigt, was glättend Konsumgesellschaft genannt wird.43 Verbreitung, Intensität, Trägerschaft und Beweggründe des Selbermachens trugen maßgeblich zur Ausprägung dieses dynamisch-veränderlichen und vielgestaltigen Reliefs bei. Während in ländlichen Gegenden das Backhaus noch bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts angefeuert wurde, kaufte die städtische Bevölkerung schon jahrhundertelang ihr Brot beim Bäcker.44 AnhängerInnen der Lebensreform- oder der Umweltschutzbewegung schroteten hingegen auch in Städten ihr Getreide lieber selbst, weil sie dem Warenangebot in den Läden nicht trauten.45 Für Damen war Kleidung von der Stange früher üblich als der Kauf von Herrenkonfektion.46 Familien, die in Einfamilienhäusern lebten, waren, statistisch gesehen, häufiger heimwerkerisch tätig als solche, die zur Miete wohnten.47 Diese wenigen Beispiele illustrieren die Notwendigkeit regionaler, sozialer, ökonomischer und kultureller Differenzierung.

Die vorliegende Studie kann dieses Relief indes nicht in all seinen Ausprägungen und Feinheiten zeigen. Der lange Untersuchungszeitraum und das Erkenntnisinteresse – es geht um Formen und Funktionen des Selbermachens in der Konsumgesellschaft und nicht um die Geschichte eines einzelnen Tätigkeitsfeldes, Marktes oder Diskursstranges – ist eine Entscheidung für eine Vermessung des Gesamtgeländes, bei der nicht jede Region gleichermaßen im Detail erfasst werden kann. Gerade Unterschiede zwischen Stadt und Land, zwischen verschiedenen Regionen innerhalb Deutschlands sowie bäuerliche, migrantische und sehr wohlhabende Lebenszusammenhänge bedürfen der weiteren Untersuchung. Doch erst der zeitliche Längsschnitt und die übergreifende Kategorie des Selbermachens ermöglichen es, diesen zentralen Lebens- und Wirtschaftsbereich als inhärenten Bestandteil der Konsumgesellschaft zu identifizieren und aus der Vergessenheit zu holen.

Der Untersuchungszeitraum umfasst das Jahrhundert zwischen den 1880er und 1980er Jahren. Ein erster Indikator für die Eingangszäsur sind pädagogische Diskurse des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Unter den Bedingungen veränderter Arbeits- und Lebensverhältnisse in der Hochindustrialisierung und neuer pädagogischer Ansätze begannen PädagogInnen und SozialreformerInnen, um die Einführung bzw. den Ausbau praktischer Schulfächer zu streiten. Welchen Stellenwert sollten Koch- und Handarbeitsunterricht, Knabenhandfertigkeits- bzw. Werkunterricht oder auch Schulgärten in dieser als hochdynamisch und veränderungsreich empfundenen Zeit haben? Die Auseinandersetzungen um schulische Lehrpläne zeigen einen erhöhten Verständigungsbedarf darüber, welche Fähigkeiten, Fertigkeiten und gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen Kinder und Jugendliche für das Leben in einer industrialisierten Gesellschaft erwerben sollten.

Weit über den Zusammenhang der Schule hinaus führten Debatten um die Chancen und Risiken veränderter Versorgungsmöglichkeiten. In den Jahrzehnten um 1900 veränderten sich das Warenangebot sowie die Möglichkeiten und Strategien der Versorgung. Für weite Teile der Bevölkerung wuchs das Angebot an Versorgungsmöglichkeiten. Diese Ausweitung der Möglichkeiten verlief keinesfalls als eine einseitige Verdrängung des Selbermachens durch industriell hergestellte Waren, sondern wesentlich vielschichtiger. Uwe Spiekermann hat beispielsweise gezeigt, dass der »Aufbau einer leistungsfähigen Büchsen- und Gefrierkonservenindustrie, der Einsatz neuer Konservierungsmittel und neue Verfahren der industriellen Trocknung durchaus begleitet werden konnte von einem […] Bedeutungsgewinn häuslicher Konservierung«.48 Während um 1900 Konserven allmählich auch in weniger wohlhabende Haushalte einzogen, kamen mit Dosenverschlussmaschinen und vor allem mit dem Einkochapparat der Firma Weck zur gleichen Zeit auch Hilfsmittel auf den Markt, die neue Formen der häuslichen Lebensmittelkonservierung ermöglichten.49

Darüber hinaus gewannen ab dem späten 19. Jahrhundert Gruppierungen an Bedeutung, die ihre Gegenwart kritisch hinterfragten. Die Frauenbewegung stellte bei aller Heterogenität überkommene Geschlechterrollen und damit auch die Zuständigkeiten für Hausarbeit und Berufstätigkeit in Frage,50 der Fokus der Lebensreformbewegung lag hingegen auf Fragen der Gesundheit und des Zusammenlebens unter den Bedingungen einer industrialisierten und urbanisierten Gesellschaft.51 Beide Bewegungen thematisierten die Zuständigkeiten und Standards bei der häuslichen Versorgung und damit auch die Frage des Selbermachens.

Die hier nur schlagwortartig benannten Zusammenhänge lassen das späte 19. Jahrhundert als weiche Zäsur und sinnvollen Untersuchungsbeginn erscheinen. Auch am Ende des Untersuchungszeitraums steht kein eindeutig fixierbares Datum, sondern ein Zeitraum. Die Studie schließt mit dem Ende der deutschen Zweistaatlichkeit, die unterschiedliche Konsumformen und Versorgungsstrategien hervorgebracht hatte. Auch das aufkommende Computerzeitalter mit seinen neuen Formen und Möglichkeiten der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen bleibt als umfangreiches Thema eigenen Rechts außen vor.

Die fundamentalen und vielschichtigen, alle Lebensbereiche erfassenden Umbrüche im Zeitalter der Industriemoderne vom letzten Viertel des 19. bis zum letzten Viertel des 20. Jahrhunderts machten permanente Neuaushandlungen von Standards, Normen und Werten im Spannungsfeld von Konsum, Freizeit und Arbeit notwendig. AkteurInnen aus Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur mussten, ebenso wie Individuen in ihrem sozialen Umfeld, die Bedeutung von Fertigkeiten, Wissensbeständen, Rollenbildern und sozialen Beziehungsmustern immer wieder neu aushandeln, definieren und begründen. Erst in der Langzeitperspektive werden Konjunkturen, Ausprägungen und Funktionen des Selbermachens sichtbar.52 Damit überwölbt die Studie die politischen Zäsuren von Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Bundesrepublik und DDR und somit verschiedene Staats- und Wirtschaftssysteme.

Die inhaltliche Eingrenzung der Studie beruht auf der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen zwei Bereichen der Haushaltsproduktion. Praktiken des Selbermachens, wie sie in der vorliegenden Studie untersucht werden, richten sich auf die Gestaltung der stofflich-materiellen Umwelt und auf materielle Herstellungs- bzw. Transformationsprozesse. Davon müssen solche Formen der Haushaltsproduktion abgegrenzt werden, die in Konkurrenz zu Dienstleistungen mit geringerer materiell-stofflicher Dimension standen, beispielsweise häusliche Erziehungs- und Pflegearbeit, Selbsthilfegruppen, Selbstmedikation, Wasch- und Putzarbeiten, Selbstbedienung in Läden etc. Auch diese Tätigkeiten können als Praktiken des Selbermachens oder »Prosumieren« bezeichnet werden, gibt es doch professionelles Erziehungs-, Pflege-, Reinigungs-, Verkaufs-, medizinisches und therapeutisches Personal, das diese Aufgaben gegen Bezahlung übernehmen könnte. In Debatten um den Stellenwert von Hausarbeit werden diese beiden Formen des Selbermachens gemeinsam diskutiert, und insofern geraten auch in dieser Studie immer wieder beide in den Blick. Doch der Schwerpunkt liegt auf den zuerst genannten stofflich-materiellen Herstellungs- und Transformationsprozessen.

Der empirische Fokus liegt dabei auf zwei Praxis- und Diskurszusammenhängen: erstens Formen der Essenszubereitung, zweitens handwerkliche Arbeiten am und im Haus bzw. der Wohnung. Essen und Wohnen sind menschliche Grundbedürfnisse, die alle Menschen zu allen Zeiten ungeachtet von Alter, Geschlecht und Profession, Schicht- oder Religionszugehörigkeit, regionaler Herkunft und Weltanschauung betreffen. Sie eignen sich daher besonders gut, um Versorgungsstrategien über einen langen Zeitraum und für weite Teile der Gesellschaft zu untersuchen. Beide Praktiken sind zudem stark mit gegenderten Vorstellungen über Formen des Zeit- und Geldgebrauchs, genauer: von Arbeit, Konsum und Produktion, verbunden. Die sich daraus ergebende »Ordnung der Geschlechter« ist eines der wirkmächtigsten gesellschaftlichen Ordnungsmuster der Moderne, dessen Zustandekommen, Reproduktion und Veränderung im Zusammenhang mit den Praktiken und Diskursen des Selbermachens sichtbar werden.53 Wenn in dieser Arbeit immer wieder von Geschlechterrollen und Rollenbildern die Rede ist, sind damit zeitgenössische, normative und überwiegend dichotomisch angelegte Vorstellungen von Geschlecht und Geschlechterverhältnissen gemeint, erwartetes Verhalten also, das kontextspezifisch war, aber stets an der Kategorie des Geschlechts festgemacht wurde.54

Da Wohnräume immer auch den Status, die sozialen Beziehungen und den persönlichen Geschmack ihrer BewohnerInnen anzeigen, eignen sie sich besonders gut für eine Untersuchung an der Schnittstelle von Sozial-, Kultur-, Alltags- und Wirtschaftsgeschichte.55 Die Instandhaltung, Reparatur, Renovierung oder Verschönerung des eigenen Wohnumfeldes wird erst seit den 1950er Jahren unter dem Begriff »Do it yourself« bzw. »Heimwerken« gebündelt.56 Auch zuvor verrichteten Menschen ähnliche Tätigkeiten, ohne sie jedoch in einem übergeordneten Begriff zusammenzufassen und ohne einen vergleichbaren Markt für Handbücher, Zeitschriften, Werkzeugen und Materialien, wie er ab den 1950er und 1960er Jahren entstand. In den Blick geraten also auch die Umdeutung eines Tätigkeitsfeldes sowie seine Kommerzialisierung.

Essen hingegen ist nicht nur Teil der Umgebung des Menschen, sondern wird in den Körper aufgenommen und dadurch ein Teil des Körpers.57 Der Sinnspruch »Man ist, was man isst« verweist auf die große Bedeutung, die der Ernährung zugeschrieben wird.58 Die Beschaffung, Zubereitung und der Verzehr von Nahrungsmitteln sind moralisch und normativ aufgeladen, sodass Ernährungsfragen häufig auch Glaubensfragen sind, die konflikthaft thematisiert werden.59 Ernährung ist hochgradig reguliert und umstritten sowie ein wichtiges Handlungsfeld für Politik, Sozial- und Ernährungswissenschaften, Medizin und SozialreformerInnen.60

Forschungsstand und Quellen

Die Themen der beiden Fallstudien haben in der Forschung in unterschiedlichem Maße Beachtung gefunden. Aus einem soziologischen DFG-Projekt zum Thema Heimwerken in den 1980er Jahren sind nur einige wenige Aufsätze hervorgegangen, die den zeitgenössischen Heimwerkertrend analysieren.61 Jonathan Voges hat sich des Themas wieder angenommen und untersucht die Herausbildung einer Infrastruktur des Do-it-yourself (DIY) von entsprechenden Hobbyzeitschriften bis zu den Baumärkten in der Bundesrepublik seit den 1950er Jahren.62 In den USA erschienen erste Untersuchungen zum Heimwerken bereits ab den 1990er Jahren. Während Richard Harris DIY als Industriezweig in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts analysiert, hat Steven Gelber für den gleichen Untersuchungszeitraum Heimwerken in Bezug zur Arbeitswelt gesetzt und als »expected leisure« für Männer interpretiert.63 Er lenkt damit den Blick auf Normen und Rollenmuster, die mit vermeintlich frei gewählten Freizeitbeschäftigungen verbunden sind.

Die Geschichte des Essens und der Nahrungsmittel ist hingegen sehr viel besser erforscht. Pionierstudien kommen auch hier aus den USA, Großbritannien und Frankreich,64 doch auch in der deutschsprachigen ethnologischen, soziologischen und historischen Forschung waren Essen und Ernährung seit den ersten Studien von Hans Jürgen Teuteberg in den 1970er Jahren stets Thema.65 Aus der Fülle an Untersuchungen sind besonders hervorzuheben Karl Ellerbrocks Untersuchung zur Entstehung der deutschen Nahrungsmittelindustrie, Uwe Spiekermanns Veröffentlichungen zu Ernährung und Ernährungswissenschaft, Verena Hierholzers Untersuchungen zur Regulierung von Nahrung und Nahrungsmittelproduktion, Michael Wildts Arbeit zu Mangelerfahrung und Lebenshaltung in der Nachkriegszeit, die Untersuchungen von Michael Prinz zur Selbstversorgung mit Lebensmitteln sowie Maren Möhrings Studie über ausländische Gastronomie in der Bundesrepublik.66 Sie alle diskutieren das Zusammenspiel von sozialen, wissenschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Faktoren bei der Entwicklung von Ernährungsformen und -standards.

Ergänzt wird der empirische Fokus auf Essenszubereitung sowie handwerkliche Arbeiten an und in Wohnräumen um Schlaglichter auf andere Praktiken des Selbermachens. Insbesondere weibliche Handarbeiten, die Anfertigung von Kleidung, Bett- und Tischwäsche, Basteln, Gartenbau sowie Möbeltischlerei sind immer wieder Thema, bilden aber keine Untersuchungsschwerpunkte. Zu einigen dieser Tätigkeitsfelder liegen bereits Studien mit Fokus auf Praktiken des Selbermachens vor.67 Diese Publikationen gehören zu dem überschaubaren Kreis an geschichtswissenschaftlichen Arbeiten, die sich dezidiert mit Aspekten des Selbermachens beschäftigen, zumal für den deutschsprachigen Raum. Andere Bereiche des Selbermachens wie Autoreparaturen, Radiobasteln oder die Herstellung von Arzneimitteln für die Selbstmedikation werden nur am Rande rezipiert, da sie nur für einen begrenzten Zeitraum relevant oder kleinen Bevölkerungsgruppen vorbehalten waren.68

Selbermachen als übergreifender Praxis-, Diskurs- und Wirtschaftszusammenhang in modernen Gesellschaften ist bisher nicht untersucht worden. Erste Ansätze einer Historisierung aus ethnologisch-kulturwissenschaftlicher Perspektive bieten die Kataloge zu den Ausstellungen DIY: Die Mitmach-Revolution (2011‒2013) und Do it yourself – Mach’s doch selber! (2016) sowie – allerdings mit ausgeprägtem Gegenwartsbezug – der 2017 erschienene Band Selbermachen.69 Diesen Bänden kommt das Verdienst zu, verschiedene Praktiken des Selbermachens als zusammengehöriges Untersuchungsfeld und als Gegenstand der Kultur-, Geschichts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften zu identifizieren. Sie bieten erste Einblicke in unterschiedliche Themen, aber keine umfassende und tiefergehende Analyse des Selbermachens als Alltagshandeln und Versorgungsstrategie.

Darüber hinaus sind in den letzten Jahren mehrere Untersuchungen zur Kultur des Reparierens entstanden.70 Auch der gegenwärtige Trend zum Selbermachen wird häufig thematisiert; die entsprechenden Publikationen bleiben aber ganz der Gegenwart verhaftet und deuten entsprechende Praktiken oftmals unreflektiert als Ausdruck von Subversivität oder Konsumkritik.71 Sammelbände zu weltweiten Kulturen des Reparierens zeigen eine große Bandbreite an Praxis- und Bedeutungszusammenhängen, sind aber ebenfalls an der Gegenwart und weniger an der Geschichte interessiert.72 Nahezu unerforscht ist auch, warum Menschen etwas nicht (mehr) selber machen. Für Ernährungsfragen in den 1950er Jahren liefert hierzu Michael Wildts Studie erste Ergebnisse.73 Anregende Überlegungen am Beispiel des Heimwerkens in Großbritannien bietet ein Aufsatz von Helen Powell, in dem sie Zeitwahrnehmung, Freizeitangebote und Praktiken miteinander in Beziehung setzt.74

Eine fundierte historisch-empirische Grundlage fehlt auch den sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Darstellungen, die sich mit Praktiken des Selbermachens beschäftigen. Sie werden im Kapitel über die Dichotomien von Produktion und Konsum, Arbeit und Freizeit näher vorgestellt. Auf die vielfältige und umfangreiche Forschung zur deutschen Wirtschafts-, Alltags-, Sozial-, Politik-, Bildungs- und Protestgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts wird jeweils an entsprechender Stelle im Text eingegangen und auch quellenkritische, methodische und theoretische Reflexionen erfolgen dezentral an Ort und Stelle.

Die Quellenbasis ist so vielfältig wie der Untersuchungsgegenstand selbst. Praktiken des Selbermachens bilden in vielen der ausgewerteten Bestände nicht das Kernthema, sondern einen Nebenstrang. Als alltäglicher Zusammenhang an der Schnittstelle von Konsum, Freizeit, Arbeit, Normen und Rollenbildern angesiedelt, sind Hinweise auf das Selbermachen oftmals nebenbei und in kleinen Dosierungen eingestreut. Zusammen ergeben sie jedoch ein aussagekräftiges und bildreiches Panorama.

Ausgewertet wurden erstens Unterlagen aus öffentlichen und privaten Archiven. Die Firmenarchive von AEG, Bosch, Henkel und Weck erschließen die Perspektive von Herstellern, deren Produkte das Selbermachen beförderten bzw. ermöglichten.75 Hinzu kommen die Unterlagen von Markt- und Meinungsforschungsinstituten sowie aus der Marketingbranche. Der gelebte und berichtete Alltag kommt über Ego-Dokumente in den Blick, insbesondere Sammlungen von Oral-History-Interviews aus den 1970er bis in die 2000er Jahre, lebensgeschichtliche Berichte, Tagebücher und Memoiren.

Behördliche Überlieferungen von der kommunalen bis zur Ministerialebene zeigen die staatlichen Versuche, Praktiken des Selbermachens zu reglementieren, zu lenken und Deutungsmuster durchzusetzen. Ergänzt werden sie durch die Unterlagen von Vereinen und Organisationen, die Praktiken des Selbermachens in höchst unterschiedlicher Absicht vom Kaiserreich über die Kriegs- und Zwischenkriegszeiten bis zur deutschen Zweistaatlichkeit förderten. Zeitschriften – Unterhaltungsmagazine, Branchenblätter und Fachzeitschriften – geben Einblick in öffentliche und fachöffentliche Diskurse, ebenso Rundfunkbeiträge sowie sozialwissenschaftliche Studien, die sich während des Untersuchungszeitraums mit Versorgungsstrategien und Praktiken des Selbermachens befassten.

Aufbau

Die Studie besteht aus drei Teilen. Zunächst geht es um Anleitungen zum Selbermachen (Kapitel 2). Wer hatte ein Interesse an Praktiken des Selbermachens, an welchen und warum? Wie sah die Förderung des Selbermachens aus? Drei Schlagworte stehen für umfassende Anleitungszusammenhänge: Disziplinierung, Kommerzialisierung, Verbesserung. Sie zeigen Anleitungen als den zielgerichteten Versuch der Vermittlung von Praktiken, gekoppelt an Wertvorstellungen und Normen.

Disziplinierung verweist auf die Ängste, die mit Industrialisierung und Fabrikarbeit einhergingen. Aushäusige Erwerbsarbeit in den Fabriken mit ihrer Unterscheidung in Arbeits- und Freizeit sowie die neuen Anforderungen an Arbeit und Produktion in einer zunehmend globalisierten Welt führten zu Verunsicherung über den Zustand von Familie und Gesellschaft, über Geschlechterrollen und wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit. Im Fokus standen vor allem Kinder, Jugendliche und Frauen, insbesondere aus der Arbeiterschicht. In diesem Kapitel geht es um die kontroversen Auseinandersetzungen um den richtigen und sinnvollen Gebrauch von Zeit und Geld in einer modernen, dynamischen Industriegesellschaft und um die Erziehung verschiedener Bevölkerungsgruppen zu einem entsprechenden Verhalten. In den Blick geraten Auseinandersetzungen um Schulfächer wie Kochen, Hauswirtschaft, Handarbeit und Werken, Hobbys wie Basteln und Heimwerken, aber auch Rollenbilder wie das der ›deutschen Hausfrau‹.

Das Stichwort Kommerzialisierung zeigt Praktiken des Selbermachens zweitens als einen umsatzstarken Markt. Hersteller von Hilfsmitteln zum Selbermachen – industriell gefertigten Zutaten, Materialien, Werkzeugen und Utensilien – waren auf die Kontinuität und Expansion solcher Praktiken angewiesen, um ihre Produkte absetzen zu können. Sie waren aus kommerziellen Interessen daran interessiert, dass möglichst weite Bevölkerungskreise sich im Modus des »Prosumierens« versorgten, und mussten daher entsprechende Anleitungen entwickeln. Konsumkritik trieb hingegen die AkteurInnen des dritten Unterkapitels an. Seitdem die Läden massenhaft Produkte zum Verkauf anboten, die früher in den Haushalten hergestellt worden waren, kam immer wieder Kritik an der Qualität der Fabrikwaren und an ihrem Preis-Leistungs-Verhältnis auf. Das Kapitel geht der Frage nach, wie konsum- und oftmals auch kapitalismuskritische Gruppierungen vom frühen VerbraucherInnenschutz um 1900 über die Lebensreformbewegung bis zum gesundheits- und umweltbewussten alternativen Milieu der 1970er und 1980er Jahre Praktiken des Selbermachens dazu nutzten, das Marktangebot zu verbessern oder zu umgehen. Hinter ihren Anleitungen zum Selbermachen stand nur bedingt der Wunsch, ohne Kaufkonsum zu leben. Vielmehr ging es in erster Linie darum, die Zeit zu überbrücken, bis bessere Waren im Sinne ihrer Qualitätsansprüche erhältlich waren, und auf diese Weise Konsumverhalten und Warenangebot zu verändern.

Während Anleitungen zum Selbermachen in diesen drei Zusammenhängen für den gesamten Untersuchungszeitraum relevant blieben, geht es in Kapitel 3 um herausgehobene Phasen innerhalb dieses Zeitraums, nämlich Zeiten der Not und des Mangels. Für die Zeiten der beiden Weltkriege und die jeweiligen Nachkriegszeiten gerät zunächst der Staat als Verteilungsinstanz in den Blick, der unter den Vorzeichen des Mangels und der totalen Kriegsführung über Zuteilung und Verbrauch von Ressourcen in Wirtschaft und Privathaushalten entschied. Die neuen Anforderungen griffen teilweise tief in bisherige Versorgungsstrategien ein und waren in der Bevölkerung äußerst unbeliebt. Mit Blick auf Praktiken des Selbermachens bedeutet dies: Welche Praktiken suchten staatliche Instanzen, Behörden und Parteien zu verhindern, welche zu fördern? Wie legitimierten sie Vorschriften und Appelle und setzten sie durch?

Die Kombination aus allgegenwärtigem Mangel an gewohnten Waren und einschränkenden Vorschriften unter den Bedingungen des Krieges stellte die Haushalte vor immense Herausforderungen. Als Notbehelfe waren Praktiken des Selbermachens eine Strategie zur Bewältigung des Krieges und seiner Folgen auf verschiedenen Ebenen. Darum geht es im abschließenden Teil von Kapitel 3, der praktisches Alltagshandeln, individuelle Erfahrungen und Erinnerungen an solche Praktiken des Notbehelfs untersucht.

Kapitel 4 schließlich lenkt den Blick auf Praktiken und Diskurse des Selbermachens unter konsumgesellschaftlichen Bedingungen jenseits kollektiver Mangelerfahrungen. In einem ersten Schritt wird kommerzielle Werbung vom späten 19. bis zum ausgehenden 20. Jahrhundert rund um das Thema Selbermachen untersucht. Mit welchen Versprechungen warben Firmen für Hilfsmittel zum Selbermachen vom Backpulver bis zur Bohrmaschine? Wie sah Werbung für Produkte aus, die bestimmte Praktiken des Selbermachens (weitgehend) überflüssig machten, beispielsweise Babynahrung im Glas oder Handstrickapparate? Welche Rollenbilder vermittelten Anzeigen mit Blick auf Geschlechter, Lebensstile und Kompetenzen?

Die beiden darauf folgenden Teilkapitel widmen sich dem Alltag in den beiden deutschen Staaten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Die DDR, um die es zunächst geht, stellt insofern einen Grenzfall dar, weil sie nicht als Konsumgesellschaft im engeren Sinn bezeichnet werden kann. Dennoch ist es angebracht, sie an dieser Stelle einzuordnen, denn die DDR entwickelte unter den Bedingungen wachsenden Wohlstands eine ausgeprägte, eigenständige Konsumkultur.76 Zudem teilten Ost- und Westdeutschland eine gemeinsame Vergangenheit konsumgesellschaftlicher Strukturen und Erfahrungen, die als Referenzpunkte auch in der DDR wirkten. Darüber hinaus waren viele Ostdeutsche durch persönliche Kontakte, Pakete und Fernsehprogramme über Warenwelten und Lebensweisen in der Bundesrepublik informiert. Dieses Wissen trug ebenso dazu bei, die Versorgungsstrategien im eigenen Land vergleichend einzuordnen und als Praktiken des Selbermachens zu identifizieren, wie die Versprechungen des sozialistischen Regimes auf bessere Versorgungs- und Lebensstandards. Das Teilkapitel zur DDR arbeitet zunächst den Stellenwert von Praktiken des Selbermachens in der sozialistischen Ideologie der DDR heraus, um dann die vielfältigen Ansätze zu untersuchen, den Einsatz solcher Praktiken in politisch erwünschte Richtungen zu lenken. Dazu zählten das polytechnische Prinzip im Schulsystem der DDR ebenso wie der flächendeckende Ausbau der Gemeinschaftsverpflegung, staatliche Aufrufe zum gemeinschaftlichen Heimwerken und die Zusammensetzung der ostdeutschen Warenwelt.

Im letzten Kapitel werden Praktiken des Selbermachens als Erfahrungs- und Praxiszusammenhang gezeigt: Wo und wie erlernten Kinder, Jugendliche und Erwachsene Praktiken des Selbermachens? Welche Überlegungen standen hinter der Entscheidung für oder gegen das Selbermachen? Wo waren Heimwerker besonders gefragte Partner auf dem Beziehungs- und Heiratsmarkt? Und wie ordneten Menschen selbstgemachte Dinge in die Produktwelt der Konsumgesellschaft ein? Für solche Fragen interessierten sich vor allem ab der Mitte des 20. Jahrhunderts auch Wissenschaft, Medien, Markt- und Meinungsforschung. Ein Kapitel über Selbermachen als Alltagspraxis wäre daher unvollständig ohne eine Analyse der zeitgenössischen BeobachterInnen des Selbermachens. Wie sie den Praxis-, Erfahrungs- und Konsumzusammenhang des Selbermachens mit konstituierten und interpretierten, bildet den Schlusspunkt der Untersuchung.

1.2Konstruktionen und Baupläne: Praktiken des Selbermachens zwischen Produktion und Konsum, Arbeit und Freizeit

Praktiken des Selbermachens gehören zum »Niemandsland« zwischen Haushalt und Markt.77 Sie stehen quer zu den Dichotomien von Produktion und Konsum, Arbeit und Freizeit, die zentral für die Beschreibung moderner Industriegesellschaften sind. Diese Kategorien suggerieren Eindeutigkeit, werfen aber neue Fragen auf und waren daher stets umstritten. Wie lassen sich Konsum, Produktion, Freizeit und Arbeit trennscharf definieren und voneinander abgrenzen? Wie hängen sie zusammen? Wie sind Tätigkeiten zu bewerten, die nicht klar zugeordnet werden können? Welche Phänomene geraten bei einer dichotomischen Einteilung aus dem Blick? Mit solchen Überlegungen war immer auch die Frage nach wünschenswerten Formen der Gestaltung von Arbeit und Freizeit, Konsum und Produktion für verschiedene gesellschaftliche Gruppen verbunden, denn mit jeder dieser Kategorien waren weitreichende Ängste, Hoffnungen und Erwartungen verknüpft, die je nach Zeitpunkt und Perspektive höchst unterschiedlich ausfallen konnten. Die Geschichtswissenschaft schließlich fragt nach dem spezifischen historischen Gewicht und der wechselseitigen Konstituierung dieser Lebensbereiche. Sie beginnt, auch die sozialwissenschaftlichen Konzepte der »Arbeitsgesellschaft«, »Freizeitgesellschaft« und »Konsumgesellschaft« zu historisieren, die zur Charakterisierung verschiedener Zeiträume des 19. und 20. Jahrhunderts verwendet werden.78

Die sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Forschung hat in den vergangenen Jahrzehnten verschiedene Vorschläge gemacht, um Phänomene in der Grauzone zwischen Produktion und Konsum, Arbeit und Freizeit sichtbar zu machen und in die Analyse von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen einbeziehen zu können, so etwa die Konzepte von Eigenarbeit, Haushaltsökonomien und Prosumtion.79 Diese Begriffe beschreiben breitere Zusammenhänge als das Selbermachen, wie es in dieser Studie betrachtet wird, legen jedoch Funktionsweisen und Zusammenhänge offen, die dabei helfen, dieses Selbermachen systematisch in die Geschichte moderner Industriegesellschaften einbeziehen zu können. Dies ist bisher ein Desiderat.

Ein Grund für die geringe wissenschaftliche, politische und teilweise auch gesellschaftliche Aufmerksamkeit gegenüber Tätigkeiten in dieser Grauzone ist die schwierige Quellenlage.80 Praktiken des Selbermachens sind Halbschattengewächse. Sie sind nicht notwendigerweise klandestin (können es aber sein und werden mitunter auch gerade deshalb bevorzugt), sind aber deutlich schlechter dokumentiert als eine Erwerbstätigkeit oder Konsum am Markt. Es gibt weder Arbeitsverträge noch Aufgabenbeschreibungen, Stundenzettel oder Arbeitszeugnisse, die ausgewertet werden könnten. Der Absatz von Schraubenziehern, Nähmaschinen oder Kuchenformen kann zwar als Produktions- und Kaufzusammenhang nachvollzogen werden. Ob und in welchem Ausmaß der Kauf dieser Produkte zu Praktiken des Selbermachens führte, bleibt indes im Dunkeln. Wurde die Nähmaschine für Ausbesserungsarbeiten, zur Anfertigung ganzer Kleidungsstücke oder gar nicht genutzt? Lag der Schraubenzieher für Notfälle in der Schublade oder wurde er häufig gebraucht? Gab es selbstgebackenen Kuchen nur am Geburtstag oder jede Woche? Und wer nähte, schraubte oder buk eigentlich?

Anders als bei der Forschung zu Erwerbstätigkeit oder zum Kaufverhalten stehen für die Analyse des Selbermachens also kaum quantitative Daten zur Verfügung, sondern müssen erst erhoben werden. Solche Erhebungen, beispielsweise Zeitbudgetmessungen oder Marktforschungsstudien, bilden ihre jeweilige Gegenwart ab, sodass die Forschungsinteressen und -methoden früherer Jahre zunächst historisiert und in ihrer Zeitgebundenheit erfasst werden müssen.81 Auch qualitative Daten müssen (wie in anderen Bereichen der Arbeits-, Freizeit- und Konsumforschung) zunächst erhoben oder über Ego-Dokumente und andere Quellen erschlossen werden. Dass dies kaum und erst seit Ende des 20. Jahrhunderts geschieht, liegt im jahrzehntelangen Denken in den wirkmächtigen Dichotomien von Produktion und Konsum, Arbeit und Freizeit begründet. Erst allmählich entstanden Konzepte und Begriffe, mit denen Tätigkeiten jenseits dieser Begriffspaare überhaupt beschrieben und analysiert werden können. Daraus spricht auch die Blindheit gegenüber unbezahlten Tätigkeiten, die wie die Hausarbeit häufig als wenig produktive, private und weibliche Aktivitäten definiert werden. Sie erfahren nach wie vor wenig(er) Anerkennung und Beachtung – im Alltag wie in der Forschung.82

Die Wirtschaftswissenschaften gingen lange davon aus, dass Konsumentscheidungen von Individuen getroffen werden, und vernachlässigten, dass Menschen Teil eines Haushaltes sind. Haushalte wiederum wurden auf ihre Funktion als Konsumeinheiten reduziert, ohne ihre produktiven Anteile mit einzurechnen. Das gilt auch für geschichtswissenschaftliche Darstellungen, die lange von einem Phasenmodell ausgingen, demzufolge das ganzheitlich wirtschaftende »Ganze Haus« der vorindustriellen Zeit durch eine ausdifferenzierte Lebens- und Wirtschafsweise ersetzt worden sei, in der außer Haus produziert und im Privathaushalt konsumiert wurde.83 Obwohl ÖkonomInnen wie Simon Kuznets und Margaret G. Reid, aber auch Frauenrechtlerinnen wie Käte Schirmacher schon früh auf die Probleme hinwiesen, die mit der Ausklammerung der Haushaltsproduktion einhergingen,84 thematisierten nur einige wenige Studien diese Dimension (haus)wirtschaftlichen Handelns.85

Erst Gary Beckers Theorien zur Allokation von Zeit und sein Ansatz der Neuen Haushaltsökonomie rückten den modernen Haushalt als Wirtschafts- und als Produktionseinheit wieder stärker ins Bewusstsein. Becker zufolge stellt der Markt nur bedingt bereit, was Haushalte eigentlich wollen. Die Haushaltsmitglieder kombinieren daher auf dem Markt erworbene Konsumgüter oder Dienstleistungen mit ihrer eigenen Arbeit, ihrer Zeit, ihrem Wissen und ihren Fertigkeiten auf vielfältige Weise und stellen im Rahmen von Haushaltsproduktion so erst her, was für sie erstrebenswert ist. Becker vergleicht sie darum mit kleinen Fabriken.86 Produkte wie Tapete, Kleister und Heimwerkermagazine sind nicht per se interessant, sondern erst in Kombination mit ihrem eigenen Zeit- und Arbeitsaufwand erhalten KäuferInnen das eigentlich Gesuchte, ob es sich dabei nun um ein schönes Heim oder die Erfahrung des gemeinsamen Tätigseins handelt.

Obwohl also verschiedene Wege des Gütererwerbs zwischen den Polen von Produktion und Konsum vorhanden sind, stellte die Forschung bisher kaum die Frage nach Make-or-buy-Entscheidungen in Privathaushalten.87 Vielmehr galten Praktiken des Selbermachens lange ‒ wenn sie überhaupt beachtet wurden – als »merkwürdiger Rest von ›Produzieren für den eigenen Bedarf‹«.88 Erst allmählich begannen ForscherInnen, die große volkswirtschaftliche Bedeutung der Haushaltsproduktion und damit auch die Schwächen bisheriger Aussagen zur Produktivität wirtschaftender Einheiten von der Familie bis zum Nationalstaat anzuerkennen.89 In der Bundesrepublik erhob beispielsweise die Bundesforschungsanstalt für Hauswirtschaft Daten zu Art und Umfang von Haushaltstätigkeiten.90 Mit der Nebenerwerbstätigkeitsumfrage des Sonderforschungsbereichs »Mikroanalytische Grundlagen der Gesellschaftspolitik« aus dem Jahr 1984 standen erstmals repräsentative Daten über vielfältige Aktivitäten jenseits der Erwerbstätigkeit zur Verfügung und das Statistische Bundesamt erhebt mittels Zeitbudgetforschung seit 1992 Daten, um Umfang und Wert solcher Tätigkeiten zu ermitteln.91

Ihren Anteil an der Gesamtwirtschaftsleistung zu beziffern, ist jedoch schwierig. Welche Preise werden für die Haushaltsproduktion angesetzt, um ihren Wert zu beziffern? Welche Tätigkeiten werden eingerechnet, welche nicht? So bezieht das Statistische Bundesamt Produktionsleistungen für den eigenen Haushalt mit ein, die von hauswirtschaftlichen Tätigkeiten über Reparaturen an Wohnung oder Auto bis zur Kranken- bzw. Altenpflege reichen, aber auch unbezahlte Hilfe für Dritte sowie ehrenamtliches Engagement, während andere Studien davon abweichende Kriterien anlegen.92

Jenseits der Zeitbudgetforschung wurden Hybride zwischen Produktion, Konsum, Arbeit und Freizeit meist erst in Zukunftsprognosen als – künftiger – Normalfall anerkannt.93 Autoren wie Alvin Toffler, Jonathan Gershuny, Holm Friebe und Thomas Ramge gingen von ihrer jeweiligen Gegenwart aus, in der Produktion und Konsum, Arbeit und Freizeit meist klar voneinander geschieden seien, diagnostizierten und prognostizierten aber die Verwischung dieser Grenzen bis zu ihrer Auflösung.94 Jonathan Gershuny, ein britischer Soziologe, wandte sich 1977 gegen die vor allem von Daniel Bell vertretene These einer aufkommenden Dienstleistungsgesellschaft.95 Mit Blick auf die Erfahrungen der Nachkriegsjahrzehnte konstatierte er vielmehr eine »self-service-« oder »do-it-yourself economy«, in der die Menschen nicht in Dienstleistungen, sondern vor allem in langlebige Gebrauchsgüter investierten. Die Menschen würden Produkte wie Waschmaschinen, Fernseher oder Autos kaufen, Güter also, die sie unabhängig von den Dienstleistungen einer Reinigung, des Kinos, eines Chauffeurs oder des öffentlichen Nahverkehrs machten. Mit Hilfe dieser Güter stellten Haushalte her, was sie konsumierten.96 Auch für die Zukunft prognostizierte Gershuny, dass Produktion in zwei Phasen stattfinden werde: zunächst außerhalb des Haushalts, wo die Güter hergestellt würden, die dann innerhalb des Privathaushaltes dazu dienten, Güter für den Endverbrauch herzustellen.97 In der »Selbstbedienungswirtschaft«, so die Terminologie in der deutschsprachigen Übersetzung, seien Haushalte der Dreh- und Angelpunkt von Konsum und Produktion gleichermaßen.98

Noch stärker auf die Zukunft ausgerichtet, präsentierte der amerikanische Futurologe Alvin Toffler 1980 den »Prosumer«, der ProduzentInnen- und KonsumentInnenrolle in sich vereinte, als zentrale Figur der zukünftigen Gesellschaft.99 Sein Geschichtsmodell ging von drei aufeinanderfolgenden Wellen aus. Das vorindustrielle, agrarische Zeitalter sei von der Industriegesellschaft abgelöst worden, in der Produktion und Konsum, Arbeit und Freizeit auseinanderfielen oder doch immerhin so getan würde, als seien diese Sphären klar voneinander geschieden. Die Industriegesellschaften würden nun von einem neuen Zeitalter hinweggefegt – der dritten Welle –, das den Aufstieg der ProsumentInnen (oder ProsumerInnen) mit sich bringe. Wie Toffler gingen ein Vierteljahrhundert später auch Holm Friebe und Thomas Ramge davon aus, dass es künftig keine EndverbraucherInnen mehr geben würde, die »das gesamte Industriezeitalter hindurch Ziel und Endpunkt einer jeweiligen Wertschöpfungskette« gewesen seien.100 Die neuen ProsumentInnen würden weniger für den Markt produzieren, sondern mehr für sich selbst und sie seien an den einzelnen Produktionsschritten beteiligt.

So wie der Neologismus des »Prosumierens« die Wörter »Produktion« oder »ProduzentIn« und »Konsum« bzw. »KonsumentIn« zusammenführte und zu einem neuen Begriff verschmolz, so würden auch die im Industriezeitalter voneinander separierten Sphären wieder ineinanderfallen, erklärte Toffler.101 Letztlich liefen diese Prognosen auf eine Kombination von Kernelementen der industriellen und vorindustriellen Gesellschaften hinaus. Das Zeitalter der ProsumentInnen verband ein vorindustrielles Produktionssystem, in dem der Einzelne hauptsächlich für den eigenen Bedarf produzierte, mit den modernen Technologien des Industriezeitalters, um etwas anderes, Neues zu schaffen.102 Denn insbesondere Toffler ging davon aus, dass eine Transformation der Produktions- und Konsumweisen auch Lebensweisen, Wertvorstellungen und Rollenbilder verändern würde.103 In diesen Diagnosen und Prognosen erschienen Praktiken des Selbermachens nicht länger als Überreste von Tradition und altmodische Aktivitäten Einzelner in einer modernen Welt, sondern als die Zukunft der gesamten Gesellschaft, und zwar im Sinne eines Fortschritts, keines Rückschritts. Erst in der Vision einer künftigen Gesellschaft, deren Anfänge die Autoren in ihrer Gegenwart auszumachen meinten, war als »normal« darstellbar, was in zeitgenössischen Darstellungen ansonsten als von der Norm abweichend behandelt wurde: die Produktion für den eigenen Gebrauch.

Seit den späten 1970er und 1980er Jahren, als Gershunys und Tofflers Studien erschienen, haben sich sowohl das Verhältnis zwischen KonsumentInnen und ProduzentInnen als auch die Interpretation solcher Verschiebungen weiter gewandelt. Günter Voß und Kerstin Rieder prägten 2005 den Begriff des »arbeitenden Kunden«:104 Von Reisebuchungen über Bankgeschäfte und Möbelaufbau bis zum Produktdesign übernähmen KundInnen immer mehr Aufgaben, die zuvor professionelle DienstleisterInnen und ProduzentInnen bereitgestellt hätten. Diese nutzten systematisch und planvoll KonsumentInnen als unbezahlte MitarbeiterInnen mitsamt ihrer Kreativität, Zeit und Arbeitskraft. Voß und Rieder interpretieren das im Entstehen begriffene »neue Verhältnis von Betrieben und Kunden« sehr viel skeptischer als Toffler, Gershuny oder auch Friebe und Ramge.105 Sie lenken den Blick auf die mangelnde Kompensation für die Leistung der KundInnen, die ohne rechtliche Absicherungen oder Bezahlung erbracht werde und das Privatleben der Menschen ökonomisiere.106

Die bisher genannten AutorInnen bewerten beobachtbare bzw. erwartete Umbrüche im Verhältnis von Kundschaft und Produzierenden als etwas qualitativ und quantitativ Neues. Während diese Einschätzung insbesondere für unternehmerische Strategien gilt, KundInnen jenseits einer »sachlichen Notwendigkeit« systematisch in die Wertschöpfungskette einzubeziehen,107 verstellt diese Interpretation doch den Blick für die lange Tradition solcher Interaktionen, bei denen KundInnen in Herstellungsprozesse involviert waren. So arbeiteten beispielsweise Lohnwerker in der Frühen Neuzeit mit dem Material, das ihre Kundschaft bereitstellte, und bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts brachten Haushalte ihre Brote und Kuchen in die Bäckerei, um sie dort ausbacken zu lassen. Auch Hausschneiderinnen kamen bis weit ins 20. Jahrhundert in Privathaushalte, um dort Kleidungsstücke für die Familie anzufertigen. Sie verarbeiteten häufig die Materialien, die ihre AuftraggeberInnen zuvor ausgewählt, eingekauft und transportiert hatten, ebenso wie die Metzger, die Hausschlachtungen in Privathaushalten und in Zusammenarbeit mit den Haushaltsmitgliedern durchführten.108 Mit der industriellen Massen- und Serienproduktion und dem Wissen um die Möglichkeit, nun kaufen zu können, was man bisher ganz oder teilweise selbst hergestellt hatte, änderte sich das Referenzsystem solcher Tätigkeiten und Co-Produktionen nahmen stark ab. Doch in Teilen überwölbten sie die Zäsur der Industrialisierung und zeigen exemplarisch die Blindstellen einer Dichotomie von Produktion und Konsum, Arbeit und Freizeit.

Bei allen Unterschieden ist den statistischen Erhebungen und Zukunftsprognosen gemeinsam, dass ihre Aussagen zu den Motiven und Interessen hinter der Haushaltsproduktion auf schwachen Füßen stehen. ÖkonomInnen und SozialwissenschaftlerInnen konstatieren zwar immer wieder, dass nichtmonetäre Faktoren beträchtlichen Einfluss auf die Entscheidung über make or buy haben, beziehen moralische, emotionale oder normative Motive bei der Berechnung von Haushaltsproduktion aber kaum mit ein.109 Einflussfaktoren wie Traditionsbewusstsein, Gruppendruck, Spott, Spaß oder Stolz, die nicht als Geldsumme ausgedrückt werden können, bleiben bei der Bewertung solcher Tätigkeiten außen vor. Fließen sie doch in die Überlegungen ein, werden solche Motive meist behauptet, nicht empirisch belegt110 oder die Daten basieren auf zeitlich, räumlich und sozial eng begrenzten Umfragen, in denen die Befragten nur aus einer Liste vorgegebener Gründe auswählen können, warum sie etwas selber machen oder nicht. Die empirische Grundlage der zur Auswahl gestellten Motive und die Kriterien ihres Zustandekommens bleiben meist ungenannt.111 Noch 1984 fasste der Volkswirt Michael Carlberg seine theoretischen Vorannahmen zum Verhältnis von industrieller Arbeit, Eigenarbeit und Freizeit folgendermaßen zusammen:

»Die Volkswirtschaft besteht aus 2 Sektoren, dem industriellen Sektor und dem Eigensektor. Beide Sektoren stellen anhand von Arbeit das gleiche Gut her. Dabei ist industrielle Arbeit vergleichsweise produktiver, während Eigenarbeit mehr Freude bereitet.«112

Eine Begründung oder gar Belege für diese Aussage gab er nicht. Demgegenüber benannten zukunftsbezogene Studien zwar eine Reihe von Gründen, warum das ProsumentInnenmodell für die bisherigen KonsumentInnen erstrebenswert sei. Doch sie beschreiben PionierInnen eines Trends (Ramge/Friebe) oder entwickeln Zukunftsszenarien (Gershuny, Toffler), sodass Aussagen über Motive notwendigerweise Mutmaßungen bleiben müssen oder die Haltung einer kleinen Gruppe beschreiben, für die Praktiken des Selbermachens Medium der Kritik und der Umwälzung sind. Ob diese Motive in einer »entwickelten« Gesellschaft der ProsumentInnen ähnlich gelagert sein würden, blieb notwendigerweise offen.

Beckers Theorie der Zeitallokation im Haushalt und die Kategorie des Prosumierens lenken den Blick auf den Zeitgebrauch von Menschen jenseits der Lohnarbeit. In der Haushaltsproduktion bilden Produktion und Konsum eine Einheit. Üblicherweise wurden diese beiden Aktivitäten getrennten Sphären zugeordnet: Produktion wird in modernen Industriegesellschaften meist als aushäusige und in Erwerbsarbeit durchgeführte Tätigkeit gedacht und ist somit Arbeit. Konsum gilt hingegen als Bestandteil des »anderen der Arbeit«, das wahlweise als Leben, Privatleben, Reproduktion, Feierabend, Freizeit, Muße etc. bezeichnet wird.113 Der Blick auf Haushaltsproduktion stellte diese Zweiteilung in Frage. Doch unter welchen Bedingungen verdienten Tätigkeiten »den Ehrentitel ›Arbeit‹«, unter welchen nicht – und wie waren sie dann zu benennen?114

Praktiken des Selbermachens waren und sind wie jede Form der Haushaltsproduktion nur schwer in die gängigen Schemata und Kategorien einzuordnen. Sie hier in Beziehung zu den Kategorien von Arbeit und Freizeit zu setzen, zielt nicht darauf ab, solche Tätigkeiten eindeutig zu klassifizieren und einzuordnen, zumal sich auch die Konzepte von Arbeit und Freizeit während des Untersuchungszeitraums immer wieder wandelten.115 Doch wie bei dem Begriffspaar Produktion/Konsum bildete auch die Dichotomie von Arbeit und Freizeit bzw. Arbeit und Leben die diskursiven Referenzpunkte bei der Beschreibung und Analyse von Praktiken des Selbermachens.116 Die zeitgenössischen Bezugsrahmen zu berücksichtigen, in denen Menschen Praktiken des Selbermachens zwischen Arbeit und Freizeit verorteten, ist von zentraler Bedeutung, geben sie doch Aufschluss über die Kategorien, in die verschiedene Tätigkeiten eingeordnet wurden.

Die Kategorien von Arbeit und Freizeit definieren, unterscheiden, ordnen und bewerten Formen des Zeitgebrauchs. Weder die Tätigkeit selbst noch ihre Produktivität ist dabei das entscheidende Kriterium und auch nicht zwingend die Qualität des Ergebnisses. Denn teilweise unterscheiden sich weder die Arbeitstechniken noch die Materialien und Werkzeuge, die verwendet werden, und auch die Qualität der Endprodukte ist nicht immer eindeutig in »fachgerecht« und »laienhaft« zu unterscheiden. Ausschlaggebend sind vielmehr Ort und Zeitpunkt der Tätigkeit sowie die Qualifikation der jeweiligen Person. Es macht einen Unterschied, ob eine Konditorin oder eine Hausfrau einen Kuchen backt, ob ein Handwerksbetrieb oder eine Familie eine Wohnung tapeziert, ob ein Kfz-Mechaniker während oder nach der Dienstzeit an einem Auto schraubt. Je nachdem gelten Personen als Laien und AmateurInnen oder aber als Fachleute und Profis,117 die Tätigkeiten als Arbeit oder Hausarbeit, Schwarzarbeit oder Freizeit, die entsprechend bewertet und eingeordnet werden. Die damit verbundenen Wertungen hierarchisieren diese Tätigkeiten, bewerten aber auch die Personen, deren Versorgungsstrategie in Abhängigkeit von der Zuordnung zu einer Zeitkategorie als gut oder schlecht, lobens- oder bestrafenswert, angemessen oder unangemessen, außergewöhnlich oder erwartbar gilt.118 Davon hing zum einen die Anerkennung von Tätigkeiten, Personen und Dingen ab, zum anderen aber auch die Regulierung bestimmter Tätigkeitsfelder, angefangen von Verboten (beispielsweise der Schwarzarbeit) bis zur zielgerichteten Förderung (beispielsweise von praktischen Schulfächern wie Koch-, Werk- und Handarbeitsunterricht, der finanziellen Förderung von Eigenleistungen beim Hausbau oder sozialstaatlichen Leistungen für nichterwerbstätige Elternteile). Ob eine Tätigkeit als Arbeit, Freizeit, Schwarzarbeit oder Hausarbeit galt, basierte also auf bestimmten Ordnungsmustern, die auf diese Weise gleichzeitig auch geschaffen und gestaltet wurden.119

Angesichts der weitreichenden Auswirkungen spielte zeitgenössisch und rückblickend die Einordnung von Praktiken des Selbermachens im Spannungsfeld von Arbeit und Freizeit und unter Verweis auf die Kategorie der Produktivität immer wieder eine große Rolle. Die »Hochwertvokabel ›Arbeit‹«120