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Sie lebte die Freiheit und erfand Nils Holgersson: Der Roman über Selma Lagerlöf widmet sich auch den eher unbekannten Seiten der berühmten schwedischen Schriftstellerin. Charlotte von Feyerabend macht in ihrem großen Roman Selma Lagerlöf mit all ihren Zweifeln und schillernden Träumen greifbar. Die LeserInnen begleiten sie, wenn ihr Zuhause wegen Geldnöten verkauft wird, sie ihre erste Freundin und Reisegefährtin Sophie Elkan trifft, mit der sie nicht nur nach Jerusalem, sondern auch durch Schweden reisen wird, um für Nils Holgersson zu recherchieren. Ständig bricht sie mit gängigen Normen und Vorgaben und erschafft dabei Großes und ist dabei von einem unerschöpflichen Glauben an sich selbst erfüllt. Als erste Frau erhält sie den Literaturnobelpreis, einen Sitz in der Schwedischen Akademie und lebt in einer teils Kräfte zehrenden Dreiecksbeziehung. Mit dem Gewinn aus ihren Buchverkäufen kauft sie sich ihr altes Zuhause zurück und lebt den Traum, den ihr Vater nicht verwirklichen konnte: den, einer Gutsbesitzerin, und teilt mit ihrem großen Herzen das Glück, das sie sich hart erkämpft hat. Charlotte von Feyerabend lässt Originaltexte der Schriftstellerin mit einfließen und greift deren poetische Sprache auf, um die Leser mit einer starken faszinierenden und humorvollen Persönlichkeit auf eine Reise durch Schweden zu nehmen. Der Glaube an sich selbst kann nicht nur Berge versetzen, er erschafft sie sogar und manchmal setzt er dem Berg auch noch ein Krönchen auf….
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Seitenzahl: 501
Charlotte von Feyerabend
Sie lebte die Freiheit und erfand Nils HolgerssonRoman
Knaur eBooks
Eine glückliche Kindheit ist das, was Selma Lagerlöf mit im Gepäck hat, als sie in Stockholm eine Ausbildung zur Lehrerin macht: der einzige Weg für unverheiratete Frauen, finanziell unabhängig zu sein. Heiraten wollte sie nie, dafür aber Schriftstellerin werden! Doch der Weg dorthin ist lang und schwer. Selmas Zuhause, das Bauerngut Mårbacka, muss wegen Schulden verkauft werden, doch verliert sie nie das Wichtigste: den Glauben an sich selbst. Sie fliegt höher als die Frauen vor ihr, bricht mit ihren Erzählungen Konventionen, stößt gegen gesellschaftliche Grenzen. Als erste Frau bekommt sie den Literaturnobelpreis verliehen und entfacht mit Nils Holgersson in der ganzen Welt die Sehnsucht nach Schweden. Sie liebt das Reisen und führt eine Dreiecksbeziehung mit Höhen und Tiefen. Selma Lagerlöf schreibt nicht nur direkt aus der Seele Schwedens, sie ist selbst ein Orkan.
Widmung
Motto
Teil I
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Teil II
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Teil III
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Schlusswort
Anhang
Literaturübersicht
Copyrightvermerke der verwendeten Zitate
Für Winnie, Calvin und Monty
»Ich schließe die Augen und ich sehe vor mir, wie die Erde bebt und ein großes Herrenhaus nach dem anderen einstürzt.«
Selma Lagerlöf1
Mårbacka
Zwischen strohgelben Feldern blitzte ein Fleckchen Rot. Es duckte sich hinter eine Weide, aber Selma konnte es vom Bock der Pferdekutsche aus bereits sehen, als es noch so klein war wie eine Erbse. Eulenauge war sie treffenderweise früher von ihren Schwestern genannt worden, worauf Selma gekontert hatte, dass sie mit dem Herzen sah. Materie war nicht von Belang. Es war mehr ein Fühlen der Dinge, und Selma nannte es ihren siebten Sinn, der den anderen Sinnen baumhoch überlegen war. Doch heute musste sie sich auf die Augen verlassen, denn ihr Herz trug Trauer.
Das Rot kam näher. Es war ein einstöckiges hölzernes Gutshaus, das in Falunrot erstrahlte, wie so ziemlich alle Bauernhäuser in Schweden. Die Farbpigmente fielen beim Kupferbergbau im Ort Falun als Nebenprodukt ab und hatten Schweden flächendeckend rot eingefärbt. Die rasante Verbreitung fand auch deshalb statt, weil die Holzhäuser vortäuschen wollten, aus roten Backsteinen zu bestehen und wohlhabend zu sein. Jedoch waren die Herbststürme in Värmland farbenblind und brachten das kleine Gutshaus jedes Jahr wieder in knarrende Bedrängnis.
Als Kind hatte Selma oft die halbe Nacht wach gelegen und dem Gesang der Winde gelauscht. Manchmal voller Angst, ob eine besonders kräftige Böe das Haus einfach wegtragen würde, manchmal voller Freude, wenn die Geräusche wie ein kleines, feines Konzert, speziell für sie komponiert erklangen. Die ganze Welt schien damals aus diesem kleinen Fleckchen Erde zu bestehen und pulsierte für sie nicht nur in Falunrot, sondern in allen Farben des Regenbogens. Es war ein verwunschenes Königreich mit irdischen und auch unsichtbaren Wesen, das sie abgöttisch liebte.
Als Jugendliche bekam diese Welt Risse. Einige waren hässlich, andere besonders tief, und sie hatte es nicht abwarten können, aus dem Dunstkreis ihres Vaters zu entkommen und zu eigenen Abenteuern aufzubrechen, und jetzt, als Erwachsene, wollte sie einfach nur aus diesem Albtraum erwachen.
Ein Tränenschleier nahm Selma die Sicht. Sie blinzelte und zog tief in ihren Bauch die Luft ein. Sie zählte lautlos auf drei und streckte den Rücken. Schluckte ihre Gefühle hinunter, so, wie sie es sich als Kind angeeignet hatte. Nur keine Schwäche zeigen. Selma strich ihren langen dunklen Rock glatt, an dem der Wind vorwitzig zerrte. Dieser liebliche Wind, der so frei und wild war wie wenig anderes. Sehnsuchtsvoll schaute sie ihm hinterher, wie er von den Fliederhecken die süßen, vollen Düfte pflückte, ein paar unvorsichtige Bienen herumwirbelte und im Wald verschwand. Später wollte sie ihn suchen gehen. Später. Jetzt musste sie die letzten Meter hinter sich bringen, die sie von Mårbacka trennten. Fünf Pferdekutschen und mehrere Handkarren standen vor der weißen Veranda. Ihre Mutter war immer so stolz gewesen, nicht nur, weil ihr Großvater, der Pastor, das Bauernhaus im 17. Jahrhundert selbst errichtet hatte, sondern dass er mit der fünfstufigen Veranda dem Zuhause etwas Herrschaftliches geschenkt hatte. Das einzige Haus in der Nachbarschaft, das so etwas besaß. Ach was, in ganz Fryksdalen! Es war für etwas Größeres errichtet worden und sollte der Familie ganzer Stolz sein. Wie konnte sich der Großvater so getäuscht haben?
Heute zerbrach etwas in ihrem Inneren, das grässlich disharmonisch klang. Als ob in einem Gedicht von Bellman die Reime herausgebrochen wären. Bellmans Werke! Sie musste wenigstens eins der Bücher vor dem Verlust retten. Flüsternd rezitierte sie:
»Tritt vor Du Gott der Nacht, der Sonne Strahl zu brechen,
Und laß der Sterne Heer die Abendröthe schwachen;
Das laue Meer kühl’ ab.
Der Menschheit sende Schlaf und lind’re ihr Gebrechen
Mit Deinem Zauberstab.«2
Wie oft hatte Selma diese Verse gelesen. Für ihre Mutter, die Handarbeiten machte, für ihren Vater, der Bellman glühend verehrte, und schließlich für sich selbst, weil die Melodie der Worte direkt in ihre Seele tauchte. Nicht nur gelesen, die Kinder hatten die Gedichte zusammen mit dem Vater lautstark gesungen, bis die Vögel im Garten aufgehört hatten zu tirilieren und die Rosen verwundert die Köpfe gen Haus gedreht und geschwiegen hatten.
Fremde Menschen erklommen die Stufen der Veranda, nutzten sie auf schamlose Weise ab, und noch mehr kamen wieder heraus. Selmas Lippen pressten sich aufeinander, bis nur noch zwei schmale Striche zu sehen waren. Schuld war nur ihr Vater! Selma erschrak über ihren eigenen Gedanken und lenkte den Hass auf die fremden Menschen, die Möbelstücke aus ihrem Zuhause trugen. Zwangsversteigerungen waren ein gefundenes Fressen für Grabräuber, Wechselbälger und üble Gestalten wie … Selmas Blick fiel neben den Eingang, wo ihre Mutter zwischen der Tante und ihrer Schwester stand. Eine Dreifaltigkeit der Trauer.
Die Kutsche hielt an. Selma bedankte sich bei ihrem alten Nachbarn, der zum Gruß die Hand an seine Mütze hob, für die lange Fahrt. Sie schritt mit hoch erhobenem Kopf auf ihre Familie zu. Dabei war das linke Bein etwas weniger schnell. Manche sagten, dass sie hinke, Selma wusste aber, dass sie einfach zwei unterschiedliche Temperamente in sich trug. Ein Gedanke flatterte durch ihren Kopf: Dieser Rhythmus war im Grunde ein synkopischer Tanz, wie es eigentlich ihr ganzes Leben war. Das konnte man so doch sagen, oder? Nein, das konnte man eigentlich nicht so sagen, antwortete eine zweite Stimme. Eine feine Erzählung durfte zwar die Wahrheit ein wenig beugen und ergänzen, aber aus einem Spatz wurde noch lange kein Pfau. Selma ließ die Atemluft in einem langen Zug aus dem Mund streichen. Lautlos und kontrolliert. Kontrolle war eins ihrer Lebensmottos, neben dem starken Willen und dem Fleiß. Sie sollte ihre Gedanken auch besser unter Kontrolle halten. Diese waren bereits mit dem Wind im Wald verschwunden, um ihre alten Freunde zu begrüßen.
Zwei Männer, die noch in ihren lehmverklumpten Hosen von der Feldarbeit steckten, trugen zwei Kinderstühle heraus und luden sie auf eine der Kutschen. Selma war nur noch ein paar Schritte von ihrer Mutter entfernt und stieß einen spitzen Schrei aus. Das waren ihre alten Kinderstühle. Ein Geschenk des alten Schreiners in Askersby, die als Tisch, Schlitten und zum Rumreiten in der ganzen Stube gedient hatten. Es gab nichts, was man damit nicht spielen oder bauen konnte. Das konnte doch nicht wirklich jetzt passieren …
Auf die Unterseite jedes Stühlchens war eines der Kinder gemalt, Selma selbst sah aus wie ein Wackelpeterchen mit blauem Kleidchen und gestreiftem Schürzchen, mit nichts auf dem Kopf und nichts in der Hand.
Wann endete endlich dieser Albtraum? Selma musste einen Impuls unterdrücken, einfach hinzurennen und den Bauern die Stühle aus der Hand zu reißen.
Dieses verdammte Geld. Diese unnützen, bedruckten, dummen Papierfetzen, die so entscheidend das Leben formten. Über Glück und Leid bestimmten. Über Bestehen und Untergang. Wenn sie könnte, würde sie alles Geld der Welt verbrennen und die Asche zum Felderdüngen verwenden. Das wäre auch das Beste, was man damit machen könnte. Darübertrampeln und darauf herumtollen, die Reste durch die Luft wirbeln und den Trollen zum Fraß vorwerfen. Sie stockte mitten in der Bewegung. Vor ihr auf dem Boden lag ein ausgerissenes Blatt aus der heimischen Zeitung Nya Wermlands-Tidningen, an dessen Buchstaben sich ihre Augen förmlich festsogen.
4. Juni 1888 – »Frau Louise Lagerlöf [lässt] aufgrund ihres Wegzuges einen größeren Teil ihrer wertvollen Habe versteigern, nämlich Gold, […] Tafelsilber, […] alle möglichen in größeren Haushalten vorkommenden Hausratsgegenstände, […] Saloneinrichtung, […] Kronleuchter, Bettzeug aus Daune und Rosshaar, ein größerer, äußerst kostbarer Wäschevorrat, darunter 25 Tischtücher mit Servietten [und eine] Kutsche mit Geschirr[…] etc.«3
Mit einem energischen Schritt begrub Selma die boshafte Annonce unter dem dreckigen Absatz ihres Schuhs und ging zu ihrer Familie. Wortlos nahm sie ihre Mutter in den Arm und barg ihr tränenüberströmtes Gesicht in den Duft, der diese schon seit ihrer Kindheit umgab. Etwas Heimat würde ihr immerhin bleiben.
»Selma!«, die vier Jahre jüngere Schwester Gerda schob ihr etwas in die Hand. Selma spürte den weichen Stoff, blickte nach unten und starrte in ein Puppengesicht. Die Puppe hatte sie selbst gemacht. Eine der seltenen Gelegenheiten, bei der sie freiwillig eine Nadel angefasst hatte. Die Puppe gehörte zu einer stattlichen, doch überschaubaren Gesellschaft von Handpuppen, mit denen sie Vorstellungen gab und ihre Geschwister unterhielt. Als Selma fünf Jahre alt war, starb die Großmutter, und das Haus verstummte auf einen Schlag. Alle Geschichten schienen ihre Jäckchen gepackt zu haben, um der alten Frau das letzte Geleit zu geben. Aber zurückkommen wollten sie auch nicht mehr. Die Stille war unerträglich. Die Wärme und Geborgenheit, die ihre Großmutter direkt nach dem Aufstehen um sie gelegt hatte wie eine bunte Decke, wurde zusammen mit ihr im Grab verscharrt. Die unzähligen Erzählungen, die die Großmutter jedem Mauseloch und jedem Berggipfel andichtete und damit die Heimat als einen abenteuerlichen und liebenswerten Ort zeichnete, verschwanden in einem großen schwarzen Loch des Kummers. Gegen diese Leere hatte Selma später mit den Puppen angespielt. Gegen die Geister, die oben unter dem Dach gewohnt hatten, die keiner mehr mit magischen Sprüchen hatte bannen können, und gegen die Trauer, die Selma auf ihr Bettchen gedrückt hatte wie ein welkes Blatt ins Gras.
»Ich dachte, du willst das vielleicht noch haben?« Gerda nickte ihr mit einem schiefen Grinsen zu. »Und das ist auch für dich.« Hinter ihnen stand ein Korb voll mit Büchern. Obendrauf lag eine Märchensammlung von Hans Christian Andersen. Das war ein kleiner Schatz, besaßen die meisten Familien doch nur wenige Bücher, manche hatten nur die Bibel im Haus.
Selma biss sich auf die Zunge. Körperlicher Schmerz konnte sie schon immer gut vom inneren Schmerz ablenken.
»Willst du noch einmal rein?«, fragte Gerda.
Selma nickte.
Ihre Schwester fasste sie an der Hand. Beide stiegen langsam die Verandatreppe hoch und standen im Flur. Rechts ging es in die Küche, geradeaus ins Esszimmer, vor ihnen kletterte eine Treppe ins Dachgeschoss, und links ging es ins Elternschlafzimmer. Die beiden jungen Frauen starteten den Rundgang im Schlafzimmer der Eltern. Der Raum sah geplündert aus. Zerfetzt. Der Seele beraubt.
Gerda sagte: »Du weißt, dass wir alles versucht haben, das weißt du, oder?«
Selma strich ihr liebevoll über die Wange. »Bess, Liebes, natürlich weiß ich das. Weder unser Bruder Johan konnte das Gut halten noch dein Mann den Ausverkauf verhindern. Allerdings kreide ich Johan durchaus an, dass er diese Schulden auf das Haus aufgenommen hat. Und dann emigriert er. Weiter als bis Amerika konnte er wohl nicht kommen. Aber Bess, du und dein Mann, ihr wollt doch nicht wirklich in dieser unwirtlichen, leeren Hütte hausen bleiben? Die Aasvögel kreisen doch bereits über dem Kamin.«
Gerda nickte, ihre Augen blitzten verdächtig. Leise sagte sie: »Doch sind so auch einige Dämonen ihrer Kräfte beraubt worden.«
»Der Nähtisch?«, fragte Selma mit ihrer tiefen Stimme, die heute noch dunkler klang, und zeigte zum Fenster, wo dieser gestanden hatte, aber Gerda schüttelte den Kopf. Der Nähtisch brachte doch auch ein paar Kronen ein, den konnten sie nicht behalten. Nur das Doppelbett der Eltern und das Nötigste wie ein Tisch mit Stühlen und Geschirr für zwei Personen sollte im Haus bleiben. Alles andere musste verkauft werden, um Schulden zu bezahlen. Selbst die Uniformen des Vaters waren bereits von ihrem Platz verschwunden. Selma schlängelte sich an unbekannten Menschen vorbei in den Salon, der hinter dem Schlafzimmer lag. Hier hatten sie als Kinder striktes Tobeverbot gehabt, galt es doch, den wertvollen Spiegeltisch der Mutter zu bewahren, und das Klavier sollte auch nicht noch mehr schiefe Töne dazubekommen. Jetzt klafften an beiden Stellen dunkle Flecken, die vorwurfsvoll in ihrer Dunkelheit erstarrten. Selbst das Bildnis von Bellman, das früher spielerisch leicht über dem Klavier gethront hatte, war weg. Vater pflegte neue Besucher auf das Bildnis aufmerksam zu machen und von den Vorfahren zu erzählen, die mit Bellman sogar persönlich befreundet und seine Gönner gewesen waren. Einige Verse und Lieder wurden seit Generationen in der Familie weitergegeben, die ein Geschenk des großen Liederdichters waren. Selma eilte weiter ins Esszimmer. Die Schaukelstühle waren verschwunden sowie der Spieltisch und das zweite Klavier. Selma zeigte auf einen weiteren Fleck an der Wand. »Das ist bislang der einzige Lichtblick. Dass dieses uröde Bild vom Fischer und seiner Fackel verschwunden ist. Es gibt in ganz Schweden doch kein Haus, wo nicht einer dieser grauslichen Drucke die Luft verdüstert.«
Gerda lachte laut auf, verstummte aber, als die Tür zur Küchenstube aufgeschlagen wurde und zwei Männer in derben Feldarbeiterklamotten eine alte hölzerne Standuhr herauszerrten. Die Schwester rieb sich ihre feine Nase und eilte einem Mann in dunkler, bis zum Kinn zugeknöpfter Jacke hinterher, der Zahlen vor sich hin murmelte.
»Warten Sie doch bitte einen Augenblick«, schimpfte die zierliche Gerda und zischte: »Bei allen Teufeln, passt doch gefälligst auf diese Uhr auf. Sie gehörte noch der Urgroßmutter.«
Keine Zeit. Selma hatte keine Zeit, sie musste durch die Stube hindurch in die Küche. In die Wohlfühlzelle des Hauses. Aber auch hier klaffte ihr die Leere wie eine offene Wunde entgegen. Abrupt blieb sie stehen und starrte auf einen verbeulten Wassereimer, der schon früher neben der Sitzbank für den Fall eines Feuerausbruchs an der Kochstelle parat gestanden hatte. Sie griff sich den Eimer, presste ihn an die Brust und rannte durch den Flur die Treppe hinauf. Die hölzernen Stiegen jaulten unter ihren Füßen auf. Als sie oben ankam, verlangsamte sich ihr Tempo. Man musste durch einen dunklen, fensterlosen Speicher hindurch, um ins Kinderzimmer zu gelangen. Als Kind war Selma sich sicher gewesen, dass es hier spukte. Es hatte nur eine kurze Zeit gegeben, in der dieser Düsterort ertragbar gewesen war, und das hatte Selma mit einer schweren Erkrankung erkauft.
Selma öffnete die Tür an der anderen Seite des Speichers, und einzelne Lichtstreifen verirrten sich in die Schwärze. Schnitten mit ihren Fingern helle Spuren in die Düsterheit und ließen Staubpartikel Drehungen vollführen wie kleine Kobolde, die in die Luft boxten. Selma musste ihre Augen im Giebelzimmer zusammenkneifen. Es gab nichts, worauf sie sich hätte setzen können. Alle Betten, die sie mit ihren Geschwistern geteilt hatte, waren verschwunden. Mit einem Scheppern schlug der Eimer auf dem Boden auf, und Selma ließ sich danebensinken. Sie fasste mit der Hand an ihr Herz und versuchte den Atem wieder zu beruhigen. Eins, zwei, eins, zwei. Schön langsam, befahl sie sich. Ihr Blick fiel auf eine Maserung im Holz, die aussah wie eine kleine Tür. Sie gehörte zu diesem Raum wie die Tinte ins Tintenfass. Hier wohnte der gute Geist des Hauses und wurde jedes Jahr an Weihnachten mit einer Schüssel Brei bedacht.
»Tomte«, flüsterte Selma. »Lieber, guter Tomte. Ich verspreche dir, dass ich alles tun werde, um unser Zuhause wieder im alten Glanz erscheinen zu lassen. Alles! … Und ich verspreche es dir nicht nur, sondern ich schwöre es bei Mårbackas Erde. Ich komme wieder und werde das vollenden, was mein Großvater einst angefangen hat. Mårbacka soll erstrahlen.« Ein kurzes Lachen drang aus Selmas Kehle und öffnete ihr Herz. »Ich soll als Kind schon anders gewesen sein, das erzählt zumindest Mama. Und obwohl die Familie meines Vaters die hübscheren Menschen hervorbringt, so sterben die meisten aus dieser Linie doch früh. Weißt du, kleiner, fleißiger Tomte, dass wir von Mårbacka nach Mutter kommen? In uns pulsiert das Blut der Wallrother. Und rötter heißt ja Wurzeln. Ein alter Pfarrer sagte einst, dass keine anderen Wurzeln der Welt so zäh seien wie die rötter der Wallrötter. Mein Vater scheiterte hier, nach dessen Tod mein Bruder und nun mein Schwager. Aber warte nur ab, was wir Frauen von Mårbacka zu schaffen wissen!« Selma stand entschlossen auf und schritt zur Tür. Sie hatte die Hand bereits auf der Klinke, als ihr noch etwas einfiel und sie zurückeilte. Unter einem der Fenster rüttelte sie an einer Holzleiste, bis diese ein Versteck preisgab. Gerade groß genug für ein Buch, und so eins befand sich auch darin. Selma zog es heraus, strich mit ihren Fingerspitzen über die Buchstaben, die das Wort Oceola bildeten, und verstaute es in ihrem Kleid. Das war der erste Stein, auf dem sich viele weitere zu Schlössern und Palästen türmen sollten. Das war der Anstoß, um ihren Schwur einzulösen.
»Am meisten liebe ich es, wenn Du über Dich selbst erzählst. Ich habe dann das Gefühl, dass ich auf die Knie fallen sollte, um Dir zu danken, denn wer tut das heutzutage schon, so offen über sein Innerstes zu reden. Auch wenn Du sagst, dass ich Dich dazu hypnotisiere. Das ist es nicht. Ich habe ein so großes Verlangen, vom Leben anderer zu hören, in diesen einzutauchen, da ich selbst nie richtig gelebt habe.«4
Brief von Selma, 1894
Elektrifiziert
Selma schob einen Stapel Blätter zur Seite und schaute seufzend aus dem Fenster. Es war doch schon wieder dunkel geworden. Die Straßenlampen tuschten ihre direkte Umgebung gelblich und erhellten die windzittrigen, schneebedeckten Äste der Linden, die die Straßen von Landskrona säumten. Die Geschöpfe des Lichts ließen sich in einen wohlverdienten Schlaf sinken, und Selma hatte das Gefühl, dass ihr Tag jetzt erst anfing. Jetzt hatte sie Zeit für das, worauf sie sich seit dem Aufstehen freute. Sie hatte sich regelrecht nach diesem Moment gesehnt und verfluchte die Müdigkeit, die ihre Augen beschwerte und sie mit leiser Stimme ins Bett locken wollte.
Selma schlug mit der Faust auf den Holztisch und riss die Augen auf. Der Beruf als Lehrerin an der Mädchenschule machte ihr zeitweise sogar Spaß, doch fraß er fast ihre ganze Energie. Aber von etwas musste sie ja leben, vor allem seitdem sie vor fünf Jahren, nachdem zuerst das Mobiliar ihres alten Zuhauses Mårbacka und nicht ganz ein Jahr später auch das Haus selbst verkauft worden war, die finanzielle Verantwortung für ihre Mutter Louise und die Tante Lovisa übernommen hatte. Eigentlich konnte sie sich glücklich schätzen, damals diesen Schritt zur Unabhängigkeit gemacht zu haben. Immerhin hatten sie es sich letztes Jahr leisten können, aus der alten Schulwohnung unter dem Dach des Schulgebäudes auszuziehen. Mit Mutter, Tante und dem dreizehnjährigen Dienstmädchen Augusta in zwei Giebelzimmern nebst Küche hatte man im Stehen nicht umfallen können, so eng war das gewesen. Jetzt hatten sie in der Storgatan nicht nur eine größere Wohnung und einen schönen Ausblick auf den Park mitsamt der Sofia-Albertina-Kirche, sondern mussten auch nicht rund um die Uhr den Schulmief einatmen. Denn dieser setzte sich manchmal aus recht spießbürgerlichen Partikeln zusammen und versuchte, alles im Keim zu ersticken, was nicht flüchten konnte.
Selma fasste sich mit der kalten Hand in den Nacken, beugte das Kinn zur Brust, schloss die Augen und massierte die schmerzenden Muskeln.
»Wenn ich mit der Männerfigur starte, könnte ich das eigentliche Dilemma besser in den Mittelpunkt stellen, aber die Frauenfigur geht dabei unter«, sprach sie leise mit sich selbst. »Vielleicht sollte ich mit der Landschaft beginnen? Genau, ich lasse mich vom Ort des Geschehens inspirieren, so kann die Stimmung melancholisch auf die Charaktere abfärben. Aber welcher Ort? Soll ich in Värmland bleiben, wie bei Gösta, oder weiterreisen? Seitdem Mårbacka verkauft ist, zieht es mich eigentlich weg.«
Es knarzte. Laut und regelmäßig. Das Geräusch vermischte sich mit dem Knistern des Kaminfeuers. Die Mutter wird wieder das Kribbeln in den Beinen haben und ihre Runden drehen, dachte Selma und war froh, dass eine Tür zwischen ihnen lag.
Ihr Blick schweifte erneut aus dem Fenster. Heute kam sie nicht so recht in Fahrt. Sie hatte zwar bereits eine Handvoll Novellen zusammen, die sie in einem Band bei dem Verleger Albert Bonnier in Stockholm herausbringen wollte, aber das reichte nicht. Und Bonnier selbst ahnte noch nichts von seinem Glück. Auf ihre schriftliche Anfrage, ob er sich mit ihr treffen wolle, hatte er mit den üblich höflichen Floskeln geantwortet. Wenn manchen Menschen keine Floskeln zur Verfügung ständen, wüssten sie wohl nicht, was sie sagen sollten. Na ja, züchtigte Selma ihre Gedanken, das wird auf Bonnier wohl nicht zutreffen, zählte er doch zu den renommiertesten Verlegern Schwedens mit einer dementsprechenden Aufmachung und Reichweite der Bücher, da sollte er schon etwas wortgewandt sein.
Selmas Erstlingswerk Gösta Berling, das sie vor zwei Jahren bei einem kleineren Verlag herausgebracht hatte, öffnete ihr immerhin einige Türen, doch ließ der finanzielle Erfolg stark zu wünschen übrig. Wenn das so weiterging, müsste sie wohl für den Rest des Lebens Lehrerin bleiben. Und der neue Erzählungsband war bei Weitem noch nicht vollständig. Es fehlte noch eine herausragende Blüte, ein Sahnehäubchen. Es musste ihr einfach noch etwas Brillantes einfallen.
Sie blickte zu dem Regal neben dem Fenster, auf dem zwei Exemplare von Gösta Berling standen. Nussbraune Buchrücken, auf denen in glänzendem Gold der Titel sowie ihr Name prangten. Neben etwas lokalem Ruhm und einem überschaubaren Preis eines Zeitschriftenwettbewerbs hatte sie etliche neue Briefkontakte gewonnen. Ob das jetzt so ein Gewinn war, sei dahingestellt. Finanzielle Unabhängigkeit, sodass sie einfach den lieben Tag lang schreiben konnte, wäre ihr lieber gewesen, aber der Weg zur Schriftstellerin war offensichtlich mit zahlreichen Felsbrocken gepflastert. Und Briefen!
Der Boden unter dem Tisch sah aus wie ein lebendig gewordenes Stillleben. Zwischen Büchern lugte der Rand eines vollgekrümelten Tellers hervor, gekrönt von einem kleinen Stapel ungeöffneter Briefe. Überall lagen beschriebene Zettel, die sich eng aneinanderschmiegten wie Seide an einen Körper. Mit der Zielsicherheit einer Schlafwandlerin zupfte Selma den Stapel Briefe heraus. Sie blätterte sie durch und blieb an einem Umschlag hängen, der ganz zart nach Wiesenblumen duftete und eine beige Färbung hatte. Mit einem Briefmesser schnitt Selma den Umschlag sorgfältig auf und zog zwei Seiten Briefpapier heraus, die von einer kleinen Handschrift eng beschrieben waren. Selma überflog die Seiten, die sich um das Wetter in Stockholm und eine anstrengende Reise drehten. Es folgte die Schilderung von Schwierigkeiten, einen Übersetzer fürs Dänische zu finden, und erging sich dann in Banalitäten, bis Selma an einer Stelle hängen blieb: Ich genieße unseren fachlichen Austausch und würde mich sehr freuen, Sie auch in persona kennenzulernen. Vielleicht bringt eine Reise Sie ja bald nach Stockholm. Dann könnten wir auch die Übersetzung meiner Novellensammlung diskutieren. Mit verehrten Grüßen, Sophie Elkan.
Warum nicht, dachte Selma, zog ein leeres Blatt heran und tunkte die Spitze ihrer Schreibfeder in das Tintenfass. Sie hielt kurz inne und betrachtete zufrieden die weiße, unschuldige Seite, auf die sie gleich mit fein säuberlicher Handschrift Buchstabe um Buchstabe bannen wollte.
Die Wohnung war schon lange weihnachtlich geschmückt, das Luciafest hatte Licht in die Häuser gebracht, und der Jahreswechsel scharrte bereits mit seinen Hufen. Sie wollte Bonnier sowieso im neuen Jahr einen Besuch abstatten, warum eigentlich nicht direkt nach Silvester?
Warum denn eigentlich nicht!
Eine Woche später saß Selma im Salon ihrer Freundin Hildur Djurberg in Stockholm. Sie kannten sich von der Ausbildung am Lehrerinnenseminar, das sie beide hier in Stockholm besucht hatten. Selma nippte an einer Tasse heißen Tee und sah dem Dampf zu, wie er bis unter die Holzdecke schwebte und sich dort einfach auflöste. Ein feiner Hauch von Kamille und Pfefferminze breitete sich aus und vertrieb etwaige Erkältungsgeister, die das neue Jahr aufsuchen wollten. Wenn wir die nicht bereits mit unserem Gelächter heute vertrieben haben, dachte Selma. Es schien, als hätte sich ein Fass voll guter Laune angestaut, das sich nun über sie ergoss.
Hildur hob ihre Stimme: »Stell dir vor, der Vortrag, zu dem wir gehen wollen, ist komplett ausverkauft. Ellen Key ist gerade in aller Munde und wird heiß umschwärmt. Obwohl sich mir alleine beim Titel Schwedische Literatur im Dienste der nationalen Volksaufklärung schon die Zunge verknotet. Aber ihre Art vorzutragen ist unübertroffen, ich bekomme jedes Mal Lust, einfach aufzuspringen und zu applaudieren, mitten im …«
Ein Schrillen an der Haustür unterbrach die Unterhaltung, und wenige Sekunden später stand das Dienstmädchen im Zimmer und knickste entschuldigend. »Eine Frau Elkan will gerne vorsprechen.«
Selma wechselte mit Hildur einen Blick, und beide nickten lächelnd. Für ein gepflegtes, intelligentes Gespräch zu dritt hatten sie jederzeit Muße. Eine schlanke, hochgewachsene Frau betrat den Raum. Sie war ganz in Schwarz gekleidet und trug einen modernen, ebenfalls schwarzen Hut mit einem Schleier, der ihr Gesicht verdeckte. Selma erahnte darunter ein feines, längliches Gesicht. Warum nur trug sie Schwarz? Wenn sie vor Kurzem jemanden verloren hätte, dann wäre sie doch heute nicht gekommen, oder? War in Sophie Elkans Novellensammlung nicht auch eine tiefe Melancholie zu spüren?
Die Fremde zog ihre Handschuhe aus und reichte sie dem Dienstmädchen, schaute sich im Salon um und nahm auf einen Wink der Gastgeberin in einem roten, gepolsterten Sessel Platz. Jede Bewegung voller Eleganz und Bedachtsamkeit, so als ob jeder Augenblick intensiv betrachtet werden müsste und das Leben hinter einer Glasscheibe stattfände. Mit ihr als Beobachterin.
»Vielen Dank für Ihren Besuch, Frau Elkan, wir freuen uns, Sie kennenzulernen«, sprach Hildur und goss ihr Tee in eine Tasse, die sie auf den Tisch vor dem Sessel stellte. Anschließend zeigte sie auf eine Keramikschüssel, die mit hauchzarten rosa Blumen verziert war und in der sich duftende Gebäckstücke aneinanderdrängten.
Sophie Elkan neigte den Kopf zur Seite und sagte mit einer vollen, melodischen Stimme: »Vielen Dank. Es ist mir eine Ehre, dass Sie Zeit für mich finden. Weiß ich doch, dass Sie und Fräulein Lagerlöf viele Termine haben.« Sie legte eine Pause ein und schien zu warten, aber die beiden anderen Frauen taten ihr nicht den Gefallen, das Wort zu ergreifen, sondern lächelten nur wohlwollend. Blieben sitzen, bewegten nicht einmal einen Finger und blickten die neu Hinzugekommene einfach interessiert an. Selma freute sich innerlich spitzbübisch. Mit Hildur hatte sie schon damals am Lehrerinnenseminar mit solch wortlosem Lächeln so mancher Lehrerin rote, hektische Flecken ins Gesicht getrieben. So ein Schweigen wurde von vielen unterschätzt. Nicht nur, dass man höflich wartete, bis der andere seine Gedanken zu Ende formuliert hatte, nein, man wirkte selbst gleich bedacht und intelligent und strahlte Souveränität aus. Nicht umsonst hatte Selma viel Zeit mit ihren Großeltern väterlicherseits verbracht und somit ausreichend Pfarrersluft und Wortkunst eingesogen. Rhetorik zählte bei ihr quasi als vorschulisches Studienfach, das sie frei Haus auf dem freien Feld beigebracht bekommen hatte, und die rhetorische Pause hatte es zur Muttermilch quasi gratis dazugegeben. Im Lehrerinnenseminar hatte dieses Verhalten zumindest den Erfolg gebracht, dass einfache Fragen weder an Hildur noch an Selma verschwendet worden waren, und bei zu komplizierten hatte man auch nicht an sie herantreten wollen. Eigentlich hatten sie es ganz nett während der Ausbildung gehabt.
Sophie Elkan hustete kurz, wobei ihr Schleier auf und ab ruckte wie bei einem mittelschweren Erdbeben, dann drehte sie ihren Oberkörper zu Selma. »Wie war denn Ihre Reise nach Stockholm? Ich hoffe doch, dass Sie es komfortabel hatten?«
»Ja, das hatte ich, danke, dass Sie nachfragen, meine Liebe«, antwortete Selma und hob ihre Teetasse an die Lippen.
Sophie Elkans Kopf drehte sich zwischen Hildur und Selma hin und her. Sie schien irritiert zu sein. Was jede andere an ihrer Stelle auch gewesen wäre. Hildur gluckste kurz auf, was sie in einem folgenden Redeschwall zu vertuschen suchte: »Sie sind auch Autorin, wie Selma, nicht wahr? Aber Sie schreiben ja nicht unter Ihrem richtigen Namen, sondern unter einem Pseudonym, oder nicht? Wie war es doch gleich? Ach, entschuldigen Sie bitte, ich bin ganz beschwingt, dass meine liebe Freundin Selma zu Besuch ist, sodass ich meine Gedanken nicht alle ordentlich sortiert habe. Sehen Sie mir das bitte nach. Ich entschuldige mich für einen Augenblick, ich muss … Sie wissen ja, Termine.« Hildur eilte nach draußen, als ob der Leibhaftige hinter ihr her wäre.
»Rust Roest war es«, sagte Selma und stellte die Teetasse wieder ab. »Ein schönes Pseudonym haben Sie gewählt, bedeutet es nicht ›Die Ruhe rostet‹?«
Sophie Elkan legte den Kopf erneut in eine leichte Schieflage und schien Selma unter ihrem Schleier hervor zu mustern. »Ja, das stimmt. Es ist ein flämisches Sprichwort, dem ich auf den Reisen mit meinem Mann begegnet bin. Wobei mir etwas Ruhe heute ganz guttun würde.« Sie sank in sich zusammen und wirkte gar nicht mehr so elegant und streng. Eher wie ein kleines, müdes Mädchen.
Selma klopfte mit ihrem Zeigefinger auf die Lehne ihres Sessels. Ihre Neugierde war geweckt, wen hatte sie hier eigentlich vor sich? »Sie wollten mit mir über die Möglichkeit einer Übersetzung ins Dänische sprechen? Ich kann Ihnen nur den Kontakt anbieten, den mir mein Gösta eingebracht hat. Wobei ich mit der Übersetzung mehr als zufrieden bin.«
Sophie nahm sich einen Teller und beglückte das zarte Porzellan mit einem zuckrigen Stück Gebäck. »Vor allem hat die Übersetzung Ihres Werkes beim bekanntesten Literaturkritiker diesseits des Äquators für viel Wohlwollen gesorgt, den er zu Ihrem Glück auch überschwänglich in den wichtigen Literaturzeitungen geteilt hat.«
»Das hat er«, Selma nickte und nahm sich ebenfalls ein Stückchen Süßes.
»Wollen Sie denn einen Ihrer beiden Romane übersetzen lassen oder die Novellensammlung?«
»Meinen Roman vom letzten Jahr, Reiche Mädchen. Hatten Sie denn Gelegenheit hineinzulesen?«, fragte Sophie.
»Nein, ich kam noch nicht dazu. Das tut mir leid. Wissen Sie, mein Beruf und die Schriftstellertätigkeit fressen mich komplett mit Haut und Haaren auf und …«
Sophie unterbrach sie. »Das ist nicht weiter schlimm, man mag auch nicht immer die Wahrheit hören.«
Mit einer Serviette wischte sich Selma einen Krümel vom Mund. »Ich schon. Ich bin schon erwachsen, ich bevorzuge sogar die Wahrheit vor jedem Schmus.«
»So? Und wenn ich Ihnen sagen würde, dass ich Ihren Gösta gar schrecklich fand? Ich mag Sie als Mensch viel lieber.«
Selma lehnte sich im Sessel zurück. Sprachlosigkeit war jetzt nicht gerade eine ihrer Tugenden. Nach einer diesmal unfreiwilligen rhetorischen Pause, die länger in der Luft hing als der Dampf des Tees, antwortete sie kühl: »Dann muss ich damit wohl leben und hoffe, dass mein nächstes Werk auf mehr Gegenliebe stoßen wird. Ich kann Ihnen den Kontakt zu meiner Übersetzerin gerne zukommen lassen, kein Problem. Sie hatten in Ihrem letzten Brief eine Reise erwähnt, die sehr strapaziös gewesen sein soll?« Selma nahm erstaunt zur Kenntnis, dass Sophie zwar Tee sowie Gebäck vor sich stehen hatte, aber sie machte keine Anstalten, den Schleier zu lüften, um etwas zu sich zu nehmen. Gab es vielleicht neue Techniken der Nahrungsaufnahme, die sie noch nicht kannte?
Die Verschleierte nickte. »Ja, das war meine letzte Italienreise. Vor dem langen, kalten Winter war das eine Wohltat. Waren Sie schon einmal in Italien?«
Selma schüttelte den Kopf.
»Oder in Deutschland?«
Selma schüttelte erneut den Kopf.
»Aber Sie sind doch bestimmt schon mal ins Ausland verreist?«
»Ja, nach Dänemark. Nach Italien reiste ich bis jetzt nur in Gedanken und auf dem Papier. Als Abschlussarbeit meines Lehrerinnenseminars schrieb ich über die Entstehung des Königreichs Italien«, antwortete Selma, die so langsam anfing sich zu ärgern, den gemütlich-lustigen Nachmittag gegen dieses unergiebige Geschwafel eingetauscht zu haben. Wo blieb denn nur Hildur?
»Bestimmt nach Kopenhagen, oder? Das ist ja nur eine Spuckweite entfernt von Landskrona.«
Auf Selmas Nicken hin fuhr Sophie fort. »Als Kind war ich ganz oft in Dänemark, und es kam mir vor wie ein verzaubertes Märchenland … Ich liebe Sprachen, dieser anfangs fremde Klang, der zu einer neuen Heimat werden kann, da sich die Geheimnisse ferner Länder damit öffnen lassen wie eine Büchse Fisch.« Sophie kicherte wie ein Schulmädchen, und ihre Gestalt streckte sich wieder. »Anche i pesci del re hanno spine. Auch die Fische des Königs haben Gräten. Wissen Sie, was das bedeutet?«
Selma schüttelte den Kopf und biss ein großes Stück vom Gebäckstück ab, sodass es Krümel auf den Teller regnete.
»Ich würde es frei so übersetzen, dass nichts perfekt ist. In anderen Worten: Alle gleichen sich darin, nicht perfekt zu sein. Und das spürt man dort, in den lauen Sommernächten, wenn die Menschen auf den Marktplätzen tanzen, ob reich oder arm, mit Fisch oder ohne Fisch.« Sophie ließ ihren Blick aus dem Fenster zum schneegrauen Haus gegenüber schweifen. »Italien liebe ich besonders für den sonnigen Geruch, den es mir auf die warme Haut zaubert, und das rollende R, von dem ich noch nachts träume und das durch die kleinen verwinkelten Gassen spukt.«
»Warum tragen Sie eigentlich Schwarz?«, polterte es aus Selma heraus, bevor sie sich selbst auf die Zunge beißen konnte.
Sophies Stimme rutschte ein paar Halbtonschritte nach oben. »Haben Sie davon nicht gehört?«
»Ich … ähm nein. Ich …«
Sophie erhob sich zaghaft, was im Kontrast zu ihrer großen Gestalt merkwürdig unpassend wirkte. Wie ein Riese, der sich seiner Größe nicht bewusst war und versuchte, in ein Erdloch zu krabbeln. »Ich trage Trauer. Mein Mann und meine Tochter sind gestorben.« Auf Selmas entsetzten Gesichtsausdruck fügte Sophie schnell hinzu: »Das liegt schon etliche Jahre hinter mir. Fünfzehn, um genau zu sein. Aber … die Trauer gehört zu mir. Sie ist ein Teil von mir. Und da mein Äußeres genauso zu mir gehört wie …« Sophies Stimme verstummte mitten im Satz, und sie drehte sich zum Glockenstrang, um nach dem Dienstmädchen und ihren Handschuhen zu läuten.
Mit einer schnellen Bewegung stand Selma ebenfalls auf und trat an den Gast heran. »Das tut mir sehr leid. Ich weiß gar nicht, was ich sagen kann. Aber lassen Sie mich …« Selmas Hand zuckte nach vorne, und mit einem raschen Ruck zog sie den Schleier nach oben. Ihr Gehirn hatte noch nicht realisiert, was ihre Hände getan hatten, da starrten sie zwei sanfte braune Augen erschrocken an. Ein Meer von bernsteinfarbenen Sprenkeln zog sich kreisförmig um die Pupille, schien bei jedem Blinzeln zum Leben zu erwachen und hüpfte vergnügt im Kreis. Um die Iris lag ein dunkler Ring, als ob ein Kunstmaler sich Mühe gegeben hätte, diese noch einmal extra einzurahmen.
»Was soll das?« Sophie wollte Selmas Hand zur Seite stoßen, doch diese starrte sie immer noch an. »Ich … ich bin es nicht wert, angeschaut zu werden. Die jahrelange Schlaflosigkeit hat ihre Spuren in meinem Gesicht hinterlassen. Ich bin so … so hässlich.«
Selma schluckte. Wie konnte Sophie nur so etwas behaupten?
In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Hildur trat lächelnd ein. Wobei ihr in der nächsten Sekunde das Lächeln ein Stockwerk tiefer rutschte und im Halse erfror. Sie musste sich räuspern, bis Selma sie bemerkte, und wusste dann nicht, was sie äußern sollte. »Frau Elkan, Sie wollen bereits gehen?«, sagte ihre Stimme, wobei man heraushören konnte, dass der Rest des Körpers viel lieber vor der Tür geblieben wäre. Hildur stotterte: »Ich … ich«, und Selma erlöste sie mit einem »Termine, ich weiß … wir haben ja gleich auch noch Termine.« Mit einer weichen Stimme sagte Selma zu Sophie: »Ich bin mir sicher, dass wir noch sehr gute Freundinnen werden.« Sie ließ den Schleier los, der leicht wie eine Feder herunterschwebte. Mit gesenkter Stimme fuhr sie fort: »Ich finde Sie übrigens sehr schön.«
»Dusengesicht?«, wiederholte Selma die Worte von Hildur. »Ich weiß ja nicht.«
Hildur hatte sich bei Selma untergehakt, und sie spazierten die Straße entlang.
»Hübsch ist sie auf jeden Fall. Vor wem will sie das denn verstecken?«
»Manchmal will man gar nichts vor den anderen verstecken, sondern nur vor sich selbst.« Selma schubste mit der Schuhspitze ein paar lose Steine zur Seite und verfiel in ein Grübeln, das Hildur gar nicht bemerkte, da sie fröhlich von dem neuesten Klatsch der Stadt berichtete. »Hildur, was denkst du, bist du ruhelos?«
»Bitte was?« Hildur war zwar gewohnt, dass Selma von einem Thema zum nächsten sprang wie ein junger Hase, aber dieser Gedanke kam geradezu aus einem jungfräulichen Brunnen.
»Na ruhelos halt. So wie im Pseudonym von Sophie. Mit anderen Worten – getrieben – oder ohne Rast und Pause.«
»Nee, als ruhelos würde ich mich nicht beschreiben. Ich mag Pausen. Vor allem die mit Butterbroten. Weißt du noch, wie du früher immer über uns Stockholmer geschimpft hast, die wochenlang nur Butterbrote essen?«
Selma fiel in das helle Lachen mit ein und ließ sich von Erinnerungen zum Beginn ihrer Ausbildung zurücktragen. Sie selbst würde sich auch als ruhelos bezeichnen. Das war sie schon damals gewesen. Schon als Kind. Vielleicht sollte sie bei ihrer Rückkehr nach Landskrona mal ihre Mutter darauf ansprechen. Und sie durfte nicht vergessen, nachher in eine Buchhandlung zu gehen. Zwei bernsteingesprenkelte Augen zeichneten sich am Himmel ab und blinzelten ihr zu. Ruhelos war eigentlich etwas Gutes.
Am nächsten Morgen betrachtete Selma lange ihren nackten Körper vor dem milchigen Spiegel, der goldumrandet in Hildurs Gästezimmer an der Wand lehnte. So etwas macht man nicht, hörte sie im Kopf die Stimme ihrer Großmutter. Sich nackt so lange anzustarren, du bist ganz schön eingebildet und du weißt, was in der Bibel im Buch der Sprüche über Eitelkeit steht: »Die Anmut ist Trug, und die Schönheit Eitelkeit; eine Frau, die den Herrn fürchtet, sie wird gepriesen werden.« Selma schüttelte den Kopf, um die Stimme zu vertreiben. Sie musterte die Füße, die Beine, die bei jeder Bewegung Hautareale zum Wackeln brachten, die so aussahen wie die Euter von Kühen. Ihr Bauch war faltig geworden, und an den Brüsten zog bereits die Erdanziehungskraft. Auf den Armen tummelten sich die ersten Altersflecken, und das Gesicht entsprach eher dem Typus Bauernmädel als Städterin. Ein kantiges Gesicht, eine fleischige Nase und Lippen, die sich trotzig zusammenpressten. Selma fuhr sich über ihre kurzen Haare. Hässlich! Das hatte gestern Sophie von sich behauptet. Dabei war Selma diejenige, die bereits als Kind gewusst hatte, dass sie hässlich war. Sie hob das Unterkleid vom Boden auf und zog es über den Kopf. Was hatten Hässliche für einen Vorteil? Sie mussten keinem beweisen, dass sie mit Äußerlichkeiten stolzieren gingen, stattdessen konnten sie sich mit voller Konzentration auf das schmeißen, was sie eigentlich machen wollten. In ihrem Fall war das einfach. Selma lachte ihr Spiegelbild an, setzte sich nunmehr halb nackt an den Schreibtisch und tunkte die Feder in ein Tintenfass. Flaumenvögelchen schrieb sie auf ein leeres Blatt. So sollte das Sahnestück heißen, das bald ihr neuestes Buch krönen sollte. Bonnier hatte ihr die Veröffentlichung noch für dieses Jahr zugesagt. Und er hatte sogar noch Interesse für ihren Gösta gezeigt.
Was konnte es Besseres geben?
Das Leben war wunderschön.
Flaumenvögelchenschön!
Hildur reichte Selma ein Glas Punsch. »Was bist du denn so unruhig? Seit drei Tagen sitzt du an deinem Schreibtisch und fluchst mehr als unser Bierkutscher in seinem gesamten Leben.«
Selma nahm einen Schluck des heißen, aromatischen Getränks, während sich ihre Wangen rötlich verfärbten. »Du weißt, wenn ich schreibe, dann passt zwischen die Welt und mich kein Blatt, dann bin ich nur noch eine dienende Hülle meiner Gedanken.«
»Aha. Selma … ich bin nachher noch bei Jörgensson eingeladen, willst du nicht doch mitkommen? Es wird bestimmt nett. Er verkehrt in den besten Stockholmer Kreisen und erzählt immer so lustige Geschichten.«
Aber Selma schüttelte nur den Kopf.
»Ach Selma, solange dich das Schreiben glücklich macht … sag mir nur, falls du mehr Punsch benötigst.«
Ein paar Stunden später war die erste Fassung von Flaumenvögelchen zu Papier gebracht, und Selma griff sich einen Bogen Briefpapier, verfasste einen Vierzeiler, klingelte nach der Hausangestellten, die ihre Nachricht an die Adressatin überbringen sollte, und verbrachte die nervöseste halbe Stunde ihres Lebens. Sie zog den Ausgehmantel an, dann wieder aus, verharrte vor ihrem Spiegelbild, verfiel in ein mädchenhaftes Giggeln, das sich mit einem angestrengten Versuch ablöste, ihre neue Geschichte zu korrigieren. Aber mehr als einzelne Worte zu streichen und dann wieder exakt die gleichen einzufügen, bekam sie nicht hin.
Als es an der Zimmertür klopfte, fassten eiskalte Finger nach ihrem Herzen und zerquetschten es. Mit zittriger Hand öffnete sie der Hausangestellten, die ihr auf einem Tablett einen geschlossenen Umschlag hinhielt.
Selma murmelte etwas, was sie selbst nicht verstand, und schloss die Tür. Beim Versuch, den Brief zu öffnen, zerriss sie fast den Umschlag. Halblaut las sie:
»Liebe Frau Lagerlöf, vielen Dank für Ihre Zeilen. Auch ich musste an unsere Begegnung öfters denken und würde mich freuen, Sie heute bei mir zu empfangen. Würde Ihnen 16 Uhr passen? Mit ehrerbietigen Grüßen, Sophie Elkan.«
Selma blickte zum Fenster hinaus und beobachtete, wie flauschige Schneeflocken aus gemütlichen Wolken herabschwebten, sich vergnügt um die eigene Achse drehten und ihr zuzwinkerten.
Die Kirchturmuhr schlug vier Mal, als Selma in der Nybrogatan stand, sich auf ihren Atem konzentrierte und an der Haustür der Pension des Fräuleins Gyllenram anklopfte. Wenige Herzschläge später betrat Selma den Salon von Sophie Elkan. In einem gusseisernen Ofen bollerte die Wärme und sprang Selma an wie ein Raubtier. Die Hitze suchte eine Angriffsfläche und krallte sich an ihrer nackten Haut im Gesicht fest. Sie spürte, wie die Wangen anfingen Feuer zu fangen und sich die ersten Schweißperlen auf der Stirn zusammenballten.
Sophie erhob sich aus einem stocksteifen Lehnstuhl, legte ein Buch auf einen filigranen Beistelltisch und kam Selma entgegen. Ganz ohne Schleier, ganz ohne Scham. Selbstbewusst und kerzengerade wie eine von Selmas Oberlehrerinnen, die gerade über Körperhaltung und Autorität predigten.
»Ist es denn noch am Schneien?«, fing Sophie an und winkte höflich in Richtung Sofa, worauf sich Selma erleichtert sinken ließ.
Dieses Rumstehen, ohne zu wissen, womit die Hände spielen oder welche Mimik das Gesicht aufsetzen sollte, war höchst unangenehm.
»Es hat gerade aufgehört. Die Schneeflocken … Also, als ich hier eintrat. Höchstens es schneit jetzt gerade wieder.« Selma biss sich auf die Zunge und nahm dankend eine Tasse Tee an. Zwischen mehreren Schlückchen musterte sie ihr Gegenüber über den Rand des blümeranten Porzellans. Sophie hatte ein feines, längliches Gesicht, das sich über einer hochgeschlossenen schwarzen Rüschenbluse abhob. Die Farbe der Bluse betonte das dunkle Haar, das am Hinterkopf zusammengesteckt war. Doch einige vorwitzige Löckchen kräuselten sich in der Stirn und tanzten hinter den Ohren weiter. Unter schwarzen, vollen Augenbrauen schimmerten tiefbraune Augen, aus denen magische Blitze zu zucken schienen. Die großen Augen drückten Freude und Trauer zugleich aus und waren so dunkel, dass Selma hineinzufallen schien wie in einen Brunnen. Nur Edelsteine hatten ein ähnliches Feuer und die Macht zu verzaubern. Selma stürzte tief und immer tiefer, fand nicht mehr aus diesen Welten heraus. Die Bernsteinspritzer im Braun schienen unendliche Urseen im Herzen der Mutter Erde zu sein; lockend, einfach von allem loszulassen.
»Entschuldigen Sie, aber habe ich da was?« Sophie tupfte sich mit einer bestickten Serviette die Stelle zwischen ihren Augen ab.
»Nein … nein, da war …« Selmas Blick fiel auf ein großes Gemälde, das im Hintergrund über einem Sekretär prangte. Der goldene schlichte Rahmen fasste ein weißes Passepartout ein, in dessen ovaler Mitte ein fast lebensgroßer, gut aussehender Mann saß. Mit Schnauzer und Fliege. Beschützend hatte er eine Hand um ein kleines Mädchen gelegt, das auf seinem Schoß kauerte, eine kleine Puppe im Arm hielt und sich dicht an ihn schmiegte. Ein Bild voller Zuneigung, Vertrauen und Liebe.
Sophie folgte Selmas Blick, nickte, wandte ihren Kopf zur Seite und starrte auf das Buch, das aufgeschlagen auf dem Tisch lag.
Selma ärgerte sich. Sie ärgerte sich maßlos über sich selbst. Schlimmer hätte die Situation gerade nicht sein können. Fieberhaft suchte sie in ihrem Kopf nach unverfänglichen Themen und dachte an ihre morgendliche Zeitungslektüre. »Haben Sie schon gehört, dass Alfred Nobel den schwedischen Rüstungsbetrieb Bofors gekauft hat?«
Sophie hielt den Kopf weiterhin zur Seite, aber schüttelte ihn.
»Wollen Sie lieber über das Theatergeschehen oder den Kunstverein plaudern?« Über die königliche Familie hatte sie schon ausgiebig mit Hildur gesprochen, das musste sie jetzt nicht schon wieder haben.
Aber Sophie schüttelte erneut den Kopf.
»Alfred Nobels Bruder kam doch vor ein paar Jahren bei einem Versuch mit diesem verflixten Dynamit ums Leben. Da wundert man sich, dass er einfach weitermacht. Zwar lebt er jetzt irgendwo in Italien, aber er kann es nicht lassen, Schweden auf explosive Weise kultivieren zu wollen.«
Sophie blickte ihr wieder ins Gesicht.
Selma kam in Fahrt. Wenn sie Zeitung las, fraß sie sich durch alle Meldungen, die mit Wissenschaft, Natur oder Heimat zu tun hatten. Oft schnitt sie besonders interessante Meldungen aus und sammelte sie in einer Mappe. »Lustigerweise gibt es ja bereits einen Nachruf auf Alfred Nobel. Wenn ich mich nicht täusche, dann hatte eine französische Zeitung ihn mit seinem gerade verstorbenen Bruder verwechselt und schrieb so etwas wie Der Kaufmann des Todes ist tot. Wie würde das denn auf Französisch lauten? Ich habe gehört, dass Sie mehrere Sprachen sprechen, ist das richtig? Wäre ›Le marchant de mort a mort‹ denn richtig?«
In Sophies Augen schimmerten Funken, die das Feuer neu entfachen wollten. »Fast: ›Le marchant de la mort est mort.‹ Und ja, das stimmt, ich spreche mehrere Sprachen.«
»Ja?«, hakte Selma nach.
»Bitte?«
»Welche Sprachen denn?«, insistierte Selma.
»Französisch, Deutsch und Englisch. Und für meine Hochzeitsreise lernte ich zusammen mit meinem Mann noch Italienisch.« Sophies Brust hob und senkte sich, als sie seufzte. »Damals lebte ich schon einmal in Stockholm. Kennen Sie den Berzelii Park? Wunderschön!«
»Ist das nicht in der Nähe der Synagoge? Sie stammen doch aus einer jüdischen Familie, oder?«
Ihr Gegenüber schmunzelte. »Man merkt Ihnen Ihren Beruf an. Fragen, Fragen, Fragen. Vielleicht sollten wir mal die Position wechseln. Was hat Sie dazu veranlasst, in Ihrem Gösta mit allen Regeln zu brechen? Sie haben definitiv etwas von der Naturmystik des Dichters Johan Ludvig Almquist einfließen lassen, aber warum dieses Stilmittel?«
Selma strich sich über ihre kurzen Haare und lächelte. Dann ahmte sie Sophies Tonfall nach und sagte: »Bitte?«
Laut lachend antwortete Sophie: »So ungewöhnlich wird meine Frage nicht sein, oder? Das ist doch das, was Ihr größter Kritiker Georg Brandes so hervorgehoben hat. Stimmt es eigentlich, dass Sie sich mit ihm extra in Dänemark getroffen haben, bevor diese lobende Kritik in den Zeitungen erschien? Übrigens in der Zeitung seines Bruders. Politiken heißt die, oder?«
Selma zuckte mit den Schultern.
Die Gastgeberin hob die Augenbrauen und fuhr fort: »Brandes betonte ja, dass Sie es wagen, von gewohnten ausgetretenen Pfaden abzubiegen. Aber ich frage mich, warum. Was stört Sie an dem bestehenden Realismus, dass Sie diese … diese Sprache wählen, diese klebrige Romantik und die … ähm … ungewöhnliche Aneinanderreihung von Geschichten?«
Mit einem Zögern antwortete Selma: »Wer sich den Gesetzen nicht fügen lernt, muss die Gegend verlassen, wo sie gelten.«
»Ist das von Strindberg?«
»Nein, von Goethe.«
Sophie lachte kurz auf. »Ah, ein Deutscher. Ich liebe Goethe. Er hatte doch auch eine Reise durch Italien geschildert, oder?«
Nach einem Räuspern trug Selma vor:
»Kennst du das Land, wo die Citronen blühn,
Im dunkeln Laub die Gold-Orangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht,
Kennst du es wohl? Dahin! Dahin
Möcht’ ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn.«5
Seufzend sagte Sophie: »Mit Italien kann man nie etwas falsch machen.« Sie klingelte nach der Haushälterin, flüsterte ihr etwas ins Ohr, und die ältere Dame huschte wieder zur Tür hinaus.
Auf Selmas fragenden Blick sagte Sophie: »Il mondo è un bel libro, ma poco serve a chi non lo sa leggere.«
Selma lächelte verlegen und wartete auf eine Erläuterung, aber Sophie machte keine Anstalten, den Spruch zu übersetzen. Sie stützte stattdessen ihr Kinn auf der rechten Hand auf und beobachtete Selma.
Diese fühlte, wie sich im Nacken eine Wärme entzündete, und fuhr sich wieder über die kurzen Haare. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und schloss ihn wieder. Wie ein Fisch, der auf dem Trockenen gelandet war und auch nicht wusste, wie er das kommentieren sollte. Selma schaute zur Seite und registrierte den zierlichen, verschnörkelten Beistelltisch, auf dem wohlgefaltet nebeneinander jeweils eine Ausgabe vom Svenska Dagbladet, der Dagens Nyheter und dem Göteborgs Handels- och Sjöfarts-Tidning lagen sowie ein Buch von Alexis Sluys mit dem Titel La Gymnastique pédagogique.
Als diesmal die Haushälterin klopfte und in der Tür erschien, war Selma sogar recht froh. Die ältere Dame stellte mit einem Knicksen eine durchsichtige Karaffe mit einer gelblichen Flüssigkeit auf einen Beistelltisch, allerdings so ungeschickt, dass diese auf dem Fuß eines Glases landete und fast umgefallen wäre. Mit einem spitzen »Uuh« konnte die Haushälterin die Karaffe noch fassen und gerade hinstellen. Selma und Sophie blickten sich an und mussten loslachen, was die ältere Frau dazu veranlasste, ihre Nase zu rümpfen und sich zu beeilen, wieder hinauszukommen.
Sophie schenkte die süßlich duftende Flüssigkeit in zwei geschliffene Gläser und reichte Selma eins davon. »Das ist zwar nur eine kleine Pfütze und nicht das Gleiche wie in Italien, frisch gepresst von den Bäumen, aber trotzdem kann man ganz deutlich den Sommer schmecken.«
»Was ist das denn?«, wunderte sich Selma und nippte verzückt an dem fruchtigen Getränk. »Ist das etwa …?«
»Der Saft von Orangen«, fiel ihr Sophie ins Wort.
»Können Sie hexen?«
Mit dem Glas hoch erhoben in die Luft prostete Sophie ihr zu und sagte: »Können das nicht alle Frauen? Und was hältst du eigentlich vom Du?«
Selma nickte, und Sophie fuhr daraufhin fort: »Carl David af Wirsén kritisierte deinen Gösta als verworrenes Mystisches und hat gesagt, dass ihm die dummen Menschen leidtun, vor allem die, die in Värmland wohnen. Er lässt kein gutes Haar an deinem Werk. Schrieb er nicht, dass du als unverheiratete Frau nichts von Erotik und Liebe verstehst?«
Selma schluckte. Dieser Wirsén war ein zeternder Höllentroll, dummerweise aber ständiger Sekretär der Schwedischen Akademie und somit ein Mann von Rang und Namen. Das Gespräch entwickelte sich in eine Richtung, die ihr alles andere als angenehm war. Höchstens, man würde eine Mistgabel im Rücken als wohltuend empfinden. Sie ergriff die Teetasse und hielt sie so fest, dass der Henkel zwischen ihren Fingern schmerzte. Sie sagte: »Es gab dafür auch viele positive Kritiken. Mein Verleger hat mir erst elf Spalten voll des Lobes aus dem ganzen Land geschickt.«
Sophie stand auf, und während sie redete, lief sie auf und ab. »So viele Ahs und Ohs und ein Meer aus Ausrufezeichen. Alles wird in deinem Gösta glorifiziert und bis ins letzte Detail übertrieben. Es passt einfach in keine Kategorie, es ist eine Mischung aus Tragödie, Liebesgeschichte, hat was von Goethes Faust und Abenteuerromanen. Ich verstehe wirklich nicht, dass …« Sophies Blick streifte Selmas Gesicht, und sie blieb stehen. »Ich bin mir sicher, dass dir auch bei meinen Büchern Kritik einfallen würde, falls du mal etwas davon lesen solltest.«
Selma lehnte sich in ihrem Sessel zurück: »Wie kommst du darauf, dass ich von dir nichts gelesen hätte? Ohne deinen Debütroman Dur und Moll hätte ich dich wohl nie angeschrieben.«
»Ich dachte, du wolltest einen Tipp von mir, so von Schriftstellerin zu Schriftstellerin, so viele andere schreibende Damen gibt es ja nicht gerade.«
»Deinen Erzählbogen habe ich bewundert. Das stimmt. Aber das war nicht der Grund. Ich habe die Einsamkeit gespürt, von der du schreibst. Dieses Sich-alleine-Fühlen zwischen all den anderen Menschen. Das Ausgeschlossensein von Lachen und Liebe. Das Danebenstehen, wenn den anderen das Leben passiert. Aber wenn du dein Herz nicht verschlossen hast, um in deinem Selbstmitleid zu versinken und dem Rest der Welt diese Trauer aufs Auge zu drücken, dann kannst du am Leben der anderen teilnehmen. Selbst Fremde können füreinander da sein, es ist nur eine Frage des Willens. So hast du es selbst geschrieben.«
Sophie hielt sich an der Rückenlehne des Sessels fest und starrte auf das große Gemälde an der Wand, das ihren verstorbenen Mann und die verstorbene Tochter abbildete. Sie sprach mit leiser Stimme: »Niemand ist alleine, überallhin folgen die Augen guter Geister … Ich werde meinen Mann und meine Tochter für immer lieben und niemals wieder heiraten.« Sie setzte sich und schaute Selma ernst an. »Die Liebe ist etwas Großes und Einzigartiges. Und soll es auch bleiben.«
Selma spürte den Drang, einfach aufzuspringen und Sophie in den Arm zu nehmen. Sie zu trösten, ihr zu sagen, dass sie ab jetzt für sie da sein wolle. Sie beschützen und ihr zuhören. Doch blieb sie sitzen, krallte die Fingerspitzen in das Sofa und erzählte: »Seit zweihundertfünfzig Jahren dichten so gut wie alle meiner Familienmitglieder Verse. Der eine oder die andere besser oder schlechter. Nichtsdestotrotz begleiten seit ich denken kann Gedichte und Geschichten mein Leben. Manchmal wusste ich nicht einmal, ob mein Zuhause bei den Berggeistern in den Geschichten war oder bei meinen Eltern auf dem kleinen Hof. Was war real und was nur erzählt? Und entsteht die Realität vielleicht erst dadurch, weil wir sie uns gegenseitig schildern und ihr somit eine Form geben?« Selma hielt für einen Augenblick inne, starrte kurz an die Decke und fuhr in einem weicheren Ton fort: »Seit zweihundertfünfzig Jahren dichten so gut wie alle meiner Familienmitglieder Verse, und irgendwann in dieser langen Zeitspanne musste ja auch mal eine echte Begabung entstehen. Ich glaube seit meinem siebten Lebensjahr daran, dass ich diejenige bin. Dieser Glaube ist in meinem Leben so zentral wie bei dir die Liebe.« Selma lachte. »Und frag mich nicht, warum, doch habe ich das Gefühl, dass du das alles bereits weißt. Dass wir uns schon lange kennen, mindestens seit unserer Kindheit.«
»Mindestens«, Sophie nickte und lachte ebenfalls.
»Weißt du, was ich an deinem letzten Buch so fabulös finde?«
Sophie schaute erstaunt. »Hast du jetzt doch Reiche Mädchen gelesen?«
»Na klar, ich hatte ja ein paar Tage Zeit, und der lokale Buchhändler war gut sortiert. Es ist deine Leichtigkeit, die mich überrascht hat. Wie kannst du so leicht über den Tod der Frau und dieses Kindes schreiben?«
Mit einem Ruck stand Sophie wieder auf, trat zum Schreibtisch, nahm sich eine Schreibfeder, tunkte diese in ein Tintenfass und führte sie über ein leeres Blatt, wobei sie riesige Schnörkel hinterließ. »So«, sagte sie. »So mach ich das. Geht ganz einfach. Immer rauf und runter.«
Das folgende Gelächter hinderte tatsächlich das Dienstmädchen daran, erneut das Zimmer zu betreten, um nach den Wünschen der Herrschaften zu fragen.
Die nächsten drei Stunden glitten Selma zwischen den Fingern hindurch wie sonst nur der feine Sand an der Küste. Sie diskutierte mit Sophie über den Drang, von dem alle Schriftstellerinnen besessen waren: von der unbändigen Lust am Fabulieren. Der Faszination daran, wie aus bruchstückhaften Ideen vollständige literarische Gebilde entstanden. Erfundene Figuren, die plötzlich anfingen, ein Eigenleben zu entwickeln, sich im Lichte der Aufmerksamkeit drehten und am Ende doppelt so viele Seiten für sich beanspruchten, wie anfangs für sie eingeplant gewesen waren. Von Eingebungen, die den Schlaf so lange raubten, bis man sich ihrer erbarmte und sie niederschrieb.
»Bei Gösta überkam mich die Idee auf einer Brücke in Stockholm«, sagte Selma. »Auf einer Wanderung über die Malmskillnadsgass, zwischen dem Hafengassenhügel und der Feuerwehrstation. Als ich über die großen Sagas der Literatur nachdachte und erkannte, dass genauso ein Erzählschatz in meiner Heimat direkt vor meiner Nase nur darauf wartete, gepflückt zu werden. Ich musste erst zwischen grauen Steinen leben, um die Fülle zu erkennen, die mich in der grünen Heimat umgab.«
»Dann war das sicherlich eine himmlische Fügung«, ergänzte Sophie und schlug elegant ihre Beine übereinander. »Auf Brücken steht man mit dem Kopf in den Wolken und den Füßen fast im Wasser, da weiß man nie, was einem begegnet. Ich bekam das letzte Mal allerdings nur eine Ladung Vogelkot ab.«
Selma lachte mit und bemerkte, dass Sophie an ihrem rechten Mundwinkel ein Grübchen hatte, das sich dann zeigte, wenn sie vergnügt war. »Was hat dich zu dem Roman Reiche Mädchen inspiriert?«
»Er stellt ein paar sozial aktive Frauen in den Mittelpunkt. Dabei sehe ich August Strindberg als meinen Lehrmeister an. Nicht, was ihn persönlich anbelangt, der Ewige bewahre mich! Möge sein Schnurrbart abfallen, was seine Sicht auf Frauen angeht. Aber als Schriftsteller ist er mir ein großes Vorbild.«
Selma überlegte. »Ich mag, wie Strindberg in Das rote Zimmer den Finger in die Wunde der gesellschaftlichen Heuchelei legt, die sich ja wirklich durch das Beamtentum, die Zeitungen bis hin in die Armenviertel zieht. Aber, Sophie, sag, hat nicht auch Strindberg den Gottesmann sehr überspitzt dargestellt, der seine missionarischen Schriften verhökert, um das große Geld zu verdienen?«
»Nein«, sagte Sophie. »Das war eine Überzeichnung, ganz klar, aber sonst wäre dieser Aspekt auch untergegangen. Und, liebe Selma, willst du lieber wieder über deinen Gösta sprechen? Von wegen Überzeichnung?«
Selma grinste. »Nein, danke. Mich würde interessieren, neben dem ganzen ›Strindberg schreibt so toll‹, was deine Motivation war. Du hast den Schnöseln einen Spiegel vor die Nase gehalten und auch gesellschaftliche Fragen diskutiert. Aber was war der unstillbare Quell tief in deinem Inneren? Welche Teufelchen piesackten dich und flüsterten dir diese Geschichte zu? Komm schon, da war doch was, was dir keine Ruhe gelassen hat.«
Sophie starrte Selma in die Augen.
Fünf Sekunden.
Zehn Sekunden.
Schien hinter den Worten eine andere Selma zu sehen wie noch zuvor. Ihre braune Iris vergrößerte sich, und ihr Blick huschte zu Selmas Lippen, um dann langsam wieder hochzuwandern und fast zärtlich Selmas kurze Haare entlangzustreifen. »Eigentlich hätte ich gar nicht nach Gösta fragen brauchen, du liebst offensichtlich ungewöhnliche Wege. Gab das eigentlich Ärger in dem Lehrerinnenseminar, als du mit kurzen Haaren erschienen bist?«
Mit einem nachdenklichen Blick zuckte Selma mit den Schultern und griff zum letzten Schluck Orangensaft, den sie sich bis jetzt aufgehoben hatte.
Sophies Stimme wurde leiser. »Mit jeder Seite meines Buches bin ich einen Schritt mehr in diese Gesellschaft zurückgekehrt. Zurück aus meiner selbst gewählten Isolation nach dem Tod meiner Liebsten. Jede Zeile des Schreibens ließ mich spüren, dass ich doch noch lebte, und jedes einzelne Wort zeigte mir, dass das Leben lebenswert sein konnte. Ein starkes positives Gefühl erwachte in mir, sodass der Schmerz verblasste. Ganz weggehen wird dieser Schmerz wohl nie. Aber es ist schon ein großer Fortschritt, wenn er nicht die Schlagzeile meines Lebens darstellt. Das Schreiben ermöglichte es mir, auf den Ruinen meiner Existenz ein neues Leben zu errichten. Es sind unsichtbare Bande, die uns Schriftstellerinnen mit dem Text verknüpfen. Nur die wenigsten können diese sehen.« Sie stand auf, ging zum Kamin und starrte auf die knisternden Flammen.
»Unsichtbare Bande«, wiederholte Selma. »Das ist schön. Sehr schön sogar.« Sie erhob sich, um sich zu verabschieden. Es war schon spät geworden, und sie wollte Hildur nicht mit dem Essen auf sie warten lassen. Die herbeigerufene Haushälterin half Selma in den Mantel und eilte voraus zur Haustür, um diese zu öffnen.
Sophie lächelte, ließ dadurch so viel Sonne ins Zimmer, was nicht einmal ein Korb voller Orangen geschafft hätte, und fragte: »Zu Ellen Key kommst du doch auch?«
»Ja, ich wurde eingeladen und bin schon sehr gespannt, was Frau Key über die schwedische Kulturwissenschaft zu berichten hat, auch zur Pädagogik soll sie sich ja Gedanken machen, das interessiert mich sogar noch mehr. Mit politischen Themen habe ich es nicht so. Ich bevorzuge da ihre sozialen.« Selma ergriff Sophies ausgestreckte Hand und wunderte sich über den starken Griff, hatte sie doch einen sehr sanften erwartet. »Ich freue mich, dass du wieder zurückgefunden hast aus deiner Isolation«, sagte Selma. »Bücher verändern nicht nur die Leser, sondern machen auch etwas mit einem selbst. Und ich freue mich auch sehr, dass wir uns persönlich begegnet sind. Eine Frage noch: Was hat dieser italienische Spruch denn nun bedeutet?«
»Das verrate ich dir das nächste Mal«, antwortete Sophie.
Selma hatte schon den Türgriff in der Hand, als sie sich nochmals umdrehte. Sophie stand noch immer am Kamin und blickte hinein. Ein Bild voller Anmut, Stolz und Melancholie.
Unsichtbare Bande, wiederholte Selma leise, als sie die Straße entlangging, und Unsichtbare Bande schrieb sie abends auf eine leere Seite und legte diese als Titelblatt auf den Stapel ihrer handgeschriebenen Blätter. Durchzogen diese Bande nicht die ganze Welt, tasteten sich zwischen Wäldern, Bergkämmen, Straßenzügen und Seelen hindurch, um auf gleiche Pole zu stoßen oder um augenscheinlich Fremdes doch noch vereinen zu können? Was war real, und was fand nur im eigenen Kopf statt? Und wenn nicht sie, wer sollte das alles sonst erzählen?