Shadi - Katja Schneidt - E-Book

Shadi E-Book

Katja Schneidt

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Beschreibung

In Syrien tobt der Bürgerkrieg und die radikalen Mitglieder des „Islamischen Staats“ übernehmen zusätzlich weite Teile des Landes. Für den 25-jährigen Shadi und seine Familie bedeutet das ab sofort ein Leben in ständiger Angst zu führen, denn eine Flucht aus Syrien kommt für Shadis Vater nicht infrage. Als bei einem der täglichen Bombenangriffe Shadis Elternhaus getroffen wird, sind Shadi und seine 19-jährige Schwester Samira, die einzigen Überlebenden. Sie kommen zunächst bei einem Onkel unter, doch als dieser Samira gegen ihren Willen, nur 40 Tage nach dem Tod der Eltern, mit seinem Sohn verheiraten möchte, verschwindet Samira über Nacht. Die Wirren des Krieges erschweren Shadi die Suche nach ihr und so bleibt sie erfolglos. Shadi beschließt, zunächst nach Deutschland zu flüchten und zu einem späteren Zeitpunkt nach Syrien zurückzukehren, um die Suche nach seiner Schwester fortzusetzen.
Als Shadi in Deutschland endlich in Sicherheit ist, überkommt ihn ein schlechtes Gewissen. Wie konnte er so feige sein und Syrien ohne Samira verlassen? Shadi ist sich sicher, dass er nie wieder ein unbeschwertes Leben führen wird, aber dann trifft er Jasmin, und Shadi muss erkennen, dass vieles nicht so ist, wie es auf den ersten Blick erscheint…

"Shadi" ist eine Geschichte über einen syrischen Flüchtling, Verlust, Trauer, Hoffnung, Liebe und die Gewissheit, dass egal wie aussichtslos eine Situation auch erscheint, es immer ein Morgen gibt und plötzlich die Welt in einem strahlenden Licht erscheinen kann. Oder, um es mit den Worten von Forest Gump zu sagen: Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen, man weiß nie, was man bekommt.

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Shadi

 

von Katja Schneidt

 

Der Mensch ist dort Zuhause wo sein Herz ist,nicht dort, wo sein Körper ist.

Mahatma Gahndi

 

 

Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Impressum

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

Epilog

Danksagung

Weitere Bücher der Autorin

Über die Autorin

Leseprobe „Kopftuchland“ von Katja Schneidt

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

Impressum

© 2015 by Katja Schneidt, Büdingen

Umschlaggestaltung: Andreas Wagner

Korrektorat: E. Friedrichs

eBook-Konvertierung: Matthias Czarnetzki (mczarnetzki.de)

E-Mail: [email protected]

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung, sowie Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendwelcher Form (Fotokopie, Mikrofilm oder anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung von Katja Schneidt reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt, oder verbreitet werden. Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschrift und Zeitung, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile sowie der Übersetzung in andere Sprachen.

 

1. Kapitel

 

Nervös fuhr er mit seinen schweißnassen Handflächen immer wieder über seine schmutzigen Jeans. In dem überfüllten Bus saßen gut sechzig Männer, Frauen und Kinder, dicht gedrängt, auf den zerschlissenen Sitzen. Die Luft war stickig und es gab keine Möglichkeit ein Fenster zu öffnen. Gedankenverloren starrte Shadi aus dem Fenster und betrachtete die vorbeiziehenden Häuserfassaden. Alles sah hier anders aus, als er es von seiner syrischen Heimatstadt Aleppo kannte. Oder vielmehr, was von dieser einst lebendigen Großstadt noch übrig geblieben ist, nachdem dort nun schon über zwei Jahre ein Bürgerkrieg tobt.

Das Bild der adretten Reihenhäuser mit den gepflegten Vorgärten, die er von seinem Fensterplatz aus während der Busfahrt zu sehen bekam, stand im krassen Gegensatz zu den Trümmerbergen und zerstörten Straßen, die von Aleppo noch übrig geblieben waren. Verzweifelt biss Shadi die Zähne aufeinander, um den plötzlich aufsteigenden Tränen keine Chance zu geben, seine Augen zu verlassen. Dort wo er herkam, war es nicht üblich, dass ein Mann weinte und vor den vielen fremden Menschen, die sich mit ihm den Bus teilten, wäre es ihm sehr peinlich gewesen so viel Gefühl zu zeigen.

Unwillkürlich ballte er seine Hände zu Fäusten. Es war eine ohnmächtige Wut und Hilflosigkeit, die von ihm Besitz ergriff, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Seine Gedanken wanderten zurück zu seiner Kindheit. Soweit er sich erinnern konnte, war dies eine unbeschwerte Zeit gewesen. Er hatte mit seinen Eltern, seinen zwei Brüdern und drei Schwestern, in einem der kalkweißen Häuser in der Nähe der Innenstadt Aleppos gelebt. Seine Mutter war Hausfrau. Der Vater verdiente mit einem Herrenbekleidungsgeschäft genügend Geld, um das Familieneinkommen zu sichern. Seine Waren standen in dem Ruf von bester Qualität zu sein und das Geschäft lief gut. Shadis Eltern legten großen Wert auf Bildung und ermöglichten ihren fünf Kindern den Besuch einer guten Schule. Auch Shadis Schwestern waren hiervon nicht ausgenommen, obwohl das in Syrien nicht überall üblich war. Die meisten Eltern vertraten die Ansicht, dass die Mädchen heiraten und sich dann um Mann und Kinder zu kümmern haben. Deshalb hielt man den Schulbesuch für sie auch für reine Zeitverschwendung. Wichtiger war es, dass sie von ihren Müttern das Kochen und Backen, sowie die Haushaltsführung erlernten, um bei einer späteren Heirat der Familie keine Schande zu bereiten.

Shadi konnte es immer noch nicht begreifen, dass von seiner Familie nicht mehr übrig geblieben war, als er und seine Schwester Samira. War es wirklich Glück, dass sie zusammen auf dem Markt einkaufen waren, als die Bombe auf ihr Elternhaus fiel und den Rest der Familie unwiederbringlich auslöschte? Wäre es nicht besser gewesen, wenn der Tod sie alle zu sich geholt hätte? Shadi konnte den Gedanken nicht weiterverfolgen, da sein Körper plötzlich von einem starken Zittern erfasst wurde, welches seine ganze Aufmerksamkeit erforderte. So war es oft seit diesem Tag vor zwei Monaten. Immer wenn er an den unglücksbringenden Tag zurückdachte, quittierte dies seine Seele mit dieser heftigen körperlichen Reaktion. Nie würde er den Anblick seines zerbombten Elternhauses vergessen. Dort, wo er mit seiner Familie nur ein paar Stunden vorher noch lachend am Esstisch gesessen hatte, war jetzt nur noch Schutt und Asche zu sehen und irgendwo dazwischen, lagen die verkohlten Körper seiner Eltern und Geschwister. Er war stumm vor Entsetzen gewesen und sein Gehirn konnte nicht begreifen was seine Augen sahen. Erst das hysterische Schreien von Samira hatte ihn aus dieser Starre geholt. Er war zu seiner neunzehnjährigen Schwester geeilt und hatte sie fest umschlungen. Keiner achtete in diesem Moment auf sie. Es gab niemanden, der ihnen jetzt Trost spenden konnte. Die Nachbarhäuser waren ebenfalls von dem Bombenangriff überrascht worden und völlig zerstört. Die wenigen Überlebenden liefen traumatisiert und völlig orientierungslos auf der Straße herum. Das Ganze wirkte wie das Szenario eines Katastrophenfilms.

Dabei hatte doch vor ein paar Jahren mit der Revolution in Tunesien alles so vielversprechend begonnen. Die Menschen in der arabischen Welt lehnten sich gegen das autoritäre Regime auf und protestierten gegen die jahrelang andauernde Unterdrückung, seitens der Staatsoberhäupter. Der Arabische Frühling nannte man den Siegeszug der Bevölkerung, der sich immer weiter ausbreitete und schließlich auch Syrien erreichte.

Shadi konnte sich noch genau daran erinnern, mit wie viel Hoffnung diese Entwicklung von seiner Familie aufgenommen wurde. Besonders seine drei Schwestern lebten fortan in dem festen Glauben, dass sich die Lebensbedingungen für Frauen mit dem Einzug des Arabischen Frühlings in Syrien, grundlegend verbessern würden. Nicht einmal im Traum hatten Shadi und seine Familie daran gedacht, dass ausgerechnet die neue Aufbruchstimmung in ihrem Heimatland dafür sorgen könnte, dass ein Bürgerkrieg ausbricht, der alles zerstören würde. Aber das Schicksal hatte erbarmungslos zugeschlagen und es sollte noch schlimmer kommen.

Irgendjemand hatte Shadis Onkel verständigt, der mit seiner Familie am Stadtrand von Aleppo lebte. Dieser Teil der Stadt war bisher von Zerstörungen noch weitestgehend verschont geblieben. Natürlich war der Onkel mit seinen ältesten Söhnen sofort zur Hilfe geeilt und hatte Shadi und Samira bei sich aufgenommen. Seine Frau kümmerte sich gleich liebevoll um die beiden und versuchte sie in ihrer schlimmsten Trauer zu trösten und zu stützen, so gut es in solch einer schlimmen Situation eben ging. Shadi und Samira hatten sich gerade wieder ein bisschen gefasst als der Onkel verkündete, dass er wünsche, Samira solle seinen mittleren Sohn heirate. In der Arabischen Kultur war es üblich, Cousin und Cousine miteinander zu verheiraten. Da normalerweise der Vater die Verantwortung für seine Töchter trug, war diese Aufgabe mit dem Tod seines Bruders an den Onkel übergegangen.

Als Samira mit dem Vorhaben ihres Onkels konfrontiert wurde, weinte sie bitterlich. Sie wollte keine arrangierte Hochzeit. Ihr Vater hatte immer versprochen, dass er sie niemals gegen ihren Willen verheiraten würde und sie dem Mann ihres Herzens das Ja -Wort geben dürfe, solange er nur Moslem wäre. Samira bettelte und flehte, der Onkel hielt jedoch an seinem Vorhaben fest. Er hatte die Befürchtung, dass er in absehbarer Zeit selber in den Krieg ziehen müsse und dann seiner Verantwortung Samira gegenüber nicht mehr gerecht werden könne. Seine eigenen Töchter waren längst alle verheiratet und bis auf eine, hatten sie mit ihren Männern und Kindern das Kriegsgebiet schon vor einigen Wochen verlassen und sich in Sicherheit gebracht.

Selbst seine Frau und Shadi konnten ihn nicht umstimmen und so wurde genau vierzig Tage nach dem Tod der Eltern und Geschwister Samiras Verlobung gefeiert.

Am nächsten Tag war Shadis Schwester spurlos verschwunden. Samira hatte ihre wenigen Sachen gepackt, die ihr noch verblieben waren und anschließend unbemerkt das Haus verlassen. Shadi hatte das Gefühl, er würde wahnsinnig werden. Samira war doch alles, was ihm noch geblieben war und er machte sich große Vorwürfe, nicht stärker gegen die Hochzeitspläne seines Onkels protestiert zu haben. Hoffnungsvoll machte sich Shadi auf die Suche nach seiner Schwester, doch ohne Erfolg. Das immer noch andauernde Kriegstreiben gestaltete die Suche schwierig. Ein Großteil der Stadt war zerstört und überall beherrschte ein furchtbares Chaos das Geschehen.

Shadi fühlte sich wie ein Versager. Er hatte es in seiner Funktion als älterer Bruder nicht geschafft für seine Schwester da zu sein und sie vor den Plänen des Onkels zu schützen.

Tagsüber versuchte er sich zusammenzureißen und sich nichts von seiner Verzweiflung anmerken zu lassen, allerdings sobald er abends in seinem Bett lag und das Licht löschte, konnte er die Tränen nicht mehr zurückhalten und weinte bitterlich in seine Kissen. Das waren auch die Momente, in denen er einen Anflug von Wut auf seinen verstorbenen Vater verspürte. Wie oft hatte er ihn darum gebeten mit der Familie das Kriegsgebiet zu verlassen, der Vater wollte davon jedoch nichts hören. „Nur Feiglinge laufen vor einer drohenden Gefahr davon“, war stets seine Antwort auf Shadis Wunsch gewesen. Nun war es zu spät. Shadi hatte nicht nur sein Zuhause verloren, sondern auch seine engsten Familienmitglieder. Es gab nichts, was ihn in dem zerstörten Syrien noch hielt und deshalb zögerte er auch nur einen kurzen Moment lang, als sich ihm unerwartet die Chance bot, zusammen mit einigen Landsleuten den Weg nach Deutschland anzutreten. Einzig der Gedanke Samira zurückzulassen, ohne zu wissen wo sie sich derzeit befand, ließ ihn einen Augenblick lang über seinen Plan nachdenken. Shadi musste sich indes eingestehen, dass er in der momentanen Situation keine Chance hatte seine Schwester zu finden. Bestimmt hatte sie sich in Anbetracht der drohenden Verheiratung zu einer ihrer zahlreichen Tanten oder Cousinen durchgeschlagen und hielt sich dort versteckt. Shadi versuchte sein schlechtes Gewissen mit dem Vorsatz zu beruhigen, dass er seine Schwester ebenfalls nach Deutschland holen würde, sobald er dort Fuß gefasst hätte.

 

 

Erschrocken riss Shadi die Augen auf. Er musste eingeschlafen sein. Eine in dem Bus entstandene Unruhe hatte ihn wieder geweckt. Plötzlich redeten alle wild durcheinander. Shadi rieb sich die eingeschlafenen Glieder und atmete mehrmals tief durch, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Aus der schlechten Luft in dem Bus war mittlerweile ein penetranter Gestank geworden. Ein Blick auf seine Uhr verriet Shadi, dass sie jetzt schon über achtzehn Stunden mit diesem Bus unterwegs waren. Bisher hatten sie lediglich zwei kurze Pausen gemacht. Kein Wunder also, warum es so schlecht roch. Der Umstand, dass einige der Kinder noch Babys waren und nun schon seit über acht Stunden dieselbe Windel trugen, tat sein Übriges.

Wenn er den Gesprächen seiner Mitreisenden Glauben schenken durfte, hatten sie in Kürze ihr vorläufiges Ziel erreicht.

Shadi fuhr sich mit seinen Händen mehrmals durch die Haare, die wirr nach allen Seiten abstanden. Er wollte doch einen guten Eindruck machen, wenn er gleich zum ersten Mal in seinem Leben, deutschen Boden betreten würde. In diesem Moment hätte er für ein Deodorant oder ein paar Spritzer Eau de Toilette alles gegeben. Was sollten denn die Deutschen von ihm denken, wenn er dort in seiner verfleckten Jeans und seinem durchgeschwitzten T–Shirt aus dem Bus steigen würde? Das Einzige, was ihn in diesem Moment tröstete war die Tatsache, seine Mitreisenden sahen auch nicht besser aus. Immerhin beherrschte niemand von ihnen die deutsche Sprache, so dass sie nicht erklären konnten, warum sie so aussahen und es wäre Shadi peinlich, wenn die Deutschen nun dachten, alle Menschen aus Syrien würden schmutzige Kleidung tragen und dazu noch schlecht riechen. Jetzt huschte Shadi sogar ein kleines Lächeln über die Lippen. Er dachte daran, was man sich in Syrien über die Deutschen erzählte. Sie hatten dort den Ruf, äußerst korrekte und intelligente Menschen zu sein. Viele Syrier träumten davon, nach Deutschland auszuwandern und dort viel Geld zu verdienen. Deutschland galt als eines der saubersten und sichersten Länder der Erde. Auch Shadi hatte immer davon geträumt Aleppo zu verlassen, um in Deutschland sein Glück zu versuchen. So lange er sich erinnern konnte, hatte er immer in dem Schatten seines erfolgreichen Vaters gestanden und nur zu gerne wäre er nach Deutschland gegangen, um seinem Vater zu zeigen, er könne es auch zu etwas bringen. Wenn er sich mal wieder mit seinem Vater gestritten hatte, war Shadi oft zu einer kleinen Waldlichtung gelaufen und hatte sich dort im Schutz der Bäume seinen Tagträumen hingegeben. Vor seinem inneren Auge hatte er dann in Deutschland Architektur studiert und anschließend wahre Prachtbauten geplant. Dabei vereinte er den verspielten orientalischen Baustil mit dem gradlinigen der Deutschen und erschuf so ein völlig neues Baudesign. Bald konnte er sich vor Aufträgen nicht mehr retten und verdiente Unsummen an Geld. Von einem Teil dieser Einnahmen kaufte er seinen Eltern ein Haus direkt am Meer und sein Vater würde ihm anerkennend auf die Schulter klopfen und sagen, dass er ja schon immer wusste, dass es Shadi einmal zu etwas bringen würde.

Ein plötzlicher Ruck riss Shadi aus seinen Gedanken. Der Bus hatte angehalten. Shadi drückte sein Gesicht an das Fenster und schaute nach draußen. Das Erste, was er erblickte, war ein ungefähr vier Meter hoher Maschendrahtzaun, an dessen oberen Ende drei Reihen verrosteter Stacheldraht befestigt war. Hinter diesem Zaun befanden sich mehrere grau verputzte Häuserblocks. Das hier hatte eindeutig nichts mehr mit den netten Reihenhäusern und den gepflegten Vorgärten zu tun, die Shadi auf der Fahrt hierher von seinem Fenster aus gesehen hatte. Er betete inständig zu Allah, dass dies hier nicht das Erstaufnahmelager war, von dem einige der anderen Flüchtlinge auf der Fahrt erzählt hatten. Im Gegensatz zu Shadi gab es einige Mitreisende, die schon ziemlich genau wussten, was in Deutschland auf sie zukommen würde, da sie Familienangehörige hatten, die bereits nach Deutschland geflüchtet waren.

Shadis Gebete wurden nicht erhört. Der Busfahrer öffnete die Türen. Sie hatten offensichtlich ihr Ziel erreicht. Sofort erhoben sich alle von ihren Plätzen und es entstand ein wirres Durcheinander. Shadi sog gierig die frische Luft ein, die durch die geöffneten Türen strömte. Am liebsten hätte er sofort mit den anderen den Bus verlassen. Trotzdem nahm Shadi wieder Platz und ließ den Müttern mit ihren Kindern den Vortritt. Die meisten von ihnen hatten ihre Sprösslinge die ganze Fahrt über auf ihrem Schoß sitzen, da der Bus hoffnungslos überfüllt war und es für die jüngeren keine eigenen Sitzplätze gab. Diesen armen Frauen mussten fürchterlich die Beine schmerzen.

Nachdem der Bus sich fast vollständig geleert hatte, hielt auch Shadi nichts auf seinem Platz. Schritt für Schritt ging er langsam auf den Ausgang zu. Dabei zitterte er am ganzen Körper. Diesmal aber nicht aufgrund seiner dramatischen Erlebnisse, sondern vor Aufregung. Gleich würde er zum ersten Mal in seinem Leben, deutschen Boden betreten. Für einen winzigen Moment lang traten all die schrecklichen Ereignisse der letzten Wochen und Monate in den Hintergrund und es machte sich so etwas wie Hoffnung in Shadis Herz breit. Hoffnung auf ein besseres Leben. Schlafen ohne die Angst, von einer der herabstürzenden Bomben getroffen zu werden. Auf die Straße gehen zu können ohne befürchten zu müssen, von einer Gewehrkugel beschossen zu werden. Aus dem Fenster zu schauen und nicht nur die Überreste der zerbombten Häuser und Straßen zu sehen.

Bedächtig setzte Shadi seinen Fuß von der letzten Stufe des Buseinstiegs auf den grauen Asphalt. Er hatte es geschafft. Er war in Sicherheit.

 

2. Kapitel

 

Erschöpft ließ sich Shadi auf das Metallbett fallen. Er konnte es immer noch nicht fassen, dass er nun tatsächlich in Deutschland angekommen war. Zufrieden blickte er sich um. Alles war hier so sauber und es roch nach frischer Farbe. An der gegenüberliegenden Wand stand ebenfalls ein Bett. Ein Tisch mit zwei Stühlen und ein Kleiderschrank komplettierten die spartanische Einrichtung. Shadi teilte sich das Zimmer mit einem jungen Syrier, Ahmed. Er hatte ebenfalls seine Familie bei einem der zahlreichen Bombenangriffe verloren und hoffte nun in Deutschland auf eine bessere Zukunft und ein sicheres Leben.

Außer ihrem Zimmer befanden sich noch drei weitere Räume in dieser Wohnung. Insgesamt teilten sich Shadi und Ahmed die Wohnung mit sechs weiteren syrischen Flüchtlingen.

Shadi konnte mittlerweile in Erfahrung bringen, dass sie sich hier auf einem ehemaligen US Armeegelände befanden. Die einst hier stationierten Soldaten hatten ihren Einsatz in Deutschland beendet und waren nach Amerika zurückgekehrt. In den Häuserblocks, in denen nun die Flüchtlinge untergebracht waren, hatten bisher die Soldaten mit ihren Familien gelebt.

Zu Shadis großer Erleichterung, war der Empfang in dem Erstaufnahmelager sehr herzlich gewesen. Man hatte sie gleich mit einer warmen Mahlzeit und ausreichend Getränken versorgt. Bevor die Formalitäten geregelt wurden, bekamen die Mütter die Möglichkeit, ihre Kinder mit frischen Windeln zu versehen. Shadi war überrascht, wie perfekt organisiert hier alles zuging. Sogar an einen Dolmetscher hatten die Deutschen gedacht, so dass es keine Sprachprobleme gab. Trotzdem widerstrebte es Shadi, auf die Hilfe des Übersetzers angewiesen zu sein. Er nahm sich vor, so schnell wie möglich, Deutsch zu lernen. Nun standen aber zunächst andere Dinge im Vordergrund. Bei der Aufnahme seiner Personalien musste Shadi erzählen, warum er Syrien verlassen hatte und ob er plante dorthin zurückzugehen, wenn sich die Lage dort beruhigt hätte. Shadi gestand sich ein, dass er sich darüber bisher noch gar keine Gedanken gemacht hatte und so zuckte er bei dieser Frage nur mit den Schultern.

Außer dem Übersetzer war noch eine freundliche Frau anwesend, die mit Shadi gemeinsam unzählige Papiere ausfüllte. Nun machten sich bei ihm die Strapazen der Flucht bemerkbar. Er fühlte sich müde und sein Kopf begann zu schmerzen. Dies machte es ihm schwer sich zu konzentrieren, aber er gab sein Bestes, all die Fragen nach bestem Wissen zu beantworten.

 

 

Nachdem Shadi sich eine Weile auf seinem Bett ausgeruht hatte, begann er die wenigen Habseligkeiten, die er auf seiner Flucht bei sich geführt hatte, in die Fächer des Schrankes einzuräumen, die man ihm zugewiesen hatte. Dann schnappte er sich ein frisches Shirt und eine Hose und ging in Richtung des einzigen Badezimmers, welches sich in der Wohnung befand. Allerdings war er wohl nicht der Einzige, der sich nach einer Dusche sehnte, denn vor der geschlossenen Tür warteten bereits drei seiner Mitbewohner. Außer mit Ahmed hatte er bisher noch keinerlei Kontakt zu den anderen Flüchtlingen, die mit ihm in der Wohnung untergebracht waren. Sie alle waren froh gewesen, als die ersten Formalitäten erledigt waren und man ihnen ihre Unterkunft für die nächsten Wochen zugewiesen hatte.

„Hallo. Ich bin Shadi. Ich glaube ich habe euch schon im Bus gesehen“, stellte er sich vor.

Die anderen nickten ihm wohlwollend zu und erwiderten seinen Gruß der Reihe nach.

Während sie darauf warteten, dass sich die Badezimmertür öffnete, unterhielten sie sich eine Weile. Es stellte sich heraus, dass sie alle dasselbe Schicksal teilten. Auch Shadis Mitbewohner hatten bei den andauernden Bombenangriffen ihr Zuhause verloren und hofften nun darauf, in Deutschland in Sicherheit zu sein und sich hier ein neues Leben aufbauen zu können. Im Gegensatz zu Shadi und Ahmed waren sie allerdings verheiratet, hatten aber Frauen und Kinder zunächst in Syrien zurückgelassen, da niemand wusste, ob sie es bei ihrer Flucht auch tatsächlich bis nach Deutschland schafften. Nun hofften sie darauf, ihre Familien so schnell wie möglich nachholen zu können.

Shadis Gedanken wanderten zu Samira. Für ein paar Stunden hatte er sie vor lauter Aufregung fast vergessen. Dass er nicht wusste, wo sie sich aufhielt, machte ihn fast wahnsinnig. Sobald er hier alles geregelt hatte, würde er zurück nach Syrien reisen und nach ihr suchen.

 

„Ich kann es noch gar nicht glauben, dass wir es tatsächlich bis nach Deutschland geschafft haben“, sagte Ahmed zu Shadi, als dieser von seiner ausgiebigen Dusche zurück in sein Zimmer kam.

Shadi nickte. „Mir geht es genauso. Bis wir die deutsche Grenze passiert haben, dachte ich eigentlich immer die ganze Zeit über, dass wir angehalten werden und unsere Flucht damit gescheitert ist.“

„Meinst du, dass es passieren könnte, dass die Deutschen uns wieder zurückschicken?“ Ahmed blickte nachdenklich aus dem Fenster.

Shadi bekam eine Gänsehaut. Dieser Gedanke war ihm bisher noch gar nicht gekommen.

„Aber nein! Die wissen doch, dass in unserem Land der Krieg tobt und wir in Syrien alles verloren haben.“ Shadi warf Ahmed einen eindringlichen Blick zu.

„Ich habe aber gehört, dass nicht jeder in Deutschland Asyl bekommt“, beharrte Ahmed.

Anstelle einer Antwort, stopfte Shadi seine schmutzigen Kleidungsstücke in eine Plastiktüte. Er hatte keine Ahnung, ob es hier im Lager die Möglichkeit gab, schmutzige Wäsche zu waschen. Überhaupt gab es so vieles was er noch nicht wusste. Am Abend würde es noch eine Versammlung geben, wo man die Neuankömmlinge mit den wichtigsten Regeln vertraut machen wollte. Zuerst aber sollten die Flüchtlinge die Möglichkeit bekommen, sich frisch zu machen und ein paar Stunden zu schlafen.

„Du antwortest ja gar nicht.“ Ahmed warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.

Shadi ließ sich rückwärts auf sein Bett fallen. „Ich habe die letzten Monate nicht einen einzigen Tag verbracht, ohne mir Sorgen um meine Zukunft zu machen. Ich habe meine Heimat verlassen, weil ich mich in Sicherheit bringen wollte und ich möchte nicht in Deutschland ankommen und mir sofort wieder Sorgen machen müssen. Wir werden sehen, was die Zukunft bringt.“

Ahmed nickte. „Ja, wahrscheinlich hast du Recht.“ Er machte es sich ebenfalls auf seinem Bett bequem. Nachdem sie sich noch eine Weile unterhalten hatten, fielen beide in einen unruhigen Schlaf. Als Shadi wieder zu sich kam, dämmerte es draußen bereits. Mit einem Sprung verließ er sein Bett. Ein Blick auf seine Armbanduhr verriet ihm, dass in einer halben Stunde bereits die Informationsveranstaltung begann. Ahmed schlief immer noch. Shadi zögerte einen kurzen Moment, bevor er seinen Mitbewohner vorsichtig an der Schulter rüttelte. Ahmed stieß einen schrillen Schrei aus und war sofort auf den Beinen. „Was ist los? Bombenalarm? Ist es wieder soweit?“, stammelte er panisch.

„Beruhige dich. Alles ist gut. Wir sind doch in Sicherheit“, versuchte Shadi ihn zu beruhigen, obwohl er selbst erschrocken war, in Anbetracht der heftigen Reaktion Ahmeds. Sein Herz pochte so stark, als ob es ihm aus der Brust springen wollte.

„Entschuldige bitte. Meine Nerven liegen einfach blank.“ Ahmed ließ sich wieder auf sein Bett fallen.

Shadi winkte ab. „Schon okay. Du musst dich dafür nicht entschuldigen. Ich wollte dich nur wecken, weil wir uns doch gleich alle in dem großen Gemeinschaftsraum treffen.“

„Das hatte ich fast vergessen“. Seufzend verließ Ahmend wieder seinen Bettplatz und fischte ein paar frische Kleidungsstücke aus seiner Hälfte des Schranks. Damit verschwand er in Richtung Badezimmer. Offensichtlich hatte der Andrang dort mittlerweile nachgelassen, denn es waren höchstens zehn Minuten vergangen, bis er wieder in das Zimmer zurückkehrte. Shadi hatte sich in der Zwischenzeit in der Küche auf die Suche nach etwas Trinkbarem gemacht, aber in dem Kühlschrank herrschte gähnende Leere. Kurzentschlossen holte er sich ein Glas aus einem der Schränke und befüllte es mit Leitungswasser. Während das kühle Nass sich einen Weg durch seine Kehle suchte, spürte Shadi, wie durstig er eigentlich war. Während der stundenlangen Busfahrt, hatte der Fahrer lediglich zweimal, jeweils einen Becher Wasser an jeden der Flüchtlinge verteilt.

„Ein bisschen Schlaf und eine Dusche und ich fühle mich wie neugeboren“, strahlte Ahmed.

„Ich fühle mich auch schon etwas besser. Aber jetzt bin ich aufgeregt. Ich bin gespannt, was man uns nun mitzuteilen hat“, rätselte Shadi und fuhr sich nervös durch seine dichten schwarzen Haare.

 

 

Der Gemeinschaftsraum des Erstaufnahmelagers war nicht wirklich geräumig. Er bot ungefähr für dreißig Menschen Platz, wenn jeder einen Sitzplatz bekommen sollte. Heute warteten mehr als doppelt so viele Menschen darauf, dass sie nun erfahren würden, wie es um ihre Zukunft bestellt war.

Shadi war einer der Glücklichen, der noch einen Sitzplatz ergattern konnte. Diejenigen, die nicht rechtzeitig gekommen waren, lehnten sich entweder an die Wand oder hockten ganz einfach auf dem Fußboden. Dies war dort wo sie herkamen völlig normal. Ärmere Familien besaßen meist gar keine Stühle. Zu den Mahlzeiten wurde einfach ein Tuch auf dem Boden ausgebreitet, auf dem dann die Speisen platziert wurden und die Familie hockte sich im Schneidersitz außen herum. Manche benutzten auch eine Art Sitzkissen, um nicht auf dem harten und oft auch kalten Boden sitzen zu müssen.

Nach ein paar Minuten ging die Tür des Raumes auf und zwei Frauen, gefolgt von einem Mann, kamen herein. Die Frauen stellten sich als Mitarbeiterinnen der Stadt vor, die für einen reibungslosen Ablauf im Erstaufnahmelager verantwortlich waren. Ihr männlicher Begleiter war derselbe Dolmetscher, der auch schon am Vormittag bei den Aufnahmeformalitäten geholfen hatte.

Nach knapp zwei Stunden, war die Versammlung beendet und Shadi dröhnte der Kopf. Es waren so viele Informationen geflossen und er hatte das Gefühl, dass er sich noch nicht einmal die Hälfte davon merken konnte. Immerhin wusste er nun aber, dass er das Gelände nicht einfach verlassen durfte. Er musste sich vorher im Büro abmelden und bei seiner Rückkehr auch wieder anmelden. Für ihre täglichen Lebensmittel, mussten die Flüchtlinge auch selbst sorgen. Zu diesem Zweck bekam jeder am nächsten Tag, zunächst einen Vorschuss in Höhe von 100 Euro ausgehändigt, um sich vorläufig mit dem Notwendigsten einzudecken.

Zu Shadis großer Erleichterung gab es auch einen Waschraum. Dort standen mehrere Waschmaschinen. Um sie in Betrieb zu nehmen benötigte man einen Jeton. Jeder der im Lager lebte, bekam einen Jeton pro Woche. Shadi hatte allerdings keine Ahnung, wie man so eine Maschine bediente. Früher hatte das immer seine Mutter und später die Tante für ihn erledigt. Es würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als sich von einer der älteren Frauen, helfen zu lassen.

Außerdem würde in den nächsten Tagen noch ein Arzt vorbeikommen und bei allen Neuankömmlingen einen Gesundheitscheck durchführen. Shadi war froh darüber. In Syrien war die ärztliche Versorgung nur noch notfallmäßig abgedeckt, da viele Arztpraxen und Krankenhäuser zerstört waren und in den wenigen die es noch gab, wurden vorwiegend die verletzten Kriegskämpfer versorgt. Aus diesem Grund hatte Shadi schon seit Monaten keinen Arzt mehr zu Gesicht bekommen, obwohl er ständig Kopfschmerzen hatte. Vielleicht konnte der Arzt ihm ein paar Tabletten geben.

Man hatte ihnen erklärt, dass sie zunächst für vier bis sechs Wochen hier untergebracht wären. Anschließend würden sie auf unterschiedliche Asylantenheime aufgeteilt werden, wo sie solange bleiben mussten, bis sie eine Aufenthaltserlaubnis für Deutschland bekommen würden. Erst dann durften sie sich eine Arbeitsstelle und eine Privatwohnung suchen.