Shadow and Ember – Eine Liebe im Schatten - Jennifer L. Armentrout - E-Book
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Shadow and Ember – Eine Liebe im Schatten E-Book

Jennifer L. Armentrout

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Beschreibung

Seraphena Mierel ist die erstgeborene Tochter des Königs von Lasania. Doch in ihrem Fall bedeutet das nicht, dass sie auch die Thronerbin ist, denn ihr Schicksal stand schon lange vor ihrer Geburt fest: Sie würde Nyktos, Primar des Todes heiraten, als Gegenleistung für einen Pakt, den ihre Vorfahren einst geschlossen hatten. Seras Aufgabe könnte nicht eindeutiger sein: Bring den Primar dazu, sich in dich zu verlieben. Töte ihn. Rette Lasania. Doch als Sera den geheimnisvollen Ash kennenlernt, gerät ihre Entschlossenheit ins Wanken. Wird sie es schaffen, ihre Pflicht zu erfüllen und ihr Königreich über ihre Gefühle zu stellen?

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Seitenzahl: 1008

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DASBUCH

Durch den Schleier hindurch sah ich Königin Calliphe lächeln. Zumindest vollführten ihre Lippen die dazugehörige Bewegung. Sie hatte mich noch nie angelächelt, zumindest nicht so, wie sie meine Stiefgeschwister und ihren Mann anlächelte. Denn obwohl sie mich neun Monate unter ihrem Herzen getragen und zur Welt gebracht hatte, gehörte ich niemals ihr. Ich war nie die Prinzessin des Volkes von Lasania gewesen. Ich hatte von Beginn an dem Primar des Todes gehört …

Das Königreich Lasania leidet unter der Fäulnis, die Pflanzen verdorren und die Ernte verrotten lässt. Schon seit Jahrzehnten schreitet der Verfall unaufhaltsam voran, zwingt die Bauern in die Knie und verurteilt die Bürger zum Hungertod. Erst wenn der Primar des Todes umgebracht wird, hat die Fäulnis ein Ende, so besagt es eine alte Prophezeiung. Und so ist der Lebensweg der Prinzessin Seraphena Mierel seit der Stunde ihrer Geburt vorgezeichnet: Heirate den Primar. Töte den Primar. Rette das Königreich. Ausgebildet sowohl in der Kunst der Verführung als auch in der des Tötens setzt Sera alles daran, ihr Schicksal zu erfüllen und das Elend in ihrer Heimat zu beenden, doch dann lernt sie auf einem ihrer nächtlichen Streifzüge den geheimnisvollen Ash kennen. Ash bringt eine Seite in Sera zum klingen, von der sie bisher nicht einmal wusste, dass sie existiert. Schon bald muss sich Sera eingestehen, dass sie mehr für diesen bildschönen Fremden empfindet als sie sollte. Doch darf eine Prinzessin ihren Gefühlen nachgeben, wenn ein ganzes Königreich auf dem Spiel steht?

DIEAUTORIN

Jennifer L. Armentrout ist eine der erfolgreichsten Autorinnen der USA. Immer wieder stürmt sie mit ihren Romanen – fantastische, realistische und romantische Geschichten für Erwachsene und Jugendliche – die Bestsellerlisten. Ihre Zeit verbringt sie mit Schreiben, Sport und Zombie-Filmen. In Deutschland hat sie sich mit ihrer Wicked-Saga und der Blood and Ash-Reihe eine riesige Fangemeinde erobert. Crown and Bones, der dritte Band der Blood and Ash-Reihe stand auf Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und zwei Hunden in West Virginia.

JENNIFER L.

ARMENTROUT

SHADOW

AND

EMBER

EINELIEBEIMSCHATTEN

ROMAN

Aus dem Amerikanischen übersetzt

von Sonja Rebernik-Heidegger

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe

A SHADOWINTHEEMBER

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Deutsche Erstausgabe 11/2022

Redaktion: Catherine Beck

Copyright © 2021 by Jennifer L. Armentrout

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe

und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DASILLUSTRAT, München,

unter Verwendung des Originalentwurfs von Hang Le

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-29479-3V002

www.heyne.de

Für meine Leserinnen und Leser

Prolog

»DUWIRSTUNSHEUTE nicht enttäuschen, Sera.« Die Stimme drang aus dem Schatten der Kammer. »Du wirst das Volk von Lasania nicht enttäuschen.«

»Nein.« Ich verschränkte meine zitternden Hände, atmete tief ein und hielt den Atem an, während ich mich in dem an die Wand gelehnten Spiegel betrachtete. Es gab keinen Grund, nervös zu sein. Ich ließ die Luft langsam entweichen. »Ich werde euch nicht enttäuschen.«

Ich nahm einen weiteren, tiefen und bedächtigen Atemzug und erkannte die Person, die mir aus dem Spiegel entgegenstarrte, kaum wieder. Selbst in dem schwach flackernden Licht der zahlreichen Kerzenständer, die in der kleinen Kammer verteilt waren, wirkte meine Haut so rosig, dass die Sommersprossen auf meinen Wangen und der Nase kaum zu erkennen waren. Manche hätten wohl behauptet, dass ich strahlte, aber dafür war das Grün meiner Augen zu hell und fiebrig.

Nachdem mein Herz immer noch wie verrückt klopfte, hielt ich erneut den Atem an, wie Sir Holland es mir für Gelegenheiten beigebracht hatte, in denen ich keine Luft mehr bekam und das, was um mich herum oder mit mir passierte, nicht mehr steuern konnte.

Atme langsam und gleichmäßig ein. Halte den Atem an, bis sich dein Herzschlag verlangsamt. Dann atme langsam aus und warte, bevor du erneut Luft holst.

Es klappte nicht so gut wie sonst.

Man hatte meine blassblonden Haare so lange gebürstet, bis die Kopfhaut brannte, und sie prickelte noch immer. Die eine Hälfte der Haare war hochgesteckt, die andere fiel in dicken Locken über meinen Rücken. Die Haut am Hals und den Schultern war ebenfalls gerötet, was vermutlich dem duftenden Badewasser zu verdanken war, in dem ich stundenlang gehockt hatte. Vielleicht fiel mir das Atmen deshalb so schwer. Das Wasser war so stark parfümiert gewesen, dass ich roch, als hätte man mich in Jasminblüten und Fenchel ertränkt.

Ich rührte mich nicht und nahm erneut einen langen, tiefen Atemzug. Nach dem Bad hatte man mich beinahe zu Tode getrimmt und gestriegelt. Haare wurden gezupft und gewachst, und nur der Balsam, mit dem meine Arme und Beine – und auch alles andere dazwischen – behandelt worden waren, hatte das Brennen erträglich gemacht. Ich hielt erneut den Atem an und widerstand dem Drang, den Blick nach unten wandern zu lassen. Ich wusste auch so, was ich sehen würde – nämlich … na ja … fast alles.

Mein Kleid – wenn man es so nennen konnte – bestand aus reinstem Chiffon. Die Ärmel waren nur wenige Zentimeter lang und reichten gerade ein Stück über meine Oberarme, und der dünne, elfenbeinfarbige Stoff war lose um meinen Körper gewickelt und drapiert und endete knapp über dem Boden. Ich hasste das Kleid, das Bad und das Zurechtmachen danach, auch wenn ich verstand, wozu es gut war.

Ich sollte verführen.

Mein Gegenüber in den Bann ziehen.

Röcke raschelten, und ich ließ die Luft langsam entweichen. Kurz darauf erschien das Gesicht meiner Mutter im Spiegel. Wir sahen uns überhaupt nicht ähnlich. Ich kam nach meinem Vater. Das wusste ich, weil ich mir das einzige Bild, das noch von ihm übrig war und das meine Mutter in ihren Gemächern versteckt hielt, oft genug angesehen hatte. Er hatte ebenfalls Sommersprossen gehabt und das Kinn genauso eigensinnig nach vorne gestreckt wie ich. Und ich hatte die gleichen leicht schräg stehenden grünen Augen.

Die dunkelbraunen Augen meiner Mutter ruhten einen Moment lang auf meinem Spiegelbild, dann ging sie langsam um mich herum, und ihre Krone aus goldenen Blättern schimmerte im Kerzenlicht. Sie musterte mich eingehend, als suchte sie nach einem Haar, das nicht an Ort und Stelle war. Nach einem Makel oder einem Anzeichen, dass ich mich nicht in die perfekte Braut verwandelt hatte.

In den Preis, dessen Zahlung zweihundert Jahre vor meiner Geburt beschlossen worden war.

Meine Kehle wurde immer trockener, doch ich traute mich nicht, um einen Schluck Wasser zu bitten. Meine Lippen waren mit blassrosa Farbe bemalt, die ihnen einen taufrischen Schimmer verlieh, und meine Mutter wäre äußerst ungehalten geworden, hätte ich sie verwischt.

Ich betrachtete ihr Gesicht, während sie die Ärmel meines Kleides zurechtzupfte. Die dünnen Falten um ihre Augen schienen tiefer als am Vortag, die Lippen waren aufeinandergepresst. Wie immer war ihr Gesichtsausdruck unmöglich zu deuten, und ich war mir nicht sicher, wonach ich überhaupt suchte. Traurigkeit? Erleichterung? Liebe? Das Geräusch der zarten goldenen Kettchen, die aneinanderschlugen, ließ mein Herz noch schneller schlagen.

Ich erhaschte einen Blick auf den weißen Schleier, der ihr überreicht wurde, und ich musste an den weißen Wolf denken, den ich vor vielen Jahren beim Steinesammeln am See gesehen hatte. Seiner überwältigenden Größe nach zu schließen, war es einer der Kiyou-Wölfe gewesen, die manchmal durch die dunklen Ulmenwälder um Burg Wayfair streiften, die aber selten jemand zu Gesicht bekam. Ich hatte dem Tier tief in die Augen gesehen, voller Angst, dass es mich in Stücke reißen würde, doch der Wolf hatte lediglich einen Blick auf die Steine geworfen, die ich wie ein dummes kleines Kind an die Brust gedrückt hatte, und war verschwunden.

Meine Mutter ließ den Schleier der Auserwählten über meinen Kopf gleiten, und der hauchdünne Stoff fiel über meine Schultern und meinen Rücken. Von meinem Gesicht waren nur noch die Lippen und das Kinn zu sehen, und ich konnte kaum etwas erkennen, während sie die zarten Kettchen schloss, die den Schleier an seinem Platz hielten. Er war nicht annähernd so dick wie der Schleier, den ich normalerweise trug, wenn ich unter Leute ging, und den ich nur in Gegenwart meiner engsten Familie und Sir Hollands abnahm, und er bedeckte auch nicht mein ganzes Gesicht.

»Du magst keine Auserwählte sein, aber du wurdest unter dem Schleier der Götter geboren. Eine Jungfräuliche, wie die Schicksalsgeister es versprochen haben. Und du wirst dieses Königreich verlassen, gleichermaßen berührt vom Leben und vom Tod«, hatte meine alte Kinderfrau Odetta einmal gesagt.

Wobei ich heute erneut wie eine Auserwählte aussah – wie jene drittgeborenen Söhne und Töchter, die unter einem Schleier geboren wurden und dazu bestimmt waren, am Hof des Primars des Lebens zu dienen. Ich hatte den Schleier mein ganzes Leben lang getragen, und obwohl ich wie die Auserwählten unter einem Schleier geboren und in vielerlei Hinsicht wie sie behandelt worden war, war ich gleichzeitig die Jungfräuliche. Das Schicksal, das nach ihrem Aufstiegsritual auf die Auserwählten wartete, war die größte Ehre, die Sterblichen zuteilwerden konnte. Im ganzen Land fanden am Abend des Rituals Feste statt, um das Übertreten der Auserwählten ins Iliseeum zu feiern, wo sie den Primaren und Göttern dienen würden. Mein Schicksal war hingegen das bestgehütete Geheimnis in ganz Lasania. Es gab keine Freudenfeste und kein Festessen. Heute Nacht, am Abend meines siebzehnten Geburtstages, würde mich der Primar des Todes zur Gemahlin nehmen.

Meine Kehle zog sich zusammen. Warum hatte ich solche Angst? Ich war bereit dafür. Ich war bereit, den Pakt zu erfüllen. Ich war bereit, das zu tun, wofür ich geboren worden war. Ich hatte keine andere Wahl.

Ich fragte mich, ob die Auserwählten am Abend des Rituals ebenfalls nervös waren. Das war anzunehmen. Wer wäre in Gegenwart eines Gottes nicht nervös geworden? Ganz zu schweigen von den Primaren, die so mächtig und von fundamentaler Bedeutung für jeden Aspekt unserer Existenz waren? Vielleicht freuten sie sich aber auch darauf, ihr Schicksal zu erfüllen. Ich hatte gesehen, wie sie gelächelt und gelacht hatten, auch wenn man nur die untere Hälfte ihrer Gesichter sehen konnte. Offenbar waren sie begierig darauf gewesen, ein neues Kapitel ihres Lebens aufzuschlagen.

Ich lächelte nicht. Und lachen konnte ich ebenso wenig.

Einatmen. Luft anhalten. Ausatmen. Warten.

Meine Mutter beugte sich zu mir. »Du bist bereit, Prinzessin Seraphena.«

Seraphena. Es kam selten vor, dass mich jemand mit vollem Namen ansprach, und ich hatte ihn noch nie in Verbindung mit meinem offiziellen Titel gehört. Es war, als hätte jemand einen Hebel umgelegt. Von einem Moment auf den anderen beruhigte sich mein pochendes Herz, und der Druck auf meiner Brust ließ nach. Meine Hände zitterten nicht mehr. »Ja, das bin ich.«

Durch den Schleier hindurch sah ich Königin Calliphe lächeln. Zumindest vollführten ihre Lippen die dazugehörige Bewegung. Sie hatte mich noch nie angelächelt, zumindest nicht so, wie sie meine Stiefgeschwister und ihren Mann anlächelte. Denn obwohl sie mich neun Monate unter ihrem Herzen getragen und zur Welt gebracht hatte, gehörte ich niemals ihr. Ich war nie die Prinzessin des Volkes von Lasania gewesen.

Ich hatte von Beginn an dem Primar des Todes gehört.

Sie betrachtete mich ein letztes Mal und wischte mir eine verirrte Locke von der Schulter, dann verließ sie die Kammer ohne ein weiteres Wort. Die Tür fiel klickend ins Schloss, und plötzlich waren meine Sinne, die ich über die Jahre herausgebildet hatte, zum Zerreißen gespannt.

Die Stille in der Kammer dauerte nur wenige Wimpernschläge. »Schwesterchen«, erklang eine Stimme. »Du scheinst so unbeweglich wie die Steingötter im Garten.«

Schwesterchen? Ich verzog mit kaum verhohlener Abscheu das Gesicht. Er war nicht mein Bruder. Wir waren weder bluts- noch seelenverwandt, auch wenn er der Sohn des Mannes war, den meine Mutter kurz nach dem Tod meines Vaters geheiratet hatte. Er trug keinen Tropfen Mierel-Blut in sich, aber nachdem das Volk von Lasania nichts von meiner Existenz wusste, war er ihr Thronfolger. Schon bald würde er zum König ernannt werden, und ich war mir sicher, dass Lasania ab diesem Moment in eine weitere Krise schlittern würde – selbst wenn ich meinen Teil des Paktes bis dahin erfüllt haben sollte.

Als Thronfolger war er einer der wenigen, die die Wahrheit über König Roderick – den ersten König der Mierel-Dynastie und meinen Vorfahren – kannten. König Rodericks verzweifelter Versuch, sein Volk zu retten, hatte nicht nur mein Schicksal besiegelt, sondern auch die zukünftigen Generationen ebendieses Volkes verdammt.

»Dabei musst du doch nervös sein.« Tavius war näher getreten. »Prinzessin Kayleigh ist es jedenfalls. Sie hat Angst vor der Hochzeitsnacht.«

Ich entspannte meine verkrampften Finger und betrachtete ihn schweigend.

»Ich habe ihr versprochen, sanft zu sein.« Tavius trat ins Blickfeld. Mit seinen hellbraunen Haaren und den blauen Augen galt er gemeinhin als gut aussehend, und vermutlich hatte ihn auch die Prinzessin von Irelone bei ihrem ersten Treffen so wahrgenommen und gedacht, dass sie großes Glück mit ihm hatte. Ich bezweifelte, dass sie das immer noch so sah.

Tavius umkreiste mich wie einer der großen, silbernen Falken, die ich oft über den dunklen Ulmenwäldern sah.

»Ich glaube kaum, dass er dir Ähnliches versprechen wird.« Trotz des Schleiers sah ich sein höhnisches Grinsen. Ich spürte, wie sein Blick mich durchdrang. »Du weißt ja, was man über ihn sagt. Über den Grund, warum er auf keinem einzigen Bild zu sehen ist und seine Statuen ohne Gesicht bleiben.« Er senkte die Stimme, und sie triefte vor falschem Mitleid. »Er soll abscheulich sein. Die Haut von denselben Schuppen bedeckt wie die der Untiere, die ihn bewachen. Ganz zu schweigen von den Fangzähnen. Du bist sicher außer dir vor Angst vor dem, was dir bevorsteht.«

Ich war mir nicht sicher, ob der Primar des Todes tatsächlich Schuppen besaß oder nicht, aber alle Götter und Primare hatten lange, scharfe Fangzähne, die mühelos Haut und Fleisch durchstießen.

»Glaubst du, dass der verbotene Kuss dir unglaubliche Lust bereiten wird, wie manche behaupten?«, höhnte er. »Oder wirst du schrecklichen Schmerz erfahren, wenn er seine Zähne in deine unberührte Haut schlägt?« Seine Stimme klang belegt. »Vermutlich Letzteres.«

Ich hasste ihn mehr als das Kleid, das ich trug.

Er strich um mich herum und klopfte mir mit dem Finger ans Kinn. Meine Haut kribbelte, doch ich rührte mich nicht. »Andererseits wurdest du dafür ausgebildet, es bis zum Ende durchzuziehen, nicht wahr? Du bringst ihn dazu, sich in dich zu verlieben, wirst zu seiner größten Schwäche – und zu seinem Niedergang.« Er hielt erneut vor mir an. »Andererseits weiß ich von der Zeit, die du unter der Obhut der Herrinnen des Jadesteins verbracht hast. Also bist du vielleicht gar nicht nervös«, fuhr er fort. »Vielleicht kannst du es kaum erwarten, ihm zu dienen …«

Er streckte eine Hand nach mir aus, doch ich packte ihn am Handgelenk und grub die Finger in das sehnige Fleisch. Ein Zucken durchfuhr ihn, und er fluchte laut. »Wenn du mich anfasst, breche ich dir sämtliche Knochen«, warnte ich. »Und dann sorge ich dafür, dass die Prinzessin keine Angst mehr vor eurer Hochzeitsnacht haben muss. Und vor jeder anderen Nacht, die sie an deiner Seite ertragen muss.«

Tavius spannte den Arm und starrte böse auf mich herab. »Du hast ja keine Ahnung, was für ein unglaubliches Glück du hast«, knurrte er.

»Nein, Tavius.« Ich schubste ihn von mir. Eine kleine Erinnerung daran, dass meine Ausbildung nicht nur aus der Zeit bei den Herrinnen bestanden hatte. Er geriet ins Taumeln, fand jedoch das Gleichgewicht wieder, bevor er gegen den Spiegel knallte. »Du bist derjenige, der Glück hat.«

Seine Nasenflügel bebten. Er massierte sich das Handgelenk und betrachtete mich schweigend, während ich erneut regungslos vor ihm stand. Er wusste, dass ich recht hatte. Ich konnte ihm das Genick brechen, noch ehe er die Hand gegen mich erheben konnte, um sich zu verteidigen. Aufgrund meiner Bestimmung war ich besser ausgebildet als die meisten königlichen Wächter, die ihn beschützten. Trotzdem war er arrogant und erfolgsverwöhnt genug, um etwas zu versuchen.

Ich hoffte es sogar.

Tavius machte einen Schritt auf mich zu, und ich verzog die Lippen zu einem Lächeln.

Ein Klopfen an der Tür hielt ihn davon ab, sein mit Sicherheit unglaublich dämliches Vorhaben in die Tat umzusetzen. Er senkte die Hände und bellte: »Was?«

Die nervöse Stimme der Gesellschaftsdame meiner Mutter drang durch die Tür. »Die Priester erwarten seine baldige Ankunft.«

Tavius lächelte gekünstelt, als er an mir vorbeitrat. »Es wird Zeit, dass du dich endlich nützlich machst.«

Er öffnete die Tür und ließ sich Zeit mit dem Abgang, denn er wusste, dass ich vor Lady Kala nichts erwidern würde. Sie erzählte alles brühwarm meiner Mutter, die – aus unerfindlichem Grund, den wohl nicht einmal die Götter verstanden – etwas für Tavius empfand. Als wäre er derartige Gefühle wert gewesen. Ich wartete, bis er in den dunklen, verwinkelten Fluren des Schattentempels verschwunden war. Der Tempel befand sich am Rande des Gartenviertels, am Fuße der Klippen des Kummers, und die Flure waren so zahlreich wie die Tunnel darunter, die alle Tempel Carsodoniens – der Hauptstadt von Lasania – mit Burg Wayfair verbanden.

Ich dachte an die Sterbliche namens Sotoria, nach der die Klippen benannt worden waren. Der Legende nach hatte sie am Rand der Klippen Blumen gepflückt, als ein Gott sie derart erschreckte, dass sie in die Tiefe stürzte.

Vielleicht war jetzt nicht der geeignete Zeitpunkt, um sich daran zu erinnern.

Ich hob den beinahe durchsichtigen Rock meines Kleides, wandte mich um und tappte barfuß über den kalten Boden.

Lady Kala war nur als Schatten im Flur zu erkennen, aber ich sah dennoch, wie sie eilig den Kopf abwandte. »Kommt«, sagte sie und machte sich auf den Weg, ehe sie erneut innehielt. »Könnt Ihr durch den Schleier überhaupt etwas erkennen?«

»Kaum«, gab ich zu.

Sie streckte den Arm nach hinten und hakte sich bei mir ein. Die unerwartete Berührung ließ mich zusammenzucken, und plötzlich war ich dankbar für den Schleier. Wie die anderen Auserwählten durfte auch ich nur zum Zwecke der Vorbereitungen berührt werden. Es sprach Bände, dass Lady Kala mich berührte.

Sie führte mich durch die verwinkelten, endlosen Flure mit unzähligen geschlossenen Türen und flammenden Wandleuchtern. Ich befürchtete bereits, sie hätte sich verlaufen, als ich zwei schweigende, in Schwarz gekleidete Gestalten vor einer Doppelflügeltür entdeckte.

Schattenpriester.

Sie nahmen ihr Schweigegelübde derart ernst, dass sie sich die Münder zugenäht hatten. Ich fragte mich immer, wie sie aßen und tranken. Welche Methode sie auch benutzten, sie schien nicht allzu gut zu funktionieren, wenn man sich die schemenhaften, eingesunkenen Körper unter den schwarzen Umhängen ansah.

Ich unterdrückte ein Schaudern, als die Priester die Tür öffneten und den Blick auf eine große, runde Kammer preisgaben, die von Hunderten von Kerzen erhellt wurde. Ein dritter Schattenpriester erschien wie aus dem Nichts und nahm Lady Kalas Platz ein. Seine knochigen Finger berührten zwar nicht meine Haut, aber ich spürte sie in der Mitte meines Rückens. Die Berührung widerstrebte mir, und ich wäre gern zurückgewichen, doch ich wusste, dass ich die Kälte der Finger, die durch den dünnen Stoff drang, hinnehmen musste. Ich zwang mich, ruhig weiterzuatmen, und richtete den Blick auf die Ätzungen in den ansonsten glatten Steinen. Der von einer Linie durchbrochene Kreis fand sich auf jeder Steinfliese wieder. Ich hatte das Symbol noch nie zuvor gesehen und war mir nicht sicher, was es bedeutete. Ich hob den Kopf und sah nach vorne zu dem breiten Podium. Der Priester geleitete mich den Mittelgang entlang, und der Druck auf meiner Brust wurde stärker. Ich versuchte die leeren Bankreihen nicht zu beachten. Wäre ich tatsächlich eine Auserwählte gewesen, wären sie mit den ranghöchsten Adligen gefüllt gewesen, und draußen auf den Straßen hätte das Volk gejubelt. Die Stille im Raum ließ einen kalten Schauer über meinen Rücken laufen.

Es hatte bis jetzt immer nur einen Thron gegeben, doch heute Abend standen zwei Thronstühle auf dem Podium.

Sie bestanden wie der Tempel selbst aus Schattenstein, einem nachtschwarzen, sagenhaft schönen Material, das poliert jedes noch so zarte Licht spiegelte und als geschliffene Klinge Fleisch und Knochen durchstieß. Die Thronstühle glänzten prachtvoll und absorbierten das Kerzenlicht, sodass es aussah, als loderte ein dunkles Feuer in ihnen. Die Rückenlehnen hatten die Form einer Mondsichel. Genau wie das Muttermal auf meinem linken Schulterblatt. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass mein Leben bereits vor meiner Geburt nicht mir selbst gehört hatte.

Der Priester führte mich zur Treppe und half mir nach oben, und ich wünschte, ich hätte vorhin doch um einen Schluck Wasser gebeten. Er geleitete mich zum zweiten Thron, ließ mich Platz nehmen und verschwand.

Ich legte meine Hände auf die Armlehnen und ließ den Blick über die Bankreihen schweifen. Niemand war gekommen. Das Volk hatte keine Ahnung, dass sein Leben und das Leben seiner Kinder vom heutigen Abend abhing. Von dem, was ich zu tun hatte. Wenn jemals jemand herausfand, dass Roderick Mierel – der als der Goldene König in die Geschichte eingegangen war – nicht Tag und Nacht mit seinen Leuten auf den Feldern zugebracht hatte, um die durch den Krieg verbrannte Erde abzuschaben, bis sauberer, fruchtbarer Boden zum Vorschein kam … dass er nicht Seite an Seite mit seinen Untertanen neue Pflanzen gesät und das Königreich nicht durch sein Blut, seinen Schweiß und seine Tränen wiederaufgebaut hatte … Wenn jemals jemand herausfand, dass die Lieder und Gedichte über ihn reinste Erfindung waren, würde mit Sicherheit auch der letzte Rest der Mierel-Dynastie in sich zusammenfallen.

Die Türen wurden geschlossen, und mein Blick huschte zum hinteren Teil des Raumes, wo ich den schattenhaften Umriss meiner Mutter im Kerzenschein erkennen konnte. Neben ihr standen Tavius und König Ernald, und auch meine Stiefschwester Ezmeria – kurz Ezra – war gekommen. Ich musste ihr Gesicht nicht sehen, um zu wissen, dass sie das alles hier von Grund auf verabscheute. Sir Holland war nicht da. Ich hätte mich gern von ihm verabschiedet, auch wenn ich nicht davon ausgegangen war, dass er kommen würde. Seine Anwesenheit hätte zu viele Fragen unter den Schattenpriestern zur Folge gehabt.

Und viel zu viel preisgegeben.

Wie zum Beispiel, dass ich nicht der Inbegriff königlicher Reinheit war, sondern vielmehr ein als Opferlamm verkleideter Wolf.

Ich würde nicht nur den Pakt erfüllen, den König Roderick getroffen hatte. Ich würde ihm ein Ende setzen, bevor es mein Königreich zugrunde richtete.

Die Entschlossenheit bescherte mir ein warmes Gefühl in der Brust wie jedes Mal, wenn ich meine Gabe einsetzte. Das hier war meine Bestimmung. Der Sinn meines Lebens. Was ich zu tun hatte, war größer als ich. Ich tat es für Lasania.

Also saß ich da, die Knöchel sittsam unter dem Rock gekreuzt, die Hände auf den Armlehnen, und wartete.

Und wartete.

Und wartete.

Aus Sekunden wurden Minuten, und langsam stieg Unbehagen in mir hoch. Die Priester hatten ihn in seinen Tempel gerufen. Sollte er nicht schon längst hier sein?

Meine Handflächen wurden feucht, und der Druck auf meiner Brust immer stärker. Was, wenn er nicht kam?

Aber warum sollte er nicht kommen?

Es war immerhin sein Pakt.

Als König Roderick in seiner Verzweiflung bereit gewesen war, alles zu tun, um sein vom Krieg zerstörtes Land zu retten und dem hungernden Volk zu helfen, das bereits so viele Verluste erlitten hatte, war er vermutlich davon ausgegangen, dass einer der niedrigeren Götter seine Gebete erhören würde – zumindest war das bei anderen passiert, die unverfroren genug gewesen waren, einen Gott anzurufen. Doch dem Goldenen König erschien niemand Geringerer als ein Primargott. Und nachdem er König Rodericks Bitte erfüllt hatte, verlangte der Primar des Todes als Gegenleistung die erstgeborene Tochter der Mierel-Blutlinie als Gemahlin.

Der Primar musste kommen.

Aber was, wenn nicht? Mein Herz pochte, und meine Finger umklammerten den kühlen Stein des Thronstuhls.

Einatmen. Luft anhalten. Ausatmen. Warten.

Wenn er nicht erschien, war alles verloren. Alles, was er König Roderick zugestanden hatte, würde zunichtegemacht. Wenn er mich nicht holte, und ich meine Pflicht nicht erfüllen konnte, würde ich das Königreich zu einem langsamen Tod in den Klauen der Fäulnis verdammen.

Es hatte zur Zeit meiner Geburt begonnen. Zuerst war nur ein kleiner Fleck in einem Obstgarten betroffen. Unreife Äpfel fielen von den Bäumen, die langsam all ihre Blätter verloren. Die Wurzeln der Bäume starben ab, und der Boden unter ihnen färbte sich grau. Mit der Zeit breitete sich die Fäulnis über den ganzen Obstgarten aus, und mittlerweile hatte sie mehrere Farmen dahingerafft. Keine Pflanze konnte in der von der Fäulnis verseuchten Erde wachsen und überleben.

Und es war nicht nur das Land. Auch das Wetter veränderte sich. Die Sommer wurden heißer und trockener, die Winter kälter und unberechenbarer.

Das Volk von Lasania hatte keine Ahnung, dass die Fäulnis in Wahrheit eine tickende Uhr war, die das Ende des Paktes einläutete, den der Goldene König getroffen hatte. Eine Uhr, die am Tag meiner Geburt zu ticken begonnen hatte. Es war gut möglich, dass dem Goldenen König nicht klar gewesen war, dass der Handel irgendwann auslaufen würde, ganz egal, was geschah. Dieses Wissen erschloss sich erst in den Jahrzehnten nach dem Abschluss. Wenn ich versagte, würde das Königreich …

Es begann mit einem tiefen Rumpeln, als würden in weiter Ferne Kutschen und Wägen über die Kopfsteinpflasterstraßen Carsodoniens holpern. Doch das Dröhnen wurde immer lauter, bis ich es in dem Thron spürte, auf dem ich saß – und in meinen Knochen.

Das Dröhnen verstummte, und sämtliche Kerzen im Raum erloschen, sodass er in tiefste Dunkelheit gehüllt war. Ein nach Erde duftender Windstoß fuhr in den Schleier vor meinem Gesicht und unter den Saum meines Kleides.

Eine Kerze begann Funken sprühend zu brennen, und im nächsten Moment breitete sich das Licht wie eine Welle über den ganzen Raum aus, und die Flammen streckten sich in Richtung Giebeldecke. Ich starrte den Mittelgang hinab, wo sich die Luft offenbar geteilt hatte und ein knisterndes weißes Licht leuchtete.

Nebel sickerte aus dem Spalt und breitete sich über den Steinboden in Richtung der Bankreihen aus. Ich bekam eine Gänsehaut.

Dieser Nebel war eine Form der urtümlichsten Magie. Man nannte ihn Äther, und er hatte nicht nur das Königreich der Sterblichen und das Iliseeum erschaffen, sondern floss auch durch die Adern der Götter und verlieh selbst den weniger mächtigen, unbekannteren unglaubliche Stärke.

Ich blinzelte, und im nächsten Augenblick stand ein Mann in einem Kapuzenmantel vor mir, umgeben von sich rankenden, dunklen Schwaden, die von leuchtenden silbernen Fäden durchzogen wurden. Ich verbat mir, daran zu denken, was Tavius vorhin gesagt hatte. Stattdessen versuchte ich, durch die rauchigen Schatten hindurch etwas zu erkennen. Ich sah nur, dass er unglaublich groß war. Selbst von meinem Platz auf dem Podium aus hätte er mich überragt, und ich war keinesfalls klein, sondern beinahe so groß wie Tavius. Andererseits war er ein Primar, und in den Geschichten über sie stand, dass diese Götter Riesen gleichkamen.

Er schien breite Schultern zu haben – zumindest hielt ich die dunklen Schatten für seine Schultern, ehe sie die Form von Flügeln annahmen. Er neigte den von der Kapuze verborgenen Kopf, und einen Moment lang vergaß ich meine Atemübungen.

Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen, doch ich spürte seinen intensiven Blick. Er drang bis tief in mein Inneres, und einen kurzen, angsterfüllten Moment lang befürchtete ich, dass er wusste, dass ich die letzten siebzehn Jahre nicht nur mit der Ausbildung zur perfekten Gemahlin verbracht hatte. Dass meine Erziehung sehr viel mehr umfasste und die Demut und Unterwürfigkeit nichts anderes waren als ein weiterer Schleier.

Mein Herz setzte einen Moment lang aus. Ich saß hier tatsächlich auf dem Thron der Gemahlin des Herrschers der Schattenwelt, einem der Herrscherhöfe im Iliseeum. Im Angesicht des Primars des Todes hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben Angst.

Die Primare konnten die Gedanken der Sterblichen nicht lesen – und im Hinterkopf, wo sich der Rest meiner Intelligenz versteckte, wusste ich das auch. Es gab keinen Grund, warum er glauben sollte, ich wäre etwas anderes, als ich zu sein vorgab. Selbst wenn er mich über die Jahre im Auge behalten oder Spione nach Lasania geschickt hatte, waren meine Identität, mein Erbe und meine Abstammung ein wohlbehütetes Geheimnis. Niemand wusste, dass es überhaupt eine Prinzessin der Mierel-Dynastie gab. Alles, was ich getan hatte, war im Verborgenen geschehen – von meinem Training mit Sir Holland angefangen bis hin zu der Zeit mit den Herrinnen des Jadesteins.

Er konnte unmöglich wissen, dass unser Volk in den zweihundert Jahren bis zu meiner Geburt das Wissen erlangt hatte, wie ein Primar getötet werden konnte.

Die Antwort war Liebe.

Sie war die eine, fatale Schwäche der Primare und machte sie verwundbar genug, um sie töten zu können.

Bring ihn dazu, sich in dich zu verlieben, werde zu seiner größten Schwäche – und zu seinem Untergang.

Das war meine Bestimmung.

Ich gewann die Kontrolle über mein pochendes Herz wieder und dachte an die Stunden mit meiner Mutter, in denen ich gelernt hatte, was von der Gemahlin eines Primars erwartet wurde. Wie ich mich bewegen, sprechen und mich in seiner Gegenwart verhalten musste. Wie ich zu all dem wurde, was er begehrte. Ich war bereit – selbst wenn er von Kopf bis Fuß in die Schuppen der geflügelten Untiere gehüllt sein sollte, die seinesgleichen bewachten.

Meine Finger entspannten sich, mein Atem ging langsamer, und ich formte die Lippen zu einem schüchternen, unschuldigen Lächeln. Ich erhob mich und stand vor ihm im Kerzenschein, auch wenn ich meine Beine nicht spürte. Ich verschränkte die Hände lose vor dem Bauch, wie meine Mutter es mir aufgetragen hatte. So blieb nichts vor ihm verborgen, als ich mich langsam auf die Knie sinken ließ, wie es sich in Gegenwart eines Primars gehörte.

Ein Luftzug war die einzige Vorwarnung, dass sich der Primar bewegt hatte.

Ich wollte überrascht nach Luft schnappen, doch der Schreck saß so tief, dass es mir den Atem verschlug. Er stand mit einem Mal vor mir, nur wenige Zentimeter entfernt. Wirbelndes Licht tanzte durch die Luft, die mich umgab. Er fühlte sich kalt an, wie die Winter im Norden und Osten, denen die Winter in Lasania inzwischen Jahr für Jahr ähnlicher wurden.

Ich war mir nicht sicher, ob ich überhaupt atmete, als ich den Blick hob und in die Leere starrte, die sich anstelle eines Gesichts auftat. Der Primar des Todes rückte näher, und eine dunkle Nebelschwade berührte meinen nackten Arm. Ich schnappte nach Luft, als die Kälte mich traf. Er neigte den Kopf nach unten, und mein ganzer Körper spannte sich an. In Anwesenheit eines Raubtiers waren abrupte Bewegungen tödlich.

»Du«, sagte er, und seine Stimme bestand aus Rauch und Schatten und allem, was einen Sterblichen erwartete, nachdem er seinen letzten Atemzug getan hatte. »Ich brauche keine Gemahlin.«

Ich zuckte zusammen und hauchte: »Was meint Ihr damit?«

Der Primar glitt ein Stück zurück, und die Schatten gingen mit ihm. Er schüttelte den Kopf.

Verwirrt trat ich auf ihn zu. »Was meint Ihr …?«, flüsterte ich noch einmal, doch ein neuerlicher Windstoß unterbrach mich.

Dieses Mal kam er von hinten, löschte alle Kerzen und tauchte den Raum erneut in Finsternis. Das Rumpeln war schwächer als zuvor, doch ich wagte nicht, mich zu bewegen, nachdem ich keine Ahnung hatte, wo er war. Ich war mir nicht einmal sicher, wie weit entfernt die Kante des Podiums war. Der erdige Geruch verschwand, dann begannen die Kerzen schwach zu leuchten.

Der Primar stand nicht mehr vor mir.

Zarte Nebelschwaden zogen über die mittlerweile verschlossene Öffnung im Mittelgang.

Er war fort.

Der Primar des Todes war gegangen. Er hatte mich nicht mitgenommen, und in einem tief verborgenen Teil meines Herzens spürte ich Erleichterung, die allerdings sofort wieder verschwand. Er hatte den Pakt nicht erfüllt.

»Was … was ist passiert?« Die Stimme meiner Mutter drang in meine Ohren, und als ich aufsah, stand sie direkt vor mir. »Was ist los?«

»Ich … ich weiß es nicht.« Angst machte sich in mir breit, und ich schlang die Arme um meine Mitte, bevor ich mich an meine Mutter wandte. »Ich verstehe das nicht.«

Ihre Augen waren aufgerissen, und ich sah denselben Sturm in ihnen, der auch in mir tobte. »Hat er etwas zu dir gesagt?«, hauchte sie.

»Er meinte …« Ich schluckte, doch meine Kehle zog sich zusammen. Mein Blick verschwamm. Ganz egal, wie viele Atemübungen ich praktizierte, sie konnten nichts gegen den Schrecken ausrichten, der in mir hochstieg. »Ich verstehe das nicht. Ich habe doch alles …«

Das Brennen der Ohrfeige, die mir meine Mutter versetzte, kam so unerwartet, dass ich mich nicht darauf vorbereiten konnte. Ich presste eine zitternde Hand auf meine Wange und stand wie versteinert vor ihr. Unfähig zu verstehen, was passiert war – und was noch immer passierte.

Sie riss die dunklen Augen noch weiter auf, und ihre Haut war leichenblass. »Was hast du getan?« Sie presste sich die Hand auf die Brust. »Was hast du getan, Sera?«

Ich hatte gar nichts getan. Nur das, was man mir beigebracht hatte. Aber das konnte ich ihr nicht sagen. Ich konnte ihr gar nichts sagen. Ich fand keine Worte, während etwas in mir zerbrach und verdorrte.

»Du«, zischte meine Mutter, und obwohl ihre Stimme weder Rauch noch Schatten war, klang sie genauso endgültig. Ihre Augen funkelten. »Du hast versagt. Und nun ist alles verloren.«

1

Drei Jahre später …

Der Gesandte der Vodina-Inseln stolzierte durch die große Halle von Burg Wayfair auf uns zu, und die Absätze seiner polierten Stiefel klapperten im Gleichklang mit dem lautlosen Tippen meiner Finger auf meinem Oberschenkel. Er war auf raue Art gut aussehend. Die Haut sonnengebräunt, die Arme muskelbepackt vom jahrelangen Gebrauch des schweren Schwerts an seiner Hüfte. Das Grinsen auf Lord Claus’ Gesicht, die arrogante, leicht schräg gestellte Haltung seines blonden Kopfes und der Jutesack, den er mit sich trug, verrieten mir vorab, wie dieses Treffen ablaufen würde, doch keiner der Anwesenden rührte sich oder gab auch nur einen Ton von sich.

Nicht einmal die königlichen Wächter, die in einer akkuraten Reihe vor dem Podium Aufstellung bezogen hatten und ihre feinsten Gardeuniformen trugen. Sie sahen lächerlich aus. Aufgeblähte Puffärmel mit goldenen Fransen, pflaumenfarbene Wamse und die dazu passenden Pluderhosen, dazu Mäntel mit breitem Revers und dicke Beinkleider, viel zu warm für den heißen Sommer in Carsodonien und im Gegensatz zu den einfachen Tuniken und Hosen der rangniedrigeren Wächter und Soldaten ohne viel Bewegungsfreiheit. Es war deutlich zu sehen, dass sie ihre Uniformen als privilegierte Mitglieder des Hofes trugen und nicht im Kampf mit den Schwertern verdient hatten, die in mit Knochen und Steinen verzierten Scheiden an ihren Hüften hingen.

Die Königin und der König von Lasania saßen auf ihren mit Diamanten und Zitrinen besetzten Thronstühlen auf dem Podium und warteten regungslos auf das Vortreten des Lords. Die goldenen Blätter ihrer Kronen glänzten im Kerzenschein, und während der Blick meines Stiefvaters fieberhafte Hoffnung erahnen ließ, blieb jener meiner Mutter vollkommen undeutbar. Der Erbe des Königreiches stand kerzengerade neben dem König und schien halb schlafend, halb verärgert über die Notwendigkeit seiner Anwesenheit. Tavius hätte seinen Abend wohl viel lieber mit mindestens drei Krügen Bier im Leib zwischen den Beinen einer Frau verbracht.

Königin Calliphe brach das angespannte Schweigen, und ihre kalte Stimme durchdrang die warme, vom Rosenduft geschwängerte Luft. »Ich hätte nicht erwartet, dass ausgerechnet Ihr mit der Antwort auf die Frage unseres Beraters an Eure Hoheiten vor uns tretet.« Ihr Ton war unmissverständlich. Die Anwesenheit des Lords war eine Beleidigung. Er gehörte nicht zum Adel. Genauso unmissverständlich war seine Reaktion. Es kümmerte ihn nicht im Geringsten. »Sprecht Ihr im Namen Eures Königs und Eurer Königin?«

Lord Claus hielt einige Schritte vor den königlichen Wächtern und sah nach oben, ohne zu blinzeln. Er antwortete nicht, während sein Blick über das Podium und zu den zwischen Säulen verborgenen Mauernischen wanderte. Neben mir versteifte sich Sir Holland, ein Ritter der königlichen Wache. Er schloss die Finger fester um den Griff seines Schwertes, als der Blick des Lords über mich hinwegwanderte und im nächsten Augenblick zurücksprang.

Ich hielt seinem Blick stand, was mir nachher sicher einen Tadel einbringen würde, aber es wussten nur eine Handvoll Leute im ganzen Königreich, dass ich die letzte Nachkommin der Mierel-Dynastie und damit eine Prinzessin war. Und noch weniger hatten Kenntnis davon, dass ich als Jungfräuliche dem Primar des Todes versprochen gewesen war. Der selbstgefällige Lord vor mir hatte keine Ahnung, dass er nur hier stand, weil ich versagt und Lasania nicht gerettet hatte.

Obwohl ich im Schatten stand, war Lord Claus’ musternder Blick wie die Berührung schweißnasser Hände, die an meinen Armen und dem Ausschnitt meines Korsetts innehielten, bevor er mir in die Augen sah. Seine Lippen kräuselten sich, und er warf mir einen Kuss zu.

Ich hob eine Augenbraue.

Sein Grinsen verschwand.

Als Königin Calliphe bemerkte, worauf seine Aufmerksamkeit gefallen war, versteifte sie sich. »Sprecht Ihr im Namen Eures Königs und Eurer Königin?«, wiederholte sie.

»Ja«, erwiderte Lord Claus und wandte sich wieder dem Podium zu.

»Und habt Ihr eine Antwort für uns?«, fragte die Königin, während sich ein rostroter Fleck auf dem Boden des Jutesackes ausbreitete. »Akzeptiert Eure Krone unsere Treue im Austausch gegen Eure Hilfe?«

Zwei Jahresvorräte Korn, kaum genug, um die Verluste an die Fäulnis auszugleichen.

»Hier habt Ihr Eure Antwort.« Lord Claus warf den Sack vor das Podium.

Er kam mit einem seltsam dumpfen, feuchten Schlag auf dem Marmorboden auf, und etwas Rundes rollte hervor und hinterließ eine rote, schmierige Spur. Braune Haare. Ein leichenblasses Gesicht. Ausgefranste Haut. Durchtrennter Knochen.

Der Kopf von Lord Sarros, dem Berater der Königin und des Königs von Lasania, landete vor dem Stiefel eines königlichen Wächters.

»Gute Götter«, japste Tavius und trat einen Schritt zurück.

»Das ist die Antwort auf Euer beschissenes Treueangebot.« Lord Claus legte die Hand auf sein Schwert.

»Hm«, murmelte Sir Holland, während mehrere königliche Wächter ebenfalls nach ihren Waffen griffen. »Das hätte ich nicht erwartet.«

Ich wandte den Kopf zu ihm herum und glaubte, morbide Belustigung in seinem tiefbraunen Gesicht zu erkennen.

»Haltet ein«, befahl König Ernald und hob die Hand. Die königlichen Wächter erstarrten.

»Das allerdings schon«, murmelte Sir Holland.

Ich presste die Lippen aufeinander, um nicht laut aufzulachen, und konzentrierte mich auf meine Mutter. Sie saß mit durchgedrücktem Rücken und hoch erhobenem Kopf da, und es war keine Gefühlsregung in ihrem Gesicht auszumachen. »Ein einfaches Nein hätte auch gereicht«, erklärte sie.

»Aber hätte es auch dieselbe Wirkung erzielt?«, erwiderte Lord Claus, und das Grinsen kehrte zurück. »Die Treue eines scheiternden Königreiches ist nicht eine Tagesration Korn wert.« Er wich noch weiter zurück. »Aber wenn Ihr das heiße Ding dort auf den Tisch legt, bin ich vielleicht bereit, noch einmal ein gutes Wort für Euch einzulegen.«

Der König umklammerte die Armlehnen seines Throns so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten, während Königin Calliphe antwortete. »Meine Zofe ist nicht Teil des Angebotes.«

Genau wie meine Mutter vorhin zeigte ich keine Reaktion. Ich war eine Zofe. Eine Dienerin. Keine Tochter.

»Was für ein Jammer.« Lord Claus stieg die Stufen zum Eingang der großen Halle empor. Er legte eine Hand auf sein Schwert, und seine formvollendete Verbeugung war ebenso als blanker Hohn zu verstehen wie die Worte, die über seine wohlgeformten Lippen kamen. »Mögen die Primare Euch ihren Segen erweisen.«

Schweigen schlug ihm entgegen, während er auf dem Absatz kehrtmachte und aus der großen Halle schritt. Sein Gelächter drang in die Halle, genauso erstickend süß wie der Duft der Rosen.

Königin Calliphe beugte sich nach vorne und blickte in die Mauernische. Unsere Blicke trafen sich, und eine seltsame Mischung verschiedenster Gefühle brach über mich herein. Liebe. Hoffnung. Verzweiflung. Wut. Ich konnte mich nicht erinnern, wann sie mich zum letzten Mal angesehen hatte, und dass sie es ausgerechnet jetzt tat, ließ die in mir schwelende Angst hochkochen. »Zeig ihm, was für ein heißes Ding du bist«, befahl sie, und Sir Holland fluchte leise. »Zeig es allen Lords der Vodina-Inseln.«

Der Kummer, der in mir hochstieg, schnürte mir die Kehle zu und raubte mir beinahe den Atem, aber ich unterdrückte das Gefühl, bevor es sich festsetzen und selbstständig machen konnte. Ich schaltete sämtliche Regungen aus, während ich langsam und bedächtig ausatmete. Wie schon unzählige Male zuvor breitete sich eine Leere in mir aus, die bis in meine Muskeln und Knochen drang. Ich hieß sie willkommen und ließ zu, dass sie sich ausbreitete, bis nichts mehr von mir übrig war. Bis ich den armen, verloren Seelen glich, die durch die Ulmenwälder streiften. Ein leeres Gefäß, das mit neuem Sinn gefüllt werden konnte. Es fühlte sich an wie früher, wenn ich den Schleier der Auserwählten übergestülpt hatte.

Ich nickte und wandte mich wortlos ab.

»Du hättest sie ihm einfach geben sollen«, meinte Tavius. »Dann wäre sie vielleicht endlich einmal zu etwas nütze gewesen.«

Ich ignorierte den bissigen Kommentar des Prinzen, und mein Rock wogte um die Absätze meiner Stiefel, während ich eiligen Schrittes die große Halle verließ.

Im Flur war es beinahe unheimlich still. Ich griff nach oben und zog mir die Kapuze über den Kopf, die an mein Kleid genäht war. Es war mehr der Gewohnheit geschuldet als irgendeinem anderen Grund. Die meisten, die auf Burg Wayfair arbeiteten, kannten mich lediglich als Zofe der Königin. Dem Volk außerhalb der Burg war mein Gesicht ebenso wenig bekannt wie früher, als ich noch den Schleier getragen hatte.

Ich ging an den großen, malvenfarbenen Bannern an den Wänden vorbei, die sanft im warmen Wind tanzten, der durch die geöffneten Fenster drang. In der Mitte befand sich jeweils das goldene königliche Wappen.

Eine Krone aus goldenen Blättern, die von einem Schwert durchstoßen wurde.

Das Wappen sollte Stärke und Führungskraft symbolisieren, doch in meinen Augen sah es eher so aus, als steckte ein Schwert im Kopf des Königs. Und ich war sicher nicht die Einzige, die so empfand.

Ich marschierte an den königlichen Wächtern vorbei, die vor der Tür zu der dem Stroud-Meer zugewandten Mauer Aufstellung bezogen hatten, hinter der vermutlich das Schiff wartete, das unseren Gast zurück zu den Vodina-Inseln bringen würde. Ich ließ die Stallungen hinter mir, überquerte den Burghof und schlüpfte durch ein schmales, kaum benutztes Tor, das auf einen verwaisten Pfad führte, der die Felsen über dem unteren Viertel der Stadt durchschnitt. Hier standen die Lagerhäuser und Unterkünfte der Hafenarbeiter und Seeleute dicht an dicht.

Ich stieg im Mondlicht den steilen Pfad hinab und entdeckte bald das gedrungene, kantige Schiff, dessen dunkelrote Segel das Wappen der Vodina-Inseln trugen.

Eine vierköpfige Schlange.

Bei den Göttern, ich hasste Schlangen. Egal, ob mit einem Kopf oder vieren.

Bevor er auf tragische Weise seinen Kopf verloren hatte, hatte Lord Sarros uns berichtet, dass Lord Claus mit drei weiteren Lords gereist war.

Die salzige Meeresluft legte sich wie ein feuchter Mantel über mich, als ich in eine der Gassen zwischen den dunklen, verlassenen Gebäuden schlüpfte. Die Sohlen meiner Schuhe glitten lautlos über die aufgebrochenen Steine. Ich schlich zur Ecke eines Hauses, das dem Schiff genau gegenüberlag, und mein Rock bauschte sich um meine Beine. Dank des jahrelangen Trainings mit Sir Holland waren meine Schritte lautlos und meine Bewegungen präzise. Meine Fähigkeit, mich ohne das geringste Geräusch fortzubewegen, war einer der Gründe, warum einige ältere Dienstboten mich nicht für eine Sterbliche aus Fleisch und Blut hielten, sondern für eine Art Geist. Und manchmal fühlte ich mich tatsächlich, als wäre ich nicht mehr als ein Schemen, der keine richtige Gestalt hatte.

Heute Nacht zum Beispiel.

Ein paar Meter von der Anlegestelle entfernt hielt ich schließlich an und wartete. Seeleute und Arbeiter eilten an dem Eingang der Gasse vorüber, einige bereits beträchtlich schwankend. Meine Hand glitt durch einen Schlitz in meinem Kleid, und meine Finger schlossen sich um den Griff meines Dolches, den ich am Oberschenkel trug. Das Eisen wärmte sich unter meiner Hand und wurde zu einem Teil von mir. Von der Klinge ragte nur ein kleiner Teil aus der Scheide, und ich ließ den Finger darübergleiten. Klingen aus Schattenstein waren in der Welt der Sterblichen äußerst selten.

Weiter die Straße hinunter öffnete sich eine Tür. Raues Gelächter erklang, gefolgt von schrillem Gekicher. Ich starrte geradeaus und stand regungslos im Schatten, während ich an meine Mutter dachte. An meine Familie. Vermutlich waren sie inzwischen in den Bankettsaal übersiedelt, wo sie gemeinsam aßen, sich unterhielten und so taten, als hätte der Lord der Vodina-Inseln ihnen nicht gerade den Kopf ihres Beraters vor die Füße geworfen. Als wäre das nicht ein weiteres Zeichen dafür, dass ihr Königreich kurz vor dem Niedergang stand. Ich hatte noch kein einziges Mal mit ihnen gegessen. Nicht einmal vor der Nacht meines Versagens. Früher hatte es mir nichts ausgemacht. Zumindest die meiste Zeit über, denn ich war die Auserwählte gewesen. Ich hatte eine Bestimmung zu erfüllen gehabt.

Ich brauche keine Gemahlin.

Die Zeit danach war schwer gewesen. Und an meinem achtzehnten Geburtstag hatte man mir erneut den Schleier übergestülpt, mich in das durchsichtige Kleid gesteckt und in den Schattentempel gebracht, wo die Priester den Primar des Todes anriefen.

Doch er war nicht gekommen.

Genauso wenig wie an meinem neunzehnten Geburtstag. Danach war alles nur noch schwerer geworden, bis ich vor sechs Monaten schließlich zwanzig geworden war und mich zum dritten Mal mitsamt des verdammten Schleiers und des verdammten Kleides auf dem Thron wiedergefunden hatte. Sie riefen ihn erneut, doch er kam auch dieses Mal nicht – und das änderte alles. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine Ahnung gehabt, wie hart mein Leben tatsächlich werden konnte.

Vor meinem siebzehnten Geburtstag hatte man mir das Frühstück, ein karges Mittagessen und das Abendessen auf mein Zimmer gebracht, doch danach waren immer wieder Mahlzeiten ausgefallen und die Portionen kleiner geworden. Mittlerweile kam niemand mehr. Ich musste in der kurzen Zeit, in der es noch brauchbares Essen gab, selbst in die Küche und mir etwas suchen. Aber das war nicht das Problem. Genauso wenig wie das Fehlen anderer alltäglicher Bedarfsgegenstände und eines Ersatzes meiner abgetragenen Kleider. Viele Leute in Lasania hatten noch weniger. Das Schlimmste war, dass meine Mutter in den letzten drei Jahren kaum ein Wort mit mir gesprochen hatte. Die meiste Zeit sah sie mich nicht einmal an – mit Ausnahme solcher Abende wie heute, wenn sie wollte, dass ich jemandem eine Lektion erteilte. Oft vergingen Wochen, ohne dass ich sie zu Gesicht bekam, und obwohl sie immer schon zurückhaltend gewesen war, hatte ich dennoch Zeit mit ihr verbracht. Sie hatte den Trainingsfortschritt kontrolliert und manchmal sogar mit mir zu Mittag gegessen. Und dann war da auch noch Tavius, der ganz genau wusste, dass sein Verhalten mir gegenüber kaum bis gar keine Konsequenzen nach sich ziehen würde. Die Stunden, wenn ich nicht mit Sir Holland trainierte – der immer noch glaubte, der Primar würde mich holen, weil ich nie jemandem erzählt hatte, was der Gott zu mir gesagt hatte, nicht einmal meiner Stiefschwester Ezra – und allein in meinem Zimmer saß, waren lang und vergingen quälend langsam.

Aber heute hatte sie mich angesehen. Sie hatte mit mir gesprochen. Und das hier war das, was sie wollte.

Bittere Galle stieg in mir hoch, als eine vertraute Gestalt am Eingang der Gasse erschien. Ich erkannte den Schnitt der dunkelroten Tunika und das blonde Haar im Mondlicht.

Mein Herz klopfte langsam und beständig, als ich die Kapuze tiefer ins Gesicht zog und aus dem Schatten ins Licht trat. »Lord Claus«, rief ich.

Er hielt inne und drehte sich um. Er neigte den Kopf, und ich wusste nicht, ob ich Erleichterung, Schmerz oder gar nichts empfand.

»Zofe?«

»Ja.«

»Verdammt«, meinte er gedehnt und trat in die Gasse. »Hat das Miststück von Königin ihre Meinung geändert?« Er kam ohne Eile und von sich selbst überzeugt näher. »Oder habe ich dir etwa gefallen?« Er rückte seine Tunika zurecht. »Und du bist freiwillig hier?«

Ich wartete, bis er nur noch wenige Schritte von mir und weit genug vom Eingang der Gasse entfernt war. Obwohl es in diesem Teil Carsodoniens ohnehin niemanden kümmerte, wenn irgendwo Schreie erklangen. »So etwas in der Art.«

»So etwas in der Art?« Er stieß einen Pfiff aus, während sein Blick über meine Brüste wanderte, die aus dem hauchdünnen Korsett quollen. »Ich wette, du weißt jede Menge über so etwas in der Art, nicht wahr?«

Ich war mir nicht sicher, was er meinte, und es war mir auch egal. »Eure Antwort hat der Königin sehr missfallen.«

»Ja, das kann ich mir vorstellen.« Er lachte leise und kehlig, dann verstummte er und sah mir endlich ins Gesicht. »Ich hoffe, du hast nicht den ganzen Weg hierher zurückgelegt und auf mich gewartet, um mir das zu sagen.«

»Nein. Ich bin hier, um Euch eine Nachricht zu überbringen.«

»Und wo hast du die Nachricht versteckt?«, fragte Lord Claus und steckte die Hand in den seitlichen Schlitz meines Kleides. »Ich wette, sie ist herrlich warm und …« Er zerrte an dem dünnen Stoff, und der Dolch an meinem Oberschenkel blitzte auf.

»Die Nachricht ist weder eng noch feucht, oder was Euch sonst Derbes einfällt.« Ich zog den Dolch.

Seine Augen wurden groß. »Das ist ein Witz, oder?«

»Witzig ist hier nur, dass Ihr dachtet, Ihr würdet diese Nacht überleben.« Ich machte eine kurze Pause. »Und dass Ihr so bereitwillig in die Falle getappt seid.«

Wut vertrieb das Entsetzen, und er verzog das mit roten Flecken übersäte Gesicht. Männer und ihre Egos. Sie waren so einfach zu manipulieren.

Lord Claus holte, wie erwartet, mit der fleischigen Faust aus, doch ich duckte mich darunter hindurch und stand kurz darauf hinter ihm. Ich trat ihm in den Rücken, und er stolperte grunzend nach vorne, fing sich und zog sein Schwert. Er schwang es im Kreis, sodass ich einen Schritt zurückweichen musste. Das war der Vorteil einer längeren Klinge. Ein Schwert zwang den Gegner, Abstand zu halten und sein Leben zu riskieren, um dir nahe zu kommen. Aber es war schwerer, und es gab nur wenige, die elegant damit umgehen konnten.

Lord Claus gehörte nicht dazu.

Und ich ebenso wenig.

»Weißt du, was ich jetzt tun werde?«

»Lasst mich raten. Etwas Widerwärtiges mit Eurem Schwanz und anschließend mit Eurem Schwert.«

Er zuckte zusammen.

»Wusste ich’s doch.«

Er griff an, und ich stürzte geduckt auf ihn zu, sprang und versenkte meinen Stiefel in seinem Bauch. Der Aufprall ließ ihn einen Schritt zurücktaumeln, doch er fand das Gleichgewicht schnell wieder und holte mit dem Ellbogen aus, der mich erwischt hätte, hätte ich mich nicht erneut geduckt. Er wirbelte herum und schwang sein Schwert, während ich mich nach links drehte. Die Klinge traf die Wand, und Steine spritzten. Ich wandte mich um und packte seinen Arm.

Er riss das Schwert aus der Mauer, während ich mich erneut drehte und mit meinem Ellbogen auf die Stelle zielte, an der ich sein Gesicht vermutete. Lord Claus fluchte, als sein Kopf nach hinten geschleudert wurde, dann fuhr er zu mir herum. Blut rann aus seiner Nase. Er stürzte auf mich zu, doch dann wich er nach rechts aus und hob das Schwert.

Ich sprang nach vorne, packte ihn an den Haaren und riss seinen Kopf zurück. Er verlor das Gleichgewicht und ging zu Boden. Es gab einen guten Grund, warum meine Haare zu einem Zopf geflochten waren und unter einer Kapuze steckten.

Ich packte den Arm mit dem Schwert und ließ den Ellbogen auf das Handgelenk knallen, während ich seine Beine unter ihm wegtrat. Er keuchte und ließ das Schwert los.

Einatmen.

Es fiel mit einem dumpfen Krachen zu Boden, und ich holte mit meinem Schattensteindolch aus. Die Klinge war schmal und leicht, aber beidseitig geschliffen. Atem anhalten. Die Leere in meinem Kopf bekam Risse, und die Schwere in meinem Herzen raubte mir den Atem. Ich bin ein Ungeheuer, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf.

»Du dämliche Fo…«

Ausatmen. Ich zwang mich weiterzumachen und riss den Kopf hoch, während ich den Dolch niederfahren ließ. Das Messer drang in seinen Nacken und durch seine Wirbelsäule, sodass die Nervenbahnen ins Gehirn durchtrennt wurden.

Lord Claus zuckte noch ein letztes Mal, dann war es vorbei. Er gab keinen Laut mehr von sich. Diese innere Form der Enthauptung ging schnell, war weniger grausam und beinahe schmerzfrei.

Zitternd stieß ich die Luft aus, zog den Dolch heraus und legte den leblosen Kopf sanft auf den Boden.

Ich erhob mich, wischte das Messer an meinem Kleid sauber und steckte es weg. Als ich mich abwandte, fiel mein Blick auf Claus’ Schwert. Meine Hände wurden warm, und meine Gabe drängte an die Oberfläche. Ich ballte die Hände zu Fäusten und zwang sie zurück. Dann stieg ich über den Lord hinweg, nahm sein Schwert und machte mich daran, die Nachricht zu vollenden und meine Mutter stolz zu machen.

Als ich von dem vor Anker liegenden Schiff sprang, galten meine Gedanken nur noch meinem See, der tief in den Ulmenwäldern verborgen lag.

Meine Haut klebte, als ich das Tau des Schiffes durchtrennte. Die Strömung im Stroud-Meer war stark, und schon kurze Zeit später trieb es davon. Es würde Tage oder vielleicht Wochen dauern, aber irgendwann würden die Lords der Vodina-Inseln nach Hause zurückfinden.

Auch wenn ihnen einige wichtige Teile fehlten.

Ich trat von dem funkelnden Wasser zurück und atmete tief durch. Ich roch nach Blut und dem Rauch einer onyxfarbenen Pflanze, die auf den Vodina-Inseln beheimatet war und zu Pulver gemahlen als Rauschmittel namens Weißes Pferd von Händlern aufs Festland gebracht wurde. Die Lords hatten sich gerade dem Genuss des süchtig machenden Pulvers hingegeben, und vermutlich war der Rauch der Grund für die dumpfen Kopfschmerzen, die mich plagten. Die Kopfschmerzen hatten im letzten Jahr begonnen und suchten mich seitdem mit wachsender Häufigkeit heim. Langsam fragte ich mich, ob ich dasselbe Leiden hatte wie meine Mutter, die sich oft Stunden oder sogar Tage in ihre Gemächer zurückzog. Es schien nur passend, dass Leid und Schmerz zu den wenigen Dingen gehörten, die wir gemeinsam hatten.

Zumindest verbarg der dunkle Stoff meines Kleides die schlimmsten Spuren meiner abendlichen Beschäftigung, und die roten Striemen auf meinen Armen und Händen trockneten langsam. Ich warf einen letzten Blick auf das forttreibende Schiff und hatte Mitleid mit der Person, die es als Nächstes betreten würde.

Ein heiserer Schrei erklang, gefolgt von einem tiefen Stöhnen und einem kehligen Lachen. Ich sah zu einem der benachbarten Schiffe, wo im schwachen Licht der Straßenlaternen zwei Gestalten an der Reling standen. Die erste hatte sich über die Reling gebeugt, während sich die andere von hinten an sie drückte. Ihren Bewegungen nach waren sie sich so nahe, wie zwei Leute es nur sein konnten.

Mein Blick huschte zu mehreren Gestalten, die an der Mauer eines Schuppens auf der anderen Straßenseite lehnten. Ich war nicht die Einzige, die das Paar auf dem Schiff beobachtete.

Bei den Göttern.

In vielen Teilen Carsodoniens wären die Leute entsetzt über deren Verhalten gewesen, doch hier im unteren Viertel durfte sich jeder so unanständig benehmen, wie er wollte, und auch an anderen Orten waren derartige Ausschweifungen gern gesehen.

Mein Mundwinkel zuckte, doch das Grinsen verging schnell, als sich ein bitterer, brennender Schmerz in meiner Brust breitmachte. Die Leere brach auf, und ich sah angewidert hinunter auf das getrocknete Blut auf meinen Armen. Ich musste nicht zum See. Tatsächlich musste ich jetzt, da ich dem Wunsch meiner Mutter nachgekommen war, überhaupt nichts mehr tun. Ich war beinahe … frei. Das war einer der Vorteile, wenn man versagt hatte. Ich wurde nicht mehr eingesperrt, und es war mir nicht mehr verboten, mich außerhalb von Burg Wayfair und den Ulmenwäldern zu bewegen. Ein weiterer Vorteil war, dass meine Reinheit kein kostbarer Schatz mehr war, der zum Gesamtpaket der unschuldigen Verführerin gehörte. Das Grinsen kehrte wieder. Niemand außer mir wusste, dass der Primar des Todes mich nicht holen würde. Es hatte also keinen Grund gegeben, etwas zu bewahren, das ohnehin nicht wertgeschätzt wurde.

Mein Blick huschte zurück zu dem Paar auf dem Schiff. Der hintere Mann drückte seinen Kumpanen noch erbitterter gegen die Reling, und seine Hüften stießen mit ziemlich beeindruckender Heftigkeit nach vorne. Den Geräuschen nach war es eine angenehme Erfahrung für beide Beteiligten.

Bei dem Anblick musste ich sofort an die Herrinnen des Jadesteins denken.

Sir Holland hatte einmal beklagt, dass meine fehlende Beziehung zu meinen Eltern mich in den letzten drei Jahren zu impulsiven und verwegenen Handlungen verleitet hätte. Dabei wusste er nicht einmal die Hälfte dessen, was ich wirklich getan hatte. Ich hatte keine Ahnung, ob die fehlende Aufmerksamkeit meiner Mutter und meines Stiefvaters Einfluss darauf gehabt hatte, aber die Einschätzung des Ritters war korrekt.

Ich war impulsiv.

Und überaus neugierig.

Trotzdem hatte ich beinahe zwei der letzten drei Jahre gebraucht, um den Mut aufzubringen, Dinge zu erkunden, die mir als Jungfräuliche verboten gewesen waren. Um selbst zu erleben, wovon ich in den unanständigen Büchern im Athenäum gelesen hatte. Um einen Weg zu finden, die ständige Leere in mir zu vertreiben.

»Oh Götter!« Ein Schrei der Erleichterung hallte vom Deck des Schiffes über das Wasser.

Bei den Herrinnen des Jadesteins gab es Bäder, in denen ich mir das Blut abwaschen konnte. Ihr Haus hatte einiges zu bieten – selbst mir.

Nachdem ich meine Entscheidung getroffen hatte, zog ich mir die Kapuze über den Kopf, überquerte die Straße und machte mich auf den Weg zur goldenen Brücke. In den letzten drei Jahren hatte ich zahlreiche Abkürzungen entdeckt, und das war der schnellste Weg, um den Nye-Fluss zu überqueren, der das Gartenviertel von den weniger wohlhabenden Stadtteilen wie dem Pachtviertel trennte. Im Gartenviertel wurden die frisch gestrichenen Herrenhäuser und die eleganten Stadthäuser lediglich von einer oder zwei Familien bewohnt, und die Bewohner gaben ihre Münzen für Luxusgüter aus, aßen und tranken gemeinsam in von Rosen umwucherten Gärten und hatten keine Mühe, so zu tun, als wäre Lasania nicht dem Untergang geweiht. Auf der anderen Seite des Nye-Flusses vergaßen die Bewohner keine Sekunde, dass das Königreich verdammt war, und kannten das unbeschwerte Leben nur von den Tagen, an denen sie den Nye überquerten, um in den Häusern auf der anderen Seite zu arbeiten.

Ich war mit den Gedanken bereits bei dem bevorstehenden Bad und den anderen Vergnügungen, die mich erwarteten, während ich durch die schmalen Gassen und Straßen eilte und schließlich den steilen Hügel nach oben stieg, von dem aus man die Brücke sehen konnte. Sie wurde von gasbetriebenen Straßenlaternen gesäumt, die auch die Palisanderbäume entlang des Flussufers in buttergelbes Licht hüllten. Ehe ich den Fluss überquerte, bog ich in einen der im Schatten liegenden Laubengänge, die die vielen Ecken des Stadtviertels miteinander verbanden.

Mit violetten und weißen Platterbsenblüten übersäte Ranken überwucherten die seitlichen und horizontalen Balken, sodass lange Tunnel entstanden, durch die kaum ein Strahl Mondlicht drang.

Ich ließ nicht zu, dass meine Gedanken zu den Lords wanderten. Hätte ich es erlaubt, wären sie auch zu den neun anderen geschweift, die vor ihnen gekommen waren. Zu der Nacht, in der ich versagt hatte. Und zu der Überlegung, dass mir niemand jemals so nahe kommen würde wie die beiden auf dem Schiff, wenn sie gewusst hätten, was ich gewesen und wozu ich geworden war. Ich dachte lediglich daran, wie es sein würde, das Blut und den Rauch abzuwaschen und mir danach etwas Zeit zu stehlen, in der ich vergessen und zu einer anderen werden konnte.

Ein schriller Schrei ließ mich erstarren. Ich war mir nicht sicher, wie weit ich gekommen war, aber er hatte nichts mit den Schreien zu tun, die vorhin vom Deck des Schiffes gedrungen waren.

Ich wirbelte in die Richtung herum, aus der das Geräusch gekommen war, und eilte durch den nächsten Ausgang unter dem umrankten Laubengang hervor auf die Straße, über die sich eine unheimliche Stille gelegt hatte. Mein Blick wanderte über die dunklen Gebäude und die beleuchtete Steinbrücke, die die beiden Teile des Gartenviertels verband, und ich erkannte sofort, wo ich war.

Die schmale Straße wurde nicht nur von herrschaftlichen Stadthäusern gesäumt, sondern auch von prächtigen Gärten und Gebäuden mit schwarzen Türen und Fensterläden, in denen so manche Geheimnisse bewahrt wurden. Und zu denen ich ironischerweise auf dem Weg gewesen war.

Ich hätte nicht gedacht, dass es hier um diese Zeit so ruhig sein würde. In den Gärten tummelten sich immer jede Menge Leute. Ich bekam eine Gänsehaut, während ich langsam den Bürgersteig entlangging und mich dabei nahe an den Hecken hielt, hinter denen sich die Gärten verbargen.