Shadow Riders: Die Tochter des Paten - Natalie Winter - E-Book

Shadow Riders: Die Tochter des Paten E-Book

Natalie Winter

4,1

Beschreibung

Carlotta Fabri war immer ein braves Mädchen und eine gehorsame Tochter. Doch als der Mafiaboss sie aus geschäftlichen Gründen mit dem Sohn seines größten Rivalen verheiraten will, flüchtet sie. Ein Jahr später ist aus Carlotta eine Anwältin geworden, die anderen Frauen hilft, wo immer sie kann. Ihr Leben in der Kleinstadt in Louisiana verläuft in geregelten Bahnen. Gerade als sie glaubt, ihre Vergangenheit endgültig hinter sich gelassen zu haben, erhält sie einen schockierenden Brief. Nicht lange danach geschieht ein erster Mord in Carlottas Umfeld. Vincent Moretti sollte auf Carlotta aufpassen. Stattdessen hat sie ihn, Söldner der Mafia und Mitglied der Biker-Gang "Shadow Riders", nach einer leidenschaftlichen Nacht ausgetrickst und verschwand aus der Stadt. Die Nacht mit der Tochter des Paten war nicht der einzige Fehler in Vincents Leben, aber der größte. Jetzt befiehlt ihm ihr Vater, Carlotta aufzuspüren und in den Schoß der Familie zurückholen. Doch Vincent ist nicht der Einzige, der noch eine Rechnung mit Carlotta offen hat. Während er versucht, die Nacht mit ihr aus seinem Gedächtnis zu tilgen, hat ein anderer Carlotta längst im Visier. Und dieser andere mordet, um ihr nahe zu sein ... MC meets Romantic Thrill und Mafia-Romance.

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Natalie Winter

Shadow Riders: Die Tochter des Paten

© 2018 Plaisir d’Amour Verlag, D-64678 Lindenfels

www.plaisirdamour.de

[email protected]

Covergestaltung: © Mia Schulte

Coverfoto: © Shutterstock.com

ISBN Taschenbuch: 978-3-86495-334-7

ISBN eBook: 978-3-86495-335-4

Sämtliche Personen in diesem Roman sind frei erfunden. Dieses Buch darf weder auszugsweise noch vollständig per E-Mail, Fotokopie, Fax oder jegliches anderes Kommunikationsmittel ohne die ausdrückliche Genehmigung des Verlages oder der Autorin weitergegeben werden.

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Autorin

Kapitel 1

Carlotta

Als Tochter des Mafiapaten von Houston aufzuwachsen, hatte durchaus Vorteile.

Seit Carlotta Fabri 13 Jahre alt gewesen war, hatte niemand mehr gewagt, sie wegen ihrer Haarfarbe oder ihrer pummeligen Figur zu hänseln. Damals hatte nicht nur Georgie Myers seine Lektion gelernt, sondern auch alle anderen Jungs auf dem Schulhof, die zugesehen hatten, wie zwei Männer ihres Vaters bedächtig ihre Fingernägel säuberten. Dass sie es mit Messern taten, die sie vorher in Schweineblut getaucht hatten, um der Botschaft Nachdruck zu verleihen, war ihr vor zwölf Jahren übertrieben melodramatisch erschienen. Daran hatte sich bis heute nichts geändert, auch wenn Carlotta begriffen hatte, dass in der Welt ihres Vaters der Schein oft mehr zählte als das Sein.

Doch je älter sie wurde, desto klarer überwogen die Nachteile. Selbst wenn man die fragwürdige Moral einmal außer Acht ließ, was Carlotta nicht tat, war sie inzwischen an dem Punkt angelangt, an dem sie es in La Famiglia nicht mehr aushielt. Ein Vater, der seine Tochter vor allem Übel in der Welt behüten wollte, war normal. Nicht üblich waren die Methoden, die Adamo Fabri anwandte. Ein Bodyguard war ständig an ihrer Seite. Egal, ob sie mit ihrer einzigen Freundin Joanie ausging oder an der Uni in einem Seminar saß, ein Mann ihres Vaters war nie fern. Im Laufe der Jahre hatte Carlotta ein Gespür dafür entwickelt, wo genau in ihrem Rücken sich der jeweilige Babysitter aufhielt.

Ihre beste Freundin Joanie wusste natürlich Bescheid über ihren Vater. Anders als Carlottas Kommilitonen, deren Blicke von misstrauisch zu ungläubig gewechselt hatten, als ihre Bodyguards zum ersten Mal auftauchten, nahm Joanie kein Blatt vor den Mund. Nach dem Vorfall mit Georgie und dem Auftauchen der Männer auf dem Schulhof, hatte Joanie dem verwöhnten Jungen Prügel angedroht, sollte er es noch einmal wagen, Carlotta als „wabbelige weiße Made“ zu bezeichnen. Sie war die Einzige gewesen, die direkt gefragt hatte, ob die „Messermänner“ ihre Beschützer seien. Von diesem Augenblick an waren sie beste Freundinnen gewesen. Carlotta liebte ihre Freundin rückhaltlos, obwohl sie manchmal glaubte, dass Joanie ihren Vater, die Messermänner und sie mit zu viel romantischer Verklärung betrachtete. Behütet zu werden, war nicht mehr schön, sobald aus dem Schutz ein goldener Käfig wurde. Filme wie „Der Pate“ kamen nicht an die Wirklichkeit heran. Gebrochene Gliedmaßen, Schusswunden, Exekutionen, Drogenschmuggel und Prostitution waren Adamo Fabris Alltag und die Basis seines riesigen Vermögens.

Und Carlotta war im Begriff, die teuerste Prostituierte von allen zu werden.

Adamo Fabri hatte seine Tochter verkauft. In einer Woche um diese Zeit würde sie, wenn es nach ihrem Vater und seinem größten Konkurrenten Massimo Bellini ging, mit Gabriel Bellini im Bett liegen, die Beine für ihn spreizen und viele kleine Mafiosi produzieren, die die beiden verfeindeten Familien vereinen sollten.

Aber das würde nicht passieren, solange sie noch ein Wörtchen mitzureden hatte. Carlotta schüttelte den Kopf und griff nach dem Push-up-BH, der ihre Oberweite unter dem schwarzen Kleid mit den Spaghettiträgern im Zaum halten würde. Heute Abend musste sie so sexy aussehen wie niemals zuvor. Für jemanden wie sie, der lieber knabenhaft schlank als kurvig wie eine Leinwandgöttin der 1950er-Jahre sein wollte, waren „verführerisch“ und „Carlotta Fabri“ Begriffe, die nur mit Mühe und sorgsamster Planung unter einen Hut zu bringen waren. Heute musste es ihr gelingen, dachte sie, während sie sich vor dem mannshohen Spiegel prüfend hin und her drehte. Heute musste sie unwiderstehlich sein. Nichts weniger als ihre Freiheit stand auf dem Spiel.

Verdammt. Unter dem hautengen schwarzen Kleid zeichnete sich ihr Slip ab. Typisch, dass sie den bequemsten gewählt hatte. Seufzend streifte sie den schlichten schwarzen Slip herunter und tauschte ihn gegen einen String, der unter dem Stoff unsichtbar blieb. Sie hatte das Kleid bereits vor einem halben Jahr für diesen besonderen Abend gekauft und noch nie getragen. Es war eine unbehagliche Vorstellung, vor den Männern ihres Vaters in solch einem sexy Outfit herumzulaufen – nicht, dass es jemals auch nur einer gewagt hatte, ihr einen begehrlichen Blick zuzuwerfen. Sie hatte das eng anliegende Kleid mit Bedacht kein einziges Mal angezogen, damit sich niemand im Haus daran gewöhnte, sie als begehrenswerte Frau zu sehen. Ja, die Logik schien auf den ersten Blick verdreht, aber in ihren Augen ergab sie Sinn, denn dem Mann, der sie heute Abend begleitete, sollte nicht nur der Atem stocken, wenn er Carlotta sah. Er musste auch unfähig sein, ihr eine Bitte abzuschlagen. Es war nicht besonders feministisch, den Körper einzusetzen, um ein Ziel zu erreichen, aber verzweifelte Situationen verlangten drastische Maßnahmen.

Eyeliner. Wimperntusche. Puder und roter Lippenstift. Sie sah nicht mehr aus wie sie selbst, fand Carlotta, als sie einen abschließenden Blick in den Spiegel warf, sondern tatsächlich wie das, was man früher eine „Sexbombe“ genannt hatte. Einzig ihr Haar, das rot und wellig bis an ihr Kinn reichte und sich allen Zähmungsversuchen widersetzte, passte nicht recht ins Bild. Aber daran konnte sie jetzt auch nichts mehr ändern.

Sie seufzte erneut und sah, wie sich ihre Brüste hoben. Ein seltsames Gefühl, halb Gefallen an ihrer Verkleidung und halb Nervosität, setzte sich als Kribbeln in ihrem Bauch fest. Um sich von ihrem fremd aussehenden Spiegelbild loszureißen, ging sie in Gedanken ein letztes Mal die Checkliste für den heutigen Abend durch, während sie in ihre hochhackigen Schuhe mit den Pfennigabsätzen schlüpfte.

Ins sexy Outfit gequetscht – check.

Gepäck am Bahnhof deponiert – check.

Fahrkarte gekauft – check.

Hotelzimmer angemietet – check.

Falsche Papiere in der Handtasche – check.

Champagner und zwei Gläser in einer Kühlbox im Wagen verstaut – check.

Betäubungsmittel besorgt und eingepackt – check.

Carlotta Fabri war für ihre Flucht in ein neues Leben bereit. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Punkt Neun. Mario wartete sicher schon unten auf sie, um sie zu dem Club zu fahren, in dem sie und Joana ihren Junggesellinnenabschied feiern würden. Es hatte Carlotta jedes Quäntchen Überzeugungskraft gekostet, die sie besaß, um ihren Vater dazu zu bringen, ihr einen letzten Abend in Freiheit zu gestatten, bevor sie Gabriel Bellini heiratete. Aber am Ende hatte er zugestimmt, wenn auch nur widerwillig und unter der Bedingung, dass Mario an diesem Abend ihr Bodyguard sein sollte. Insgeheim hatte Carlotta die Wahl ihres Vaters begrüßt. Mario hatte eine Schwäche für sie und ihr Vater mochte ihn. Seine Strafe für ihr Verschwinden sollte demnach nicht allzu hart ausfallen.

Sie warf noch einen Blick in die Handtasche, atmete tief durch und trat aus ihrem Zimmer auf den Flur. Es war still bis auf die Stimmen zweier Männer, die sich unten im Eingang unterhielten. Das waren sicher Mario und ihr Vater, der es sich nicht nehmen ließ, noch ein paar letzte Anweisungen zu geben. Er sagte gern, dass er nicht zum Kopf der Mafia geworden war, indem er seine Geschäfte schleifen ließ.

Sie ging die protzige Marmortreppe hinunter und bemerkte mit einem Anflug von Irritation, dass von Mario keine Spur zu sehen war. Ihr Vater erwartete sie mit einem Gesichtsausdruck, der sowohl seinen Stolz auf seine schöne Tochter ausdrückte, als auch seine Verärgerung über ihr aufreizendes Outfit verriet. Doch die widerstreitenden Gefühle ihres Vaters verblassten in Carlottas Wahrnehmung und machten der Panik Platz, sobald sie sah, wer neben ihm stand.

Nicht Mario würde heute Abend auf sie aufpassen, sondern der Einzige unter den Männern Adamo Fabris, den sie wirklich und wahrhaftig fürchtete.

Vincent Moretti.

Ihr wurde flau. Er war derjenige, den sie heute Abend am allerwenigsten gebrauchen konnte. Jeder Versuch, ihn um den Finger zu wickeln, war von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Vincent galt als die rechte Hand des Mannes, der die Shadow Riders befehligte. Seit gut einem Jahr arbeitete ihr Vater mit diesem Bikerclub zusammen, dessen Männer meistens unter sich blieben – mit Ausnahme von Vincent Moretti, der als Verbindungsglied zwischen ihrem Vater und den Shadow Riders fungierte. Es war kein Geheimnis, dass er vor seinem Einstieg bei den Shadow Riders ein korrupter Cop gewesen war, der seinen Partner getötet hatte. Vermutlich trug das in den Augen ihres Vaters sogar auf verdrehte Weise zu seinem Ansehen bei, dachte Carlotta.

Sie hatte keine Ahnung, ob Vincent Moretti auch unter seinen Kollegen vom Bikerclub als Außenseiter galt, aber hier, unter Fabris Männern, war er ein absoluter Einzelgänger. Das hatte ihn nicht daran gehindert, sich den Respekt der Männer zu verschaffen, die auf traditionelle Weise der Familie dienten. Sie vermutete, diese Anerkennung hing mit den Dingen zusammen, die Vincent für ihren Vater tat. Oder vielmehr, wie er sie erledigte, nämlich effizient und skrupellos, zwei Eigenschaften, die ihr Vater über alles schätzte. Es war auf jeden Fall eigenartig, dass er seine Aufträge direkt von ihrem Vater bekam. Ein einziges Mal hatte Carlotta versucht, mit ihrem Vater über Vincents besonderen Status zu sprechen, doch der hatte sich von ihrem beiläufigen Tonfall nicht täuschen lassen und gesagt, dass sie Vincent Moretti in Ruhe lassen sollte. So ein Blödsinn, hatte Carlotta sich gedacht und den Raum verlassen. Als ob sie irgendein Interesse an Moretti hätte!

Und ausgerechnet er war heute Abend ihr Bodyguard. Jeder andere wäre ihr lieber gewesen als Vincent mit der Narbe im Gesicht und den eiskalten Augen. Er schien sie nie wahrzunehmen, und doch fühlte sie seinen Blick immer wie einen Dolch zwischen ihren Schulterblättern, wenn sie nicht hinsah.

Vincent

Mario war ein Idiot. Das hatte Vince schon gewusst, bevor der Typ so blöd gewesen war, sich von einer Frau ein blaues Auge verpassen zu lassen. Weil Mario momentan nicht mehr vorzeigbar war, musste Vince den Job übernehmen, die Tochter des Paten zu ihrem Junggesellinnenabschied zu begleiten.

Carlotta Fabri glitt wie Sex auf zwei Beinen die Treppe herunter und weckte in ihm den Drang, seinem Kollegen ein zweites blaues Auge zu verpassen. Den Babysitter zu geben war eine Sache. Damit hatte er normalerweise kein Problem. Der alte Fabri wollte es so, also tat Vince es. Eine andere war es, eine Frau nicht aus den Augen lassen zu dürfen, die ihn schon in Jeans und T-Shirt halb verrückt machte. Wie sollte er heute die Finger von ihr lassen können, wenn sie in dem engen, schwarzen Kleid vor ihm herumspazierte? Er schaffte es ja jetzt schon kaum, die Augen von ihrem kurvigen Körper zu lösen, und sie war noch einige Meter von ihm entfernt.

Für Carlotta nur das Beste, das war Adamo Fabris Motto. Undenkbar, ihr einen Bodyguard mit einem Veilchen zur Seite zu stellen. Und wenn Mario schon nicht mit einer Nutte fertig wurde, wie sollte er dann die Tochter seines Bosses vor Entführern, zudringlichen Verehrern und anderem Gesocks schützen? Also war es Vince zugefallen, Carlotta in den Club zu begleiten und sie am Ende des Abends wohlbehalten in ihr Bettchen zurückzubringen. Er presste die Zähne so hart aufeinander, dass sie knirschten, als unwillkürlich schwarze, zerwühlte Laken und Carlottas blasser Körper mit willig gespreizten Beinen und Brüsten, die diesen Namen auch verdienten, vor seinem inneren Auge erschien. Aber nicht er war der Mann, der sie vögeln würde, sondern Gabriel Bellini, der Lackaffe, auf den die Frauen wegen seines hübschen Gesichts und seines Geldes flogen.

„Wo ist Mario?“, hörte er sie mit dieser rauchigen Altstimme fragen, die bereits genügte, um einen Mann in den Wahnsinn zu treiben. Sie sah ihn nicht an, sondern richtete den Blick ihrer klaren grünen Augen scheinbar furchtlos auf den alten Mann, der ihr Vater war. „Was will er hier?“

Sie machte sich nicht die Mühe, seine Existenz durch mehr als dieses eine „er“ zur Kenntnis zu nehmen. Mit offener Verachtung hätte er leben können, ebenso mit Hass oder Angst, denn er war es gewohnt, diese Reaktionen auf den Gesichtern der Menschen zu sehen. Doch Carlottas betontes Ignorieren und die betont gleichgültige Art, in der sie über ihn sprach, ärgerten ihn. Normalerweise glitt ihr Blick über ihn hinweg, und sie hatten im ganzen letzten Jahr vielleicht fünf Worte miteinander gewechselt, wenn überhaupt. Vince hatte keine Ahnung, woran das lag, denn mit den anderen Männern im Hause Fabri pflegte sie einen lockeren, wenn auch leicht distanzierten Umgang. Eigentlich sollte es ihm recht sein, dass die Tochter des Bosses ihn nicht weiter zur Kenntnis nahm. Je weniger er auffiel, desto besser konnte er seinen Job erledigen, aber ihr beharrliches Ignorieren seiner Existenz zerrte an seinen Nerven, die ohnehin über Gebühr strapaziert waren.

„Zieh dich um“, befahl Fabri. Klar, für ihn war sie immer noch sein kleines Mädchen. Darin unterschied er sich nicht von anderen Vätern. Sicher war Fabri auch der Ansicht, Marios Veilchen und vor allem die Umstände, unter denen es sich der Bär von einem Kerl eingefangen hatte, seien nicht geeignet für die zarten Ohren von Carlotta, denn er ging mit keiner Silbe auf ihre Frage nach Mario ein.

Wenn der Alte wüsste! Vincent hatte gesehen, wie sie die Männer mit einem Wort, einem Blick dazu brachte, ihr aus dem Weg zu gehen, und das lag nicht allein an ihrem Status als Tochter des Paten. Nein, sie hatte eine verdammt spitze Zunge, wenn sie es darauf anlegte. Andererseits machte der alte Fabri gegenüber seiner Tochter nie einen Hehl daraus, womit er sein Geld verdiente, ja, er war auf eine verdrehte Weise stolz auf seine Leistung, es an die Spitze einer kriminellen Organisation geschafft zu haben.

Jetzt warf sie den Kopf in den Nacken. „Mein Kleid bedeckt doch sogar meine Knie“, begann sie und blinzelte einmal kurz. „Ich habe fünfundzwanzig Jahre getan, was du von mir verlangt hast, Papa, aber heute ist ein besonderer Tag für mich.“ Das Wort „Papa“ kam dabei spröde und widerstrebend aus ihrem Mund. „Und ich schwöre dir“, ihr Tonfall wechselte von trotzig zu schmeichlerisch, „ich werde mich nicht dem Erstbesten an den Hals werfen.“

Vincent hätte gern geschnaubt, aber er war zu neugierig, auf welche Weise sie ihren Willen bei ihrem Vater durchsetzen würde. Die Ich-bin-dein-kleines-Mädchen-Masche würde nicht ziehen. Für diese Tour hatte sie definitiv das falsche Kleid an. War sie dickköpfig genug, um ihrem Vater die Stirn zu bieten? So oder so, der alte Fabri stand auf verlorenem Posten, er wusste es nur noch nicht. Oder doch? Vincent wandte den Blick von der antiken Vase ab, die er angelegentlich betrachtet hatte, und schaute zu seinem Boss. Ja, Adamo Fabri hatte diesen zärtlich-resignierten Gesichtsausdruck aufgesetzt, den Väter annahmen, wenn ihr kleines Mädchen sie um etwas bat. Nur dass Carlotta kein kleines Mädchen war, sondern eine erwachsene Frau, die ihn vom ersten Augenblick an fasziniert hatte.

„Außerdem wird niemand wagen, mich anzufassen, solange er anwesend ist“, sagte sie verächtlich und schaute dabei glatt durch ihn hindurch.

Er fragte sich, ob es sein Ruf als Copkiller war, der sie abstieß, oder seine Narbe. Letztendlich spielte es keine Rolle. Sie war tabu für ihn. In weniger als einer Woche war sie die Frau von Gabriel Bellini und damit noch verbotener für einen wie ihn.

Schließlich tat Fabri das, worauf Vincent die ganze Zeit gewartet hatte: Er gab nach. Seine müden Augen schärften sich, als er Vince kurz anschaute. Der verstand die wortlose Drohung und bedeutete ihm mit einem Nicken, dass er seine kostbare Tochter nicht eine Sekunde aus den Augen lassen würde.

„Pass gut auf dich auf, bella mia“, murmelte Fabri und zog seine Tochter in eine seiner seltenen Umarmungen. Für den Boss war das eine außergewöhnliche Zurschaustellung von Gefühlen. Er war doch sonst nicht so sentimental!

Offensichtlich wurde es wirklich Zeit, dass er zurück in die zweite Reihe trat und seinem zukünftigen Schwiegersohn das Zepter übergab, bevor nicht nur Vincent klar war, dass der Alte schwach wurde. Wie alle alten Männer tat sich Fabri schwer damit, das Schwinden seiner Macht zu akzeptieren. Wenn er nicht achtgab, verpasste er den Moment, in dem er seinen Rücktritt noch planen konnte. Nicht viele Mafiabosse erlebten die Freuden des Ruhestands. Es kam ohnehin schon einem Wunder gleich, dass sich Fabri auch nach so vielen Jahren an der Spitze der Organisation hielt. Die Bellinis waren nicht die einzigen Rivalen, die ihn umkreisten wie Hyänen, die einen altersschwachen Löwen ins Visier genommen hatten, wohl aber die mächtigsten. Zu feige, um offen anzugreifen, warteten alle ungeduldig auf das erste Zeichen seiner Schwäche, um über Fabri herzufallen. Vielleicht war es sogar sein Glück, dass die Hochzeit zwischen Gabriel Bellini und Carlotta beschlossene Sache war. Solange der Alte nach außen hin stark wirkte, hatte seine Tochter in den Augen des rivalisierenden Clans einen gewissen Wert. Aber wen kümmerte schon die Tochter eines toten Mafioso?

Zu dumm für den Alten, dass er keinen Sohn hatte, der seine Nachfolge antreten konnte. Zwar hatte Fabri alles getan, um seiner Tochter einen Platz in der Famiglia zu sichern, aber noch lag sie nicht im Bett des jungen Bellini, auch wenn der bestimmt kaum noch an sich halten konnte, bis es so weit war. Vincent hatte die beiden vor nicht allzu langer Zeit in einer eindeutigen Situation erwischt, um es einmal vorsichtig auszudrücken. Fabri mochte glauben, dass seine Tochter noch Jungfrau war, aber Vincent hatte mit eigenen Augen gesehen, wie sie Gabriels Kuss erwidert und seine Hände zu ihrem Hosenbund dirigiert hatte. Als Mann in Diensten ihres Vaters war es seine Aufgabe, dessen Tochter auch vor ihren eigenen Fehlern zu beschützen, selbst wenn der Typ, mit dem sie sich herumtrieb, ihr zukünftiger Ehemann war. Das hatte sich Vincent zumindest so lange eingeredet, bis die Unterbrechung ihres Herumgefummels ihm nicht mehr wie die Attacke eines wutschnaubenden Stiers erschienen war, sondern wie ein Ausdruck seiner Loyalität gegenüber Fabri.

Vincent sah, dass Carlottas schöne Augen sich mit Tränen füllten, als sie die Umarmung ihres Vaters erwiderte. Für einen Moment war sie wirklich die Kleine, die Fabri in ihr sehen wollte. Sie sah hilflos und schutzbedürftig aus, aber das änderte sich in dem Augenblick, in dem sie den Kopf hob und sich ihre Blicke über die mageren Schultern des Alten hinweg trafen.

Seine Alarmglocken begannen zu schrillen. Vincent hatte ein untrügliches Gespür dafür, wann jemand log, und auch wenn ihre Tränen echt wirkten, so führte sie doch etwas im Schilde. Unwillkürlich wollte seine Hand zu seinem Schulterholster fahren, aber da war natürlich keines mehr. Als Bodyguard der Eisprinzessin trug er seine Glock unauffällig an einem Gürtelholster, und das locker geschnittene Hemd darüber verbarg die Waffe vor neugierigen Blicken. Der Türsteher im Caprice kannte Carlotta und die meisten von Fabris Leuten. Kein Mann, der sie begleitete, wurde dort jemals abgetastet.

Carlotta mochte glauben, der Club wäre eines der letzten Etablissements, in denen ihr Vater seine Finger nicht im Spiel hatte, Vincent wusste es jedoch besser. Vom Barkeeper bis zum DJ waren alle darüber informiert, wer sich dort heute Abend die Seele aus dem Leib tanzen und etwas trinken wollte. Von dieser Seite war nichts zu befürchten. Vincent hatte lediglich darauf zu achten, dass keiner der Gäste übergriffig wurde und dass sie nächsten Freitag unversehrt von der Obhut ihres Vaters in die ihres Mannes gegeben wurde.

„Kommst du?“ Ihre Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. „Ich möchte meine Freundin nicht warten lassen.“ Sie hatte sich aus der Umarmung ihres Vaters gelöst und stand sichtlich ungeduldig an der Haustür. Ohne seine Antwort abzuwarten, öffnete sie die Tür und ging mit verführerischem Hüftschwung die wenigen Stufen bis zur Auffahrt hinunter.

Er warf einen letzten Blick auf Fabri, der ihm beinahe leidtat, wie er dort stand mit hängenden Schultern und dem beunruhigten Gesichtsausdruck. Auch er schien das Undefinierbare zu spüren, das von Carlotta ausging. Anders als Vincent machte ihn dieses Gefühl jedoch nicht wachsam, sondern traurig.

So wie es aussah, würde Vincent genug damit zu tun haben, Carlotta unversehrt zurück in ihr Bettchen zu bringen; er musste sich nicht auch noch von den sentimentalen Anwandlungen Fabris beunruhigen lassen. Betont langsam ging er hinter ihr her und zog den Schlüssel des BMW aus der Jackentasche, den sie heute nehmen würden. Wie alle Autos im Fuhrpark Fabris hatte dieser Wagen kugelsichere Scheiben und war rundum gepanzert.

Carlotta lehnte am Kotflügel, die Arme vor ihrem Körper verschränkt, was ihre üppigen Brüste beinahe aus dem Kleid springen ließ. Sie bemerkte seinen Blick und sofort fielen ihre Arme an die Seiten herab.

Er öffnete die Beifahrertür und beobachtete, wie sie sich ins Auto setzte, die Beine eng zusammengepresst und den Oberkörper nach vorn geneigt, damit er ja keinen Blick auf ihren Slip erhaschte. Dabei vergaß sie jedoch, dass sie ihm auf diese Weise eine unverstellte Aussicht auf ihren Ausschnitt bot. Die Vorstellung, sein Gesicht zwischen ihren Brüsten zu vergraben und ihren BH mit seinen Zähnen herunterzureißen, war mehr, als er in diesem Augenblick ertragen konnte und bescherte ihm binnen Sekunden eine steinharte Erektion.

Er ließ die Autotür zufallen und ging langsam zur Fahrerseite. In seinem Ärger über seine kurze Schwäche, die der Ausflug in die Fantasie bedeutete, bewegte er sich betont ruhig.

Er konnte es kaum erwarten, dass dieser Abend endlich vorbei war.

Die zarte Blondine sah nicht so aus, als würde sie demnächst aufwachen, aber er wusste aus eigener Erfahrung, dass man nie wirklich einschätzen konnte, wie viel eine Frau verkraftete. Bei der amazonenhaften Studentin letzten Monat hatte es sechs Stunden gedauert, bis die Wirkung der Droge nachließ. Sechs herrliche Stunden war er in ihren diversen Körperöffnungen gewesen, ohne dass sie etwas dagegen hätte tun können.

Er liebte es, die Angst in ihren Augen zu sehen, wenn sie begriffen, dass er sie fickte und sie ihm ausgeliefert waren. Die Droge machte sie bewegungsunfähig, aber sie waren wach und wussten, was er tat. Nicht ein Mal hatte er dem Drang nachgegeben, ihr Leben frühzeitig zu beenden, denn es musste genau in dem Moment passieren, in dem die Wirkung der Drogen nachließ und sie sich zu wehren begannen. Erst dann erlaubte er sich, ihrem Leben ein Ende zu setzen.

Seine aktuelle Gespielin war noch schachmatt. Probeweise griff er zwischen ihre Beine und kniff sie in das schlaffe Fleisch ihrer Brüste. Keine Reaktion. Wie spät war es eigentlich? Ah, halb zehn. Er hatte nicht mehr viel Zeit, bevor er losmusste. Der Alte war ungeduldig und hasste Unpünktlichkeit beinahe mehr als Ungehorsam. Es war natürlich schade, dass er sein Spiel jetzt unterbrechen musste. Andererseits war es gar nicht so schlecht, dass er, wenn er wieder zurück war, etwas zum Abreagieren hatte. Das Beruhigungsmittel hatte er genau dosiert, sodass die Frau auf dem Bett für mindestens weitere zwei Stunden außer Gefecht gesetzt war; diese Zeitspanne sollte reichen.

Carlotta Fabri in einem ihrer Fick-mich-Kleider zu sehen und sie nicht berühren zu dürfen, war genug, um einen heißblütigen Mann wie ihn in den Wahnsinn zu treiben. Eine Woche. Sieben Tage, die er irgendwie überstehen musste, bis sie für immer in seiner Nähe sein würde. Und war sie erst Teil der Bellini-Familie, ergab sich der Rest von selbst. Weder ihr Vater noch sonst jemand würde ihn davon abhalten können, mit ihr zu spielen.

Er schaute auf die Frau hinab, die vor ihm lag, ihr Gesicht blass wie das einer Toten. Ein Speichelfaden lief aus ihrem Mundwinkel. Alles in allem war sie nicht die attraktivste Frau, die jemals das Bett mit ihm geteilt hatte. Wenn ihr Haar wenigstens rot gewesen wäre, wie ihr

Kapitel 2

Carlotta

Warum hatte sie sich keinen Plan B überlegt?

Verdammt, verdammt, verdammt. Was mit Mario kein Problem gewesen wäre, war mit Vincent Moretti undenkbar. Nie im Leben würde er auf ihre Bitte, auf dem Rückweg rechts ranzufahren und ein Glas Champagner mit ihr zu trinken, eingehen. Was in ihrer Fantasie wunderbar funktioniert hatte, sah in der Realität auf einmal ziemlich jämmerlich aus.

Während Vincent den Wagen routiniert aus Houston hinaussteuerte und mit unbewegter Miene den Verkehr im Auge behielt, versuchte Carlotta, sich zu beruhigen. Sie war den Ablauf ihrer Flucht in Gedanken so oft durchgegangen, dass sie nun Schwierigkeiten hatte, Marios Gesicht durch Vincents zu ersetzen.

„Fährst du bitte rechts ran? Ich möchte noch einmal frei atmen, bevor ich Gabriel Bellini heirate!“ So oder ähnlich hatte sie es sagen wollen. Den gurrenden Tonfall hatte sie so lange geübt, bis sie glaubte, sie würde sich in eine Taube verwandeln. Mario sollte weniger auf die Worte, als auf den verführerischen Tonfall reagieren. Sie hatte vorgehabt, ihn mit dem unausgesprochenen Versprechen auf einen keuschen Kuss – mehr nicht, denn er war einer der loyalsten Männer ihres Vaters – hinauszulocken. Dem wie zufällig im Kofferraum herumliegenden Champagner hätte sie ein Schlafmittel beigemengt, mit ihm angestoßen und zugesehen, wie die chemische Keule ihre Wirkung entfaltete. Mit dem Wagen wäre sie zum Bahnhof gefahren, hätte ihr Gepäck geholt und wäre mit dem Zug in Richtung New Orleans geflüchtet.

Hätte und wäre waren zwei Wörter, die sie in den letzten Minuten zu hassen gelernt hatte.

Vincent Moretti war ein Tier. Er war kalt, skrupellos und jagte ihr Angst ein. Er bewegte sich nicht nur wie eine Raubkatze, sondern er verfügte auch über den Instinkt eines gnadenlosen Killers. Sie hatte ihn nie in Aktion gesehen, aber gehört, wie sich die anderen Männer hinter seinem Rücken über ihn ausließen. Der Ex-Cop war schnell vom verachteten Überläufer zum gefürchteten Mitglied der Shadow Riders geworden, mit denen ihr Vater von Zeit zu Zeit zusammenarbeitete. Als Fabri dank der Bellinis, mit denen er sich damals noch im offenen Krieg befand, einen Engpass an Männern gehabt hatte, war der Boss der Biker mit Vincent Moretti und seinen anderen Männern eingesprungen und mehr oder weniger geblieben, ohne dass die Shadow Riders jemals ganz in der Organisation aufgingen. Vincent hatte eine Sonderstellung und war ein Günstling ihres Vaters, ohne jedoch ein echtes Mitglied der Famiglia zu sein.

Fakt war, dass er mit seinem Furcht einflößenden Gesicht nur irgendwo auftauchen musste, um die Anwesenden in Angst und Schrecken zu versetzen. Sie war da keine Ausnahme. Es war nicht allein sein Anblick, der eine kribbelnde Unruhe von ihrem Kopf bis zu den Zehenspitzen sandte. Vielmehr war es dieser durchdringende Blick, der sie nackt auszog und bis auf den Grund ihrer Seele zu schauen schien.

Und doch war da etwas, was sie nur widerstrebend zugab: Ein Funken Interesse, der zum ersten Mal aufgeflammt war, als sie mit Gabriel im Garten herumgemacht hatte und Vincent sie dabei erwischt hatte.

Carlotta sah, dass es nicht mehr weit bis zum Club war. Maximal zehn Minuten blieben ihr, um entweder einen ganz neuen Plan auszuhecken oder den ursprünglichen auf Teufel komm raus umzusetzen. Die einzige Alternative, die ihr spontan einfiel, war, Joanie auf Vincent anzusetzen. Ihre Freundin hatte ihn ein- oder zweimal gesehen, als sie Carlotta besucht hatte, und wurde nicht müde zu betonen, dass sie auf Biker stand und Vincent mit seiner unnahbaren Art irgendwie sexy fand.

„Er ist bestimmt ein Tier im Bett“, hatte Joanie mit verklärtem Blick gehaucht und diesen Satz so oft wiederholt, bis Carlotta die Geduld verloren hatte.

„Klar, wenn man auf Grunzlaute steht“, war ihre Antwort gewesen. „Verflucht, Joanie, der Typ ist nicht nur ein Mafioso meines Vaters, sondern auch noch Mitglied in einer Bikergang. Vermutlich hat er seine Finger im Drogenhandel und verdient ein paar Dollar nebenbei, indem er Frauen dazu zwingt, auf den Strich zu gehen. Setz die rosa Brille ab. An Moretti ist nichts romantisch. Außerdem stinkt er nach altem Schweiß und Bier. Wenn du dich mit Tripper oder Herpes anstecken willst – nur zu.“

Das mit dem Stinken war gelogen, aber das musste Joanie ja nicht wissen. Vincent roch manchmal nach Bier, wenn er mit den anderen Jungs getrunken hatte, jedoch nie nach Schweiß. Sein Geruch war irgendwie sauber, herb und männlich, mit einem Hauch Aftershave. Und was die Geschlechtskrankheiten anging … Die Shadow Riders feierten manchmal ausgelassene Partys, zu denen auch die Leute ihres Vaters erschienen. Sie selbst war natürlich nie dabei gewesen, hatte aber ein- oder vielleicht zweimal gelauscht, als sich die Männer am Tag danach unterhielten. Offensichtlich ging es dort hoch her, ganz wie man es von einer Motorradgang erwartete. Biker schienen einen bestimmten Typ Frau anzuziehen, wie Licht es mit Motten tat. Nun, wie auch immer, sie gehörte nicht zu dieser Sorte Frau. Es interessierte sie nicht, was die Shadow Riders im Allgemeinen und Vince im Besonderen trieben.

Nein, sie konnte Joanie nicht bitten, ihr die Arbeit abzunehmen und Vincent abzulenken. Es war nicht sehr wahrscheinlich, dass Joanie heil aus einem Tête-à-Tête mit ihm hervorgehen würde. Sie gab sich immer so stark und cool, aber das war nur Fassade. Carlotta hatte ihr einmal in sachlichen Worten erzählt, wozu Vincent fähig war, ohne jedoch zuzugeben, dass es lediglich Gerüchte waren, die sie aufgeschnappt hatte. Was Vincent Moretti mit einem Messer angeblich anstellen konnte, ohne sein Opfer zu töten, war nicht schön. Es war vor allem der halb ehrfürchtige, halb zweifelnde Tonfall des belauschten Gesprächs gewesen, der Carlotta davon überzeugt hatte, dass alles wahr war und es besser für sie war, nicht zu viel über seine Fähigkeiten mit scharfen Klingen zu wissen. Bei ihren Worten war Joanie erst blass und dann puterrot geworden.

Carlotta schaute zu ihm hinüber. „Vince“, sagte sie, ohne die leiseste Ahnung, wie sie den Satz beenden sollte. Kannst du mir eine Stunde Vorsprung geben? Ich muss raus aus diesem Leben. Ich will nicht mehr.

Nein, das war absurd. Niemals würde er sie laufen lassen. Er mochte sie nicht einmal. Obwohl … vorhin hatte er ohne jeden Zweifel auf ihre Brüste gestarrt, und war da nicht ein Riss in seiner Fassade erschienen? Sie schloss die Augen und dachte daran, wie er Gabriel beinahe verprügelt hätte, als er sie bei der Fummelei im Garten ihres Vaters ertappt hatte. Gabriel sah gut aus, doch zwischen ihnen beiden stimmte die Chemie nicht. Sein Kuss rief nichts als eine Art passive Neugierde in ihr hervor und seine geschickten, kühlen Finger in ihrem Hosenbund weckten lediglich ihre Ungeduld. Es war vermutlich nicht fair von ihr, aber sie fand seine Berührungen zu zielstrebig. Ohne Zweifel wusste er genau, was er tat, und doch meinte sie zu spüren, dass er nicht mehr als seine Pflicht tat. Es war wie ein Vorgeschmack auf die Ehe, die ihre Väter beschlossen hatten. Nach dieser Episode war ihr klar, dass sein Interesse an ihr etwa genauso hoch war wie ihres an ihm und irgendwo zwischen Gleichgültigkeit und Duldung pendelte. Ihr Plan, noch vor der Hochzeit mit Gabriel zu schlafen, war wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen. Genau in dem Augenblick, in dem sie Gabriel von sich fortschieben wollte, spürte sie seine Erregung aufflammen. Mit der einen Hand drückte er sie an die Mauer, die andere schob er in ihren Slip.

„Lass das“, wehrte Carlotta ihn ab, was ihn jedoch nur anzustacheln schien. Sie verstärkte ihre Anstrengungen, doch er war einfach zu stark und sie war zwischen ihm und der Mauer eingeklemmt.

Zum ersten Mal in ihrem Leben war Carlotta froh gewesen, Vincent zu sehen. Langsam, aber ungeheuer zielstrebig war er auf sie zugekommen. Sein normalerweise unbewegter Gesichtsausdruck war rasender Wut gewichen, die umso Furcht erregender war, da sie sich einzig und allein in seinen Augen zeigte. Sie hatte sich geschämt und war insgeheim erleichtert gewesen, dass Vincents Anwesenheit Gabriels Zudringlichkeiten einen Riegel vorschob. Auch ein wenig Neugierde auf das, was sie in Gabriels Bett erwartete, war im Spiel gewesen, aber in der Hauptsache hatte sie sich ihrem Vater widersetzen wollen, der immer noch glaubte, sie sei unberührt.

Sie hatte einen Abschluss in Jura, war die Tochter des Paten und durfte nicht entscheiden, mit wem sie Kinder bekam und alt wurde. Kein Wunder, dass sie ein neues Leben wollte. Eines, in dem sie selbst bestimmte, was sie tat und mit wem sie schlief, und das nicht durch das Blutgeld ihres Vaters finanziert wurde.

„Was ist los?“ Die Worte kamen hart und trocken wie Kieselsteine aus Vincents Mund.

„Nichts.“

„Wir sind gleich da. Du hast drei Stunden. Ich erwarte dich Punkt ein Uhr an der Bar.“

„Verstanden, Sir“, erwiderte sie und deutete einen ironischen Salut an, der ihre Brüste unter dem engen Kleid in leichte Schwingungen versetzte. Zu ihrer Überraschung glaubte sie zu sehen, wie Hitze in seine Wangen stieg. Was war das? War er verlegen? Nein, das war nicht möglich. Er war sicher kein Mann, dem der Anblick von Brüsten unangenehm war. Sie beugte sich absichtlich zu ihm vor, bewusst seinen Arm mit ihren Brüsten streifend. Das Resultat ihrer Provokation war eindeutig: Seine Lippen wurden weiß, so fest presste er sie aufeinander.

Die Erleichterung, die ihren Körper flutete, war riesengroß. Vincent Moretti war also doch ein Mann wie alle anderen. Damit ließ sich etwas anfangen. Sie musste nur mutig und entschlossen genug sein, ihren neuen Plan in die Tat umzusetzen.

Drei Stunden später stand sie verschwitzt an der Bar und stieß ein letztes Mal mit Joanie an. Von Vincent war nichts zu sehen, aber sie meinte, seine Augen wie eine Berührung auf ihrem Körper zu fühlen. Sie hatte trotzdem getanzt wie eine Verrückte, ihr Kopf war leicht von dem einen Bier, das sie getrunken hatte, und sie fühlte sich zuversichtlich, was ihren neuen Plan betraf. Morgen um diese Zeit wäre sie frei von allen Zwängen. Tschüss, Zwangsehe! Auf Nimmerwiedersehen, durch Blutgeld finanziertes Luxusleben!

 Hoffentlich verzieh ihr Joanie, dass sie auch ihr nichts von ihren Fluchtplänen gesagt hatte. Sie wird sich Sorgen machen, dachte Carlotta und unterdrückte den Drang, ihrer Freundin in letzter Sekunde alles zu beichten. Nein, es war einfach nicht möglich. Je weniger Joanie wusste, desto besser war es für sie. Carlottas Vater kannte keine Skrupel und würde auch bei Joanie keine Samthandschuhe anziehen, aber sicher würde er sofort erkennen, dass Joanie nicht den blassesten Schimmer hatte, wohin Carlotta verschwunden war. Mit etwas Glück würden sie alle für tot halten.

Carlotta seufzte. Wenn sie ehrlich war, brauchte sie mehr als nur ein bisschen Glück, damit der Plan gelang. Zuerst hatte sie überlegt, sich eine Leiche zu beschaffen, die ihr vom Aussehen und vom Gewicht her glich, den Wagen in Brand zu setzen und auf diese Weise sicherzustellen, dass Carlotta Fabri in den Flammen starb. Diesen Plan hatte sie schnell wieder verworfen. Vor hundert Jahren wäre sie damit durchgekommen, aber in Zeiten von DNA-Analysen und akribischer Spurensicherung am Tatort verbot sich diese Methode von selbst. Außerdem drängte die Zeit. Auf eine Tote zu warten, die niemand vermisste und die ihren Platz einnehmen könnte, dauerte zu lange. Außerdem hätte sie für dieses Unternehmen professionelle Hilfe gebraucht. Der Austausch von Zahnarztunterlagen wäre nur der Anfang eines komplizierten Prozesses gewesen, der Geld, Zeit und Ressourcen verschlang. Und Zeit hatte Carlotta am allerwenigsten. Ihr Vater würde jeden verfügbaren Mann einsetzen, um ihren Mörder zu finden. Auch die Polizei würde ermitteln, ausnahmsweise mit Billigung ihres Vaters, nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass seine eigenen Leute versagten. Er kannte keine Skrupel und würde erst recht keine entwickeln, wenn er den Menschen suchte, der vermeintlich seine Tochter umgebracht hatte. Das Leben eines Unschuldigen, den es zwangläufig treffen würde, zu gefährden, kam für Carlotta nicht infrage. Also hatte sie ihrem Vater eine Nachricht dagelassen, in der sie erklärte, dass sie mit ihm und der Famiglia nichts mehr zu tun haben wolle und dass er sie nicht suchen solle. Den Nachsatz, dass er sie nicht finden würde, hatte sie sich nicht verkneifen können.

Es ist besser so, sagte sie sich zum tausendsten Mal.

„Hey, was ist denn?“ Joanie hielt sie auf Armeslänge von sich. Die Bar war weit genug von der Tanzfläche entfernt, dass sie sich halbwegs normal unterhalten konnten. „Ist es doch die Hochzeit?“ Sie legte den Kopf schief, und es kostete Carlotta all ihre Kraft, nicht auf der Stelle zusammenzubrechen. „Wenn du es dir anders überlegst und diesen Bellini-Typen nicht heiraten willst, kannst du jederzeit bei mir Unterschlupf suchen.“

Klar. Damit keine Stunde später die Männer ihres Vaters und ihres Verlobten auftauchten, um Kleinholz aus Joanies Wohnung zu machen und Schlimmeres. Ihr selbst würde nichts geschehen, aber Joanie galt nicht als unantastbar. Sie wünschte sich, sie hätte ihre Freundin irgendwie von all dem Mafia-Dreck fernhalten können. Jetzt war es zu spät.

„Ach, das ist halb so dramatisch“, gab sie also zurück und bemühte sich, fröhlich zu klingen. „Ich meine, ein Mann ist eh wie der andere, das sagst du doch immer.“ Sie bog den Oberkörper zur Seite, um nicht von einem Schwall verschütteten Bieres getroffen zu werden, und sandte dem betrunkenen Typen einen finsteren Blick nach.

Keine drei Sekunden später tauchte Vincent auf und sagte ein paar Worte zu dem Mann, die anscheinend sogar durch den alkoholbedingten Nebel in sein Hirn drangen, denn er zog die Schultern hoch und murmelte etwas, bevor er auf unsicheren Beinen das Weite suchte.

Vincent schaute sie an, hob die rechte Hand und spreizte die Finger. Fünf Minuten, sagte seine Geste.

Carlotta nickte und verfolgte mit den Augen, wie er in der Menge verschwand.

Joanie gab ihr Lächeln zurück. „Das stimmt, aber im Gegensatz zu dir habe ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben.“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und rief dem Barkeeper etwas zu, was Carlotta nicht verstand.

Kurze Zeit später reichte ihr Joanie ein Glas Champagner. „Auf uns“, sagte sie. „Darauf, dass kein Mann es schaffen wird, uns zu trennen.“

Carlottas Magen zog sich zusammen, als sie mit ihrer Freundin anstieß. Oh Gott. Wie konnte sie verschwinden, ohne ihre beste Freundin einzuweihen? Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber es kam nichts heraus.

Joanies Augen wanderten fragend über ihr Gesicht, als etwas hinter Carlotta ihr Interesse erregte. Sie spähte über Carlottas Schulter. „Da kommt dein Bodyguard und er hat einen ziemlich heißen Typen im Schlepptau. Er ist doch nicht etwa vom anderen Ufer?“

Nicht, wenn der Blick, mit dem er ihr in den Ausschnitt gestarrt hatte, echt gewesen war. Sie drehte den Kopf, um zu sehen, wen Vincent getroffen hatte. Zuerst dachte sie, es wären die Bässe, die in ihrem Körper wummerten, aber dann erkannte sie, dass es ihr eigenes Herz war, das so dröhnte. Gabriel. Oh nein. Das hatte ihr noch gefehlt.

Erst in dieser Sekunde wurde Carlotta klar, dass Joanie von Gabriel gesprochen hatte, als sie den „heißen Typen“ erwähnte. „Das ist Gabriel Bellini“, flüsterte sie ihrer Freundin zu und merkte, wie sich der schmale Körper Joanies versteifte. „Alles gut“, sagte sie beruhigend „Du weißt ja, mir liegt nichts an ihm.“

Bevor sie weitersprechen konnte, war Gabriel auch schon bei ihnen. Zu allem Überfluss hatte er seine übliche Entourage bei sich. Tat er jemals etwas ohne Marc und Santo? Gabriels Bodyguards blieben auf Distanz zu ihnen, ebenso wie Vincent, der ihnen kalt zunickte. Wahrscheinlich hielt sich jeder der drei Männer für einen Ausbund an Diskretion und Takt, weil sie Gabriel und Carlotta ein wenig Privatsphäre gönnten, auf die sie im Übrigen gut hätte verzichten können. Genau wie auf ihre und Gabriels Anwesenheit. Das Risiko, es nicht rechtzeitig aus dem Club zu schaffen, wurde von Stunde zu Stunde größer.