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Er ist der Jäger, sie die Gejagte. Nach dem Abschluss will Sofia vor allem eins: endlich in ihre Heimat Sizilien zurückkehren, um den Klauen ihres Stalkers zu entkommen. Erleichtert nistet sie sich in dem ländlichen Weinhotel ihrer Tante im Küstenort Castellammare del Golfo ein, auch wenn sie weiß, dass ihr Schatten ihr stets dicht auf den Fersen sein könnte. Ihre Wachsamkeit schwindet, als sie Valentin kennenlernt, der als Auslandsstudent im Weingut ihres Onkels aushilft. Mit seinem ruhigen Wesen und dem immerzu kalten Ausdruck weckt der gutaussehende Motorradfahrer unentdeckte Wünsche in ihr. Was Sofia jedoch nicht weiß, ist der Grund für Valentins Aufenthalt in Castellammare: er ist auf der Suche nach jemandem. Als Sofias Jäger sie wieder einholt und Valentin bei seiner Suche auf Schreckliches stößt, kollidieren nicht nur ihre Vergangenheiten, sondern ganze Welten.
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Originalausgabe
© 2024 reverie in der
Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
Gesetzt aus der Loretta
von GGP Media GmbH, Pößneck
Grafik Notizzettel von upklyak / freepik.com
Covergestaltung von Andrea Janas | andreajanas.com
Coverabbildung von 3D Typo Eigenillustration, merrymuuu, tomertu / Shutterstock, 5198 / kjpargeter / depositphotos
E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN E-Book 9783745704563
www.reverie-verlag.de
Liebe Leserinnen und Leser, dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet Ihr am Romanende eine Themenübersicht, die demzufolge Spoiler enthalten kann.
Wir wünschen Euch das bestmögliche Erlebnis beim Lesen der Geschichte.
Euer Team von reverie
Per Nonna Karin e Nonno Pino
Nonna, ti voglio bene a prescindere da tutto.
Nonno, mi manchi incredibilmente e ti penso ogni giorno.
Spero che siete orgogliosi di me.
Men on the moon → Chelsea Cutler
Goodnight → Lennon Stella
Good for you → Selena Gomez, A$AP Rocky
Dangerous Woman → Ariana Grande
Like that → Bea Miller
Quit → Cashmere Cat feat. Ariana Grande
Like a god → Lia Marie Johnson
Champagne → Lia Marie Johnson
Thinking bout you → Ariana Grande
… yes girl → Bea Miller
Cold heart killer → Lia Marie Johnson
Where do we go now → Gracie Abrams
Smoking gun → Lia Marie Johnson
Señorita → Shawn Mendes, Camila Cabello
Cornelia Street → Taylor Swift
Solange wir fahren → Alex Lys, Madeline Juno
Dream → Chris Brown
Dress → Taylor Swift
Call it what you want → Taylor Swift
Die Sonne in deinem Zimmer → Edwin Rosen
È sempre bello → Coez
Shameless → Camilla Cabello
Mirrorball → Taylor Swift
Style (Taylor’s Version) → Taylor Swift
hey you got drugs? → Tove Lo
Small doses → Bebe Rexha
Wenn ich an Castellammare del Golfo dachte, war da immer die Wärme, die selbst in den Nächten auf meiner Haut lag. Sie steckte im hellen Licht der Straßenlaternen, vermischt mit dem Klang lachender Menschen vor Bars, Restaurants oder zwischen den großen Palmen der Piazza Petrolo. Castellammare war für mich das Gefühl, die Welt würde stehen bleiben, der Moment für immer anhalten, wenn ich mit meiner Nonna und meinem Nonno auf der Terrasse saß, Pasta mit Salsa di Pomodoro aß und frisch geschnittene Cantaloupe-Melone auf uns wartete. Es waren Abende, die nicht enden sollten, in die Nacht starrende Konversationen, Dunkelheit, in der ich mich wohlfühlte, denn es war warm, in der Ferne die Reflexionen der Stadt, die mein Herz wärmten. Wenn ich an Castellammare dachte, schmeckte ich das herbe Aroma von Nonnas Feigen in meinem Mund, roch die in Fett gebratenen Auberginen und fühlte das süße Eis, das auf meiner Zunge zerging und sich mit der Brioche vermengte. Ich erinnerte mich an das Salz auf meiner Haut, das jedes Mal zurückblieb, wenn ich vom Strand heimkam, und an verwegene Gassen, in denen ich mir Geschichten für Romanzen ausmalte. Ich dachte an meine Cousine Chiara, wie wir schon mit vierzehn laut zu Avril Lavignes Smile mitgesungen und meine Finger auf dem Rücksitz zum ersten Mal jene meines ersten Schwarms Gionata Zionetti berührt hatten. An Straßenmusiker am Hafen, Abende, in denen wir uns an den Strand stahlen, tranken, feierten und vielleicht auch etwas rummachten, ohne dass Nonno davon wusste. Ich dachte an lange Kleider und ausgefallene hohe Schuhe, daran, dass man sich dort hübsch machen konnte und nie overdressed war, weil die Italienerinnen immer schick unterwegs waren. Die Erinnerung ans Duschen im Freien, Haare, die in der warmen Sonne trockneten und vom Salz wellig waren. An den Geruch nach Sonnenöl auf der Haut, an Sand zwischen den Zehen, das Schnorcheln in Scopello und die Straßenhunde, mit denen ich meine Mittagszeit verbrachte.
All diese Dinge und mehr hatte ich stets im Kopf, wenn ich an Castellammare del Golfo dachte. Bis zu diesem einen Sommer.
Ab da roch Castellammare für mich nicht mehr nach Orangen, sondern Motoröl. Es fühlte sich nicht mehr an wie ein ruhiger Mittagsschlaf nach einem Tag in der prallen Sonne, sondern wie heiße Küsse in meinem Nacken, in meiner Halsbeuge und auf meinem Schlüsselbein. Ab diesem Sommer dachte ich nur an das Vibrieren unter mir, das meine Beine durchströmte, wenn ich auf seinem Motorrad gesessen hatte. Hörte ihn meinen Namen sagen, spürte seine Hände um meine Hüfte und wie sie mich in seinen Arm hoben. Ich sah schwarze Tinte, die Bilder auf seinen Rücken zeichnete, meine Finger, die diese Linien nachfuhren.
Irgendwann verband ich Castellammare del Golfo nur noch mit ihm. Denn dies war der Sommer, der seinen Namen trug.
Sofia
Chi dorme non piglia pesci, stand in unleserlicher Schreibschrift auf dem Post-it, den mir Zia Liliana auf den Flyer der Università degli Studi di Palermo geklebt hatte. Ohne Fleiß kein Preis, übersetzte die Stimme in meinem Inneren ihre mit Herzchen geschmückte Nachricht, ehe ich den Blick aus dem kleinen Flugzeugfenster warf und das weite Meer aus Wolken unter mir betrachtete. Seit wir abgehoben waren, hatte ich mich angespannt an die Infobroschüre geklammert, sie aber bisher noch nicht näher angesehen. Meine Tante wollte, dass ich mich wenigstens während meiner Zeit auf Sizilien um meine Zukunft kümmerte, wenn ich es schon nicht in England tat. Sie dachte, ich wollte mich erst mal auf die faule Haut legen und alles andere schleifen lassen. Und vielleicht wollte ich das auch, schließlich hatte man mir meine Heimat vor acht Jahren genommen und ich viel nachzuholen. Um alles, was danach kommen sollte, konnte ich mich dann immer noch kümmern.
Was sie nicht wusste, war, dass es noch einen weiteren Grund für meine abrupte Flucht gab. Und dieser brannte sich gerade ätzend durch meine Hosentasche. Ich fuhr über meinen Schenkel, als könnte ich das unwohle Gefühl, das das dünne Blatt Papier darin ausgelöst hatte, wegreiben. Nach zwei Jahren hatte es wieder begonnen. Seine Worte brannten sich in mein Inneres, waren mit unsichtbarer Tinte auf meine Haut tätowiert, die sich unter ihrer Bedeutung entzündet hatte. Am liebsten hätte ich sie von meiner Haut gekratzt. Ihn und das Spiel, das er mit mir spielte, wie einen lästigen Kaugummi von meinem Schuh geschabt und fortgeschmissen. Doch so einfach war das nicht.
Weil ich es nicht ertrug, friemelte ich den Zettel hervor. Darauf zu sehen die altbekannten, schmerzenden Worte, seit diesem Jahr fein säuberlich mit einer Schreibmaschine statt wie damals mit aufgeklebten Buchstaben aus einer Zeitschrift geschrieben. Auch der Duft war anders. Er war penetrant, roch nach einem billigen Aftershave, das man in überfüllten Clubs an jeder Ecke riechen konnte. Dennoch war ich mir sicher, dass der Verfasser sich nicht verändert hatte, das spürte ich an dem unerklärlichen Hass, den er noch immer für mich übrighatte. Er war nur schlauer geworden.
Ich zückte mein Handy, machte zur Sicherheit ein Foto von der Nachricht und zerfetzte sie dann in tausend Kleinteile, die ich am liebsten aus dem Flugzeugfenster geworfen hätte. Stattdessen stopfte ich sie in die Tasche vor mir in eine Kotztüte. Genau da, wo sie hingehörten.
Meine Tante wusste von nichts. Ich hatte es ihr verschwiegen, weil ich ihr bei all dem Stress, den sie ohnehin hatte, keine Sorgen bereiten wollte. Vielleicht würde sich das Problem auf Sizilien von selbst auflösen, ich könnte endlich durchatmen und all das hinter mir lassen. Dazu gönnte ich auch meiner Tante eine Pause: von meinen Ängsten und dem Ballast, den ich mit mir rumschleppte und hoffte, in meiner Heimat über Bord werfen zu können.
Ich liebte meine Zia Liliana. Sie war das einzige Stück Heimat, was mir in England geblieben war, und bei allem, was ich nach meinem Umzug damals durchmachen musste, der größte Halt gewesen. Doch mein Herz schlug nun mal am höchsten, wenn ich auf Sizilien war. Dort, im kleinen Küstenstädtchen Castellammare del Golfo war ich geboren, hatte die ersten zwölf Jahre meines Lebens verbracht und Familie und Freunde an meiner Seite gehabt. Dieser Ort war mein Zufluchtsort. In diesem Fall im wahrsten Sinne des Wortes.
Die Wolken verdunsteten, ermöglichten mir einen Blick auf die große Insel, die in der Ferne auftauchte. Von jetzt auf gleich machte sich ein großes Lächeln auf meinem Gesicht breit. Es war real. Ich würde vorerst wirklich bei meiner Nonna und dem Rest der großen Familie bleiben. Einen Rückflug hatte ich nicht gebucht. Ich wusste nicht, ob ich zurückwollte oder vielleicht tatsächlich eine Zukunft auf Sizilien anstrebte. Das wollte ich zu dem Zeitpunkt aber auch noch gar nicht wissen.
Chi troppo vuole nulla stringe, hätte mein Nonno nun auf meine Gedanken geantwortet, hätte er sie gehört. Und wer weiß, vielleicht hörte er sie ja wirklich. Vielleicht war er der Grund, weshalb mir seine Worte urplötzlich ins Gedächtnis kamen und mich daran erinnerten, dass es nie gut war, zu viel zu wollen. Ich hatte immer zu meinem Großvater aufgesehen. Während die Welt um mich herum in Eile gewesen war, man von überall Druck bekommen hatte und gedrängt worden war, alles richtig zu machen, war er mein Ruhepol gewesen. Bei ihm hatte ich nicht perfekt sein müssen, wichtig war nur gewesen, dass ich glücklich war. Alles andere war stets danach gekommen.
Ein kurzer Ton erklang, dann leuchtete das Signal zum Anschnallen auf und der Co-Pilot erklärte uns in einer kurzen Durchsage, dass wir den Landeanflug begonnen hatten. Hastig zog ich die Kopfhörer aus meinen Ohren, blickte rasch auf mein Handy. Auch wenn ich es im Flugmodus hatte, war ich mir sicher, dass außer einer Nachricht meiner Nonna und meiner Zia nichts Neues auftauchen würde. Ich hoffte es zumindest.
Der Flughafen in Palermo war im Gegensatz zum Londoner klitzeklein. Ich kannte ihn wie meine Westentasche. Die letzten acht Jahre war ich jeden Sommer, manchmal auch im Herbst oder Winter, hier gewesen, um meine Ferien bei Nonna und Nonno zu verbringen. Deshalb wusste ich schon beim Aussteigen, welchen Weg ich einschlagen musste, um schleunigst zur Kofferausgabe zu gelangen, wusste, welche Rolltreppe mich zum Ausgang führte und an welcher Straße ich Zia Miriam finden würde.
Schon beim Raustreten lief ich in eine Wand aus Hitze. Obwohl wir erst Juni hatten, waren es bereits dreißig Grad im Schatten. Kurz schloss ich die Augen, atmete die warme Luft ein, die, auch wenn es direkt vor dem Flughafen nach verbranntem Gummi, Zigaretten und kaltem Kaffee roch, sofort die altbekannte heimatliche Leichtigkeit in mir auslöste. Nirgendwo anders konnte ich mich so fallen lassen, alle Sorgen vergessen und tief durchatmen wie hier.
»Ciao, bella!« Noch ehe ich die Augen öffnete, wusste ich, dass diese Anmache, die aufdringliche Männer nachahmen sollte und nun von einem schmatzenden Kussgeräusch begleitet lautstark über die Straße gebrüllt wurde, von meiner Tante stammte. »Kann ich dich mitnehmen?«
Ich öffnete die Augen, blickte in ein mit Sommersprossen übersätes, gebräuntes Gesicht, das mir entgegenstrahlte.
»Ciao Zia«, rief ich ihr zu, griff nach meinem Koffer und eilte über die Straße auf sie zu. Sofort stieg sie aus und streckte mir ihre Arme entgegen, in die ich sehnsüchtig hineinfiel. Spätestens jetzt konnte ich den gesamten Duft meiner Heimat in mir aufnehmen. Das blaue Shirt meiner Tante roch nach frischem Olivenöl aus dem Garten meiner Nonna, ihrer unvergleichlichen Salsa di Pomodoro und dem salzigen Wind, der einen bis hoch in die ländliche Gegend von Castellammare del Golfo erreichen konnte.
Ohne die Umarmung zu lösen, hob ich den Blick. Mimi, wie ich sie von klein auf nannte, strich mir über mein langes braunes Haar. Meine Großeltern hatten immer gesagt, dass ich ihr von den drei Töchtern am ähnlichsten war. Auch wenn ich Mamma nie kennenlernen durfte, weil sie bei meiner Geburt gestorben war, kannte ich sie von Bildern. Während ich von ihr die grünen Augen und die zierliche Größe zu haben schien, hatte Mimi mir ihre dichten braunen Haare vererbt, die Sommersprossen, die auch an meinen Schultern und Armen zu sehen waren, und ihr lautes Temperament.
»Chiara wartet schon sehnsüchtig auf dich«, meinte sie, löste sich von mir und machte sich daran, meine Sachen in den Kofferraum zu heben. »Rate, was sie sich für heute Abend überlegt hat.«
Nachdem alles verstaut war, ließ ich mich auf dem Beifahrersitz nieder, dann startete Mimi den Motor. Ein Schmunzeln huschte über meine Lippen. »Gehen wir in eine Bar?«
»Und rate, welche sie ausgesucht hat.«
Mein Schmunzeln wuchs zu einem Grinsen heran. »Das Marlins.«
Mit einer typisch italienischen Handbewegung verdeutlichte meine Tante, wie unfassbar berechenbar sie ihre Tochter fand. Und das war sie. Chiara war zwei Jahre älter als ich, wirkte in vielen Dingen aber dennoch jünger. Zum Beispiel in ihrem zuckersüßen Enthusiasmus. Wie ein kleines Kind fieberte sie auf bestimmte Ereignisse hin oder hielt die Planungen ihrer Abende, Outfits und Aktivitäten am liebsten in einem Notizbuch fest. Auch wenn es sich dabei eigentlich immer um dieselbe Bar – das Marlins am Hafen – und dasselbe oder wenigstens ein ähnliches Outfit handelte. Während Mimi stets modisch gekleidet war, immer wunderschöne bunte Kleider, auffallende Accessoires und typisch italienische Pumps trug, war ihre Tochter mehr der basic Typ, trug gerne Schwarz, Sneaker und ein einfaches, loses Shirt. Ich war eine Mischung aus beidem.
»Warum ist sie nicht mitgekommen?«
Wir fuhren auf die Autobahn, die direkt an den Klippen entlangführte. Zu meiner Rechten malte das weite Meer ein Mosaik aus Blau und Türkis an den Horizont, wurde geschmückt von sanften Strahlen der Abendsonne, die sich durch die wenigen Wolken drückte und das weit entfernte Ende der Küste mit Goldregen benetzte. Zu meiner Linken ragten hohe grüne Berge in den Himmel, an denen kleine Ferienhäuser sowie zahlreiche Olivenbäume und Weinplantagen zu sehen waren.
»Irgendwer muss doch im Hotel bleiben«, antwortete Mimi, fuchtelte wild in der Luft herum, weil irgendwer hinter ihr drängelte, und hupte aufgebracht, als dieser sie überholte. »Stronzo.«
Ich musste mir ein Grinsen verkneifen, als ich realisierte, dass ich tatsächlich zu Hause angekommen war. Hier auf Sizilien, wo die Hupe Hallo, Vorsicht! und Arschloch zugleich bedeutete.
»Außerdem«, griff sie meine Frage noch einmal auf, »muss sie euren Abend doch vorbereiten. Ich sag’s dir, mit ihrem Drang nach Planung und Ordnung ist sie britischer als jeder Engländer bei euch in Norwich.«
Lachend warf ich den Kopf in den Nacken und lehnte mich in den Sitz. Ihre Kindheit hatte meine Mutter Maria mit ihren Schwestern Liliana und Mimi in England verbracht. Mamma und Liliana waren vorerst geblieben, hatten sich schließlich verliebt, während Mimi bereits mit achtzehn mit meinen Großeltern zurück nach Sizilien gegangen war und sich dort auf dem Weingut ihres Mannes Marco ein kleines ländliches Hotel aufgebaut hatte. Ich war wie Mimi. Ich wollte auch zurück, und vielleicht war das der Grund, weshalb ich mich mit ihr schon immer am besten verstanden hatte. Sie war wie ihr Vater, wie mein Nonno. Auch sie ging die Dinge ganz entspannt an, hörte mehr auf ihr Herz als auf den Verstand und lebte im Moment – die ganz typische italienische Art eben. Zia Liliana war da anders. Eingeenglischt, sagte Mimi oft, denn bei ihr gab es, typisch für Nordländer, festgefahrene Pläne, Ordnung und Ziele. Dinge, die auch ich für wichtig empfand, die nur eben jetzt noch nicht mein Leben bestimmen sollten. Ich wusste nicht, wie Mamma gewesen war. Vielleicht ein bisschen von beidem. In jedem Fall war sie hoffnungslos romantisch und dementsprechend leider auch naiv gewesen. Sie verliebte sich in den Briten. So nannte ich ihn. So nannte jeder ihn hier in der Familie. Denn ihn bei seinem richtigen Namen zu nennen, war er nicht wert. Der Brite hatte mich und seine sterbende Freundin einfach allein gelassen, weswegen ich ihn strikt aus meinem Leben gestrichen hatte. Für mich existierte er nicht, für mich war ich zu beiden Teilen italienisch, für mich war er gestorben. Nur meine Familie kannte die Wahrheit, anderen hatte ich nie davon erzählt, wo oder wer mein Vater wirklich war.
»Du kommst genau richtig«, warf Mimi ein. »Nächsten Monat ist wieder die Gala di Beneficenza per salvare il Mare im Belvedere. Das Tenute Firriato ist als Weinlieferant natürlich wieder eingeladen. Dein Onkel ist schon ganz aufgeregt, er will, dass alles perfekt ist. Dabei sind wir nur als Gäste auf der Spendengala, die Lieferung übernimmt seine Spedition.«
Ich lachte. »Das heißt, es wird so richtig pompös und elegant?«
Sie warf mir einen vielsagenden Blick zu, wackelte mit den Brauen. »So richtig richtig. Wir müssen dir noch ein Kleid besorgen.«
»Wer kommt alles mit?«
»Wir vier, ein paar von Marcos Mitarbeitern und …«, sie hielt kurz inne, ehe sie weitersprach, »… mal schauen, ob Nonna mitkommt.«
Meine gute Laune verblasste sofort. »Wie geht es ihr?« Ich wusste, dass sich meine Großmutter seit dem Tod ihres geliebten Mannes vor fünf Jahren enorm zurückgezogen hatte und das Haus nur morgens für einen kurzen Strandbesuch und zum Einkaufen verließ.
Auch Mimi wurde ernster. Sie zuckte mit den Schultern. »Letztens hat sie einen Abend bei uns im Hotel verbracht. Es gab Livemusik und sie hat mit Chiara sogar ein wenig getanzt, das war schön.«
Meine Mundwinkel zuckten hoffnungsvoll. »Das hört sich doch gut an.«
»Ja«, hauchte sie. Ihr Blick ließ jedoch wenig Raum für Hoffnung. »Danach war sie allerdings fünf Tage lang nicht draußen gewesen. Papà hat schon eine große Leere hinterlassen.«
Ausweichend wandte ich den Blick aus dem Fenster und versuchte, meine Tränen zurückzuhalten. Mehr und mehr wurde mir klar, dass sich das Zuhause, das in meinen Erinnerungen lebte, rasant verändert hatte. Die ersten zwölf Jahre war ich bei meinen Großeltern aufgewachsen, wohlbehütet und geliebt. Weil mein Nonno an Parkinson erkrankt war und Nonna ihn hatte pflegen müssen, hatte sie keine Kapazitäten mehr gehabt, um sich auch noch um mich zu kümmern, weshalb sie mich zu Liliana nach Norwich gegeben hatten. Dort hätte ich bessere schulische Möglichkeiten, hieß es, obwohl ich lieber bei Zia Miriam geblieben wäre. Es war schmerzhaft, dass Nonno nun nicht mehr da war, mich nicht in den Arm nehmen, zum Lachen bringen oder sich mit mir um die Straßenhunde kümmern konnte. Doch was fast noch mehr schmerzte, war das Gefühl, auch meine Nonna nach und nach zu verlieren. Nichts war mehr so, wie ich es in Erinnerung hatte.
»Aber jetzt bist du ja da.« Freudig klopfte mir meine Tante auf den Oberschenkel und strahlte mich an. »Bestimmt wird sie das auch etwas aus dem Haus locken.«
Sofia
»Rate mal, wo wir heute Abend hingehen.« Chiara stand auf der obersten Treppenstufe vor dem Haus und warf mir ein breites Grinsen zu.
»Soll ich wirklich raten?« Ich streckte mich, nachdem ich ausgestiegen war und wieder waschechten Castellammare-Boden unter den Füßen hatte. Ein kürzlich wieder zum Leben erweckter Automatismus brachte mich dazu, die Umgebung zu checken. Unmerklich blickte ich mich um und atmete erleichtert auf, als ich nichts Verdächtiges entdecken konnte.
Das Landgut meiner Tante lag an einem Hang. Tenute Firriato stand auf einem verrosteten Schild an der gepflasterten Einfahrt. Im Hintergrund hob sich der steile Weinberg empor, davor lag das Hotel mit antiker Fassade und roten Ziegeln auf dem Dach, gesäumt von graugrünen Olivenbäumen, Feigenbäumen, Palmen und diversen anderen Pflanzen. Die Treppe, die zum Eingang hinaufführte, war bröselig. Die ein oder andere Stufe unterschied sich in der Höhe um einige Zentimeter und ich wusste genau, bei welcher ich den Fuß weiter heben musste.
»Eh, Mamma!«, rief Chiara und verschränkte die Arme vor der Brust. »Hast du es ihr schon verraten? Che cattivo!«
Mimi und ich brachen beide in Gelächter aus, ehe ich mit dem Koffer die Stufen hinaufstieg.
»Chiara, Amo, Mimi musste mir gar nichts sagen. Ich hab’s selbst rausgefunden. War auch gar nicht schwer. Marlins, oder?«
Als ich bei ihr ankam, löste sie ihre Arme und schmunzelte mich ertappt an. »Du kennst mich zu gut«, sagte sie und zog mich in eine innige Umarmung, bei der wir quietschend hin- und herschwankten.
»Ihr verschreckt mir noch meine Gäste«, meinte Mimi lachend und lief an uns vorbei zur großen Terrasse des Hotels, auf der sich einige Leute niedergelassen hatten.
Ich löste mich aus Chiaras Umarmung und sah sie mir genauer an. Wie erwartet trug sie Schwarz. Schwarze Shorts und ein dazu passendes Shirt, das ihre dunklen Haare und die violetten Spitzen darin perfekt umschmeichelte. Ihre Haut war blasser als die meine. War sie schon immer gewesen, obwohl sie rund um die Uhr in der Sonne war. Manchmal witzelte Mimi, Chiara wäre ein Vampir, was diese wiederum nur mit einem Augenrollen abtat. Das Einzige, was Chiara und ich äußerlich gemeinsam hatten, waren die dunkelgrünen Augen und die Körpergröße, die am Maßband nur 1,58 Meter aufzeigte.
»Ist alles okay?« Chiara strich mir liebevoll über die Wange. »Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«
Ausweichend rieb ich mir die Augen. Konnte man mir meine Angst wirklich schon ansehen? »Ich bin nur müde vom Flug«, antwortete ich, hakte mich bei ihr unter und zog sie zum Hotel. »Was ist der Plan für heute?«
Das war das Schönste an Sizilien. Der Tag begann erst mit Einbruch der Dunkelheit. Hier gab es selten einen Abend, an dem man zu Hause blieb und fernsehen schaute. Man ging raus, trank etwas in einer Bar, ging essen oder einfach nur spazieren. Wenn man tagsüber den Hafen besuchte, bekam man gähnende Leere zu Gesicht, während sich später das pure Leben dort tummelte. Von Jung bis Alt konnte man im Ort jedem begegnen. Man war nie allein.
»Wir treffen ein paar Freunde im Marlins und können dann noch weiterziehen, wenn wir Lust haben.«
Wir liefen über die große Terrasse, auf der ich kurz verharrte, um die Umgebung in mir aufzunehmen. Vor mir tat sich der gewaltige Weinberg auf, getunkt in das letzte Licht des Abends. Über uns funkelten Lichterketten, hier und da flackerte eine Kerze, von der das Wachs tropfte, und neben die leise Musik gesellte sich das deutliche Zirpen tausender Grillen. In der Ferne konnte man die Küste und das Meer sehen. Die Lichter der Häuser und Gassen häuften sich dort unten zu glimmendem Goldregen. Castellammare ist hell und warm, dachte ich, sog den Duft frischer Pasta, deftiger Sfincione – eine sizilianische Pizzaart – und selbst gemachter Arancini in mir auf, die mein Onkel Marco für die Gäste gerade vorbereitete.
»Hat wieder irgendwer Geburtstag?«, fragte ich, weil das bei Chiaras zahlreichen Freunden tatsächlich oft der Fall war. Wir begaben uns ins Innere, wo es dank der vielen Klimaanlagen angenehm kühl war. Ohne die würde man nachts kein Auge zubekommen. Beim Eintreten begrüßte einen direkt die Rezeption, die mit blau-weißen Fliesen mit sizilianischen Mustern verziert war, links davon ging es in die Küche, während rechts eine Treppe in den ersten Stock führte. Das Hotel meiner Zia war nicht groß. Genau genommen besaß es elf Zimmer. Die meisten Touristen, die sich nach Castellammare verirrten, waren eigene Landsleute. Meine Nonna hatte einst gesagt, Sizilien wäre für Norditaliener wie Sylt für die Deutschen oder die englische Countryside für die Londoner. Nur ab und an gab es auf Sizilien auch internationale Besucher, die meisten Touristen kamen jedoch vom Festland.
»Geburtstag nicht, aber Mattia hat seinen Bachelor in der Tasche und wir müssen anstoßen!«
Und was ist mit dir?, war ich kurz davor zu fragen, konnte mir aber rechtzeitig auf die Zunge beißen und schenkte ihr stattdessen ein Lächeln. Chiara hatte sich, anders als ihr langjähriger Freund Mattia, noch an keiner Uni eingeschrieben oder eine Lehre begonnen, und das, obwohl sie bereits seit drei Jahren ihren Abschluss hatte. Auch wenn ich nicht urteilen sollte – schließlich hatte ich selbst noch keinen Plan, was ich nun machen wollte –, wusste ich, dass Chiara eigentlich ziemlich genaue Zukunftspläne hatte. Seit ihrem Abschluss jobbte sie im Hotel ihrer Mutter und in der Küche ihres Vaters, dabei war das Malen von klein auf ihre Leidenschaft gewesen. Ich schätzte, dass ihr Pflichtbewusstsein ihren Eltern gegenüber und ihre Zweifel daran, mit einem Kunststudium wirklich etwas erreichen zu können, sie daran hinderten.
»Eeh, Sofia!« In dem Moment, in dem wir an der Rezeption ankamen, trat mein Onkel Marco lachend aus der Küche, warf sich ein Spültuch über die Schulter und breitete die Arme aus. Kurzerhand griff er nach meinen Wangen und verteilte auf ganz italienische Art ein paar Küsse darauf. »Come stai? Äh …, wie geht es dir?« Im Gegensatz zu Mimi und Chiara konnte Marco nicht fließend Englisch, doch er wurde immer besser.
»Bene grazie, mir geht es gut. Und dir? Das duftet übrigens herrlich!«
»Das ist meine neue creazione speciale. Busiati con l’Agghia Pistata mit Pomodori von deiner Nonna und ein Schuss Nero d’Avola aus unserem Keller.«
Wie aufs Sprichwort ging in dem Moment die Tür zum Weinkeller auf und ein hochgebauter Typ kam mit zwei Weinkästen heraus. Was meinen Blick an ihm hängen ließ, war der Fakt, dass er so was von gar nicht her passte. Hier, nach Sizilien, nach Castellammare. Er war breit gebaut, hatte hellbraunes Haar und helle, nur leicht gebräunte Haut. Auf seinen Schultern und Oberarmen konnte man die Enden mehrerer Tattoos erkennen, die unter seinem Shirt noch weiter zu verlaufen schienen. Auch wenn ich es nicht richtig erkennen konnte, war ich mir sicher, dass seine Augen dunkelblau waren und einen kühlen und viel zu distanzierten Blick draufhatten. Ich erkannte allein an seinem Äußeren, dass er kein Italiener war.
Als er an uns vorbeilief, würdigte er uns keines Blickes, verschwand nur stumm in der Küche und kam mit zwei leeren Kästen Wein wieder raus. Immer noch etwas verwundert, musterte ich ihn weiter. Er trug ein lockeres weißes Shirt, dazu schwarze Jeans und Boots. Und das im Sommer. Sein Gesicht war markant, das Kinn leicht vorstehend und die Lippen voll. Sobald er den Ausgang ansteuerte, erhaschte ich einen kurzen Blick auf die Ader an seinem Bizeps, die nun durchs Tragen deutlich zu sehen war. Er stellte die Kisten vor der Tür zum Weinkeller ab, ehe er den Ausgang anpeilte, in eine schwarze Lederjacke schlüpfte und sich schließlich an Marco wandte.
»Mach’s gut. Wir sehen uns morgen.« Brite. Hatte ich’s doch gewusst.
»Arrivederci, Valentin.«
Mein Blick zuckte zu meinem Onkel, dann drehte ich mich noch mal um und landete wider Erwarten genau im Dunkel seiner Augen. Valentins Augen.
Wir sahen einander an, dennoch konnte ich nicht deuten, was in seinem Kopf vorging. Was ich jedoch wahrnahm, war, dass in diesem Moment irgendwas passierte. Oder auch nicht. Es war mir nicht möglich, zu sagen, was es war. Da war so viel Leere in seinem Blick, gleichzeitig konnte ich auch einen Hauch von Überraschung entdecken. Seine Augen sind silbrig, dachte ich. Und das waren sie. In dem dunklen Blau entdeckte ich ein silbriges Glimmen, das sich mit dem Gold meiner Heimat stach. Er wirkte vollkommen fehl am Platz, irgendwie verloren.
Im nächsten Moment wandte er sich abrupt ab, war verschwunden und ich hatte keine Ahnung, ob unser Blickkontakt Realität oder Einbildung gewesen war.
Bevor ich mich fertig machte, lief ich zum Nachbarhaus, in dem meine Nonna wohnte. Dafür musste ich einen sandigen Kiesweg entlanglaufen, der von dichtem Gewächs, Olivenbäumen und Palmen gesäumt war, kam an einem Ziegengehege vorbei und passierte ein paar Weinreben meines Onkels. Vor dem Himmelszelt baute sich der dunkle Berg auf, der von dem ein oder anderen Licht vereinzelter Landhäuser geschmückt wurde. Hier oben auf dem Land war es ruhig. Die meisten Touristen ließen sich unten im Ort nieder, dort, wo es Geschäfte, Restaurants und den Strand gab und man kein Auto mieten musste, um sich fortzubewegen. Dafür hatte man hier seine Ruhe, war umgeben von Pflanzen, reiner Luft und dem beruhigenden Zirpen tausender Grillen.
Kurz vor dem Tor meiner Großmutter hörte ich hinter mir plötzlich etwas rascheln. Erschrocken drehte ich mich um und durchforstete die Dämmerung. Mein Herz begann sofort, spürbar in meiner Brust zu rasen. Es pumpte in meinen Fingern, meinen Schläfen, meinem Bauch. Obwohl ich das Landleben bei meiner Familie wirklich liebte, war es abends manchmal etwas Furcht einflößend. Keine Straßenlaterne brannte, dafür huschten ein paar letzte Schatten des Tages durch die Umgebung. In der Ferne hörte man die leise Musik und das Gemurmel der Hotelgäste meiner Tante und … da, wieder das Rascheln, dann ein langer Schatten. Die Panik in mir wuchs. Was war, wenn … nein, das war unwahrscheinlich. Ganz sicher. Trotzdem dehnte sich in mir wieder diese beklemmende Hitze aus, mein Mund wurde trocken, meine Atmung flach.
»Hallo?«, rief ich den Weg hinab, kam dem Geräusch langsam näher. Dann plötzlich sah ich es, sah die Bewegung, fließend, schnell. Mit einem lauten Schrei wich ich zurück, noch während ich erleichtert erkannte, wer beziehungsweise was da vor mir auftauchte: ein Müllbeutel, der im leichten Wind aufgewirbelt wurde, direkt daneben ein alter Freund.
»Sciro!« Voller Erleichterung lachte ich einmal laut los, ging in die Hocke und begrüßte das kleine weiße Wollknäuel, das seit Generationen auf uns aufpasste. Sciro war ein kurzhaariger Straßenhund, mittelhoch und weiß. Schon seit zehn Jahren lebte er in unserer Straße, wurde von uns gepflegt und gefüttert. Damals, als mein Nonno und ich ihn verletzt am Straßenrand aufgegabelt hatten, hatten wir ihn eigentlich behalten wollen, doch da meine Nonna sich vor Hunden fürchtete, hatten wir ihn schweren Herzens freilassen müssen. Wie sich schnell herausgestellt hatte, wollte auch er uns nicht verlassen, sondern blieb seitdem stets bei uns und passte auf uns auf.
Ihn jetzt im Arm zu halten, trieb mir brennende Tränen in die Augen, die ich zu unterdrücken versuchte. Mit keinem anderen Familienmitglied hatte ich meine Liebe zu Tieren so stark teilen können wie mit meinem Nonno. Ich war mir sicher, dass er Sciro nun liebevoll auf den Hintern klopfen und ihn anschließend kraulen, dann ein Leckerli hervorkramen und mindestens eine halbe Stunde mit ihm verbringen würde, nur um ihm das Gefühl zu geben, dass er geliebt wurde.
»Ich hab leider gerade nicht viel Zeit für dich«, flüsterte ich. »Ich muss nämlich zu meiner Nonna. Und du weißt ja, dass sie Angst vor dir hat.«
Als würde er mich verstehen, kuschelte er sich nun enger an mich und erschwerte mir damit den Abschied.
»Aber ich komme wieder. Versprochen. Ich bin jetzt jeden Tag da!«
Mit diesen Worten erhob ich mich, wurde mit einem freudigen Bellen von ihm verabschiedet und noch ein Stück den Weg hinaufbegleitet. Am Tor blieb er stehen und blickte mir traurig hinterher, wandte sich kurz darauf aber auch schon wieder schwanzwedelnd ab, um sich anderen Dingen zu widmen.
Das Grundstück meiner Großeltern war riesig, das Haus hingegen sehr klein. Die Einfahrt war mit wackeligen Pflastersteinen belegt und führte zu einer kleinen Terrasse, auf der ein Tisch und ein dazu passender Stuhl stand. Früher hatten dort zwei gestanden, früher waren diese Stühle ständig besetzt gewesen.
Ich spähte ums Haus herum und blickte in einen Garten voller Gemüse und Früchte. Tagsüber konnte man hier Tausende Farben bestaunen. Meine Nonna besaß Olivenbäume, Orangen- und Tomatensträucher, Kiwipflanzen, die an einem Gestell hinaufkletterten, Feigenbäume und vieles mehr. Nun brannte nur eine einzige flimmernde Lampe an der Außenwand vom Haus und wies mir meinen Weg zur Haustür. Ich trat an die gläserne Tür, erkannte, dass im Inneren bereits Licht brannte, da der Tag langsam aber sicher ganz hinter dem Berg verschwand. Sicherlich bereitete sich Nonna mit einem Glas Wein und Eis auf einen gemütlichen Krimiabend vor. Ich klopfte laut gegen das Glas, öffnete die Tür und rief einmal mit voller Kraft »Nonna?« ins Innere. In der Küche rumpelte es.
Um sie nicht zu erschrecken, rief ich noch mal nach ihr. »Nonna? Ich bin’s, Sofia!« Nun regte sich etwas. Besteck klapperte auf einem Teller, ehe meine Nonna um die Ecke ins Wohnzimmer trat und mir durch ihre große Brille entgegenblickte.
»Sofia!« Ihre Stimme wandelte sich von überrascht zu erfreut. Kurzerhand breitete sie die Arme aus und eilte mir entgegen. Obwohl ich selbst winzig war, schaffte es meine Nonna, noch ein paar Zentimeter kleiner zu sein. »Ma che bello che sei qui!«
Sehnsüchtig schmiegte ich mich in ihre Arme, sog ihr teures Parfüm ein und hörte den vielen Goldschmuck an ihren Fingern und Armen klimpern, die sich um meinen Rücken legten.
»Ich freue mich auch, hier zu sein«, antwortete ich und drückte mein Gesicht in ihre Halsbeuge, ehe sie sich von mir löste und mich genauer unter die Lupe nahm.
»Du hast zugelegt«, erkannte sie. »Deine Hüften sind breiter geworden. Hast du etwa Liebeskummer?«
Meine Nonna war keine gewöhnliche Großmutter, wie meine Freunde und Bekannten sie in Norwich hatten. Sie verbrachte ihre Zeit nicht nur in der Küche oder im Schaukelstuhl, machte sich gerne hübsch, ging nie unfrisiert und ungeschminkt aus dem Haus, flirtete gern und trug mehr Schmuck an ihrem Körper, als ich überhaupt besaß. Nie verschwieg sie die Wahrheit, sprach einfach aus, was ihr in den Sinn kam – auch wenn es manchmal besser gewesen wäre, nichts zu sagen.
Mit ihrem Kommentar hatte sie nicht unrecht. Der Stress und die Angst, die mich seit dem Abschlussball begleiteten, hatten zu ausartenden Fressattacken geführt. Dies war eine lästige Angewohnheit von mir, die sich besonders in schwierigen Phasen zeigte. Ich hätte mich zwar immer noch als zierlich bezeichnet, doch meine Hüften waren tatsächlich breiter geworden.
»Herzlichen Dank auch, Nonna.« Mit einem Kopfschütteln grinste ich etwas verunsichert und folgte ihr in die Küche.
»Du weißt, dass ich es nicht so meine. Ich mache mir Sorgen. L’amore ha spesso il cuore freddo.« Die Liebe ist oft kaltherzig.
»Ich weiß, Nonna. Aber du liegst falsch, ich hab keinen Liebeskummer.«
»Dann muss es irgendetwas anderes sein. Ich sehe dir das an. Zu diesem Luke hast du keinen Kontakt mehr, oder?« Sie warf mir einen skeptischen Blick über die Schulter zu, ehe sie sich an einem frischen Pfirsich zugange machte und kleine Stücke ihrem Wein zufügte. Mit einem fragenden Blick bot sie auch mir einen an.
»Gerne.« Mit meinem Nicken schenkte sie ein weiteres Glas Weißwein ein, fügte auch diesem süße Stücke der Frucht hinzu. Ich beobachtete sie dabei. Heute waren ihre Nägel in einem klassischen Rot lackiert, morgen würde sicherlich ein Olivgrün dran glauben müssen. Nonnas Handgriffe waren so geübt und schnell, dass ich ihren Schneidebewegungen kaum folgen konnte.
»Und nein«, ich seufzte und fuhr mir angespannt über das Gesicht, »ich hab keinen Kontakt mehr zu Luke.«
Luke DiLaurentis war mein Ex, wir waren mit sechzehn zusammengekommen und hatten uns mit Ende siebzehn getrennt. Trotzdem musste ich mich jedes Jahr aufs Neue mit den Fragen nach ihm rumschlagen. Wahrscheinlich, weil er der einzige Typ war, mit dem ich je etwas gehabt hatte, jedenfalls der Einzige, von dem Nonna wusste. Sie liebte Gossip und Drama rund um die Liebe, weswegen er bei ihr immer wieder Thema war.
»Ich fand ihn sowieso nie sonderlich hübsch.«
Lachend ließ ich mich auf einem Stuhl am Küchentisch nieder. Man hätte meinen können, ich hätte mich nach so vielen Jahren an ihre unverblümte Ehrlichkeit gewöhnt, trotzdem erwischte sie mich immer wieder eiskalt damit.
»Aussehen ist doch auch nicht alles.«
»Nett fand ich ihn auch nicht.«
»Du hast ihn nie wirklich kennengelernt.«
Nun gestikulierte sie wild in der Luft herum, ehe sie mir das Weinglas reichte und sich zu mir an den großen Holztisch setzte, an dem einst die ganze Familie Platz gefunden hatte. »Muss ich nicht. Er ist Brite, das reicht mir. Für mich sind alle Engländer unten durch.«
Ein Kloß längst verdrängter Erinnerungen machte sich in meiner Kehle breit. Auch wenn Nonnas Abneigung gegen eine ganze Nation von Männern übertrieben war – schließlich konnte man sie nicht alle über einen Kamm scheren –, verstand ich ihre Wut. Auch ich war wütend, auch ich verband mit diesem Land und seinen Einheimischen nicht viel Gutes. Mein Vater war immerhin einer von ihnen und hatte mich im Stich gelassen – in jeder Hinsicht. Am liebsten hätte ich diesen Teil von mir einfach rausgerissen, genau wie die Erfahrungen, die für mich damit einhergegangen waren. Denn als ich mit zwölf Jahren zu Liliana gezogen war und kaum ein Wort Englisch gekonnt hatte, war ich die ersten drei Jahre lang von Mitschülern gemobbt und ausgeschlossen worden. Selbst als ich die Sprache irgendwann hatte fließend sprechen können, war ich trotzdem noch die komische Ausländerin mit dem seltsamen Akzent gewesen. Schuld daran war meiner Ansicht nach allein mein Vater. Er hätte derjenige sein müssen, der mir alles von klein auf beibrachte. Er hätte mich vor den emotionalen Narben verschonen müssen, die mir zugefügt worden waren. Allein seinetwegen hatte ich kein Elternteil, kein richtiges Zuhause, keinen Ort, an den ich wirklich hingehörte. Das Gefühl und die Ausgrenzung waren irgendwann so schlimm geworden, dass Liliana mir zuliebe umgezogen war, damit ich mit fünfzehn die Schule wechseln, das Schuljahr wiederholen und besseren Anschluss finden konnte. Dort hatte ich meinen Exfreund Luke und seine ein Jahr ältere Schwester Paula kennengelernt. Gesprochen hatte ich dennoch nicht viel – die englische Sprache gehörte seither zu meiner größten Unsicherheit. Bis ins Teenageralter hinein hatte ich einen schrecklichen italienischen Akzent, der bis heute in wenigen Worten hörbar war. Eigentlich sollte ich stolz auf ihn sein, denn er verdeutlichte, woher ich kam. Doch die Wunden, die die Worte und Blicke meiner Mitschüler ausgelöst hatten, saßen zu tief. Daher war es für mich selbstverständlich gewesen, meine Herkunft und meinen Vater zu verschweigen. Wenn die Leute gewusst hätten, dass ich zur Hälfte Britin war, hätten sie gefragt, wer der britische Teil war, warum er mir nicht ordentliches Englisch beigebracht hatte und wo er hin war. Nein, für mich und alle anderen war ich Italienerin und meine Eltern beide tot. Luke war der Einzige, dem ich mich eines Abends anvertraut hatte. Er kannte die Wahrheit über meinen Vater, wusste über meine Unsicherheiten Bescheid.
»Wenn dein Nonno noch da wäre, hätte er dasselbe gesagt.«
»Für Nonno wäre kein Mann gut genug gewesen.« Das stimmte. Auch mein Großvater war nach dem Spektakel mit meinem Vater nicht gut auf britische Männer zu sprechen gewesen. Was nicht förderlich gewesen war, weil er ohnehin alle Männer als Gefahr für seine Enkelinnen angesehen hatte. Ich erinnerte mich an einen Tag am Strand, kurz nach meinem elften Geburtstag, noch vor Nonnos Diagnose: Nikola, ein Klassenkamerad, hatte mich angesprochen und mir seinen Volleyball geschenkt. Ich war bis über beide Ohren verliebt gewesen. Doch als ich zurück zu meinem Handtuch gelaufen war, hatte mein Nonno mit gerümpfter Nase gefragt, wer das wäre. Kurz darauf hatte er bei den Eltern gestanden und Nikola hatte danach nie wieder mit mir gesprochen.
»È vero«, stimmte mir Nonna mit einem traurigen Lächeln zu und ließ ihr Glas Wein mit meinem zusammenklirren.
Wir tranken jede zwei davon, tauschten alle Neuigkeiten aus. Ich erfuhr, dass die Eisdiele La Sorgente im Ort hatte schließen müssen, dafür eine neue an der alten Villa eröffnet worden war. Immer mehr Touristen fluteten den Ort, ließen sich in neu eröffneten Hotels direkt im Zentrum nieder oder kauften sich eine eigene Ferienwohnung. Auch bei Mimi schienen die Buchungen weniger zu werden, offenbar wäre die Zahl aber noch nicht besorgniserregend.
»Sehen wir uns dann morgen zum Abendessen bei Mimi?«, fragte ich voller Hoffnung. Ich wollte so gern einen Abend mit meiner Familie verbringen. So wie früher.
Nonna rang um eine Antwort, haderte augenscheinlich, nickte dann aber trotzdem. »Va bene.«
Breit grinsend drückte ich ihr einen Kuss auf die Wange und verabschiedete mich schließlich, um mich für den Abend fertig zu machen. Der erste in meinem neuen alten Zuhause. Der erste in einer ungewissen Zukunft.
Valentin
In der Gasse unter mir taumelten ein paar Teenager laut lachend umher. Entnervt schaute ich von meinem Laptop auf und lehnte mich über die Brüstung des kleinen Balkons meines Airbnbs: Es waren fünf Jungs, wahrscheinlich erst sechzehn. Auch wenn ich noch nicht lange in Italien war, erkannte ich an bestimmten Wortfetzen sofort, worüber gesprochen wurde. Che bonazza …, … donna ubriaca …. Die Übersetzung war angesichts der ausladenden Gesten, die sie ausführten, überflüssig: Sie sprachen über irgendwelche Frauen, ihre Rundungen und darüber, dass sie sie abfüllen und abschleppen wollten.
Ist klar, dachte ich und lehnte mich mit einem Kopfschütteln zurück in meinen Stuhl. Wie sehr ich solche Großmäuler hasste.
Ich ließ den Blick die Gasse hinabgleiten. Sie führte bergab Richtung Hafen, Richtung Wasser. Die Sonne war längst verschwunden, dennoch waren die meisten Straßen und Häuser taghell erleuchtet. Mare di luci hatte mein Kommilitone mal das Phänomen bezeichnet, bei der die Stadt nachts in Gold getaucht wurde. Es war, als würde eine Kuppel über den Gassen schweben, um sie vor der Dunkelheit abzuschirmen.
Ich mochte das Gefühl, vom Balkon aus das Leben so vieler anderer zu beobachten. Sie wirkten losgelöst, irgendwie frei, als würden ihre Probleme nur für diese eine Nacht irrelevant sein. Man fühlte sich weniger allein. Ich fühlte mich weniger allein, auch wenn ich es war. Und das sogar mehr als zu Hause bei Dad, wo die Einsamkeit beinahe schon ein festes Familienmitglied war.
Mein Blick fiel zurück auf den Laptop. Obwohl meine Konzentration bereits vor Stunden nachgelassen hatte, zwang ich mich dazu, meiner Hausarbeit noch ein paar Zeilen hinzuzufügen. Dad wollte es so. Er wollte, dass ich dieses Önologiestudium absolvierte, in seinen Weinbetrieb einstieg und seinen Vorstellungen gerecht wurde. Und ich tat es. Weil ich es ihm schuldig war. Als hätte dieser eine Zwischenfall meine eigenen Wünsche und Pläne ausradiert. Meine einzige Bedingung, dieses Studium anzutreten, war ein Auslandssemester auf Sizilien. Hier, wo alles geendet und gleichzeitig begonnen hatte. Dad fand es nicht gut, dass ich hergekommen war, schließlich wollte er mich vor diesem Ort schützen. Zu meinem Glück war die Insel groß, sodass er davon ausging, dass ich wohlbehütet und geschützt vor jeglichen Erinnerungen in Palermo war. Nicht hier in Castellammare del Golfo. Das durfte er niemals erfahren.
Nach wenigen Minuten fischte ich das Foto hervor. Ihr Foto. Ich kannte es in- und auswendig, hatte jede Ecke analysiert und unter die Lupe genommen. Weiter war ich trotzdem nicht gekommen. Ich wusste, dass Castellammare schon immer ein wichtiger Ort in ihrem Leben gewesen war und ich weitere Informationen sicherlich im Tenute Firriato finden würde.
Mit einem Seufzen schlug ich den Laptop zu, streckte mich und entschied, noch mal an den Hafen zu fahren. Wenn sich die Lichter der Stadt wellig im Wasser oder auf den nassen Straßen spiegelten, konnte man besonders gute Fotos schießen. Asphaltglitzer, hatte Mum mal gesagt. Sie hatte in allem Hässlichen immer einen Grund gefunden, es trotzdem zu fotografieren. Von ihr hatte ich die Liebe zur Fotografie geerbt. Wenn sich an einem verregneten Herbsttag das Grau der Wolken als Glimmen auf den nassen Gassen wiedergefunden hatte, hatte sie innegehalten und den Auslöser gedrückt. Dieses Glitzern ist der Beweis, dass die Sonne niemals wirklich verschwindet, hörte ich sie in meinem Inneren immer noch sagen, obwohl es bereits Ewigkeiten her war.
Mit meiner alten Olympus-Analogkamera lief ich in den Hof und schwang mich auf meinen Scrambler. Es knallte laut, sobald ich den Schlüssel im Zündschloss umdrehte, im nächsten Moment fuhr ich auch schon über die Straßen von Castellammare del Golfo.
Je tiefer ich hineinfuhr, desto mehr Menschen kamen mir entgegen, machten sich auf den Weg in ein nobles Restaurant oder in eine Bar. Castellammare wirkte jede Nacht aufs Neue wie ein kleines Festival: An jeder Ecke gab es Livemusik, die Bars waren überfüllt, Straßenverkäufer versuchten, buntes Spielzeug, Handyhüllen und Handventilatoren loszuwerden, und hier und da führte der ein oder andere Jugendliche einen Affentanz mit seiner Vespa auf, um irgendeinem Mädchen zu imponieren.
Am Hafen angekommen, zog ich mich in den weniger belebten Bereich zurück, an dem die Bootsstege begannen. Ich liebte den Trubel, war aber ungern direkt mittendrin. Stattdessen beobachtete ich lieber von Weitem, analysierte Menschen und erdachte mir für sie Leben, die ich in meinen Fotos festhielt.
Erschöpft vom Tag ließ ich mich am Ende eines auf der dunklen Seite des Hafens gelegenen Stegs nieder, fotografierte alte Fischerboote, von denen der Lack abbröselte, Wände uriger Häuser mit roten, beigen und roséfarbenen Fassaden, die am Hang des Berges angeordnet waren, und ein Hochzeitspaar, das sich auf der anderen Uferseite einen Kuss gab. Die einzelnen italienischen Konversationen, die die Leute miteinander führten und die von allen Seiten auf mich einprasselten, ließen mich wie so oft an ganz bestimmte Worte denken. Sie gehörten nicht mir, waren dennoch so fest in meinem Inneren verankert, dass ich manchmal das Gefühl bekam, ich wäre sie. Ein Gedicht, dazu eine traurige Melodie:
Oh figlio mio lu santu passau, di la bedda mi’nni spiau.
Um mich herum wurde es still. Die Zeile war eine Erinnerung, die mich manchmal aus dem Nichts heimsuchte. Dabei wusste ich nicht mal, an was genau ich mich erinnerte. Wie eine Art Déjà-vu waberte die Melodie durch meine Gedanken, schickte mich in längst vergangene Tage, in denen alles gleichzeitig heller und trotzdem so dunkel war, dass ich nicht wusste, welchem Ereignis sie zuzuordnen waren. In meiner Brust wurde es eng. Manchmal glaubte ich, diese Art Flashbacks gehörten zu einem früheren Leben, dessen Erinnerung noch in mir nachhallte. Bis heute verstand ich nicht, woher der Klang, woher diese Worte, dessen Aussprache ich perfekt beherrschte, obwohl ich kein Italienisch konnte, kamen.
Es verging eine gefühlte Ewigkeit, bis ich mich wieder voll und ganz auf das Fotografieren konzentrieren konnte. Von hinten näherten sich plötzlich laute Schritte und ein bekanntes Frauenlachen. Ich wusste sofort, dass es Chiaras war. Die Tochter meines Chefs war die Letzte, die ich jetzt antreffen wollte. Ich hatte nichts gegen sie, aber sie war mir in der mit Stille gefüllten Welt, in der ich aufgewachsen war, manchmal einfach zu laut.
Ich vergrub mein Gesicht in meiner Kapuze, spähte nur vorsichtig nach hinten. Chiara hielt mit ihrem Freund Händchen, hinter ihr näherten sich noch zwei Jungs und ganz hinten stand sie. Sofia.
Chiara schien zu merken, dass der Steg besetzt war, erkannte mich zum Glück jedoch nicht und machte wieder kehrt.
»Va bene, andiamo«, verstand ich, worauf ein betrunkenes Lachen folgte. Die Schritte entfernten sich, ehe ich ein weiteres Mal zurückspähte und die Gruppe im Dunkeln verschwand. Nur sie war stehen geblieben und blickte mich durch leicht zusammengekniffene Augen an. Ich hätte mich wieder umdrehen, unerkannt bleiben können. Stattdessen erwiderte ich ihren Blick, erkannte an dem Ausdruck darin, dass auch sie sich an mich erinnerte.
»Sofia, vieni«, rief Chiara, woraufhin sie mit »Si, aspetta!« antwortete, ehe sich Chiara noch mal auf Englisch zu Wort meldete. »Komm, da ist besetzt!«
Sie zuckte zur Seite, blickte ihr nach.
Sofia. Gedanklich ließ ich mir ihren Namen auf der Zunge zergehen, musterte sie ein weiteres Mal. Sie war klein und zierlich, hatte schlanke Beine und schöne Kurven. Der rote Jumpsuit, den sie trug, hatte einen V-Ausschnitt, wodurch man erahnen konnte, welche Rundungen sich darunter verbargen. Ihr Profil war markant, die Lippen formten ein pralles Herz und ihre langen Locken berührten selbst im Zopf ihr Steißbein. Ein letztes Mal sah sie zu mir zurück, ehe ich mich abwandte und nur noch ihre leisen Schritte verrieten, dass sie sich nun ebenfalls entfernte. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit blickte ich wieder zurück und verspürte Wehmut und Erleichterung zugleich, sie dort nicht mehr stehen zu sehen.
Sofia
»Sag mal, Chiara …« Hastig eilte ich meiner Cousine nach, während sie sich taumelnd mit Mattia in die Menschenmenge des Hafens warf. Im Marlins hatten die beiden ordentlich Gas gegeben und wirkten nun, als würden sie am liebsten irgendwo, wo es ruhig war, übereinander herfallen.
Ich beschleunigte meine Schritte, um mich bei ihr unterzuhaken. »Wer ist das eigentlich?«
Benommen blickte sie mich an. »Wer?«
»Der Typ auf dem Steg. Valentin heißt er, glaube ich.« Ich deutete zurück zu den Booten. »Er war vorhin im Hotel.«
Verwundert wirbelte meine Cousine herum und starrte in Richtung Stege, ehe sie sich am Kopf kratzte und weiterlief.
»Der Typ da eben war Valentin? Hab ich gar nicht erkannt. Aber wundert mich nicht, dass er dort allein sitzt. Er ist irgendwie seltsam.«
Eine subtile Alarmglocke läutete in mir. »Inwiefern?«
»Er hilft im Weingut aus, studiert wohl Önologie und macht in Palermo ein Auslandssemester. Mehr weiß ich auch nicht. Aber er redet fast nie, gibt nur knappe Antworten und hat immer diesen mürrischen Blick drauf. Typisch britisch eben.«
Das Klingeln in meinem Inneren wurde lauter. Typisch britisch eben. Meine Beine hörten auf zu funktionieren, ich blieb wie angewurzelt stehen und starrte Chiara nach. Ich wusste nicht, ob es daran lag, dass er Brite war, einen mürrischen Blick draufhatte, der ganz eindeutig Ärger bedeutete, oder ich in meiner Lage einfach ängstlich auf alle Männer reagierte, doch mir kamen sofort tausend panische Fragen in den Sinn. Und eine platzte sofort aus mir raus.
»Wenn er in Palermo sein Auslandssemester macht, was sucht er dann in Castellammare?« Ich eilte ihnen nach und warf meiner Cousine einen eindringlichen Blick zu.
»Ich sag ja, er ist seltsam«, meinte Chiara mit einem Schulterzucken.
»Aber … das erklärt nicht, weshalb er hier ist …?«
Siziliens Hauptstadt war eine gute halbe Stunde mit dem Auto entfernt. Wieso also nahm er immer wieder diesen langen Weg auf sich, um im kleinen Weingut meiner Familie zu arbeiten? Gab es dafür vielleicht noch einen weiteren Grund? Was zur Hölle machte er hier? Wieso war er –
Stopp! Ich fasste mir an die Schläfen, atmete tief durch und sammelte mich kurz. Sicherlich gibt es einen guten Grund dafür. Hier gibt es eben guten Wein und Castellammare ist tausendmal schöner als Palermo!, sprach ich mir Mut zu.
Ich wollte diese Panik nicht in mir haben, ich wollte nicht, dass sie mein Leben kontrollierte. Erst recht nicht hier in meinem Safespace.
Chiara zog mich näher zu sich heran und betrachtete mitfühlend mein Gesicht. Meine Cousine wusste Bescheid, meine gesamte Familie hatte damals mitbekommen, was meinem Leben in England noch den letzten Tritt gegeben hatte. Nur dass es wieder begonnen hatte, wusste sie nicht.
»Ich höre deine Sorgen bis hierher und ich versteh’s. Aber das ist so lange her.« Wenn sie wüsste. »Mach dir keine Sorgen, okay?« Vorsichtig legte sie ihre Hände an meine Wangen. »Valentin ist zwar ein seltsamer, grimmiger Brite, aber du kennst meinen Vater. Er ist übervorsichtig bei der Auswahl seiner Mitarbeiter und ich weiß, dass er und Mamma ihn mögen, also muss er irgendwas richtig machen. Ich glaube nicht, dass er so gefährlich ist, wie er wirkt. Und wenn doch, legen wir ihn um.«
Ihre Worte entlockten mir ein Lachen und beruhigten mich etwas. Sie hatte recht. Ich war nirgends sicherer als hier bei meiner Großfamilie, und wieso zur Hölle sollte Valentin eine Gefahr darstellen? Ich kannte ihn nicht und er mich auch nicht.
Bevor ich meiner Cousine anvertrauen konnte, was in den vergangenen Wochen wieder passiert war, legte sich plötzlich ein kräftiger Arm um meinen Nacken und Chiara gesellte sich grinsend zurück zu ihrem Freund.
Ein erschrockener Blick zur Seite verriet mir, um wen es sich handelte. Claudio. Angeekelt wand ich mich aus seiner Umarmung und brachte Abstand zwischen uns. Claudio war ein Jahr älter als ich, nur einen Kopf größer und besaß schwarzes, längeres Haar. Wir hatten uns vor ein paar Jahren einen Sommer lang gedatet. Doch das war lange her und heute fragte ich mich, was ich damals an ihm gefunden hatte. Schließlich war er mit seiner aufdringlichen, misogynen und zum Teil toxischen Art ganz und gar nicht die Art von Mann, die mich interessierte.
»Claudio, che cazzo vuoi? Ich möchte das nicht«, wies ich ihn auf Italienisch zurecht. Seinem Blick nach zu urteilen war er bereits deutlich weggetreten. Er hatte nicht nur getrunken, sondern auch gekifft – eine traurige Kombination.
»So begrüßt du einen alten Freund? Du verletzt mich, Sofia. Früher hast du dich gefreut, mich zu sehen.« Mit gespieltem Schmerz fasste er sich an die Brust. Mattias und Claudios Freund Peppe und dessen Freundin Alessia verdrehten die Augen.
»Tja, ich hab mich eben verändert.«
»Langweilig bist du geworden, Sofi.« Seine Aussage unterstrich er mit einem schelmischen Grinsen, so als würde ihn genau das noch mehr anturnen. »Dein Temperament hast du aber nicht verloren. Laut warst du schon immer.«
»War ich nicht«, entgegnete ich, gekränkt von den Worten, die auch mein Ex Luke am Ende unserer Beziehung zu mir gesagt hatte. Beide meinten es nicht als Kompliment, eher im Gegenteil.
Du besitzt viel zu viel Temperament, Sofia. Manchmal bekommt man dich gar nicht ausgestellt. Früher, als du dich nicht getraut hattest, Englisch zu reden, warst du mir lieber.
Luke war der Inbegriff von toxischer Männlichkeit. Nach meinen ersten schrecklichen Jahren in England hatte ich auf meiner neuen Schule wieder etwas mehr Selbstbewusstsein gewinnen können. Doch statt mich in meiner Entwicklung zu bestärken, hatte mein Freund am liebsten wieder das süße stille Mädchen, das ich lange Zeit gewesen war, aus mir machen wollen. Es hatte eine Weile gedauert, bis ich zu der Erkenntnis gelangt war, dass ich diese Art von Person nicht mehr sein wollte. Auch wenn nach wie vor ein Rest Unsicherheit an mir haftete, wollte ich mir nicht mehr gefallen lassen, wenn jemand mit meinen Gefühlen spielte, mich verletzen oder lenken wollte. Mir widerstrebte der Gedanke, dass ich jemandem gehörte, weshalb ich mittlerweile den Mund aufmachte, wenn mir etwas nicht gefiel. Ich versuchte mit aller Kraft, unabhängig und selbstständig zu sein, um ja nie wieder verletzt oder als zu viel angesehen zu werden.
»Was denkt ihr? Jetzt noch ein Cornetto bei Marcello?« Mit begeistertem Ausdruck drehte Chiara sich um, ehe sie eine breite steinige Treppe anpeilte, die vom Hafen hoch in die Gassen des Ortes führte. Daneben stand ein antiker Brunnen, gesäumt von Palmen und violetter Drillingsblumen, die sich über eine steinige Hausfassade erstreckten.
»Er müsste gleich öffnen«, überlegte Peppe laut und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Claudios Schatten war im Grunde das komplette Gegenteil von ihm. Peppe war ruhig, zurückhaltend und höflich. Mit seinen 1,80 m überragte er uns alle um Weiten, trotzdem wirkte er mit seiner schlaksigen Figur, den hochgezogenen Schultern und der schüchternen Art viel kleiner. Mit Alessia, die ich noch kaum kannte, war er nun schon seit einem halben Jahr zusammen. Ich mochte ihn wirklich, auch wenn ich es schade fand, dass er sich von seinem Freund so lenken ließ. Hoffentlich tat Alessia ihm gut.
Die Panificio di Marcello war eine kleine Bäckerei in der Via Zingaro, die um ein Uhr nachts ihre Hintertüren öffnete und frisch gebackene Croissants direkt aus dem Ofen an hungrige Nachtschwärmer verkaufte. Es gab diverse Füllungen, unter anderem Nutella, Crema Pasticcera, Ricotta oder Pistazie. Woher diese Tradition stammte, wusste ich nicht. Mimi hatte nur oft erzählt, dass es sie auch schon in ihrer Jugend gegeben hatte. Wahrscheinlich hatte der Besitzer irgendwann gemerkt, dass er mit betrunkenen und hungrigen Partymenschen viel Geld machen konnte. Und genau das waren wir. Wir gehörten zu der hungrigen, angetrunkenen Sorte, weshalb wir uns umgehend auf den Weg dorthin machten.
»Wie geht’s dir so? Chiara hat erzählt, du bleibst jetzt länger?«, versuchte Claudio es nun mit einer zivilisierteren Konversation. Ich unterdrückte ein Stöhnen, als er wieder näher kam und ich seinen rauchigen Atem auf meinem Gesicht spürte.
»Gut, danke«, antwortete ich gezielt nur auf den ersten Teil seiner Frage.
Je höher wir die Stufen hinaufliefen und uns somit von der frischen Meeresbrise entfernten, desto wärmer wurde es. Manche Gassen waren hell erleuchtet und menschenüberfüllt, manche wiederum dunkel und leer. Hier und da fuhren Teenager Rennen mit ihren Rollern, während auch ältere Generationen draußen anzutreffen waren, auf einem Gartenstuhl vor ihren Wohnungen saßen und sich unterhielten.
Ich reckte das Gesicht zum dunklen Himmel, bestaunte die verschnörkelten Balkone und schrägen Fassaden um mich herum. In Castellammare war rein gar nichts perfekt. An manchen Häusern bröckelte die Wandfarbe, die meisten Autos waren aufgrund der ländlichen Sandwege verdreckt, gelegentlich streunten Katzen durch die Gassen und es roch nach Motoröl und Abgasen. Dabei war es genau das, was ich so liebte: diese Unvollkommenheit, die den Leuten ein gelösteres Naturell ermöglichte. Sosehr ich die Organisation der Nordländer auch liebte, konnte ich doch nur hier auf Sizilien richtig abschalten und die Probleme, die mein Kopf manchmal wieder und wieder kreisen ließ, ausstellen. Castellammares Einwohner lebten einfach, nahmen sich Zeit, um zu genießen und zu entspannen, ganz egal, ob sie am nächsten Tag rausmussten oder das Kind eigentlich längst im Bett sein sollte. Wenn sich der Moment gut anfühlte, dann kosteten sie ihn voll und ganz aus, ohne etwas daran verändern zu wollen.
Vor der Bäckerei tummelten sich einige Leute. Das Gebäude war Teil einer Anreihung schmaler Wohnungen und begrüßte einen durch eine große braune Holztür, in deren Eingang ein klimpernder Vorhang aus braunen Holzperlen befestigt war. Ein schwach flimmerndes Schild, das über der Tür hing, leitete uns den Weg. Schon von Weitem konnte man den unverwechselbaren Duft frisch gebackener Cornetti riechen.
»Ich gebe dir eins aus, welches willst du?« Direkt vor dem Laden entfernte Claudio sich endlich von meiner Seite, um sein Portemonnaie zu zücken und sich in der Schlange anzustellen.
Ich schüttelte nur den Kopf. »Ich zahle selbst.« Doch auch wenn Claudio protestierte, konnte ich mich durchsetzen und mir selbst ein Cornetto mit Nutella besorgen.
Wir ließen uns auf den Stufen der Bibliothek nieder, die nur eine Gasse entfernt an einem palmengesäumten Platz lag, und machten uns über unseren Mitternachtssnack her, während Peppe und Alessia bei anderen Freunden ein paar Schritte entfernt stehen geblieben waren. In der Mitte prangte ein trockengelegter, aber pompöser Brunnen, der von mehreren rundum positionierten Laternen beschienen wurde. Einige der Parkbänke waren besetzt von verliebten Pärchen, die einander liebkosten, aus manchen Gassen um uns herum schallte lautes Gelächter und aus den offen stehenden Türen eines Balkons wehten leise Klänge eines Songs von Gianna Nannini.
»Auf Mattia!« Obwohl wir bereits im Marlins gleich dreimal auf Chiaras Freund angestoßen hatten, hielt sie nun laut lachend ihr angebissenes Cornetto in die Luft und schwankte dabei gefährlich. Mattia, der ebenso betrunken war, lachte ebenfalls und zog seine Freundin auf seinen Schoß, um sie innig zu küssen.
»Ich würde ja sagen, dass du sie besser heimbringen solltest, aber du bist ja genauso voll«, bemerkte ich mit einem Schmunzeln und verdrehte die Augen.
»Vielleicht hast du recht.« Mattia hob den Finger. »Ich glaube, wir sollten uns kurz ausruhen gehen.«
Mit einem schelmischen Grinsen erhoben sie sich. Chiara beugte sich zu mir runter und flüsterte auf Englisch: »Kommst du mit dem Schwachkopf klar?«
Mein Blick zuckte zu Claudio. Auch wenn ich nicht gern allein mit ihm zurückblieb, wusste ich, dass Alessia und Peppe noch in Sichtweite waren. Zur Not gesellte ich mich einfach zu ihnen. Also nickte ich. »Bleib nur bitte nicht zu lange weg.«
Sie drückte mir einen Kuss auf die Wange. »Wir gehen nur kurz zu Mattia, dauert nicht lange. Sind gleich wieder da.«
Aber es dauerte doch lange. Auch nach einer Dreiviertelstunde wartete ich noch vergeblich auf Chiara. Claudios betrunkenes Gebrabbel über das Restaurant seines Vaters, in dem ich ihn unbedingt mal besuchen sollte, klingelte allmählich in meinen Ohren. Immer wieder lehnte er sich gefährlich weit vor, kam mir zu nah und hauchte mir seinen alkoholgetränkten Atem ins Gesicht.
»Wie ist es bei dir?«, begann er irgendwann erneut, mich auszufragen. Würde mein Nonno sehen, wie unfassbar nah er mir war, würde er Claudio das Leben zur Hölle machen.
»Denkst du auch manchmal an unsere Nacht in der Garage meines Vaters? Weißt du noch, auf der Waschma-«
»Okay, das reicht.« Ich stand auf, woraufhin Claudio auf den nun leeren Platz fiel. Angespannt hielt ich nach Alessia Ausschau, doch auch sie und Peppe waren spurlos verschwunden. Weil es langsam kalt wurde, rieb ich mir über die Arme, ehe ich mein Handy zückte und es noch mal bei Chiara und Mattia versuchte. Nun das zwölfte Mal. Ich war mir sicher, dass sie es nicht nur beim Ausruhen belassen hatten, im Anschluss nur ein kleines Nickerchen machen wollten und nun tief und fest schlummerten, sodass man sie nicht mehr wach bekam.
»Soll ich dich nach Hause bringen? Mein Auto steht da hinten.« Er deutete auf eine Gasse, die in Richtung Hafen führte.
Entsetzt wirbelte ich herum. »Du fährst ganz sicher nicht mehr, Claudio. Du bist betrunken.«
»Bin ich gar nicht.« Er grinste schelmisch, woraufhin ich die Augen verdrehte und die Via Zingaro hinauflief. Zum Glück wohnte er nur wenige Gehminuten von hier entfernt, ich musste mir also keine großen Sorgen machen, dass er sich doch noch ans Steuer setzte, wenn er mich nicht nach Hause fuhr.
Ich wusste, dass es auf der großen Piazza Petrolo eine Taxistation gab. Für meine Freunde war es einfach. Sie wohnten hier unten im Ort, konnten heimlaufen. Ich war auf ein Fahrzeug angewiesen. Zu Fuß wäre man Stunden unterwegs, ganz davon abgesehen, dass es außerhalb der Stadt dunkel und gefährlich war.
»Oder du kommst einfach mit zu mir«, erklang Claudios Stimme hinter mir. Ein Blick zurück verriet mir, dass er mir taumelnd folgte und sich immer wieder an einer der Laternen festhalten musste, um sein Gleichgewicht zu halten. »Ich wohne hier hinten.«