Shmutz - Felicia Berliner - E-Book + Hörbuch

Shmutz Hörbuch

Felicia Berliner

0,0

Beschreibung

»Eine dreckige Geschichte mit einem reinen Herzen.« The New York Times  Raizl lebt mit ihrer jüdischen Großfamilie in Brooklyn. Sie teilt sich ein Zimmer mit ihrer kleinen Schwester, sie liebt ihren Großvater über alles und sie unterstützt ihre Mutter im Haushalt. Aber außerhalb der Familie hat Raizl einen Studienplatz, einen Nebenjob und eine Therapeutin. Und da ist noch etwas: Sie liebt Pornos! Bald erlebt sie ein sexuelles Erwachen, lange bevor der Matchmaker den richtigen Ehemann für sie finden kann. Während sie sich heimlich ihrer Sucht hingibt und ein aufregendes Unileben in Manhattan führt, hat sie zuhause in Brooklyn arrangierte Dates und einen Alltag voller Rituale. Raizl ist hin- und hergerissen zwischen der modernen Welt und ihrer Community, die ihr so viel Liebe und Halt gibt.   »Grenzüberschreitend und urkomisch: Raizls Geschichte stellt alles infrage, was wir über das Frausein, Begehren und den Glauben zu wissen meinen.«  Los Angeles Times 

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS

Zeit:9 Std. 24 min

Veröffentlichungsjahr: 2023

Sprecher:Simone Terbrack

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Felicia Berliner

Shmutz

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Hanna Hesse

Atlantik

Für meine Mutter

 

Danke, dass du mir und so vielen Kindern das Lesen beigebracht hast

Gesegnet seist Du, Adonai Eloheinu, König der Welt, der gesprochen und es ward die Welt.

Jüdischer Segen

 

Das eigentlich Unhaltbare ist der Binarismus von normativ und transgressiv, verbunden mit dem Zwang, dass Menschen Leben leben sollen, die nur eine einzige Sache sind.

Maggie Nelson, Die Argonauten

 

Die Rabbanan lehrten: Wie erfolgt der Tanz vor der Braut? Die Schule Šammajs sagt, je nach Beschaffenheit der Braut. Die Schule Hillels sagt, man spreche: Schöne Braut und liebreiche!

Babylonischer Talmud, Ketubot 17a

Tochter Israels

Die Nägel der Ärztin glänzen und glitzern um den Stift, den sie auf Raizl gerichtet hat. »Du willst nicht heiraten?«, fragt Dr. Podhoretz.

Raizl schüttelt den Kopf. »Ich will«, stellt sie richtig. »Aber ich kann nicht. Mami hat mich zu Ihnen geschickt, weil ich ihr und der Heiratsvermittlerin gesagt habe, keine Treffen. Keine Beschau.« Ihrer Mutter hat sie gesagt, dass sie Angst vor Sex habe, was stimmt. Angst habe, nie einen Ehemann zu finden. Stimmt auch! Nur ist das nicht alles.

»Du kannst nicht?« Die Ärztin runzelt die Stirn.

Raizl presst die Schenkel so fest zusammen, als wären die Beine ihrer dicken Strumpfhose unter dem langen Wollrock zusammengenäht, sie wehrt sich gegen das Gefühl, dass selbst unter diesem ganzen Stoff ein Teil von ihr entblößt werden wird. Doch wenn sie einen Ehemann finden will, muss sie mit der Sprache herausrücken.

»Ich schaue mir zu viel an«, antwortet Raizl, aber die Ärztin reagiert nicht.

»Auf dem Computer«, fügt Raizl hinzu und wird rot. Das Geständnis treibt ihr die Hitze von den Schläfen, von den Spitzen der Ohren ins Gesicht.

»Moment, meinst du Pornografie?«

Raizl nickt unmerklich, der Hauch eines Ja. Pornos, das ist es, was sie sich anschaut. Shmutz.

»Okay.« Auch Dr. Podhoretz nickt, als wäre das nichts Ungewöhnliches. »Lass uns darüber sprechen. Was siehst du dir gerne an?«

Was sie sich gerne ansieht? Warum fragt die Ärztin das? Raizl schaut zur Decke, als schwirrte dort oben vielleicht eine Antwort herum, und murmelt »Ich wejß nischt«. Sie ist sich nicht sicher, was in diesen Pornonächten mit ihr passiert. Raizl hatte angenommen, Dr. Podhoretz würde ihr sagen können, was mit ihr los ist und wie sie damit aufhören kann. Aber bisher Fehlanzeige.

Stattdessen erinnert die Frage der Ärztin Raizl an ein Video, das sie in der Nacht zuvor gesehen hat, Collegemädchen beim Spielen. Drei junge Frauen lagen bäuchlings auf dem Bett, sie trugen T-Shirts, sonst nichts. Ihre nackten Hintern ragten empor. Zwei von ihnen spielten ein albernes Videospiel und quatschten und lachten, während ein Mann das Mädchen in der Mitte schtupte. Waren sie nicht zu alt für solche Spiele? Und sahen sie nicht, was zwischen ihnen passierte – kriegten sie nicht mit, dass da geschtupt wurde? Das Mädchen in der Mitte redete nicht, aber manchmal griff es hinter sich und hielt sich den Hintern. Raizl erinnert sich an die fein manikürten, knallpinken Nägel des Mädchens.

Als sie merkt, dass die Erinnerung an das Video ein Gefühl da unten hervorruft, presst Raizl die Beine noch enger zusammen. Sie lächelt schwach und fragt sich, ob Dr. Podhoretz etwas mitbekommt.

Aber die Ärztin legt nur den Kopf schief und fragt: »Kannst du mir ein bisschen mehr erzählen? Am besten auf Englisch. Es tut mir leid, aber mein Jiddisch ist begrenzt.«

Die Ärztin klingt nicht so, als tue es ihr wirklich leid, aber Raizl holt tief Luft und macht sich bereit. Es scheint unmöglich zu sein. Zu sagen, was sie weiß.

Es ist ganz egal, dass ihr Wissen rein virtuell ist. Die einzigen Hände, die je ihren Körper berührt haben, sind ihre eigenen. Aber die Videos, die sich in ihrem Kopf eingenistet haben, kann sie nicht löschen oder wegsperren. Kein Engel wird kommen und ihr dieses Wissen nehmen, so wie der Engel, der jedem Säugling noch im Mutterleib den Talmud lehrt und dann die Lippen des Babys bei der Geburt zukneift und nur die kleine Einkerbung zwischen Nase und Oberlippe als Erinnerung hinterlässt: Das Kind soll sich den Talmud mit einem neuen Bewusstsein, aus freien Stücken wieder aneignen. Wenn Raizl doch nur so in die Ehe gehen könnte – vollkommen unschuldig, neugeboren und unwissend, so begierig, sexuelle Lust zu erlernen, als hätte sie keinen Deut digitale Erfahrung.

Doch für eine solche Unbeflecktheit ist es zu spät. Raizl rutscht tiefer in ihren Lehnsessel, und das weinrote Leder knarzt erbarmungslos bei jeder ihrer Bewegungen. Raizl hat Angst, dass sie sich mit dem Sex, der sie erwartet, nie anfreunden wird: Freitagabendsex, nach dem rituellen Bad. Wird sie das besondere Nachthemd, das sie als Braut trägt, ausziehen und nackt sein? Wird sie jemals ihren choßn, ihren zukünftigen Ehemann, dazu bringen können, seine Zunge dort unten hinzutun? Wenn sie den Frauen in den Videos Glauben schenken soll, wird sie ohne so etwas nicht leben können, und sie hat Angst, dass ihr choßn denken wird, sie sei proßt, ein vulgäres Mädchen mit shmutzigen Wünschen. Manchmal wagt sie zu hoffen: Wenn sie den Schwanz-Pimmel ihres choßn erst mal in den Mund nimmt, wird auch er nicht mehr ohne so etwas leben können. Davon haben Pornos sie überzeugt.

Wenn sie es jetzt schafft, keine Pornos mehr zu schauen, ist es vielleicht noch nicht zu spät, einen choßn zu finden. Zu heiraten.

»Helfen Sie mir aufzuhören?«, fragt Raizl.

»Möchtest du denn aufhören?« Die Ärztin senkt das Kinn und betrachtet Raizl über den Brillenrand hinweg. Sie stellt die Frage in genau dem gleichmütigen Ton, in dem sie bereits alle anderen Fakten gesammelt hat. Bisher hat die Ärztin schon die Bedeutung von Raizls Namen herausgefunden (jiddisch für »Rose«), ihr Alter (achtzehneinhalb) und die Geschwisterfolge (das dritte von fünf Kindern).

»Nur fünf Kinder? Warum so wenige?«, hatte die Ärztin gefragt. Raizl hatte es geschmerzt, von Mamis Fehlgeburten zu erzählen, als plauderte sie gerade Familiengeheimnisse aus. Doch laut Mami gehört die Ärztin zwar nicht zur Gemeinschaft, hat aber bereits mit anderen chassidischen Familien zusammengearbeitet. Vermutlich hat sie schon alle Leiden und zoreß, von denen man so munkelt, in ihrer Praxis gehabt: die am Schnaps hängende Mutter, den mit Tellern um sich werfenden Vater, den bettnässenden Bar-Mizwa-Jungen. Hier und da eine Braut, die in ihrer Hochzeitsnacht nicht blutet und noch nie in der Nähe eines Pferdes gewesen ist.

Jetzt also Raizl, Tochter Israels, pornosüchtig.

»Ich kann nicht aufhören«, sagt Raizl. »Jede Nacht schaue ich mir das an.« Dr. Podhoretz’ hin- und herfliegender Stift bringt Raizl aus dem Konzept.

»Jede Nacht?«, ermuntert die Ärztin sie. »Du hast Internet zu Hause?«

»Ja«, antwortet Raizl und krümmt die Zehen in ihren flachen schwarzen Schuhen. Wieder ein Geheimnis gelüftet.

»Tati ist Filialleiter in einem Elektrogeschäft, und seit er Schmerzen im Rücken hat, lassen sie ihn manchmal von zu Hause aus arbeiten. Er braucht das Internet für seine E-Mails. Er weiß nicht, dass ich das Passwort kenne und dass ich das Internet auf meinem Laptop öffne, denn den soll ich nur benutzen, um Buchhaltung zu lernen. Ich bin im Cohen College. Ich habe ein Stipendium.«

Sie überschlägt sich fast bei diesen Details, es ist so viel leichter, darüber zu sprechen als über die Videos. »Ich arbeite auch noch ein paar Stunden pro Woche für eine Firma auf der Siebenundvierzigsten Straße«, fährt Raizl fort. »Es ist schon alles arrangiert: Wenn ich meinen Abschluss habe, werde ich dort in Vollzeit arbeiten.«

»Arrangiert?«, fragt Dr. Podhoretz. »So wie eine Ehe?«

»Ich habe einen Laptop«, sagt Raizl ungeduldig. Die Ärztin versteht nicht, worum es geht. »Man hat ihn mir erlaubt, weil er für die parnoße ist, den Lebensunterhalt. Ich gebe Mami das Geld, und sie legt es für meine Hochzeit zurück. Und in der Zwischenzeit, bis ich heirate, hilft es meinen Brüdern – in einigen Jahren werden sie wie Tati arbeiten und ihr eigenes Geld verdienen, aber jetzt studieren sie den ganzen Tag die Tora.

Ich habe meinen Computer, wo ich will. In der Schule. Zu Hause. Im Bett.« Raizl wird wieder rot, aber die Ärztin verzieht keine Miene. »Niemand sonst darf einen Computer zu Hause haben, meine Brüder nicht, meine Schwester nicht, auch nicht meine Freunde«, sagt Raizl. »Es ist verboten.«

»Das ist sehr ungewöhnlich, nicht wahr?«, fragt die Ärztin. »Eine junge Frau wie du, die aufs College geht, bevor sie heiratet?«

Raizl nickt. Tati hätte es ihr fast nicht erlaubt.

*

Letzten Frühling, vor fast einem Jahr, hatte Tati abgewehrt, als Raizl ihm den Zusagebrief zeigte. Das College für gottlos befunden. »Koledsch ist tume«, sagte er.

Mami sprang ihr bei und warf ein, dass es nicht regelwidrig für Raizl sei, Buchhaltung zu lernen, zudem könne sie gut mit Zahlen umgehen. Mami erinnerte Tati daran, was ein Buchhalter verdiente. Und außerdem würde es sie gurnischt kosten. Raizl hatte schließlich ein Vollstipendium!

»Gurnischt mit gurnischt«, sagte Tati wegwerfend, ohne von seiner Gemara aufzuschauen. Kein Einsatz, kein Gewinn.

»Bitte, Tati«, sagte Raizl.

Er unterbrach seine Lektüre, schürzte die Lippen und betrachtete Raizl. Nahm seine Jarmulke ab, fuhr mit ihr über den fast kahlen Kopf und den etwas dickeren Haarkranz im Nacken, dann setzte er sie wieder an genau der gleichen Stelle auf.

Ohne zu blinzeln, sein Blick ein Befehl, starrte er Raizl an. »Rejjjsl«, er sprach ihren Namen traditionell aus und zog ihn so in die Länge, dass aus ihm ein ganzer Satz wurde. »Nischt ken die Wissenschaft«, sagte er. »Keine Biologie, keine Affen. Du weißt bereits, wo du herkommst. Nur Buchhaltung.«

Raizl hatte Tatis Bedingungen akzeptiert. Dass es Dinge wie verpflichtende fachfremde Kurse und zusätzliche freiwillige Seminare gab, verschwieg sie. Und sie erwähnte nicht, dass ein Computer zu ihrem Stipendium gehörte. Der gojische Kalender schrieb Frühjahr 2012, und die Oberrabbiner hatten gerade das Internet verboten. Vor vierzigtausend männlichen Zeugen hatten sie im Citi-Field-Stadion entschieden, dass das Internet nur mit beschränktem Zugang bei der Arbeit benutzt werden dürfe. Und den Jeschiwas wurde es untersagt, Studenten zuzulassen, die zu Hause einen Internetanschluss hatten. Raizl hatte davon durch Mitschülerinnen an ihrer Mädchenschule gehört, die wiederum die Nachrichten via Livestream empfangen hatten. Das Internet hatte ihnen mitgeteilt, dass sie das Internet nicht mehr benutzen durften.

Raizl war insgeheim dankbar dafür, dass ihre baldige Internetnutzung die Chancen ihrer Brüder, an der Jeschiwa aufgenommen zu werden, nicht mehr schmälern würde. Die beiden älteren, Shloimi und Moische, hatten bereits vor Jahren mit dem Studium begonnen, und ihr jüngerer Bruder Yossi, der gerade seine Bar-Mizwa gefeiert hatte, hatte die strengen Prüfungen der Rabbis auch schon bestanden und war an der Jeschiwa zugelassen worden.

Schließlich hatte Tati zugestimmt. Am Ende des Sommers, als das erste Semester am College begann, erhielt Raizl im Rahmen ihres Stipendiums den Computer. Er war glatt und silbern, und mitten auf der Klappe prangte ein angebissener Apfel. Selbst im ausgeschalteten Zustand fühlte er sich warm an, so als heizte er von innen ihre Büchertasche. Als sie von der U-Bahn-Station nach Hause lief, legte Raizl den Arm um die Tasche, in der Angst, die Frauen, die ihre Kinderwagen durch die Gegend schoben, oder die Männer, die mit ihren Plastiktüten an ihr vorbeieilten, könnten womöglich die Umrisse des Laptops erkennen. Seine Wärme spüren.

Erst als sie zu Hause war, merkte sie, was sie alles nicht wusste: wie man ihn anschaltete. Wie man die kostenfreie College-Software öffnete, installierte und benutzte. Wie man etwas anderes mit dem Laptop tun konnte, als ihn in der Hand zu halten.

*

»Was hast du dann gemacht?«, ruft Podhoretz aus. »Wie hast du das alles gelernt?«

Raizl zuckt die Achseln. Bei der Bewerbung am College hatte ihr eine Bibliothekarin geholfen, und jetzt brachte ihr die Tutorin bei, wie man googelte, wie man im Internet nach Leben suchte. »Du kannst dich online registrieren«, hatte sie gesagt. »Wähl deine Kurse. Nimm, was immer du magst.«

»Was immer ich mag?«

»Na ja, in einem gewissen Rahmen. Als Studentin im ersten Jahr hast du nicht allzu viele Wahlmöglichkeiten. Aber ein paar schon. Hier«, sagte sie und drehte ihren Bildschirm so, dass Raizl mitgucken konnte, und dann fing sie an zu tippen. »W-w-w«, sagte sie. »Punkt. Cohen College. Punkt. E-d-u. Die Lehrbücher sind auch online. Du kannst alles gebraucht auf Amazon kaufen. Und die Rede des Präsidenten, mit der er die neuen Studenten begrüßt, findest du auf YouTube.«

Alles, was die Tutorin in das Suchfeld bei Google eingab, jeder Wunsch und jeder Befehl, wurde vom Computer festgehalten, ohne dass man es sah. Und tauchte dann auf dem Bildschirm auf.

»Ein paar Dinge habe ich von meiner Tutorin gelernt. Und was ich mit der Software mache, weiß ich aus YouTube-Videos«, erzählt Raizl der Ärztin.

»Du hast dir alles selbst beigebracht. Niemand hat dir geholfen.«

»Ja.« Raizl nickt.

Die Ärztin legt den Kopf schief und lässt alles auf sich wirken. »Warum bist du zu mir gekommen, Raizl? Warum bittest du jetzt um Hilfe?«

»Sie können mir also nicht helfen?«

»Das habe ich nicht gesagt. Aber du hättest auch mit einem Rabbiner sprechen können. Der Frau eines Rabbiners. Es würde dir vielleicht leichterfallen, auf Jiddisch darüber zu reden.«

Raizl hat ein rundes Gesicht, aber wenn sie sich ärgert, zieht sie die Wangen ein. Ihre Sommersprossen werden röter, genauso ihre Haut. »Wenn ich zu jemandem in der Gemeinschaft gehe, wird es für mich keinen schidech geben. Keinen, der passt! Oder ich kriege nur den nebechinker ab, irgendeinen armen Schlucker, den keiner haben will!«

»Du hast niemandem davon erzählt …?«

»Natürlich nicht!«

»… und du lebst immer noch observant?«

Raizl blickt an sich hinab, auf ihren Rollkragenpullover, über dem sie eine Strickjacke trägt, und deutet mit einer Sieh-doch-selbst-Geste auf ihren Körper. Vielleicht musste die Ärztin nachfragen, weil es Winter war und alle ihre Patienten im Januar Pullis trugen. Aber es gibt zu viele Hinweise. Zwischen Wade und Knöchel ist ein Stückchen Strumpfhose sichtbar, dick und beige, wie eine Extrahaut, aber man würde sie niemals mit Raizls richtiger Haut verwechseln. An jedem Bein zieht sich hinten eine Naht wie eine verblasste, knotige Narbe entlang. Dazu gleich zweimal lange Ärmel. Raizl hofft, dass die zusätzlichen Kleidungsschichten ein Gegengift zu den Pornos sein könnten, oder zumindest eine Rüstung, die sie davor schützt, dass man ihre Angewohnheit entdeckt.

Selbst ohne Gerüchte wird sie es nicht leicht haben, jemanden zu finden, vieles spricht gegen sie. Denn obwohl ihr ältester Bruder Shloimi vor zwei Jahren geheiratet und ein Baby bekommen hat, ist der Zweitälteste, Moishe – ihr Lieblingsbruder –, mit zwanzig immer noch unverheiratet. Raizl hat den Verdacht, dass sie nicht die Einzige ist, die ihn schon mal mit einer Zigarette gesehen hat, die gar keine Zigarette ist.

Und dann sind da noch ihre Haare, in einem kupferfarbenen Rotton. Raizl trägt immer einen Pferdeschwanz, um die Locken einzuhegen, das helle Leuchten zu dimmen. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Familien junger Männer, die eine Braut suchen, um einen Rotschopf einen Bogen machen, es sei denn, die Farbe liegt in der Familie.

Mami leugnete das Rot. »Nischt rojt!«, hatte sie der Heiratsvermittlerin widersprochen. »Zimt«, schlug sie stattdessen vor und zog eine von Raizls Haarsträhnen glatt, als würde es Raizls Aussichten verbessern, wenn eine Strähne gerader, weicher wäre. Nicht ganz so rot.

»Nun«, sagt Podhoretz. »Und jetzt bist du hier.« Sie senkt das Kinn zu einem aufmunternden Lächeln, aber in ihrer gehobenen Augenbraue sitzt ein widerspenstiges Fragezeichen. Ein Gesicht, das sich in zwei Richtungen bewegt. Raizl betrachtet das glatte dunkle Haar der Ärztin, das in einem ordentlichen Dutt zurückgebunden ist, auf jeden Fall ihr eigenes und keine Perücke. Ihre cremefarbene Seidenbluse, langärmelig und mit einer Schluppe, könnte zurückhaltend sein, ist es aber nicht, dafür liegt sie vorne zu eng an. Obwohl die Ärztin einen Ehering und einen Ring mit einem Diamanten trägt, hat sie nichts mit den verheirateten Frauen gemeinsam, die Raizl kennt. Sie besitzt Regale voller Bücher, alle auf Englisch. An der Wand hängt ein Gemälde mit goldenen Blumen in einer Vase. Die Praxis riecht nach künstlichem Zitronenduft, öligem Reinigungsmittel, aber auch nach Staub, einer Tasse Kaffee, die auf dem Beistelltisch neben dem Sessel der Ärztin kalt wird. Hinter ihr steht ein Schreibtisch, auf dem sich noch mehr Bücher stapeln, und halb versteckt unter dem Tisch ein Paar flache braune Pumps, Schwestern des schwarzen Paars, das sie trägt.

Die hübschen manikürten Nägel der Ärztin, Klarlack mit weißen Spitzen, erinnern Raizl wieder an das Mädchen in dem Video, das sie in der Nacht zuvor gesehen hat. Kurz bevor das schtupn anfing, als der Hintern des Mädchens in die Luft ragte, hatte Raizl alles da unten gesehen: das Oval aus pinkem Fleisch, mit glänzenden Falten, die sich um das dunkle Loch wellten, die Öffnung dunkellila. Und das andere Loch, klein und faltig, noch dunkler. Bei diesen beiden Löchern direkt übereinander, wo kommt da der Schwanz rein? Raizl sah sich das Video an, um es herauszufinden. Sie machte sich Sorgen um das Mädchen und war jedes Mal erleichtert, wenn der Schwanz in das richtige Loch ging, aber es störte sie auch, sie war unbefriedigt. Warum denn nicht das andere Loch? In einigen Videos schtupt der Mann den tocheß. Wonach wählt der Schwanz aus? In diesem Video sah man das Gesicht des Mannes nicht, deswegen konnte man unmöglich sagen, was er wollte oder was er als Nächstes tun würde. Vielleicht hielt das Mädchen deswegen ihren Hintern hoch, mit pinken Fingernägeln, die auf ihre schmundiewiesen. Ein Zeichen für den Schwanz: Hier geht’s rein.

Raizl windet sich in ihrem Sessel. Sagt nichts. Wie kann sie dieses Videoschauen nur erklären, egal, in welcher Sprache? Auf Jiddisch darüber zu sprechen, wäre ganz sicher nicht einfacher. Niemand, den sie kennt, benutzt jiddische Wörter für das, was sie gesehen hat. Sie hatte noch nie von techeßer, von schmundies gehört! Die Begriffe erst im Internet gefunden, zusammen mit all den anderen shmutzige schtup-Wörtern.

Aber die Ärztin ist unbeirrt. »Lass uns weitermachen.« Sie zeigt wieder mit dem Stift auf Raizl. »Wie fing es an mit den Pornos?«

»Ich habe gegoogelt.«

»Nach Pornos gegoogelt?«

Raizl schüttelt den Kopf. »Ich habe ›der baschefer‹ gegoogelt, um zu sehen, was das Internet über den Schöpfer sagt, und dann habe ich …« Sie kann die heiligen Namen nicht nennen. Es war einfacher, sie zu tippen, als sie hier laut auszusprechen.

»Ich habe auch ›Haschem‹ gegoogelt.« Jetzt kommt es ihr albern vor, dass sie dachte, der Computer würde G’tt erklären können, ihr eine neue Sicht auf dessen Heiligkeit eröffnen. In diesen ersten Wochen und Monaten mit ihrem Computer, als sie begriff, wie viel er erklären konnte, hatte sie alles von ihm wissen wollen. Aber die virtuelle Welt konnte auch enttäuschen. Zu Haschem hatte das Internet zu berichten, warum man Haschem – der Name – sagte, statt den eigentlichen Namen G’ttes in den Mund zu nehmen, aber das wusste Raizl schon.

»Dann versuchte ich es mit dem englischen Namen, G-O-D, und da kamen so viele Bilder von Männern!« Obwohl Raizl wusste, dass die Gojim einen Mann anbeteten, war sie schockiert, als sie diese Bilder sah. In einem lehnte sich ein Mann mit wehenden Haaren und Bart von einer Wolke hinab und streckte seinen Finger einem anderen, nackten Mann entgegen.

»Nachdem ich das gesehen hatte, kam mir eine andere Idee. Ich habe ›Kuss‹ eingegeben. Weil das Internet für alles Bilder hat. Du gibst ihm ein Wort, und es gibt dir Bilder. So viele küssende Menschen. Und Männer mit langen Haaren und meschuge geschminkt, und Männer, die Männer küssen, und auch küssende Frauen.«

»Das gefiel dir«, sagt Dr. Podhoretz.

Vielleicht soll das eine Frage sein, aber Raizl hält sich damit nicht auf. »Ich wollte noch mehr Bilder haben. Bilder von Dingen, die ich sonst nirgendwo finde. Ich habe ›Sex‹ eingetippt und Videos gefunden. Wenn man Sex sucht, kriegt man auch Sex. Es wird nicht nur über Sex geschrieben.«

Und die Videos sind voller Begriffe, die sie nicht kennt, also bittet sie das Internet, sie ihr auf Jiddisch beizubringen. Pimmel ist schwanz, und Möse ist schmundie. Zusammen schtupn sie. Die Begriffe sind so seltsam und hässlich. Fotze? Ein gojisches Wort für einen gojischen Ort, nur dass sie auch einen hat. Sie googelt all diese shmutzigen Begriffe, um herauszufinden, wie sie auf Jiddisch heißen. Lieber soll es shmuschka statt Möse heißen, weil sie doch immer geshmuscht wird; und die Öffnung, das Loch. Wo alles passiert, die ganze majße, die Sache selbst. Das Internet gibt ihr Bilder und Videos und, wenn sie sie braucht, Worte für andere Worte. Ein ungewohntes Jiddisch, das aber immer noch ihre mame-loschn, ihre Muttersprache ist, auch wenn Mami nie so sprach.

»Okay«, sagt Dr. Podhoretz. »Ich verstehe jetzt, wie du angefangen hast, Pornos zu schauen. Aber merkt denn niemand in deiner Familie etwas davon? Dass du online bist?«

Raizls Hände sind feucht, und sie streift sie an ihrem Rock ab, als könnte sie ihre Schuld zusammen mit dem kalten Schweiß abwischen. Ihre Schwester Gitti weiß Bescheid. Weil Raizl Gitti das Internet gezeigt hat.

*

Vor einem Monat, während Chanukka, hatte jemand Gitti von einem Video der Maccabeats erzählt. Wie toll und gut aussehend diese Gruppe singender Jeschiwa-Studenten sei.

An jedem Chanukka-Abend bekniete Gitti Tati, die Gruppe auf dem Handy, das er für seine Arbeit benutzte, anschauen zu dürfen. Jeden Abend sagte Tati Nein, das sei nicht chassidisch. Das sei verboten.

»Es ist doch nur ein Chanukka-Lied«, sagte Raizl, als sie am achten Abend beim Essen saßen, und Tati schlug mit der Faust so stark auf den Tisch, dass die Sufganijot, ein ganzer Teller voll Chanukka-Krapfen, auf dem Boden landeten.

»Wir haben die Tora! Und zum Singen haben wir die Chanukka-Gebete!«, schrie er und stand auf, während Mami ein Handtuch holte und Gelee und Puderzucker vom Boden aufwischte.

»Wofür brauchen wir diese Studenten, die sich Lieder ausdenken? Sie sollten lieber ihre Zeit nutzen, um zu studieren statt zu singen«, fuhr er fort. »Und du …« Er stürmte um den Tisch zu Raizl und drohte ihr mit erhobenem Zeigefinger. »Denk bloß nicht, dass du zu groß bist, um Respekt zu zeigen, nur weil du auf ein gojisches koledsch gehst und arbeitest!«

»Zalmen, hör auf!« Mami sprang auf und rannte zu Tati. Er wendete sich ruckartig von Raizl ab und brüllte Mami an: »Scha! Unterbrich mich nicht, wenn ich ihnen etwas beibringe! Du bist zu weich, und das hier haben wir davon!« Tati wedelte mit der Hand in Raizls Richtung.

»Wird dein Vater oft so wütend?«, fragt Dr. Podhoretz. »Hat er dich geschlagen?«

»Nein«, antwortet Raizl. »Er schlägt nicht.« Aber sie hatte Tatis Wut gespürt, auf sie, auf Mami. Und warum? Waren die Maccabeats wirklich so schlimm? Warum sollte sich der baschefer, der Allmächtige, den Kopf über ein paar singende Studenten zerbrechen, die Musikvideos aufnahmen?

Später am Abend hatte Raizl Gitti gebeten, sich neben sie aufs Bett zu setzen, und YouTube geöffnet. »Das hier ist das Internet«, hatte sie zu Gitti gesagt.

»Es gibt keine Filter?« Gitti war verblüfft. Raizl zuckte die Achseln. Es hatte sie anfangs auch überrascht, dass Tati keine Filter installiert hatte, aber dann hatte sie es als gutes Zeichen – Glück oder Vorsehung – gewertet, so als wollte der baschefer auf irgendeine seltsame Art, dass sie aufs College ging, einen Internetzugang hatte.

Und dann machte sie Gitti dieses Chanukka-Geschenk und spielte leise das Musikvideo ab. Sie fand die Jungs nicht sonderlich gut, aber Gitti war sofort verrückt nach diesen A-cappella-Sängern mit ihren Jarmulkes. Was wusste sie schon mit ihren vierzehn Jahren? Gitti fand einen besser aussehend als den anderen. »Findest du den nicht toll?«, fragte sie und zeigte auf einen der Sänger. »Wie alt ist der, denkst du?«, sie zeigte auf einen anderen. Sie bekniete Raizl, das Video noch mal abzuspielen, und dann noch ein drittes Mal. »Raizy, bitte!« Sie wollte es noch einmal sehen, aber Raizl sagte: »Nein, Mami wird sich schon wundern, was los ist«, und außerdem musste sie lernen.

»Also hast du Gitti das Video gezeigt. Und sie mochte es«, sagt Dr. Podhoretz.

Raizl nickt.

»Und du schaust dir auch gerne Videos an, stimmt’s?«, fragt die Ärztin.

Raizls Mund fühlt sich trocken an, die Zunge pelzig. »Keine Musikvideos«, bringt sie heraus. Vor dem Zubettgehen flüstert sie, genau wie Gitti, das Schma und macht das Licht aus. Aber dann schläft sie nicht ein.

»Nein? Du schaust dir etwas anderes an?«

Die Frage der Ärztin ruft in Raizl ein Bild von sich in ihrem Schlafzimmer hervor. Raizl sieht ihren Körper, das, was einmal ihr gehörte, ohne dass sie darüber nachdenken musste. Aber jetzt will Dr. Podhoretz, dass Raizl sich selbst beobachtet und beschreibt, was sie sieht. Das also ist Therapie, ein Porno mit sich selbst in der Hauptrolle.

*

Raizl schaut sich die Filme in ihrem schmalen Bett unter der Decke an, den Computer balanciert sie auf dem Bauch. Der Laptop ist geöffnet, aber in einem so steilen Winkel, dass sie ihn sofort schließen kann, und der Ton ist ausgeschaltet; das einzige Geräusch kommt von Gitti, die in ihrem Bett auf der anderen Seite des Zimmers sanft schnarcht.

Die Frau auf dem Bildschirm liegt auf einem sehr viel größeren Bett, sie hat den Rücken gewölbt und stützt den Kopf auf den Kissen ab, sodass Raizl ihren offenen Mund und die geweiteten Nasenflügel sehen kann. Der Mann hebt ihre Hüften an und dringt wieder und wieder hart und schnell in ihre haarlose schmundie ein. Das Stöhnen der Frau muss Raizl sich dazudenken. Stöhnt sie vor Lust? Vor Schmerz? Die Frau spuckt auf ihre Finger und reibt sich im Rhythmus des Mannes. Selbst ohne Ton merkt Raizl, dass sich irgendetwas Entscheidendes verändert hat: Die Gesichtszüge der Frau werden weich, ihre Augen öffnen sich kurz und schließen sich wieder, während sich ihre Oberschenkel fest um den Mann schließen.

Er hört abrupt auf, steigt über sie und hält seinen Schwanz an ihre Lippen. Sie lächelt und nimmt ihn in den Mund.

Das also machen Frauen! Ihre schmundies rasieren, einen Mann in den Mund nehmen, essen, ohne einen Segen zu sprechen.

*

Podhoretz wartet, ihr unnachgiebiges Schweigen schließt sich wie eine Mauer um das Zimmer, um Raizl, erstickt sie. Raizl bringt kein einziges Wort heraus.

»Es muss schwer sein, darüber zu sprechen«, sagt Podhoretz. »Aber ich kann dir helfen.«

Plötzlich hat Raizl Angst. Das Versprechen der Ärztin klingt verführerisch, aber was, wenn die Therapie nichts bringt? Selbst wenn Raizl es schaffte, alles in Worte zu fassen, an der Ärztin zweifelt Raizl trotzdem.

»Du denkst, es ist hoffnungslos«, sagt Podhoretz, als hätte sie Raizls Gedanken gelesen. »Du machst dir Sorgen, dass du niemals heiraten wirst. Aber Raizl, du hast ja noch nicht einmal versucht, dich zu verabreden. Du weißt gar nicht, was passieren wird.« Die Ärztin klappt ihr Notizbuch zu. »Für heute ist die Zeit abgelaufen, aber ich möchte, dass du etwas in Betracht ziehst. Warum verabredest du dich nicht einmal mit jemandem? Du musst ja nicht gleich den ersten Mann, den du triffst, heiraten. Manche jungen Frauen machen das, ich weiß, aber nicht jede, oder?«

Raizl nickt und denkt an Mädchen, die einige Männer trafen, bevor sie ihren siweg, den Partner, der für sie bestimmt ist, kennenlernten.

»Ein Date. Wie hast du das genannt, eine Schau? Versuch’s mal. Denk zumindest drüber nach, und wir können es das nächste Mal besprechen.«

Die Ärztin scheint nichts weiter von ihr zu brauchen, also steht Raizl auf und geht langsam und unentschlossen zur Tür, niedergedrückt vom Gewicht dessen, was sie nicht gesagt hat. Im kleinen Flur zieht sie ihren Mantel an, bindet sich einen langen Wollschal um und rüstet sich für die Kälte. Podhoretz will, dass sie einer Beschau zustimmt, aber es gibt noch so viel mehr, was sie Podhoretz nicht erzählt hat.

*

Was letzte Nacht passierte und was in allen Pornonächten passiert:

Während sie den Körpern auf dem Bildschirm zusieht, verschwindet ihr eigener Körper, aber sobald das Video zu Ende ist, sind ihre Schenkel und Hüften wieder da, schwer, die Haut gespannt. Am gespanntesten dort, wo die beiden Teile ihres Körpers zusammengefügt sind, wo das Blut der einen Hälfte in die andere strömt. Raizl stellt den Computer ab und zieht unter der Decke ihr Nachthemd hoch. Wie die Frau im Video spuckt sie auf ihre Finger und tastet durch das raue Haar, bis sie auf das stößt, was online so offen gezeigt wird und bei ihr versteckt ist. Raizl macht dort kreisende Bewegungen, zieht seltsame Bahnen der Empfindung, so leise wie möglich, und im letzten Augenblick beißt sie sich auf die Lippen, während ihr ganzer Körper bebt – eine Erschütterung, die Knie bald bis zur Brust gezogen, wellenartige Nachbeben. Ein stimmloses Zittern, fast ein Gebet.

Traumleser

Als Raizl am Morgen nach ihrer Sitzung bei Dr. Podhoretz die Treppe hinuntereilt, um zum College zu gehen, bittet Zeidy sie in sein Zimmer. Die fünf Geschwister haben sich ihre Zimmer schon immer geteilt – eines für die drei Brüder und eines für Raizl und Gitti –, aber Zeidy hat sein eigenes. Tati sagte, es sei aus Respekt für die Älteren, Mami, weil er schnarche, und Shloimi, weil er nach pisch stinke, aber Raizl wusste, dass es daran lag, dass er einem am Morgen erzählen konnte, was man geträumt hatte, und das war etwas, was Mami und Tati nicht mochten und ganz sicher nicht unterstützten. Es nützte nichts, dass Zeidy wie die anderen Männer seine Zizit über dem Hemd trug; dass er Klatsch und Tratsch verabscheute und, wenn er jemals seine Enkel eine fiese Bemerkung machen hörte, ärgerlich »schmajisrael!« brüllte und so das Gebet in einen Kraftausdruck verwandelte; für Tati und Mami war es ketzerisch, dass Zeidy die Träume anderer lesen konnte.

Mami hatte einmal gestanden, dass das schon seit Langem so war und Babi ihn deswegen sogar geheiratet hatte: Als Babi ein achtzehnjähriges Mädchen war, hatte Zeidy ihr mitgeteilt, dass sie davon geträumt hatte, ihn zu heiraten, und sie damit aufgezogen: »Warte doch wenigstens, bis ich dich gefragt habe!«

Hatte er ihre Gedanken gelesen oder einfach nur seinen Wünschen Ausdruck verliehen? Keiner würde das je wissen, aber Babi sagte Ja, also hatte ihm seine Unverfrorenheit eine Braut eingebracht.

Sein eigenes Zimmer hält Zeidy nicht davon ab, Träume zu lesen. An diesem Morgen deutet er auf den Stuhl neben seinem Bett, und Raizl setzt sich widerwillig. Sie will zwar nicht zu spät zu ihren Kursen kommen, aber Zeidys Rufe würde sie niemals ignorieren. Er berichtet von folgendem Traum: Ein Pferd galoppiert am frühen Morgen die Straße entlang, noch bevor die Schulbusse kommen, um die Jungen mitzunehmen, der Himmel ist dunkel, hier und da das Licht einer Straßenlaterne. Das Pferd hält vor ihrem Wohnhaus, es wiehert und wiehert, der Dampf aus den Nüstern des großen Tieres lässt den Schnee schmelzen. Als Tati und die anderen Männer des Wohnblocks versuchen, es zu vertreiben, stampft und tritt es, bis sie weichen. Erst als Raizl in ihrer alten Schuluniform aus der Metall-und-Glas-Tür tritt, wird das Pferd ruhig. Sie steigt auf – ihr langer Rock! Dieses riesige Pferd! Nichts kann sie abhalten, sie ist oben! – und reitet, von der Pferdemähne umweht, davon. Niemand versucht sie zu retten, weil sie es nicht können, weil sie sie lachen hören, als das Pferd davongaloppiert. Dann ist Raizl zurück, wieder steht sie vor dem Backsteingebäude, aber jetzt am Tag ist die Straße seltsam leer. Die Kinder sind in der Schule, und die Männer arbeiten oder studieren; am Ende des Blocks sieht man ein paar Frauen mit Kinderwagen auf dem Weg zum Einkaufen. Raizl steht dort allein, kein Pferd, nur die Pferdeäpfel, die auf dem schneebedeckten Boden zu Heu geworden sind.

Raizls Traum, den sie bis zu Zeidys Erzählung vergessen hatte, steht ihr jetzt klar und deutlich wie eine Erinnerung vor Augen. Zeidy fragt: »Raizele, wenn du auf dem Pferd davongaloppierst, wohin reitest du?«

Zeidy streicht ihr über die Wange, als er das sagt. Dort, wo seine Finger waren, breitet sich eine zauberhafte Wärme auf ihrem Gesicht aus. Seine Gabe, Träume zu lesen, Geschichten aus der verlorenen Dunkelheit der Nacht ans Tageslicht zu bringen … wie kann das sein? Was, wenn Zeidy sich den Traum nur ausgedacht hat und ihn ihr jetzt schenkt, so wie er es damals vielleicht mit Babi gemacht hatte?

Aber Raizl glaubt ihm, und die Wärme breitet sich auf ihrem Nacken und Rücken aus, zusammen mit dem Gefühl, dass er bereits weiß, wohin das Traumpferd sie bringt.

So wie sie immer wusste, wo er für sie Süßigkeiten versteckt hatte. Ihr gemeinsames Spiel, seit sie ein kleines Mädchen war: Er fordert sie auf zu raten, und sie starrt konzentriert auf all seine Jackentaschen, bis ihre Intuition Form annimmt, fest und sicher wie die Süßigkeit wird, und sie zeigt hin, da! Sie liegt immer richtig, und Zeidy zieht etwas Süßes von Paskesz aus der Tasche. Sie wartet nicht bis nach dem Essen, worauf Mami immer besteht – sie packt die Süßigkeit aus und steckt sie sich schneller, als sie den Segen sprechen kann, in den Mund, das süßsaure Prickeln bereits auf der Zunge, bevor das letzte Wort verklungen ist. Zeidy lächelt und schimpft nicht. Er liebt sie so oder so.

Zeichen

Als sie endlich in der U-Bahn sitzt, holt Raizl ihren Siddur aus der Handtasche. Wie ein Amulett oder einen Schutzschild hält sie das kleine Gebetbuch mit seinem silbernen Schmuckbezug vor ihr Gesicht, und obwohl sie sie alle auswendig kann, hat sie eine Seite mit Psalmen aufgeschlagen.

Aber trotz der Psalmen sickert Pornografie ein.

Die Frau, die vor Raizl steht, will sie tanzen? Gut möglich, so, wie sie sich an der Metallstange festhält. Gleich wird sie ein Bein um die schmale silberne Stange schlingen. Vielleicht wird sie die seriöse Bluse aufknöpfen, die am Hals, unter der Daunenjacke, hervorblitzt. Die Hitze in der Bahn lädt zu weiterer Hitze ein, zu einer physischen Begegnung mit einem scheinbaren Fremden. Raizl lebt jetzt in einem Zeichensystem, das ihr seltsamerweise vertraut ist. Denn ein religiöses Leben ist auch ein Zeichensystem. Jeder Gegenstand – ein Apfel, ein neuer Rock, eine gute Note – wurde Raizl als Zeichen der Hand G’ttes präsentiert. Als eine Gelegenheit, zu beten oder einen Segen zu sprechen. Selbst wenn sie stolpern und hinfallen würde, wäre das eine Warnung des baschefers. Pornografie funktioniert anders, ist dem aber verwandt. Jeder Gegenstand ist ein Sexrequisit, jede Geste eine Einladung an die Sinne. Ein Apfel ist jetzt etwas, das man besonders sexy essen kann, für den Fall, dass ein Mann zusieht; ein roter Mund ist ein roter Schmollmund; ein Rock ist dazu da, ausgezogen zu werden.

Hatte Sex schon immer hinter allem gestanden und sie hatte es einfach nicht gesehen? So wie Menschen, die nicht religiös sind, auch nicht G’tt in allem sehen. So wie ein Apfel für sie einfach nur ein Apfel ist, die Stange in der U-Bahn einfach nur etwas, woran man sich festhalten kann, wenn die Bremsen quietschen.

O’Donovan heiße ich

Mathematik und Buchhaltung fallen Raizl leicht, und sie nimmt in diesen Fächern so viele Kurse wie möglich. Aber der Pflichtkurs Englisch lässt sich nicht vermeiden.

Der Professor kommt herein, ein bartloser Mann. »O’Donovan heiße ich«, sagt er am ersten Tag des Frühlingssemesters. Jeans und Krawatte. Er hängt sein Jackett über den Stuhl, setzt sich aber nicht. Als er hin- und hergeht, kann sie sein Profil von allen Seiten betrachten. Raizl ist fasziniert von seiner Kieferpartie. Von der Haut, blass wie die eines Jeschiwa-Jungen, aber voller kleiner dunkler Poren. Endlich setzt er sich, er hat sich die professoralste Ecke vorne auf dem Lehrerpult ausgesucht. Den Studenten in der ersten Reihe kommt er besorgniserregend nah. »Ich will euch sprechen hören, nicht nur mich«, sagt er.

Ein erstes Anzeichen dafür, dass es ungemütlich werden könnte. Auf dem Lehrplan findet sich das Kleingedruckte, die Notwendigkeit, am Unterricht teilzunehmen, die Regeln hinter den Regeln; die Forderung, nicht nur zu lernen, sondern sich auch einzufügen. Raizl bezweifelt, dass sie eine gute Note kriegen kann. Sie hat zwar Englischunterricht in der Schule gehabt, aber Englisch ist nicht ihre erste Sprache. Sie fing erst damit an, nachdem sie die Muttersprache Jiddisch und zum Beten die heilige Sprache Hebräisch gelernt hatte. In der ersten Klasse. Um den erlaubten Schulbüchern und chassidischen Romanen etwas hinzuzufügen, hat Raizl heimlich unheiliges Englisch zu sich genommen – Liebesromane, die sie auf der Straße fand, Magazine in den Warteräumen von Arztpraxen. In der Highschool behauptete Raizl, sich mit Freundinnen zu treffen, und ging stattdessen in die Bibliothek.

Es gibt so viele Worte, die Raizl zwar gelesen, aber noch nie selbst in den Mund genommen hat!

Zu Hause achtet sie sehr darauf, nicht zu verraten, dass sie mehr weiß, als sie wissen sollte. Im College hingegen hat sie Angst, ihr könnte etwas herausrutschen und ihre Wissenslücken offenbaren, sodass deutlich wird, wie viel weniger sie weiß als die Studenten um sie herum in ihren T-Shirts und Jeans, die alle ständig an ihren Handys hängen. Auf dem Campus zieht sie ihr aufklappbares koscheres Handy – ohne Internet, keine Kamera, keine Nachrichtenfunktion – nie aus der Tasche. Wenn sie in Kursen etwas sagt, hören die anderen ihre überbetonten Konsonanten, den leichten jiddischen Singsang, und sie starren sie manchmal neugierig an. Ganz egal, wie gut ihr dieser O’Donovan das Schreiben beibringen wird, sie wird nie so aussehen oder klingen wie die anderen Studenten.

Er lockert seine Krawatte, die jetzt einen leichten Seitwärtsdrall hat. Seine nonchalanten Gesten wirken verlogen. Raizl bevorzugt Lehrer wie die, bei denen sie ihren Religionsunterricht hatte, Rabbiner und deren Frauen, die rebezn, die darauf bestehen, dass man sie respektiert, und keine Freundlichkeit vortäuschen.

»Dies hier ist euer erster Englischkurs im College«, sagt er. »Die Grundlage für eure Zukunft als Studenten. Es ist mir vollkommen gleich, was euer Hauptfach ist oder was ihr sonst noch für Kurse habt. Ihr müsst in der Lage sein, kritisch zu denken, analytisch zu lesen und ansprechend zu schreiben.« Er zeigt erst auf seinen Kopf, dann auf die Augen. Dann malt er mit der Hand Kreise in die Luft, als wäre sein Finger ein Stift. Als würde noch irgendwer Hausarbeiten mit dem Stift schreiben.

Anschließend springt er vom Tisch und steht, plötzlich ernst, vor ihnen. »Das, was ihr hier erarbeitet, wird euch nicht nur auf die Universität vorbereiten, sondern aufs Leben.«

Zu spät merkt Raizl, dass sie sich einen falschen Sitzplatz ausgesucht hat, dass sie direkt auf den Reißverschluss von O’Donovans Jeans guckt. Sie hält den Blick gesenkt, vertieft sich in den Lehrplan, versucht, ihr Sichtfeld auf alles unterhalb seiner Knie einzuschränken, und fragt sich, ob es stimmt, was er prophezeit oder verspricht – ob sie das, was sie liest und schreibt, jemals für etwas anderes als das College benutzen wird.

»Ihr könnt mich sehr leicht erreichen«, fährt der Professor fort. »Schickt mir eine Facebook-Nachricht, wenn ihr Fragen habt.«

Jetzt ist Raizl beunruhigt. Sie hat dieses Internetbuch nicht. Es ist eine Sache, aufs College zu gehen, einen Computer im Rucksack zu verstecken und heimlich einen Englischkurs zu belegen … aber Facebook wäre noch viel gefährlicher. Man könnte sie dort finden und den Sittenwächtern melden.

Professor O’Donovan macht eine Vorstellungsrunde. Als alle Studenten reihum ihre Namen sagen, fragt er jeden, der einen Akzent hat, mit seinem offensten, einladenden Lächeln: »Und wo kommst du her?«

Normalerweise macht sich Raizl keine Gedanken, wenn sie Englisch spricht, aber jetzt fragt sie sich, ob ihr Jiddisch durchscheinen wird. »Ich bin Raizl aus Brooklyn«, sagt sie, so schnell sie kann, damit der Professor nicht nachfragt.

Einen qualvollen Moment lang spürt sie die Blicke des Professors und ihrer Mitschüler auf sich. Ihrem wadenlangen Faltenrock, ihrer Bluse, zugeknöpft bis zum Kragen, den Ärmeln, die die Handgelenke verschlucken. Dann geht es weiter zum nächsten Studenten.

Was sie zum Professor sagen möchte: Wo kommst du her? Sie will ihm sein Englisch wegnehmen, ihn sprachlos stranden lassen, ortlos. Sie will Kurse belegen, in denen nur Zahlen existieren, keine Worte.

Versuchs mal

»Raizele, lass die Bücher sein! Du musst dich fertig machen!« Mami eilt ins Zimmer.

Raizl schließt hastig ihren Computer und versteckt ihn unter ihren Unterlagen. »Fertig far woß?«

»Die Heiratsvermittlerin hat angerufen, sie hat wen gefunden. Der choßn kommt morgen Abend vorbei, um dich kennenzulernen.«

»Ts-ts.« Tati steht im Türrahmen und ermahnt Mami. »Sag nicht choßn, noch nicht.«

»Du warst mein Erster«, sagt Mami. »Der Erste könnte der Richtige sein.« Mami geht zum Kleiderschrank und kommt mit drei Kleidern von Raizl zurück. Sie haben keine Zeit mehr, vor der Beschau neue Kleidung zu kaufen, deswegen muss das beste Schabbes-Kleid reichen.

»Zalmen, mach die Tür zu, damit sie alles anprobieren kann. Ich will sehen, wie hübsch sie für den choßn sein wird!«

»Kejn ajnore«, sagt Tati gegen den bösen Blick und geht.

Mami wirbelt mit einem der Kleider herum, einem weißen. »Ein Segen, diese Podhoretz. Die Frau kann zaubern«, sagt sie.

Raizl starrt auf das Kleid, das Mami in der Hand hält, dann auf die anderen. Die falsche Wahl, unter so vielen Kleidern, die am Ende alle genau gleich aussehen. Warum freut sie sich nicht, so wie Mami? Nachdem Podhoretz »Versuch’s mal« gesagt hatte, hatte Raizl einem Treffen zugestimmt, aber sie will nicht, dass es so schnell geht. Nicht schon morgen.

»Es ging so schnell!«, lacht Mami.

Raizl läuft es kalt den Rücken hinunter. Woher weiß Mami, was sie denkt? Wird auch Mami jetzt anfangen, Raizls Träume zu lesen, hat sie die Gabe von Zeidy geerbt?

»Nicht dass es mich überrascht«, fügt Mami hinzu und kommt zu Raizl an den Schreibtisch. »Zieh dieses hier an, es ist weiß und wird dir masl bringen.« Sie sieht Raizl verträumt an, malt sich ihr Glück aus. »A schejn mejdele. A jidischer kop. Hübsch und schlau!« Sie legt das Kleid auf den Tisch und streicht Raizl sanft über den Kopf. Diesmal lässt sie die Locken Locken sein.

Plötzlich umklammert sie Raizls Hand, als wollte sie sie irgendwohin ziehen. »Ich will nicht, dass du allein bist«, sagt Mami.

Sie schaut Raizl eindringlich an. »Ich will, dass du glücklich bist, Raizele. Dieses Studium, das ist das, was du willst, gut, mach deine Kurse. Ein Geschenk vom baschefer, dein ßejchl! Fürs Erste reicht es, schlau zu sein. Aber das wird nicht immer der Fall sein. Ich will, dass du mehr hast.«

Wieder drückt sie zu, so stark, dass Raizls Knöchel knacken.

Raizl entwindet ihre Hand diesem Klammergriff und beugt sich vor, um ihre Mutter zu umarmen. Ihr Kopf sinkt auf Mamis weiche Brust, und sie kann diesem furchtbaren Blick voller Liebe und Erwartung ausweichen, einer Erwartung, die Raizl nicht erfüllen wird, da ist sie sich sicher. Der Schmerz, eines von Mamis fünf lebend geborenen Kindern zu sein, über Jahre großgezogen, und ebenso wenig Mamis Träume erfüllen zu können wie die Fehlgeburten, die nie einen Atemzug taten. »Mami, ich bin nicht allein.«

»Nicht jetzt, Raizele. Aber wenn Tati und ich einmal nicht mehr da sind …«

»Oj, Mami«, sagt Raizl instinktiv, sie will nicht, dass ihre Mutter den Tod heraufbeschwört, diese Zukunft näher bringt, indem sie darüber spricht. »Ich werde auch dann nicht allein sein!«

Raizl sagt nicht, wie dieses Nicht-Alleinsein aussehen wird. Dass sie ihre geheime Online-Welt hat. Stattdessen sagt sie: »Ich habe doch eine Familie.«

»Du liebst deine Schwester, deine Brüder. Natürlich! Und sie lieben dich! Aber du willst doch keine alte Jungfer sein. Sie werden ihre eigenen Familien gründen, und du wärst dann die alte mojd.«

Raizl umarmt ihre Mutter fester und versucht, den Graben, der selbst bei einer solchen Nähe zwischen ihnen liegt, zu überbrücken.

»Uuuf, Raizele. Hör auf. Zieh dein Kleid an, und ich gebe dir eine Kette, die du dazu tragen kannst. Und tu das Ding da weg.« Nervös zeigt Mami auf den nur halb verdeckten Computer.

Als Mami damals im September zum ersten Mal den geöffneten Computer auf Raizls Schreibtisch hatte stehen sehen, stand ihr die blanke Angst ins Gesicht geschrieben. »Tume«, sagte sie und zeigte auf die verbotene Maschine, die ihr Heim befleckte.

Raizl legte den Finger auf die Lippen ihrer Mutter. »Pssst, Mami. Ich brauch ihn für meine Kurse. Da sind all meine Hausaufgaben drin, schau!« Und sie hatte Mami den Bildschirm gezeigt – damals musste sie noch nichts verstecken –, und auf dem Computer leuchtete eine grün umrandete Excel-Tabelle mit ordentlich sortierten Zahlenspalten auf. Aber Mami war kreidebleich. Schützend hielt sie sich die rechte Hand vor die Augen, als wollte sie das Schma beten, um das Böse abzuwenden.

Raizl nahm Mamis Hand weg. »Ich brauche ihn auch für die Arbeit. Damit ich die Ausgaben abfedern kann, während Shloimi und Moishe die Tora lernen. Damit ich später mein Hochzeitskleid zahlen kann.«

Am Ende erlaubte Mami ihr, den Computer zu behalten. »Aber mach die Vorhänge zu, wenn du ihn benutzt«, warnte sie.

Jetzt verstaut Raizl den Computer schnell in ihrer Tasche, wo er auch während der Beschau bleiben wird. Der junge Mann wird zwar nicht einmal in die Nähe des Schlafzimmers gelangen, das sie sich mit Gitti teilt, überhaupt wird er sich nirgendwo ohne elterliche Aufsicht aufhalten dürfen. Aber es würde Unglück bringen, den Computer offen im Zimmer liegen zu lassen, während dieser Mann, vielleicht ihr choßn, im Haus ist.

Das Kleid in der Wanne

»Hübsches Kleid«, sagt Moishe und hält das weiße Kleid so vor sich, dass seine lange schwarze Jacke dahinter verschwindet. »Aber dir würde es viel besser stehen.«

Es ist Zeit für die Beschau, aber Raizl und Moishe sind im Bad, wo Raizl sich seit zwei Stunden verkriecht. Obwohl sie dem Treffen und dem Kleid, das Mami für sie ausgesucht hat, zugestimmt hatte, kann sie es jetzt nicht durchziehen. Sie hat sich geweigert, Mami die Tür zu öffnen. Aber als Moishe klopfte, wurde sie weich, und jetzt ist ihr Lieblingsbruder da und macht Scherze und hält sich das Kleid an die Brust. Er klemmt es sich unter das Kinn, sodass er mit den Händen den weißen Wollrock hin- und herschwingen kann. Das Bad ist eng, und der Saum landet in der Wanne.

»Hör auf«, nuschelt Raizl. Sie sitzt mit angezogenen Beinen auf dem Klodeckel und hat den Kopf auf die Knie gelegt. Sie trägt ihre Alltagskleidung, einen langen dunklen Pullover und einen langen dunklen Rock. Moishes schlitzohrigem Humor kann sie derzeit nichts abgewinnen.

»Hilf mir, hier rauszukommen«, sagt sie.

Einen Arm um die Taille des Kleides geschlungen, gräbt er mit der anderen Hand in der Tasche seiner langen Jacke.

»Nimm das hier«, sagt er und legt ein Feuerzeug und den Stummel einer dünnen, selbst gedrehten Zigarette auf die Ablage über dem Waschbecken.

»Mami ist direkt nebenan!« Raizl zeigt mit den Knien zur Tür.

Er zuckt die Achseln. »Was ist schon ein bisschen Gras im Bad gegen den Skandal, dass ein Mädchen sich für ihre Beschau nicht schick machen will? Nimm’s einfach, entspann dich. Sieh es als Mizwa, weil du Mami vor der peinlichen Situation bewahrst, einen choßn an der Tür abwimmeln zu müssen.«

Moishe ist anderthalb Jahre älter als Raizl. Als Kinder waren sie unzertrennlich, und er kann sie immer noch zum Lachen bringen, auch wenn er jetzt die Jeschiwa besucht.

Aber die In-Wirklichkeit-keine-Zigarette-Zigarette rührt sie nicht an.

»Hab keine Angst, Raizy.«