Sidebitch 2 - Jona Wood - E-Book

Sidebitch 2 E-Book

Jona Wood

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Beschreibung

»Bis dahin würde ich gern wissen, was du davon hältst, wenn ... nun ... ich von dir ... auf mir ... träume? In meinem Kopf klingt das alles so erotisch, so wunderbar liebevoll und erregend. Weißt du, was ich meine?« »Hm.« Julie lächelt, will es ihm aber nicht zu leicht machen. »Vielleicht solltest du mir mehr von den Details erzählen.« »Die Details? Du meinst, wie ich dir die Haare sanft zur Seite streiche, meine Lippen an deinen Nacken führe und dich zärtlich küsse? Wie ich mit meinem warmen Atem dein Ohr streife und mit der Zungenspitze hineinfahre?« Julie Bender hat ein Händchen für Flirts und Dramen. Ihr Wunsch, nicht immer die Sidebitch zu sein, zerplatzt regelmäßig wie eine Seifenblase an den Bartstoppeln der Männer. Sie ist erfolgreiche Architektin, aber auch hier verursacht Julie erdbebenartiges Chaos, das ihr die Zukunft verbauen könnte. Erst, als sie die gewitzte Greisin Greta kennenlernt, verändert sich ihre Perspektive. Ob Greta Julie auf den rechten Weg zurückführen kann?

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Sidebitch 2:

»Bis dahin würde ich gern wissen, was du davon hältst, wenn … nun … ich von dir … auf mir … träume? In meinem Kopf ist das alles so erotisch, so wunderbar liebevoll und erregend. Weißt du, was ich meine?«

»Hm.« Julie lächelt, will es ihm aber nicht zu leicht machen. »Vielleicht solltest du mir mehr von den Details erzählen.«

»Die Details? Du meinst, wie ich dir die Haare sanft zur Seite streiche, meine Lippen an deinen Nacken führe und dich zärtlich küsse? Wie ich mit meinem warmen Atem dein Ohr streife und mit der Zungenspitze hineinfahre?«

Julie Bender hat ein Händchen für Flirts und Dramen. Ihr Wunsch, nicht immer die Sidebitch zu sein, zerplatzt regelmäßig wie eine Seifenblase an den Bartstoppeln der Männer.

Sie ist erfolgreiche Architektin, aber auch hier verursacht Julie erdbebenartiges Chaos, das ihr die Zukunft verbauen könnte. Erst, als sie die gewitzte Greisin Greta kennenlernt, verändert sich ihre Perspektive. Ob Greta Julie auf den rechten Weg zurückführen kann?

Wir alle streben nach Glückseligkeit, manche wählen einfach nur den falschen Weg.

Ein Freund

Hinweis:

In diesem Roman habe ich mich dazu entschlossen, Verhütungsmittel in den entsprechenden Situationen nicht zu erwähnen. Hauptsächlich aus dem Grund, die Fantasie zu beflügeln. Nichtsdestotrotz möchte ich als Autorin in aller Deutlichkeit darauf hinweisen, dass im realen Leben an Verhütungsmitteln – vor allem zum Zweck des Eigenschutzes – nicht gespart werden sollte!

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

KAPITEL

KAPITEL

KAPITEL

KAPITEL

KAPITEL

EPILOG

Nachwort

PROLOG

VOR ELF JAHREN (22)

»Ich habe mich schon immer gefragt, wie es wäre, dich zu küssen …« Matteos Finger tippeln auf den Knien, den Blick stur geradeaus gerichtet. Julie mustert ihn. Seine dicke Daunenjacke raschelt, als er den Sicherheitsgurt zur Seite zieht, sich ein wenig auf dem Sitz herumschiebt und sich ihr zuwendet. »Hast du nie darüber nachgedacht?«

Sie seufzt. »Vielleicht.«

Das entstehende Schweigen breitet sich schwer zwischen ihnen aus. Julie ist müde, sie hat nach einer durchzechten Nacht alle ihre Freunde zu Hause abgesetzt. Mit Matteo eine Weile im Auto sitzen zu bleiben und zu quatschen, hat sich als kleines Ritual zwischen ihnen etabliert.

Er lehnt den Kopf an das Sitzpolster und betrachtet sie. »Wir könnten es einfach testen.« Das Lächeln, das seinen Mund umspielt, lässt ihn selbstsicher wirken. So kennt sie ihn.

»Ach komm schon, Matteo. Es ist spät, du hast zu viel getrunken und ich will ins Bett.«

»In mein Bett? Das steht dir nämlich zur Verfügung.« Er läuft anscheinend erst warm.

»Ist das dein Ernst? Jetzt hör auf mit diesen ekelhaften Sprüchen, küss mich, wenn du es unbedingt testen willst und dann lass mich nach Hause fahren.« Sie mag ihn, aber ihr Geduldsfaden ist ausgereizt.

»Nichts leichter als das.« Matteo beugt sich zu ihr, neigt den Kopf, hält kurz still, sieht ihr herausfordernd in die Augen und lässt dann seine weichen Lippen auf ihre gleiten.

Julie wartet ab, sie hält schon fast die Luft an, um nichts zu verpassen. Die Wärme, die von ihm ausgeht, seinen Geruch, die Zärtlichkeit, mit der sein Mund ihren umspielt. Als er sich von ihr löst, öffnet sie die Augen und seufzt.

»Möchtest du mehr?«

»Das geht nicht, Matteo. Deine Freundin findet das sicherlich nicht lustig, dass du mit mir rumknutschst, während sie brav im Bett liegt.«

Er zuckt mit den Schultern, sein Blick schweift aus der Frontscheibe.

»Wir haben es getestet, es war schön und jetzt gehen wir beide getrennt nach Hause.«

»Sei doch nicht so. Ich möchte es noch mal testen, weil ich mir nicht mehr sicher bin, ob es wirklich gut war.«

Julie murmelt vor sich hin, während sie ihrerseits nun den Blick nach draußen auf die schneebedeckte Straße richtet. »Ich bin leider nicht betrunken.« Das Kribbeln, das der Kuss in ihr ausgelöst hat, ist entfernt noch in ihrer Magengegend spürbar. Langsam löst es sich vollständig in Luft auf. Das macht sie traurig. Sie würde es gern festhalten oder erneut erleben. Sich mit diesem Glücksgefühl unter die Decke kuscheln und … tatsächlich kuscheln. Verdammt.

Matteo räuspert sich. »Darf ich dir noch etwas anderes vorschlagen?«

Sie bleibt still, beäugt ihn aber aufmerksam.

»Wir spinnen einfach mal ein bisschen rum und überlegen, wie schön und aufregend das mit uns sein könnte.«

»Du meinst, nur reden? Ein Gedankenexperiment?«

»Ja genau. Ich würde mit dem Gedanken anfangen, dass wir uns von Anfang an gut verstanden haben. Dass es genauso lange diese offene Frage zwischen uns gibt und ich, wenn ich darüber nachdenke, sie laut auszusprechen, in meinem Körper einen Adrenalinschub spüre. Schon immer feuchte Hände bekomme und eine Welle der Euphorie mich unruhig macht. Dann denke ich an den Kuss von eben, wie schön sich das angefühlt hat. Ein bisschen, als ob ich in meine Lieblingspizza gebissen hätte. Eine Gewohnheit, auf die man nicht verzichten möchte. Die zu mir gehört.«

Sie schüttelt amüsiert den Kopf. Er grinst, ist aber anscheinend noch nicht fertig.

»Es entspannt mich, bei dir zu sein. Und dann frage ich mich natürlich, wie erfüllend es sein würde, mit dir gar zusammen zu sein? Alles gemeinsam zu erleben, Pizza und Pasta zu vereinen. Unsere Familien zu einer großen zu machen, eins von diesen ekelhaft glücklichen Pärchen zu sein, über das unsere Freunde die Nase rümpfen werden.«

Julie sieht ihn ungläubig an. Wann wurde aus ihm so ein Poet? Und, wo kommen diese Gefühle her? Das neckische Flirten, das sie mit fast allen Jungs aus ihrem Bekanntenkreis pflegt, scheint ihn im besonderen Maße anzuregen. Ihr wird heiß in dem dicken Daunenmantel. Die Wangen glühen, nicht zu sprechen von ihren Ohren. Hastig öffnet sie den Reißverschluss ihrer Jacke und lockert den Schal, der fest um ihren Hals gewunden ist. Unwissend, was sie antworten soll, entfährt ihr wieder ein kleiner Seufzer, während sie ihre langen Haare aus der Enge ihrer Jacke befreit, sie zusammenfasst, herauszieht und ein paar Mal um einen Finger dreht.

»Ich habe dich ja noch nie so gespürt wie eben und es war – wow! Findest du nicht auch?«, fragt er sie mit seiner rauchigen Stimme.

Julie, die die Hitze noch nicht verlassen hat, spürt wieder den sanften Druck auf ihren Lippen. Sie streicht mit den Fingern unbewusst darüber, bemerkt, was sie tut und legt die Hand schnell zurück in den Schoß. Kurz schüttelt sie den Kopf, während sie versucht, die Oberhand, über ihre Gefühle und Empfindungen zu erlangen. Matteo greift nach ihrem Arm, zieht ihn zu sich hinüber und küsst ihre Fingerkuppen. Julie schafft es nicht, sich zu wehren. Seine Berührung ist Balsam, seine Anwesenheit eine Herausforderung. Zu gern würde sie ihn erneut küssen, die Sanftheit seiner Lippen und die Rauheit seiner Zunge erleben. Mehr noch, sie würde gern ihre Hand auf seine starke Brust legen und seine Wärme direkt auf ihrer Haut spüren.

Matteo zieht fester an ihrem Arm, sodass Julie über der angezogenen Handbremse des Polo liegt. Sein Kopf ist zur Seite geneigt und er versucht, ihr in die Augen zu sehen. Doch Julie starrt auf die Markierungen des Schaltknüppels – bloß nicht geschlagen geben! Wer hat sich eigentlich überlegt, die Gänge wie eine Mistgabel anzuordnen?

Als hätte Matteo einen sechsten Sinn für ihre ablenkenden Gedanken, hebt er ihren Kopf mit der freien Hand sanft an. Sie ringt mit sich, hat Angst vor weiteren Berührungen, gegen die sie nicht ankämpfen kann. Sie sieht in seine eisblauen Augen und weiß, sie hat verloren.

»Folgendes: Dein Auto darf hier nicht stehen bleiben, damit niemand Verdacht schöpft. Wenn du es kurz zu dir nach Hause fährst, kannst du gleich einfach wieder herkommen. Ich warte auf dich!«

Julie fängt lauthals zu lachen an. »Auf keinen Fall wandere ich gleich durch die kalte Nacht zu dir zurück. Das dauert sicherlich fünfzehn Minuten zu Fuß. Wahrscheinlich wirfst du mich dann nach unserem kleinen Techtelmechtel auch direkt wieder raus, damit deine Eltern und Mia nichts mitbekommen. Du Spinner! Auf gar keinen Fall!« Wild schüttelt sie mit dem Kopf, um ihrer Brüskierung Ausdruck zu verleihen. Dabei fällt ihr auf, wie geknickt er aussieht. Scheinbar hat sie ihn zu hart zurückgewiesen. »Hör mal, wir sind Freunde, und du bist vergeben. Belassen wir es dabei. Okay?«

»Nein, ich komme mit zu dir.«

1. KAPITEL

VOR DREIEINHALB JAHREN (29)

Die Party ist in vollem Gange, als Julie den Garten betritt. Laute Musik dröhnte ihr schon auf der Straße entgegen, die rosafarbenen Luftballons an der Hecke und am Hoftor weisen den Weg für die Besucher. Carlo hat sich alle Mühe gegeben, für Becky eine grandiose Überraschungsparty zu schmeißen. Bunte Girlanden hängen in den Bäumen und verbinden sie miteinander. Um die Stämme und Äste herumgewickelte Lichterketten sorgen für Ambiente. Julie ist erschlagen von der Menge der Gäste. Hunderte von Bekannten, Nachbarn und Verwandten tummeln sich auf der großen Wiese und der angrenzenden Terrasse des alten Bauernhauses. Da es dämmert, scheinen die Anwesenden sie nicht kommen zu sehen. Oder vielleicht liegt es an ihrem bereits erhöhten Pegel, der das geradeaus Schauen schwer macht.

»Julie! Hey Julie!«

Julie bleibt unter einer Lampe an der Hauswand stehen.

»Na endlich, wir haben dich schon sehnsüchtig erwartet!« Ein ehemaliger Klassenkamerad winkt ihr fleißig zu. Einige weitere Jungs stimmen in die Begrüßungsrufe ein.

Sie fragt sich unvermittelt, seit wann man wieder öffentlich mit ihr sprechen darf. Eigentlich ist sie doch die Geächtete des Dorfes, die nicht beachtet und schon gar nicht vor allen anderen angesprochen wird. Sind sie etwa erwachsen geworden oder sind die meinungsvorgebenden Frauen nicht anwesend?

Lachend winkt sie zurück, biegt aber ab, statt zu ihnen zu laufen, und betritt die Küche ihres Elternhauses durch die offene Terrassentür. In dem hell erleuchteten Raum stehen Becky, Carlo und der Familienhund Biggie. Die Labrador-Mischlingsdame trabt schwanzwedelnd und niesend auf Julie zu. Ein komischer Umstand bringt Biggie dazu, in Dauerschleife zu niesen, wenn sie sich freut.

»Na, meine kleine Fellnase. Hallo, du süße Maus!« Julie geht in die Knie und begrüßt den Hund überschwänglich mit Bauch-Streicheleinheiten, Popo-Klopfern und Ohren-Kraulern.

Sie sieht zu ihrem Bruder und seiner Freundin auf. »Na Becky, warst du überrascht? Schade, dass ich es verpasst habe, aber ich musste noch ein paar Mails schreiben …« Entschuldigend zuckt Julie mit den Schultern. Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Seit dem Agentur-Vorfall, wie sie die Ereignisse des letzten Jahres in ihrem Kopf bezeichnet, mangelt es ihr an gutem Schlaf und Ausgeglichenheit. Sie vermeidet es tunlichst, ihrem Chef über den Weg zu laufen, weil diese ‚Sache‘ noch ungeklärt zwischen ihnen steht, und sie wenig Lust verspürt, vor den Augen der Kollegen eine Diskussion darüber zu führen, ob es sich anschickt, eine Angestellte ohne ihr Wissen an eine Escort-Agentur zu vermitteln. Da Herr Martin ein Morgenmensch ist, kommt sie erst nach dem Mittagessen ins Büro. Zu diesem Zeitpunkt ist er meist schon auf dem Weg zu Kunden oder auf dem Tennisplatz. Julie arbeitet dann bis spät in die Nacht und hat kaum noch Abende für sich. So läuft das nun fast ein Jahr. Sie versucht, sich zu sammeln, das Thema abzuschließen, damit es weitergehen kann. Privat und beruflich. Aber es fällt ihr schwer, einen Schlussstrich zu ziehen, sich zu entscheiden, was sie tun möchte. Abgesehen davon träumt sie immer denselben schlimmen Traum, wacht schweißgebadet auf und schafft es nicht, dank ihres Gedankenkarussells, wieder einzuschlafen. Ihr Unterbewusstsein scheint die Wut über Alex noch zu verarbeiten. Er hatte ihr nach dem Vorfall eine rosige Zukunft ausgemalt. Wie sie beide Hand in Hand durch das Leben gehen würden und alles, das Gute und das Schlechte, miteinander in Liebe teilen würden. Daraus wurde dann doch nichts und nun träumt Julie im Grunde jede Nacht, wie sie Alex mit einem gemieteten Porsche über den Haufen fährt. Nicht, dass sie das jemals tun würde. Der Traum stresst sie furchtbar, aber irgendwie löst er auch eine kleine Genugtuung aus, dass in einem parallelen Universum ihr böser Zwilling möglicherweise genau das tut, wozu Julie niemals in der Lage wäre.

»Ich bin aus allen Wolken gefallen!« Beckys Augen strahlen. Sie greift nach Carlos Arm und schmiegt ihren Kopf an seine Schulter. »Er ist der beste Mann der Welt!«

»Achtung! Wenn du nicht aufpasst, greift sich meine Schwester gleich vor lauter Schmalz deine Bierflasche. Sie mag dieses Liebesgesülze nicht. Erst verkneift sie sich angestrengt das Augenverdrehen, dann hält sie Ausschau nach einer Ablenkung, erhascht den Anblick einer mit Alkohol gefüllten Flasche und schwups – ist sie leer!« Carlos Schultern wackeln von seinem kleinen Lachanfall. Becky grinst Julie an.

»Für einen Moment kann ich eure Verliebtheit noch ertragen, ohne mich gleich betrinken zu müssen! Ich hab ja den Hund, der mich zur Not rettet. Und jede Menge Menschen, die draußen auf euch warten.« Sie streichelt immer noch über Biggies Bauch. »Warum seid ihr überhaupt hier drinnen? Kann ich behilflich sein?« Sie gibt dem Hund ein paar sanfte Klapse auf den Brustkorb und wischt sich beim Aufstehen Hundehaare von der Hose.

Carlo streicht sich durch das Haar. »Ehrlich gesagt hatten wir gerade eine Auseinandersetzung darüber, wen ich zur Party eingeladen habe.« Sein miesepetriger Blick gleitet vom Fenster zu Becky.

Sie verzieht die Augenbrauen, öffnet den Mund, als wollte sie ihm widersprechen, doch besinnt sich scheinbar eines Besseren. »Nein, ich finde es etwas übertrieben. Immerhin werde ich nur vierundzwanzig. Das ist doch nichts Besonderes und fünfzig Freunde wären mehr als genug gewesen. Hier sind Menschen, die ich vielleicht einmal irgendwo am Rande kennengelernt habe. Tanten und Onkel unserer Freunde.« Während sie spricht, betrachtet Carlo sie mit einem süffisanten Lächeln. Das scheint sie zu irritieren. »Warum lächelst du jetzt? Es sind einfach viel zu viele Menschen, deren Namen ich nicht kenne. Das ist so anstrengend!«

Er nimmt sie in den Arm, lacht jetzt laut und gibt ihr einen Kuss auf den Kopf. »Mach dir keine Sorgen, Baby, die sind nur wegen des kostenlosen Alkohols hier. Die wollen nicht mit dir sprechen, genauso wenig wie meine Schwester!«

»Du frecher Hund! Das stimmt gar nicht!« Becky kämpft sich aus seiner Umarmung und boxt ihn leicht in die Seite.

»Das war wieder ein typischer Carlo. Komm her, Becky, aus meiner Umarmung spricht nur Liebe – kein Kampf. So kann ich dir auch noch mal ordentlich zum Geburtstag gratulieren!« Julie drückt Becky an sich und herzt sie wie eine Schwester. »Also, alles Liebe und Gute nochmals persönlich. Ich hätte mich heute Morgen bei unserem Telefonat beinahe verplappert, aber das ist doch noch mal gut gegangen!« Sie grinst erst Becky und anschließend ihren Bruder an.

»War ja wieder klar!« Er klatscht sich die Hand auf die Stirn.

Julie verfinstert ihren Blick theatralisch. »Komm Becky, wir gehen zu den netten Menschen auf diesem Grundstück.« Den Arm immer noch um Beckys Schulter gelegt, führt sie ihre Schwägerin aus der Küche in den Garten. Kühle Luft, der Geruch von gegrilltem Fleisch und laute Stimmen empfangen sie. Sofort wird Becky herbeigewunken. Julies Magen grummelt.

»Soll ich dich unterstützen?« Sie will Becky nicht den Wölfen zum Fraß vorwerfen, ist sich aber nicht sicher, ob sie bereit ist, in vergangene Zeiten einzutauchen, sich den Fragen ihrer alten Bekannten zu stellen, die pikant, aber auch tiefschürfend sein könnten und sie von einer in die nächste Sekunde innerlich zerstören würden.

»Ach nein, danke dir! Das sind doch tatsächlich meine eigenen Tanten und Onkel, die kenne und mag ich.« Sie lächelt und macht sich auf den Weg zu ihrer Verwandtschaft.

*

»Lange nicht gesehen, Julie.« Matteo steht am Grill und wendet betont gelassen das Fleisch auf dem Rost, während die Flammen immer wieder hochzischen. Er muss nicht aufschauen, um sie zu begrüßen, er weiß, dass sie es ist, die neben ihm steht.

»Hi, Matteo.«

Da sie nichts weiter sagt, hebt er den Kopf. Sie lächelt ihn verhalten an. Viel Zeit ist ins Land gegangen, doch die Frage steht immer noch ungeklärt zwischen ihnen. Was wäre wenn …? Er gibt sich einen Ruck. »Wie geht es dir?«

»Sehr gut, vielen Dank.«

»Das freut mich zu hören. Hast du inzwischen einen Freund?« Innerlich zieht sich alles zusammen. Er hatte die Frage überhaupt nicht stellen wollen. Nicht so plump und unvermittelt. Ein oder zwei Bier später vielleicht. Äußerlich beherrscht er sich jedoch recht gut. Er schließt kurz die Augen und schluckt seinen Ärger hinunter.

»Ohne Umschweife, direkt zum Punkt, hm?« Julie legt den Kopf schief. Ihr Lächeln wirkt gezwungen.

Matteo bleibt bei der Macho-Schiene. »Du kennst mich doch!« Er zwinkert ihr zu, überspielt das Chaos in seinem Innern.

»Nein, ich habe keinen Freund, aber riesigen Hunger. Also, würdest du bitte deines Amtes walten und mir das größte Stück Fleisch, das du hast, auf ein Brötchen legen? Das wäre herzallerliebst.«

Der leicht ironische Unterton des letzten Satzes befeuert seinen Willen, ihr näher zu kommen. Herausforderungen sind sein Fachgebiet. Und es ist Julie, verdammt noch mal! »Ich habe für dich das prächtigste Steak aufbewahrt. Hier sieh mal.« Er greift mit der Zange nach einer halben Paprika und hält sie in die Luft.

»Haha! Sehr witzig. Ich sehe mein Stück. Das da hinten.« Sie geht auf die Zehenspitzen und reckt sich ein wenig an ihm vorbei, um mit dem Finger auf ein Steak zu zeigen. Er blockiert ihr weiter absichtlich den Weg. Wahllos zeigt er mit der Zange auf die falschen Stücke. »Das hier? Dieses? Oder dieses?« Sein spitzbübisches Grinsen entlockt ihr ein Augenrollen.

»Matteo!«

Mit einem Mal schüttelt es ihn vor Vorfreude. Ihre genervte Stimme mit der drohenden Inbrunst klingt in seinen Ohren wie flüssige Schokolade. Eine Leckerei für das Gemüt. Er wünscht sich mehr, doch die Schlange, die sich hinter ihr bildet, hält ihn davon ab, den Spaß weiterzutreiben. »Na gut, Julie. Dein Wunsch ist mir Befehl.« Kurz bevor er das Steak auf ihrem Brötchen ablegen will, zieht er es doch noch einmal zurück. »Versprichst du mir, dass wir nachher noch einen zusammen trinken?«

»Wenn du mir endlich mein Fleisch gibst und ich bis dahin nicht verhungert sein sollte. Vielleicht.« Demonstrativ schiebt sie ihm ihren Teller entgegen.

Er erbarmt sich und legt das Fleisch ab. »Ich werte das als ein Ja. Ich freue mich schon darauf! Bis später, Julie.« Sie dreht sich nicht mehr zu ihm um, doch er weiß, dass sie angebissen hat. Das wilde Kribbeln in seinem Körper lässt ihn lächeln.

*

Etwas abseits stellt sie den Teller und ihre Handtasche auf einen Stehtisch mit weißer Husse ab, prüft gedankenverloren, ob sie eine Nachricht bekommen hat und steckt das Handy zurück in die weinrote crossbody Bag. Kaum will sie in ihr Steaksandwich beißen, erscheinen an ihrem Tisch fünf bekannte Männer. Sie parken eine Kiste Bier neben dem Tischbein und öffnen ihr eine Flasche. Obwohl sie lieber in Ruhe gegessen hätte, grinst sie die Jungs an und bedankt sich für das Bier. »Ist das alles für mich oder trinkt ihr mit?«

Sofort greift sich jeder eine Flasche. Sie werden elegant mit der Rückseite eines Messers geöffnet.

»Soll ich euch vielleicht einen richtigen Flaschenöffner organisieren?« Schon will sie ihr Brötchen, in das sie immer noch nicht gebissen hat, wieder ablegen und in die Küche laufen, da hält Steve sie auf und bricht endlich das merkwürdige Schweigen.

»Nee, nee, Julie. Wir sind hier mehr zu Hause als du. Alle Flaschenöffner sind verschwunden, deswegen haben wir uns damit geholfen.« Er hält das Messer in die Luft, bevor er es achtlos auf den Stehtisch plumpsen lässt. »Iss endlich, damit wir uns danach ordentlich mit dir unterhalten können!«

»Ja, ist ja gut. Dann erzähl mir doch in der Zwischenzeit, was es bei euch Neues gibt. Mein Bruder hält mich zwar halbwegs auf dem Laufenden, aber ihm muss ich auch alles aus der Nase ziehen. Also? Wer fängt an?« Sie grinst in die Runde und beißt beherzt in ihr Steak. Zu beiden Seiten quillt Ketchup hinaus und tropft auf den Teller. Die Jungs lachen.

Samuel räuspert sich, zeigt Verständnis. »Ich und Josipa müssen demnächst das Auto verkauf…«

»Josipa und ich, du Depp. Der Esel nennt sich stets zuerst«, dröhnt es aus der Runde.

Julie verschluckt sich fast bei dem Lacher, der aus ihr hinausdrängt. Sie scheinen doch irgendwie erwachsen geworden zu sein.

»Ist gut. Josipa und ich, halt. Mann ey, regt euch doch nicht über so einen Schrott auf. Ich und sie, sie und ich. Ist doch schnurzpiepegal!«

»Wie auch immer, was ist mit dem Auto?«

»Ai wir ham kein Geld mehr. Sie hat nur Teilzeit und ich kann net abbeide mit dem Fuß.«

Sein hessischer Dialekt bringt Julie zum Stirnrunzeln. Was auch immer das Problem mit seinem Fuß ist, sie fühlt sich mit einem Mal zehn Jahre zurückversetzt. Doch nicht erwachsen geworden.

Die Jungs waren immer witzig, haben sich nicht zu ernst genommen, aber ebenso keine großen Ambitionen gehegt und nie die kleinen Dörfer in der Heimat verlassen. Und jetzt scheinen sie sich sogar mit echten Schwierigkeiten herumzuschlagen. Dass er über die ganze Aufregung ins Hessische abrutscht, verstärkt Julies Eindruck, hier nicht mehr hinzupassen.

Sie konzentriert sich auf ihr Essen, folgt der Unterhaltung zwar gedanklich, will aber lieber niemanden ansehen. Sie mag ihren Job, verdient genug, lebt in einer Neubauwohnung in einer, wie sie findet, grandiosen Stadt. Aktuell könnte sie sich überhaupt nicht beklagen, selbst, wenn sie wollte. Außer über Männer.

Sie hat wenig Interesse daran, den Jungs vor den Kopf zu stoßen. Daher überlegt sie, wie sie dem Gespräch und der anstehenden Fragestunde entgeht. Ob sie sich einen Nachtisch holen und dann einfach nicht mehr zurückkehren soll? Aber sie müsste ihre Tasche hier stehen lassen, um keinerlei Verdacht zu erregen. Wenigstens das Handy würde sie mitnehmen wollen, wenn sie in eine ruhige Ecke verschwindet. Sie kaut immer länger auf den letzten Bissen herum, versucht, das Ende ihrer Schonfrist hinauszuzögern.

»Bist du Julie?« Ein großer, mittelalter Mann steht plötzlich neben ihr.

Sie beäugt ihn misstrauisch. Eine Strähne seines dunklen Haares hängt ihm in die Stirn und lenkt ihren Blick auf die gutmütigen Augen. Sie nickt, da sie immer noch angestrengt so tut, als würde sie essen.

»Dein Bruder schickt mich, es geht um eine Überraschung für Becky. Er wartet hinter dem Schuppen auf dich. Das hier sollst du mitbringen.« Erst jetzt fällt ihr die Weinkiste auf, die er ihr hinhält. Darin liegen zwei Flaschen Weißwein, Geschenkband, eine Schere, Chips und eine Stange Pappbecher.

Sie schluckt hinunter und versucht, die Gegenstände in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. »Was soll das denn werden, wenn es fertig ist?« Julie betrachtet den Wirrwarr und lacht den Fremden an.

Sein Lächeln bringt die Augen zum Strahlen. »Da fragst du den Falschen, aber ich habe gehört, du wärst kreativ und dir würde schon etwas einfallen.«

Sie greift nach der Kiste, doch er behält sie bei sich.

»Ich trage sie dir rüber, sonst jagst du dir noch einen Splitter in deine zarten Hände.«

Sofort fliegen alle Augen auf Julie und ihre Hände. Die Jungs grölen. Sie streckt ihnen die Zunge raus, hängt sich ihre Tasche über die Schulter und nimmt die Bierflasche vom Tisch. »Bis später, Jungs, und danke für das Bier!«

»Aber komm wieder zurück, wenn du fertig bist, wir wollen endlich hören, was bei dir so abgeht.«

Im Gehen winkt sie mit der Flasche und freut sich über den etwas verzweifelt wirkenden Versuch, sie auszufragen.

»Ich bin übrigens Julian, Matteos Onkel.«

»Ah, schön. Freut mich, dich kennenzulernen. Aber warum kommt mein Bruder nicht selbst, um mich zu holen?«

»Das war eine kleine Notlüge. Ich sollte dich aus den Fängen der Clique befreien.«

In der von Sternen und Lichterketten erhellten Nacht laufen sie nebeneinander her. Doch statt den Weg nach links zu dem Geräteschuppen einzuschlagen, hinter dem Carlo sie erwartet, biegt Julian nach rechts ab.

»Der Schuppen ist da drüben.« Sie deutet mit dem Arm in die Richtung. Die Umrisse lassen sich in der Dunkelheit gerade so erahnen, da die hohen Tannen rund herum das Licht der Party verschlucken.

»Ich weiß, das war ebenfalls gelogen. Wir gehen zu der Sonnenterrasse hinter der Scheune. Falls dich jemand sucht, schaut er hinter dem Schuppen nach, aber da bist du nicht.« Er wirft ihr ein kleines Lächeln zu.

»Aha. Also treffe ich nicht meinen Bruder hinter der Scheune. Sondern wen? Doch nicht etwa Matteo?« Der einzige Grund, warum sie weiter neben ihm herläuft, ist, weil sie von diesem Mann aus den Fängen der Neugierigen gerettet wurde. Aber jetzt hat sie genug. Sie bleibt abrupt stehen.

Er dreht sich ihr zu. »Hm.«

Es scheint ihn zu amüsieren, dass sie immer unzufriedener mit der Situation ist. »Was heißt hm?« Ihre Stimme wird energischer, langsam reicht ihr die Geheimniskrämerei.

»Matteo wartet dort auf dich.«

Julie zieht die Augenbrauen vor Ärgernis zusammen. »Was soll das? Wieso schickt er einen Boten und wieso wartet er nicht ab? Ich habe schließlich vor nicht mal dreißig Minuten zugestimmt, später noch mit ihm zu sprechen.« Stürmisch dreht sie sich herum, schlenkert mit den Armen vor Entrüstung und will in die Richtung zurückmarschieren, aus der sie gekommen sind, doch Julians Reflexe sind überirdisch. Er setzt die Kiste auf der Wiese ab, hastet mit großen Schritten zu ihr und stellt sich ihr in den Weg. Julie zieht die Augenbrauen noch weiter zusammen und grummelt, um ihren Unmut mitzuteilen. Sie will an ihm vorbei, doch er breitet die Arme aus. Wie ein Hirte, der seine Schäfchen nicht auf die gefährliche Straße laufen lässt, versperrt er ihr den Rückweg. Er lacht sie freundlich an.

»Gib ihm eine Chance. Er will nur mit dir reden.«

»Ha, dass ich nicht lache. Du weißt, dass er eine Freundin hat, oder?«

»Ja, aber ich glaube, Mia und er legen gerade eine Pause ein.«

»Natürlich, wie passend. Dann, wenn ich auf der Bildfläche erscheine, sind sie alle Single oder haben große Beziehungsprobleme und suchen nach einer Ablenkung. Ich hab die Nase voll davon. Sag ihm …« Sie tigert hin und her, kickt einen kleinen Ast zu Seite und schnaubt verächtlich durch die Nase. »Nein, ich sage es ihm selbst. Gib mir die Kiste, die ziehe ich ihm gleich über den Schädel!« Sie läuft wieder in die entgegengesetzte Richtung, klaubt die Kiste von der Wiese und marschiert los.

»Sei nicht zu hart, gefühlstechnisch ist er schon am Boden«, ruft er ihr noch nach.

Julie schnaubt erneut und lässt sich nicht mehr aufhalten.

*

Matteo hört Stimmengewirr auf sich zukommen, doch außer Julies aufgebrachter Tonlage, kann er nicht verstehen, was gesagt wird. Er macht sich auf ihren Wutausbruch gefasst. Aber da er weiß, wie er sie besänftigen kann, grinst er bereits jetzt in sich hinein. Die Gläser stehen bereit, der Wein ist entkorkt, das kleine Lagerfeuer knistert vor sich hin, die Gartenstühle davor positioniert und an bequeme Auflagen und Decken hat er auch gedacht. Sehr hilfreich, dass er sich auf dem Grundstück ihrer Eltern so hervorragend auskennt.

Das Grummeln, das sich nähert, ist unverkennbar Julies üble Laune. »Hey, Maus, hast du gut hergefunden?«

»Ich geb dir gleich Maus!« Sie stürmt um die Hecke herum, direkt auf ihn zu und pfeffert die Holzkiste in seinen Bauch.

Er krümmt sich vor Schmerz nach vorn, und sie prallen mit den Köpfen zusammen.

Julie stöhnt auf und lässt mit einer Hand los, um sich an die Stirn zu greifen. Die Kiste hängt schief zwischen ihnen hinunter, sodass sich eine Weinflasche verselbstständigt und auf Matteos Fuß stürzt. Er jault auf und hoppelt mit einem Bein in der Luft um das Feuer herum.

Julie lacht aus vollem Hals über ihn. »Tut mir leid«, quetscht sie zwischen den Lachern heraus und wischt sich immer wieder die Tränen von den Wangen. Sie japst nach Luft und versucht, den Lachanfall unter Kontrolle zu bekommen.

Langsam beruhigt sich auch Matteo, lässt sich auf einen der Gartenstühle fallen und legt den verletzten Fuß auf einem Holzklotz vor sich ab. »Aua. Da hast du mich aber gleich mehrfach abgestraft.«

»Tja, so ist das. Karma, mein Freund. Was auch immer du hier mit mir vorhast, es widerspricht dem, was du laut gesellschaftlicher Konventionen tun solltest. Habe ich recht?« Sie setzt sich auf den freien Stuhl und atmet hörbar erheitert aus.

»Vielleicht liegt es auch einfach nur daran, dass du mich bestrafen wolltest. Bauch, Kopf, Fuß – du hast mit einem Schlag alles getroffen, herzlichen Glückwunsch!« Er strahlt sie an, doch sie scheint gedankenverloren.

Auf dem kleinen Tisch zwischen ihren Stühlen stehen die Weingläser und die geöffnete Weinflasche. Matteo überlegt nicht lange, er will die entspannte Stimmung nutzen, um Julie dortzubehalten. Der Wein plätschert in die Gläser, was sie wohl nur am Rande wahrnimmt. Sie starrt in den Himmel.

»Ich habe lange nicht mehr so viele Sterne gesehen. In der Stadt ist entweder der Blick versperrt von zu vielen Hochhäusern, ist es zu diesig, dank der Abgase, oder es ist einfach zu hell, dank der vielen Hochhäuser und Laternen. Schön, mal wieder hier zu sitzen.«

»Freut mich, dass du der Sache doch etwas Gutes abgewinnen kannst. Hier.« Er reicht ihr ein Glas und sie stoßen an. Als sich ihre Blicke treffen, strömt sofort die spezielle Wärme in seinen Körper. Dieses Gefühl hat sie schon damals ausgelöst, vor sieben Jahren. Seine Unfähigkeit, sie vollends für sich zu gewinnen, hat seinem Ego einen kleinen Knacks verpasst. Und jetzt mit Mia, die ständig zu Wettkämpfen auf der ganzen Welt unterwegs ist, fehlt ihm die Ablenkung von der inneren Unzufriedenheit.

Der Kampf um Julie war neulich so präsent wie nie, als er ein Foto von ihr fand. Für seine Mutter sollte er nach einem Bild seiner Tante suchen und glitt in Erinnerungen, als ihr zartes Gesicht ihn zwischen den durchschnittlichen Freunden anstrahlte. Er war augenblicklich elektrisiert. Die Tante war vergessen, er scrollte durch seine Bilder, auf der Suche nach ihr, nach ihrem Lächeln.

»Wie sieht es aus, läuft alles zu deiner Zufriedenheit?« Er betrachtet sie von der Seite und versucht, jede Bewegung, jeden Wimpernschlag zu deuten.

»Abgesehen davon, dass ich eben entführt wurde, läuft es ganz gut bei mir, ja. Und bei dir?« Sie hatte die Nase kurz gerümpft, sieht nun aber wieder entspannt in den Himmel und nippt an ihrem Wein.

»Du bist ganz schön dramatisch. Entführt!« Seine Empörung ist gespielt, aber er weiß, dass er sie damit aus ihrem Schneckenhaus herauslocken kann.

Der Spruch verfehlt die Wirkung nicht. Drohend schwenkt sie das Glas in seine Richtung und zuckt, als würde sie der Flüssigkeit den nötigen Schwung geben wollen. In letzter Sekunde hält sie ein und schenkt ihm wieder ihren bösen Blick.

Er kann nicht anders, als zu grinsen, als er das intensive Pochen in seiner Lendengegend wahrnimmt. Was kann er tun, um sie in Stimmung zu bringen? »Na gut, Julie, ich benehme mich für eine Weile wie ein Gentleman und trieze dich nicht weiter. Wenn du mir versprichst, mir nachher noch eure Sauna anzustellen.«

Verdutzt sieht sie ihn an. Ihr Gehirn scheint sich zu überschlagen, bei den Gedanken, die ihr gerade kommen. Wieder kann Matteo bei ihrem Anblick nur lächeln. Schnaufend atmet sie ein paar Mal ein und aus, bis sie bereit ist, eine Antwort zu formulieren.

»Ich sag dir was: Das ist die billigste und schmierigste Anmache, die du mir je entgegengebracht hast. Aber das ignoriere ich einfach und sage ‚Ja‘, was die Sauna betrifft. Eins sollte dir aber klar sein. Ich mache sie an und verschwinde, du wirst mich nicht belabern, nicht anfassen oder sonst irgendwelche üblen Tricks versuchen, um mich dazubehalten. Versprich es!«

»Pfadfinderehrenwort.«

»Du belügst mich doch nicht, oder?«

Er schüttelt den Kopf und versucht, so ernst wie möglich auszusehen. »Ich schwöre!«

*

Sie traut ihm nicht. Aber sie möchte sich für eine Weile entspannt den Himmel anschauen, die Party Party sein lassen und sich irgendwann ins Bett stehlen. Auch wenn es nicht ihre Art ist, polnische Abgänge zu proben, fühlt sie sich heute nicht danach, der versammelten Mannschaft von ihrem Leben zu erzählen und sich den Tratsch und Klatsch des Dorfes anzuhören. Irgendwann scheint sie sich in eine andere Richtung entwickelt zu haben. Obwohl sie trotzdem alle gernhat, aber diese Gemeinschaft ist ein eingeschworenes Ensemble, an dem man entweder aktiv teilnimmt oder eben kein Teil mehr davon ist. Vielleicht ist es nun einfach an der Zeit, sich einzugestehen, dass die Zeiten vorbei sind. »Wie geht es Mia?«

»Gut, gut. Sie ist mal wieder auf Tour, beim Austria extreme Triathlon.«

»Oh, cool! Warum begleitest du sie nicht?«

»Ich war schon so oft bei ihren Läufen und Wettkämpfen dabei, ist für mich nicht so spannend, stundenlang danebenzusitzen und zu warten, dass sie endlich ins Ziel läuft.« Er zuckt mit den Schultern und lässt die Mundwinkel ein wenig hängen.

»Das mag sein, aber eine moralische Unterstützung dabeizuhaben, ist bestimmt trotzdem schön für sie.«

»Sie hatte schon nach den ersten beiden Wettkämpfen, an denen ich wegen meines Knies nicht mehr teilnehmen konnte, gesagt, dass ich nicht mehr zu kommen brauche. Aber zwei Jahre habe ich es trotzdem noch durchgezogen. Immerhin schlug mein Herz ja auch für den Sport.«

»Und jetzt nicht mehr?«

»Ich weiß es nicht.«

Sie platziert ihren Ellenbogen auf der Armlehne ihres Gartenstuhls und stützt den Kopf auf ihre Hand. Für einen Moment denkt sie darüber nach, ob Matteo den Ausstieg aus seiner depressiven Haltung findet und sich nicht noch mehr von den anderen Dörflern herunterziehen lässt. »Darf ich dir mal etwas sagen?«

Er wendet den Kopf und sieht sie aufmerksam an.

Ein kleines Nicken animiert sie, loszulegen. »Mia ist eine tolle Frau. Sie ist ambitioniert, erfolgreich und liebenswert. Ich weiß nicht, wie es in eurer Beziehung läuft, du machst mir zumindest nicht den Eindruck, als wärest du glücklich. Nur, wenn du sie abschießt und dich hier mit den Bier trinkenden Langweilern abgibst, wird dich das noch viel mehr runterziehen. Mach jetzt keinen Scheiß, Matteo, sei ein Mann, arbeite an deiner Beziehung und lass das Glück nicht entwischen. So hört es sich nämlich gerade für mich an. Mia reist durch die Weltgeschichte und du lässt sie einfach ziehen. Was denkst du, wie lange es dauert, bis sie nicht wieder zurückkommt?«

Betreten blickt er auf seinen Schoß und dreht das Weinglas zwischen den Fingern. Schon ärgert sich Julie über sich. Im Verteilen von Lebens- und Beziehungstipps ist sie ganz vorn dabei. Als Außenstehende ist es nun mal viel leichter, zu erkennen, was schiefläuft, und dafür Lösungen zu finden. Selbst in der Situation zu stecken bedeutet, erst mal herauszufinden, wie die Lage ist, und sich zu fragen, wie man dahin gekommen ist. Zumindest, wenn man ein reflektierender Mensch ist. Anschließend versucht man, das Problem zu lösen. Mal mehr und mal weniger erfolgreich. Mal mit und mal ohne Hilfe. Aber die eigentliche Frage, die es zu klären gilt, ist, was für ein Mensch man sein möchte und wie man mit diesem Bild von sich selbst handeln sollte.

Nicht, dass ihr das liegen würde. Sie wünschte, sie könnte mal einen Blick auf ihr Karmakonto werfen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie viele gute Taten sie in ihrem Leben noch tätigen muss, um die ganzen moralischen Verwerfungen auszugleichen. Mit einem großen Schluck leert sie ihr Glas. »Gibst du mir noch etwas Wein?«

Ohne sie anzuschauen, greift er nach der Flasche und kippt ihr die hellgelbe Flüssigkeit in das Glas, das sie zwischen die beiden Stühle hält. Sie lehnen sich zurück und betrachten erneut die Sterne.

»Es tut mir leid, wenn ich dir zu nahegetreten bin. Ich wollte nur, dass dir irgendjemand mal die Wahrheit sagt.«

»Die Wahrheit darüber, was für ein Versager ich bin?« Die Enttäuschung in seiner Stimme wird begleitet von einer leichten Aggressivität.

»Hör auf mit dem Quatsch! Du bist ein toller Mann, Matteo. Du hast zwar deine Marotten, aber was solls, die hat jeder. Wenn du nicht diese Macho-Nummer auflegst, kann man dich ganz gut ertragen.«

Er lacht. »Wie nett von dir.«

»Finde ich auch und soll ich dir noch was sagen?« Sie erahnt ein Kopfschütteln, deshalb spricht sie einfach weiter. »Du darfst dir selbst auch noch etwas Wein einschenken. Wie findest du das?«

»Unfassbar, wie großzügig du sein kannst.«

»Es kommt noch besser!«

»Nein?!«

»Doch.«

»Willst du mir die Schultern massieren?«

»Pff, nein, ich teile die Chips mit dir.« Sie greift in die Kiste, die neben ihr auf dem Boden steht und wedelt mit der Tüte in der Luft herum. »Obwohl, wenn ich es mir recht überlege, geht das doch etwas zu weit. Ich massiere dir die Schultern und dafür behalte ich den Inhalt dieser Chipstüte. Ist das ein Deal?«

»Ehrlich gesagt, würde ich doch lieber die Chips nehmen.« Mit dem Schelm im Blick sieht er sie an. Er scheint geduldig auf ihre Retourkutsche warten zu wollen, doch dieses Mal braucht Julie sie nicht lange zu überdenken. Sie zieht ein Kissen hinter ihrem Rücken hervor und knallt es ihm ans Kinn.

»Hey! Du hast mich heute doch schon verprügelt, reicht es nicht irgendwann?«

Er hält das Kissen fest, sodass sie nicht noch einmal ausholen kann. Doch er hat anscheinend nicht mit ihrer Reaktionsfähigkeit gerechnet. Sie reißt das Weinglas in ihrer anderen Hand hoch, sodass der Inhalt auf Matteo zufliegt – keine Chance, auszuweichen. Der Wein landet mitten in seinem Gesicht. Reflexartig zieht er die Schultern hoch, kippt den Kopf nach vorn und schnappt nach Luft. Das T-Shirt ist durchweicht. Der Wein tropft aus seinen Haaren auf die Hose. Julie kringelt sich vor Lachen.

»Boah, du kleines Miststück. Das wirst du mir büßen!« Mit einem Satz ist er bei ihr und kitzelt sie am Bauch. Sie schlägt um sich, zieht die Beine heran und versucht, ihn auf Abstand zu halten, doch er ist stark. Mit einer Hand fixiert er ihre Arme, setzt sich auf ihre Oberschenkel und schüttelt die nassen Haare über ihr aus.

»Nein! Ihhh!« Sie lacht zwar, aber die Tropfen auf ihrer Haut empfindet sie als ekelhaft, weil sie weiß, dass sie gleich genauso kleben wird wie er. Als er sich nach vorn beugt und den Po etwas nach hinten schiebt, um sein Gesicht an ihrem T-Shirt abzuwischen, nutzt sie die Chance und bewegt ihren Oberkörper in seine Richtung. Er kommt ins Wanken, versucht, sich am Stuhl festzuhalten, aber er rutscht von ihren Knien und zieht sie mit sich von der Sitzfläche. Sie landen auf dem Boden, mit den Köpfen beinahe in der Feuerschale, wenn Matteo nicht noch eine Richtungskorrektur vorgenommen hätte.

Kurz holt sie Atem, dann befreit sie einen Arm, stützt sich damit ab und will von Matteo hinunterrollen, doch er hält sie fest umklammert. Ihr Arm klappt ein und sie ist gefangen. Es kommt ihr vor, als hätte sie ein Déjà-vu, aber sie kann es nicht einordnen. »Lass mich runter, du bist ganz nass.«

»Ach was, kann ich mir gar nicht erklären. Aber geteiltes Leid ist ein abgetrocknetes T-Shirt, findest du nicht auch, Julie?«

»Nein, ganz – und – gar – nicht!« Sie windet sich, als würde sie sich häuten wollen. »Loslassen.« Doch statt des Druckes nachzugeben, schlingt er seine Beine über ihre und macht sie bewegungsunfähig. »Ma – tte – o!« Er hält still und erwartet scheinbar, dass sie aufgibt. Das siegessichere Lächeln auf seinen Lippen bringt sie zum Rasen. »Ich tu dir gleich weh, also sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.« Ihre Gesichter sind eine Handbreit voneinander entfernt. Julie holt aus, doch Matteo rollt den Kopf in letzter Sekunde zur Seite und Julies Stirn landet auf seinem Hals, anstatt auf seiner Nase.

»Also damit hättest du mir vermutlich die Nase gebrochen. Ich weiß ja nicht, welche Aggressionen du an mir auslassen musst, aber mir ist Kuscheln und Liebkosen tausendmal lieber.«

Erschöpft stöhnt sie an seine Schulter. Sie lässt locker und entspannt sich, da sie im Augenblick keine Chance auf Freiheit sieht. Er scheint ihre Kapitulation anzunehmen. Langsam streichelt er ihr über den Rücken. Ohne zu sprechen, genießen sie die körperliche Nähe des anderen. Für einen Moment ist es ganz still, bis auf das gelegentliche Knacken des Holzes im Feuer und die entfernte Musik der Party.

»Meine Arme fangen an, weh zu tun, die sind so eingequetscht zwischen uns.« In Julies Fingern kribbelt es verdächtig.

»Kein Problem, ich glaube, ich muss auch mal mein Gesicht waschen.«

Julie schält ihre Gliedmaßen von Matteo und klebt sogar ein wenig an seiner Haut fest. Er verharrt regungslos, bis sie sich neben ihn gerollt und sich aufgesetzt hat. Sie bewegt ihre Handgelenke und kreist die Schultern. Matteo drückt sich hoch, steht auf und reicht ihr die Hände, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Sie betrachtet ihn. Ob er sie wieder gefangen nehmen wird? Sie lächelt und lässt sich von ihm auf die Füße ziehen. »Dann mach du dich sauber und ich schalte dir inzwischen die Sauna an. Du willst doch noch da rein, oder?«

»Ja, gern. Das klingt gut.« Sein Lächeln ist freundlich, ernst gemeint. Keine Zweideutigkeiten mehr.

Während sie Richtung Haus laufen, will sie die Stille überbrücken. Jetzt, wo sie sich so nah gekommen sind, hätte sie gern mehr Zeit mit ihm. »Es ist doch so warm, wieso willst du noch mehr schwitzen?«

»Ist gut für das Immunsystem, und ich bekomme morgen keinen Kater, wenn ich den Alkohol jetzt schon ausschwitze.«

»Das klingt nach einem Ammenmärchen.«

»Ist es vermutlich auch, aber das mit dem Immunsystem stimmt auf jeden Fall.«

Vor sich hin feixend erreichen sie den Hintereingang des Hauses und treten ein. Julie wendet sich nach links, läuft gemächlich die Treppe hinunter, in Richtung des kleinen Wellnessbereichs im Keller. Sie hört das Quietschen der Tür gegenüber dem Eingang und wie Matteo das Gästebad betritt. Das Knarzen der Scharniere hat bisher nicht mal der beste Handwerker in den Griff bekommen. Wasserrauschen verrät ihr, dass er sich säubert. Sie dreht den Knopf der Sauna auf die Temperatur, die ihre Eltern immer einstellen, und macht sich auf den Weg zurück nach oben.

Mit zwei großen Hüpfern kommt Matteo die Treppe herunter und rennt Julie beinahe über den Haufen. »Oh, sorry, wir sind heute wohl auf Kollisionskurs, hm?«

»Scheint so«, murmelt sie vor sich hin, doch sie ist abgelenkt. Er steht oberkörperfrei vor ihr. Die wohlgeformten Brustmuskeln, das angedeutete Sixpack und die helle Haarlinie unterhalb seines Bauchnabels erfordern ihre gesamte Aufmerksamkeit. Die Wassertropfen auf seinem Gesicht perlen auf seinen Oberkörper. Er hat das klebrige Shirt wohl ebenfalls unter den Wasserhahn gehalten und danach ausgewrungen. Sie stiert ihn an, ihr Gehirn schaltet auf Leerlauf.

Julie kommt zu sich, als ihr klar wird, dass er wieder das siegessichere Lächeln und das verschmitzte Blitzen in seinen Augen trägt. Sie schüttelt ihren Kopf und sammelt ihr Bewusstsein ein.

»Kann ich mein T-Shirt irgendwo aufhängen? Vielleicht ist es wieder halbwegs trocken, bis ich aus der Sauna raus bin und geduscht habe.«

»Mhm … ja.« Ihr Blick gleitet von seinem kantigen Gesicht erneut über den nackten Oberkörper bis hinunter zu seiner Hand, in der das verkrumpelte und noch tropfende T-Shirt steckt. Als sie es erblickt, schnappt sie es sich und dreht sich prompt auf dem Absatz herum. »Ich hänge es in den Heizungskeller, da ist es ziemlich warm.« Hastig öffnet sie die schwere Metalltür und verschwindet in dem Raum. Als sie zurückkehrt, steht Matteo noch immer an der gleichen Stelle und betrachtet sie aufmerksam.

»Kannst du mir ein Handtuch geben?«

Es ist, als würde Julies Gehirn nicht mehr funktionieren. Sie hört die Worte, doch verarbeiten kann sie sie nicht. Sie bleibt nicht stehen, sondern eilt an ihm vorüber und will die Treppe hinaufsteigen.

»Julie!«

»Hm?« Sie erstarrt, mit einer Hand am Treppengeländer blickt sie über die Schulter zurück. »Was?«

»Ein Handtuch?«