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Als Nin eines Morgens aufwacht, ist ihr Bruder Toby verschwunden. Sein Bett ist leer, seine Klamotten sind weg, und als sie ihre Mutter nach Toby fragt, antwortet die erstaunt: »Wer ist denn Toby?« Es ist, als hätte es Toby nie gegeben. Nur Nin kann sich an ihren Bruder erinnern, und sie ahnt auch, wo er jetzt ist: Im Haus der Schrecken. Und von dort ist noch niemand wieder zurückgekommen. Nin muss ihren Bruder retten! Mutig wagt sie sich in jene magische Welt, in der alles Gestalt annimmt, wovor Menschen sich fürchten. Doch findet sie den Weg? Und was ist das Geheimnis der sieben Magier? Nin hat keinen Plan, sie verlässt sich auf ihr Glück ...
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Seitenzahl: 402
Caro King
Die 7 Magier
Aus dem Englischen von Nina Schindler
Fischer e-books
Für Kevin
Nin hatte Dienstage noch nie leiden können, aber dieser Dienstag hier war echt das Letzte. Als sie aufwachte, schüttete es wie aus Kübeln, und ihr kleiner Bruder war … verschwunden.
Das Erste, was sie traf, war der Regen. Weil sie gestern Abend vergessen hatte, das Fenster zuzumachen, platschten ihr dicke Tropfen direkt ins Gesicht. Nicht die schönste Art aufzuwachen.
Mit einem Schrei fuhr Nin hoch und starrte das Fenster an. Dann stand sie auf und mühte sich mit den klatschnassen Gardinen und dem Fensterriegel ab, der sich nicht bewegen lassen wollte. Es dauerte Ewigkeiten, bis sie das Fenster zuknallen konnte, damit das Gewitter draußen blieb, wo es hingehörte.
Sie wischte sich mit dem Schlafanzugärmel über das nasse Gesicht und spähte zu den grauen Wolken hoch, oder zumindest auf das, was sie von ihnen durch die am Fenster herabströmenden Sturzbäche sehen konnte.
»Toll!«, knurrte Nin. »Einfach super. Bestimmt ist heute Dienstag.«
Sie sah auf ihrer großen lila Uhr, dass sie noch eine knappe halbe Stunde Zeit hatte, und ließ sich ins Bett zurückfallen.
Und dann fiel ihr noch etwas auf. Eigentlich hätte Toby schon wach sein müssen. Ihr Bruder war immer als Erster auf den Beinen, obwohl er nicht so früh wie Nin in der Schule sein musste. Jeden Morgen hörte sie ihn zum Bad tapsen und dann wieder zurück in sein Zimmer, wo er sich mit seinem jeweiligen Lieblingsspielzeug beschäftigte.
Sie drehte sich auf den Rücken und blickte böse auf die Uhr. Egal. Anscheinend schlief er heute länger. Nin seufzte und spielte in Gedanken noch einmal den Vorfall mit den Säcken im Keller durch.
Als sie gestern Abend in der Abendsonne gesessen und in ihrem Lieblingsbuch gelesen hatte, war Toby in der Tür vom Wintergarten aufgetaucht, wie immer mit seinem abgegrabbelten Äffchen unterm Arm. Er blieb dort eine Weile stehen, bevor er sich hereintraute und sich neben ihren Sessel stellte.
»Da ist was im Keller«, sagte er.
Nin stöhnte und sah von ihrem Buch auf. »Was?«
»Im Keller«, flüsterte Toby. »Was Grüseliches.«
»Es heißt gruselig, nicht grüselich«, blaffte Nin ihn an. »Grüselich ist Babysprache.«
Das war gemein, aber Toby nervte sie, und deshalb meckerte sie ihn an.
Toby stand einfach da und schaute sie an wie immer, wenn sie etwas für ihn machen sollte.
»Sag es Mama.« Nin blätterte die Seite um. Sie war gerade an einer guten Stelle, wo die Heldin den Weg in eine Parallelwelt entdeckte.
Toby sah sie immer noch an. Er hatte blonde Haare und seine Augen waren sehr blau, fast violett. Nin dagegen hatte ganz gewöhnliche braune Haare und gewöhnliche blaue Augen. Und sie war jetzt total genervt.
»Hör mal, ich lese, klar? Erzähl es Mama.«
»Sie ist einkaufen gegangen.«
Montags ging ihre Mutter immer einkaufen.
Nin verdrehte die Augen.
»Dann erzähl es Oma. Oder Opa.«
»Oma ist im Garten und Opa …«, er hielt kurz inne, »… schläft.«
Damit meinte er, dass er sich ein wenig vor dem Großvater fürchtete.
Nin ließ ihr Buch auf den Tisch fallen und stand auf.
»Na gut!«, sagte sie wütend. »Aber wehe, wenn es irgendein Minischeiß ist.«
Es war welcher.
Im Keller stand nur ein alter Tisch, auf dem verstaubtes Werkzeug lag. Außerdem die Weinsammlung ihres Opas, ein paar verbeulte Farbdosen und ein paar alte Säcke, die unordentlich verknäult in der Ecke lagen.
»Und wo ist nun das grüseliche Ding?«, funkelte Nin Toby an.
Sie steigerte sich gerade in eine miese Laune rein. Die Sorte Laune, die ihre Oma übel nannte und bei der ihre Mutter aufgeblähter Miesmolch zu ihr sagte.
Toby zeigte auf die Säcke.
Nin seufzte.
»Das sind Säcke, du Blödi. Bloß leere, dreckige, alte Säcke.«
Aber seltsamerweise hatte sie nicht die geringste Lust, in die dunkle Ecke zu gehen und die alten Säcke auszuschütteln, um Toby zu zeigen, wie leer sie waren.
»Na, los«, sagte sie. »Geh wieder rauf und nerv mich nicht mehr.«
Und damit war die Säckeschau beendet.
Der Regen strömte immer noch an der Scheibe herab, und Nin lag im Bett und seufzte. Vielleicht hatte Toby heute Nacht Albträume gehabt. Oder er hatte aus lauter Angst vor dem Kinderschreck nicht einschlafen können. Oder sonst was. Plötzlich hatte sie wegen der blöden Säcke im Keller ein schlechtes Gewissen. Na toll.
»Ich hätte netter zu ihm sein sollen«, stöhnte Nin laut auf. »Ich hätte die gammeligen Säcke wegschmeißen und im Keller herumgehen sollen, um ihm zu zeigen, dass da nichts ist.«
Sie stand auf, zog den hässlichen grünen Bademantel an und patschte auf nackten Füßen in die Diele. Tobys Zimmer war am anderen Ende des Flurs, hinter der Abstellkammer, wo Papas alter Krempel aufbewahrt wurde. Sie öffnete die Zimmertür so leise sie konnte.
Ungläubig starrte sie hinein.
Das Zimmer war aufgeräumt! Eigentlich war es mehr als aufgeräumt: Es war fast leer.
Verdutzt betrachtete sie den leeren Fußboden, auf dem keine Spielsachen und alte Socken herumlagen. Auf der Kommode fehlten Tobys riesige Panda-Uhr, sein Zeichenblock und die Malstifte und die vielen Bilderbücher, die sonst dort lagen. Dann sah sie zum Bett hinüber.
Es war leer.
Schlimmer – es sah aus, als hätte gar niemand darin geschlafen. Die Bettdecke lag ordentlich gefaltet auf dem glattgezogenen Laken, und die Kissen waren aufgeschüttelt.
Nin zog die Brauen zusammen.
Die Bettdecke war nicht mehr mit Tobys Spiderman-Bettwäsche bezogen.
Sie rannte zum Schrank und riss die Tür auf. Wie erwartet hingen darin Kleidungsstücke. Aber es waren die alten Sakkos ihres Großvaters, und die hatte sie nicht erwartet.
Ihr wurde ganz flau im Magen, und mit einem Mal hatte sie überall Gänsehaut. Dann holte sie tief Luft. Nin blickte sich um und machte sich darauf gefasst, dass Toby kichernd in der Ecke stand.
Doch da war niemand.
Sie stieß die Schranktür zu und lief nach unten.
Nin ging sonst nie vor dem Frühstück runter. Normalerweise kam sie erst in die Küche, wenn ihre Mutter den Toast in den Toaster steckte. Dann war die Küche warm und roch nach … na ja, nach Toast.
Heute war alles anders. Aber es war ja auch Dienstag. Lena war noch nicht aufgestanden. Nin stand oben an der Treppe und sah hinunter in die Dunkelheit. Sie wusste, dass Toby nicht im Wohnzimmer war, weil die Wohnzimmertür offenstand und dahinter noch mehr Dunkelheit lauerte.
Sie drückte auf den Lichtschalter, und die Diele wurde von Helligkeit durchflutet. Dann sauste Nin nach unten und achtete darauf, dass sie nicht in den dunklen Winkel unter der Treppe schaute.
Als Nin damals so alt wie Toby war, hatte sie immer geglaubt, dass unter der Treppe irgendetwas lauerte und sich unter den Mänteln versteckte. Die Garderobe war genau der Ort, an dem irgendetwas lauern würde. Wegen der Dunkelheit, die dort selbst dann noch herrschte, wenn man bereits Licht angemacht hatte.
Sie hatte lange nicht mehr an das Irgendetwas gedacht, aber heute Morgen war alles irgendwie anders als sonst, und die Erinnerung daran überfiel sie so heftig, dass ihre Haut kribbelte. Sie stürmte in die Küche.
Im dämmrigen Morgenlicht konnte Nin gerade eben die Umrisse des Toasters und des Wasserkessels auf dem Herd erkennen und die glatten Oberflächen der Küchenschränke.
Kein Toby.
»Du bist früh auf.« Lena stand hinter Nin in der Türöffnung und knipste das Licht an.
Nin war zusammengezuckt und fuhr herum.
»Du auch.«
Ihre Mutter schüttelte den Kopf und fuhr sich mit den Fingern durch die verwuschelten Haare. Sie war noch nicht angezogen.
»Ich hab schlecht geschlafen.« Sie seufzte. »Und du?«
»Der Regen hat mich aufgeweckt«, sagte Nin, und das stimmte ja auch.
Lena ging zur Arbeitsfläche.
»Wenn wir nun schon mal hier sind, könnte ich ja auch Frühstück machen, hm?«
Ohne eine Antwort abzuwarten füllte sie den Wasserkessel und stellte ihn auf den Herd, dann steckte sie vier Scheiben Toast in den Toaster und ging zum Schrank, um die Teebeutel zu holen. Nin blickte über die Schulter ihrer Mutter und stellte fest, dass auch die große Schachtel mit Tobys Lieblingsmüsli verschwunden war.
»Mama, ist mit Toby alles in Ordnung?«, fragte sie ängstlich.
Dienstage waren immer schlimm, aber der hier entwickelte sich nachgerade zum allerschlimmsten Tag, den es jemals gegeben hatte.
»Mit wem?«, fragte Lena.
Nins Mutter stritt ab, dass Nin jemals einen Bruder gehabt hatte. Dann setzte sie sich an den Küchentisch und wartete darauf, dass das Wasser kochte.
»Du weißt doch«, versuchte Nin zu scherzen. Sie wünschte sich, ihr Magen würde endlich mit diesen Purzelbäumen aufhören. »Toby. Mein Bruder. Ungefähr so groß.«
Ihr war, als wäre sie fälschlicherweise in das Leben eines anderen Menschen gerutscht. Lena lachte.
»Ich könnte ja wohl kaum noch mehr Kinder versorgen. Ich hab mit dir schon genug zu tun! Und falls du es noch nicht gemerkt hast: Ich habe noch nicht wieder geheiratet. Soll das ein Wink mit dem Zaunpfahl sein, dass ich mich mehr um mein Privatleben kümmern sollte?«
Nin wand sich innerlich.
Ihr Vater hatte vor drei Jahren einen tödlichen Unfall in einer Unterführung gehabt. Die Erinnerung daran tat immer noch weh.
»Nein, Mama«, sagte sie voller Mitgefühl. »Ich wollte nur …«
Doch dann pfiff der Wasserkessel los, und das Geräusch unterbrach den Augenblick.
Lena stand auf, um den Tee aufzubrühen, und da sprangen auch schon die Toastscheiben hoch. Nin holte schnell die Orangenmarmelade und gab sich große Mühe beim Buttern der Toastscheiben, damit Lena vergaß, worüber sie gerade geredet hatten.
Als Nin gewaschen und angezogen war, war Toby immer noch nicht erschienen. Doch Nin wartete unbeirrt darauf, dass er endlich aus einem Versteck auftauchte und sich so benahm, als wäre nichts passiert. Schließlich konnten vierjährige Brüder nicht einfach verschwinden!
Im Unterricht musste Nin ständig an Toby denken und passte deshalb in Englisch nicht auf, obwohl das eigentlich ihr Lieblingsfach war. In Erdkunde wurde sie zweimal wegen Unaufmerksamkeit getadelt.
Nin begriff einfach nicht, was geschehen sein konnte. Erst hatte sie noch gedacht, Toby wäre oben im zweiten Stock in der Wohnung von Oma und Opa Covey, aber dann wäre er rechtzeitig zum Frühstück aufgetaucht. Er konnte auch nicht bei Oma Redstone sein, die in Sandybay am Meer wohnte. Toby blieb nie allein bei Oma Redstone. Außerdem hätte ihre Mutter dann gesagt: »Er ist doch bei Oma, Schatz, hast du das vergessen?«, statt sich zu wundern, von wem Nin redete. Und außerdem würde das auch nicht erklären, warum alle seine Sachen verschwunden waren. Sogar sein Müsli!
Bestimmt hat ihn der Kinderschreck geholt, dachte sie und lachte über diesen albernen Gedanken.
Es war ein grimmiges Lachen.
Im Laufe des Vormittags hörte es endlich auf zu regnen, und in der Pause zog Linette Nin in eine ruhige Ecke vom Schulhof.
Linette maulte wegen ihrem Vater, weil er ihr neuerdings jeden Spaß vermiesen würde. Sie erzählte, dass er sie eine Woche lang gezwungen hatte, Kartoffeln zu essen, weil sie ihr Geld nicht für das Schulessen, sondern für Chips ausgegeben hatte.
Doch Nin unterbrach sie.
»Das ist doch so was von egal«, sagte sie ungeduldig. »Heute Morgen ist was total Verrücktes passiert.«
Linette sah sie wütend an.
»Hör mal!«, fauchte sie. »Ich war gerade am Erzählen!«
»Aber es ist wichtig«, beharrte Nin.
»Ach ja? Und dass ich mich zu Tode hungere ist nicht wichtig?«
Nin schüttelte den Kopf. »Jetzt hör mir doch mal zu! Toby ist verschwunden!«
Linette starrte Nin an, als ob sie verrückt geworden wäre.
Eine lange Pause entstand.
Und dann geschah es wieder.
»Wer?«, zischte Linette. »Von wem redest du da eigentlich? Kenne ich den?«
»Ja!«, jaulte Nin. »Das ist mein Bruder!«
Linette gab ein ungeduldiges Schnauben von sich.
»Also ehrlich, Ninevah Redstone«, schleuderte sie zurück, während sie davonstapfte, »manchmal glaube ich, du hast eine Totalmeise.«
Irgendwie schaffte Nin es durch den Nachmittag. Als schließlich die Schulglocke das Ende des Unterrichts verkündete, schnappte sie sich ihren Rucksack und rannte los. Aus dem Schulgebäude raus und vorbei an der Bushaltestelle. Immer weiter. Sie konnte jetzt nicht mit den anderen abhängen, sie wollte nur noch nach Hause. Und der kürzeste Weg nach Hause führte zu Fuß durch den Park und durch die Unterführung, das wusste sie.
Normalerweise hätte Nin die Unterführung gemieden wie die Pest. Aber heute würde sie das Risiko eingehen.
Jemand brüllte ihr etwas zu, als sie am Parkeingang durch eine Gruppe von älteren Schülern rannte, aber sie hörte gar nicht hin. Sie lief durch den Park, über die Brücke mit dem schmiedeeisernen Geländer, an den Enten und am Café Wacholder vorbei und um die Blumenrabatten herum.
Dann kam die Unterführung.
Sie ragte wie ein großes schwarzes Loch vor ihr auf, als wollte sie sie verschlingen. Urplötzlich blieb sie stehen und wäre fast gestürzt. Einen Augenblick lang befürchtete sie, sie müsste sich in die Geranien übergeben.
In tiefen Atemzügen sog sie frische Luft ein und betrachtete den Tunneleingang.
Ein tiefes, dunkles Loch, das grauenvolle Gespenster verbarg, so schrecklich, dass in ihren Augen Angsttränen pieksten.
Aber auch ein Tunnel unter der Straße, durch den sie rasch nach Hause käme.
»Okay, Toby Redstone«, sagte sie laut. »Wenn du nachher zu Hause bist und ich ganz umsonst hier durchgegangen bin, dann stecke ich dein blödes Äffchen in die Waschmaschine und du musst eine Woche lang dein Müsli ohne Zucker essen!«
Dadurch wurde die Unterführung zwar nicht weniger bedrohlich, aber der entschiedene Ton ihrer Stimme bewirkte, dass ihr nicht mehr so übel war. Sie ballte die Fäuste und betrat den Tunnel.
Es war so schlimm, wie sie gedacht hatte.
Drinnen war es nämlich viel dunkler und stank viel schlimmer, als sie sich hatte vorstellen können – ein tierischer Geruch, fast wie im Zoo. Und der Tunnel wirkte endlos, aber bestimmt kam ihr das nur so vor, weil sie solche Angst hatte. Das Echo ließ ihre Tritte widerhallen, als würden ihr Schritte folgen.
Ein paar Meter weiter machte die Unterführung einen scharfen Knick nach rechts, wodurch die nackte Betonwand wie eine Sackgasse wirkte. Man konnte nie wissen, was einen hinter der Kurve erwartete. Die meisten Leute störte das nicht, aber Nin störte es gewaltig, denn hinter dieser Kurve war ihr Vater gestorben.
Was ihm passiert war, war so mysteriös, dass es wahrscheinlich nie wieder jemandem passieren würde. Das wusste Nin. Deshalb war die Wahrscheinlichkeit, dass ihr dasselbe widerfuhr, äußerst gering.
Sie wusste, nach der Kurve ging der Tunnel noch ein kleines Stück weiter, und dann führten einige Stufen hoch zur Straße. Nur in ihrer Phantasie wirkte die Strecke so besonders lang und besonders dunkel. Fast alles – wie zum Beispiel ein wilder Stier – konnte dort lauern.
Heute war da nur ein Junge, der aussah wie ein verwahrloster Penner, in einem zerlumpten schwarzen Mantel und einem löchrigen roten Schal. Er war ein paar Jahre älter als Nin, und sie hatte ihn in der letzten Zeit öfter in der Stadt herumlungern sehen. Sie lief an ihm vorbei und wich ganz bewusst seinem Blick aus.
Endlich erreichte sie die Treppe und dann stand sie auf der anderen Straßenseite. Ihre Lebensgeister erwachten erneut, und sie lief den Dunforth Hill so schnell hinauf wie sie konnte.
Das war nicht leicht. Der Dunforth Hill war schrecklich steil. Aber wenn man erst mal oben war, bot sich einem ein unglaublicher Ausblick. Der Nachmittag war hell und sonnig, und wenn Nin in der Stimmung gewesen wäre, um die Aussicht zu genießen, hätte sie über eine Patchworkdecke aus Feldern und das glitzernde Flussband bis hin nach Midtown schauen können.
Jetzt tauchte das Haus vor ihr auf, im Schatten der großen Weihnachtstanne, die ihr Vater gepflanzt hatte, als Nin fünf gewesen war. Seither war die Tanne unglaublich hoch gewachsen. Alles wirkte ganz normal und friedlich. Für kurze Zeit hätte Nin fast vergessen, dass etwas nicht stimmte.
Sie schloss die Tür auf und stand ängstlich lauschend im Flur. Normalerweise wäre ihre Mutter mit Toby zu Hause gewesen. Heute war alles still. Sie waren bloß noch unterwegs, redete sie sich ein. Und dann rutschte ihr das Herz in die Hose, als die Wahrheit sie traf wie ein herabfallender Ziegelstein.
Ihre Mutter war nicht da, weil sie noch arbeitete. Und sie arbeitete noch, weil sie Toby nicht aus der Kita abholen musste. Und sie musste Toby nicht abholen, weil es Toby nicht mehr gab.
Der Abend war so wie immer – mit einer Ausnahme. Toby war weg. Nin hatte Hausaufgaben zu erledigen, sie sollte einen Aufsatz über eine historische Persönlichkeit ihrer Wahl schreiben. Aber der einzige Name, der ihr einfiel, war Toby. Sie kritzelte ihn immer und immer wieder auf ihre Heftseite.
Dann gab es Abendbrot; Nin aß zwar, merkte aber gar nicht richtig, was sie sich in den Mund steckte. Und als sie beim Fernsehen das Programm auswählen durfte, gab es niemanden, der protestierte und immer wieder dazwischenquatschte.
Alles war still und friedlich und schrecklich öde. Es war unglaublich, wie sehr Toby ihr fehlte. Viel mehr, als sie gedacht hätte, weil der Kleine doch eigentlich meistens ein Nervtöter war.
Als es Schlafenszeit war, war Nin wie betäubt vor lauter Hilflosigkeit und Sorge, und am Mittwochmorgen sagte sie ihrer Mutter, sie fühle sich krank. Sie hatte einen Plan geschmiedet, und der hatte nichts mit Schule zu tun. Nachdem sie die ganze Nacht so lange gegrübelt hatte, bis ihr schwindlig geworden war, sah sie blass und erschöpft aus, und deshalb schickte Lena sie sofort zurück ins Bett.
Sobald die Haustür hinter ihrer Mutter zugeschlagen war, stand Nin auf. Sie rechnete damit, dass ihre Großeltern ein paarmal herunterkommen und nach ihr sehen würden, aber dazwischen blieb ihr genug Zeit. Der Großvater machte Nin einen Tee, und ihre Oma brachte ihr was zu essen, und dann musste Nin auch mal aufs Klo, aber in der übrigen Zeit durchsuchte sie das Haus vom Keller bis unters Dach.
Immer noch im Schlafanzug stellte sie sogar die Wohnung ihrer Großeltern auf den Kopf, während ihr Opa in seine übliche Zeitungslektüre versunken war. Glücklicherweise war ihre Oma einkaufen gegangen, die hätte nämlich viel zu viele Fragen gestellt. Nins Opa stellte nur selten irgendwelche Fragen, aber wenn, dann waren es die richtigen Fragen. Er mochte älter als die Arche Noah sein, aber Nin wusste, dass ihr Opa nicht blöd war. Seine hellen Augen unter den buschigen grauen Augenbrauen beobachteten sie.
»Suchst du was Bestimmtes?«
»Wenn ich das wüsste.« Nin zögerte. »Glaubst du, dass man sich bei irgendwas ganz sicher sein kann und trotzdem …« Sie brach ab, weil sie nicht wusste, wie sie es sagen sollte.
»Das Gehirn ist schon was Sonderbares«, sagte ihr Großvater, als er merkte, dass sie den Satz nicht beenden würde. »Die Leute denken immer, das, woran sie sich erinnern können, wäre wahr«, fuhr er fort und tippte sich mit dem Finger an den Kopf. »Dass das, was da drin ist, sich nicht mehr verändert. Wenn sie sich daran erinnern, muss es stimmen. Die Leute wollen sich sicher fühlen.«
Nin kniete vor einem Schrank, den sie gerade durchwühlt hatte, und betrachtete ihren Großvater nachdenklich. Oft verstand sie nicht sofort, worüber ihr Opa sich ausließ, aber wenn man ihm lange genug zuhörte, ergab es meistens einen Sinn.
»Die Wahrheit, meine Kleine, kann man immer so verändern wie man will. Wenn du dir oft genug eine Lüge vorsagst, glaubst du sie schließlich. Vergiss das nicht.«
Nin seufzte und verzichtete darauf, ihm mehr zu erzählen. Wenn man es genau betrachtete, sagte ihr Opa dasselbe wie Linette. Ninevah Redstone, du hast eine Totalmeise.
Der Großvater sah sie sehr ernst an. »Suchst du noch weiter?«
»Ja.«
Er nickte. »So ist es richtig. Ich sage immer, wer aufgibt, ist am Ende.«
Nin sah zu ihm hoch. Ihre blassblauen Augen blickten in seine trüben grauen.
»Ich hab gedacht, du hast gesagt …«
»Du musst ja nicht alles genau so machen wie ich, meine Kleine.« Er lächelte traurig und widmete sich wieder seiner Zeitung.
Als Nin im Haus mit dem Suchen fertig war, zog sie ihren Bademantel an und ging nach draußen.
Ganz hinten im Garten, hinter dem Rasen und den Blumenbeeten, führten ein paar Stufen aus zerbrochenen Ziegelsteinen zu dem Fleckchen Erde, das ihre Mutter das Gestrüpp nannte. Dort wuchsen nur lange, raue Grashalme und verwilderte Sträucher und Bäume. Am hintersten Ende vom Gestrüpp, unter dem letzten Baum des Gartens, fand Nin schließlich, wonach sie gesucht hatte.
Den Beweis für Tobys Existenz.
Im Wintergarten setzte Nin sich auf den Boden und untersuchte den Plüschaffen. Früher mal hatte Äffchen ein Fell gehabt, aber jahrelanges Knuddeln, Herumschleppen und Waschen hatten den Plüsch abgeschabt. Weil er einmal eine ganze Nacht lang im Regen gelegen hatte, war sein ehemals gelbes Fell jetzt schmutzigbraun. Falls Nin jemals gezweifelt hatte, war das jetzt vorbei. Das hier war Tobys Äffchen, ganz klar, das hätte sie unter Tausenden wiedererkannt. Und es bewies zweifelsfrei, dass es Toby gab. Toby war hier gewesen.
Und jetzt war er verschwunden.
Jemand hatte ihren Bruder geklaut.
Nin steckte das schmuddelige Stofftier in die Waschmaschine. Sie würde es aufbewahren, damit sie einen greifbaren Beweis für die Wahrheit hatte. Da alle um sie herum so taten, als ob nichts passiert wäre, befürchtete sie, dass sich dieses Verhalten irgendwie auf sie übertragen und sie irgendwann auch alles vergessen könnte. Dann würde Toby in ihrem Kopf allmählich zu einem Nichts verblassen, bis er ganz ausradiert war.
Während Nin zuschaute, wie Äffchen sich in der Trommel drehte, grübelte sie darüber nach, wer um alles in der Welt mitten in der Nacht ein Kind verschleppen konnte, ohne ein Geräusch zu machen, und danach alle Spuren von dem Kind im Haus beseitigte und die Erinnerung in den Köpfen seiner Familie und Freunde auslöschte. Bei der Vorstellung, dass es eine Person … nein … ein Wesen geben könnte, das dazu imstande war, lief es ihr eiskalt über den Rücken.
Doch wenn es so war, dann hatte dieses rätselhafte Wesen einen Fehler gemacht.
Nicht das Äffchen, das war kein Fehler. Ein altes Stofftier, das im Garten herumlag, wäre kein Problem gewesen – wenn auch Nin keine Erinnerung mehr an Toby gehabt hätte. Schließlich hätte auch ein Spaziergänger es dort hingeworfen haben können.
Nin war der Fehler.
Nin erinnerte sich.
Sie saß da und dachte darüber nach, bis der Waschgang beendet war. Dann holte sie Äffchen heraus – feucht, aber sehr viel sauberer – und ging in ihr Zimmer. Als sie durch den Flur eilte und die Treppe hochgehen wollte, wurde ihr mit panischem Entsetzen klar, dass Irgendetwas unter den Stufen war, unsichtbar in der dort herrschenden Düsternis. Nin lief weiter, ohne auch nur zu zögern oder zu stolpern. Sie würde dem widerwärtigen Wesen nicht zeigen, dass sie sich fürchtete.
Denn sie fürchtete sich schrecklich. Bis auf die Knochen, und weiche Knie hatte sie auch.
Das Wesen, das Toby mitgenommen hatte, war zurückgekommen, um auch sie zu holen.
Während der nächsten Tage ging alles seinen normalen Gang, aber das merkte Nin kaum. Das Irgendetwas ging nicht mehr fort. Es beobachtete sie aus dunklen Ecken, obwohl sie seine Gegenwart eher fühlte als sah. Es hockte hinten im Schrank, als sie eine saubere Bluse für die Schule herausnahm. Oder in der großen Garderobe im Flur, wo die Regenschirme standen. Niemand bemerkte etwas, obwohl Lena immer wieder Nins Stirn befühlte, ob sie Fieber hätte, und vom Arzt redete.
Es gab jedoch nichts, was der Arzt oder irgendwer sonst hätte tun können. Nin war sich sicher, dass ihr Schicksal besiegelt war. Wenigstens würde sie nun herausfinden, was mit Toby passiert war, sie konnte nur hoffen, es würde nicht zu lange dauern.
Der Wendepunkt kam am Montag, fast eine ganze Woche nach Tobys Verschwinden. Doch diesen Augenblick bekam nur der Klassentrottel Mops Boris mit.
Normalerweise hätte Nin lieber eine Riesenspinne gestreichelt, als sich auch nur eine Minisekunde in der Nähe von Mops Boris aufzuhalten, obwohl er sich immer Mühe gab, nett zu sein. Aber als das Etwas ihr zur Schule folgte und sie während des Werkunterrichts aus dem Ausgussloch heraus anstöhnte, machte sie eine Ausnahme. Verglichen damit war eine Unterhaltung mit Mops Boris fast angenehm.
»Ist mit dir alles in Ordnung?«, fragte er.
Nin schluckte. Sie starrte unverwandt auf das Ausgussloch. Sie blinzelte und brachte ein schiefes Lächeln zustande. Aus den Augenwinkeln bekam sie mit, wie ihre Ex-Freundin Linette mit einem anderen Mädchen über sie kicherte und tuschelte.
»Mir geht’s gut, danke«, sagte Nin. »Aber mein Bruder wurde geklaut, und ein gruseliges Wesen ist hinter mir her.«
»Ach, deshalb«, sagte Mops Boris. »Ich hab mitgekriegt, dass du irgendwie anders bist als sonst.«
»Dieses Etwas ist überall«, knurrte Nin auf der Heimfahrt im Bus. »Meistens hockt es bei mir zu Hause unter der Treppe, aber nicht immer.«
Mops Boris riss die Augen auf und starrte sie an.
»Einmal«, fuhr Nin fort, »war es unter dem Bett.«
»Was?« Mops Boris’ Stimme kiekste. »Unter deinem Bett?«
»Na klar, du Depp. Doch wohl kaum unter dem Bett von jemand anderen!«
»Was hast du gemacht?«
Nin zuckte die Achseln.
»Einfach so getan, als wär’s nicht da und geschlafen«, log sie und versuchte ihre entsetzliche Angst zu vergessen. »Am nächsten Morgen hab ich mir einen Besen geholt, als Waffe. Aber da war es weg. Später ist es dann unter der Treppe wieder aufgetaucht.«
Erneut zuckte sie die Achseln.
Mops Boris glotzte sie bewundernd an.
»Manchmal kichert es, wenn ich an ihm vorbeigehe.« Sie sah aus dem Busfenster. »Das Blöde ist: Ich kann nichts tun. Ich kann mich nicht wehren. Ich wünschte, es käme endlich zur Sache und würde mich auch holen, genau wie Toby. Dann würden mich auch alle vergessen, und es wäre vorbei.«
»Nein«, sagte Mops Boris leise. »Ich würde dich nicht vergessen. Ich würde nach dir suchen.«
Nin hörte ihm kaum zu und sah immer noch auf die regennasse Straße, die sich draußen hinschlängelte. In ihr kochte es.
Wut.
Als der Bus ruckelnd zum Stehen kam, wurde ihr plötzlich etwas klar.
»Ich habe mir gerade überlegt«, sagte sie, während sie sich in Richtung Ausstieg schlängelte, »dass das Etwas ja gar nicht weiß, dass ich Toby noch nicht vergessen habe. Da hat es einen Fehler gemacht. Es weiß nicht, dass ich weiß, was es vorhat.« Ihre Wut wuchs. Sie ballte die Fäuste. »Das ist doch immerhin was, oder? Ich weiß, wogegen ich kämpfen muss. Wenn ich bloß auch wüsste, wann es mich holen kommt, dann wäre ich bereit!«
»Aber du weißt es nicht«, sagte Mops Boris ängstlich und stieg hinter ihr aus dem Bus. »Oder?«
»Hm. Morgen ist Dienstag. Dann passiert es bestimmt heute Nacht.«
Sie hatte recht.
Skerritsch erledigte nur seinen Job. Und dieser Job war nun mal, dass er für MrStruud Kinder klaute.
Als sich die Haustür öffnete, linste er hinter einem dicken Wintermantel hervor. Momentan hatte er keinen Körper, sondern war nur ein rabenschwarzer Schattenfleck mit Augen. Das war seine Lieblingsverkleidung. Damit konnte man hervorragend Kinder erschrecken, und außerdem war es ganz erholsam. Viel besser als ein Clown mit Fratze oder als glubschäugiges Monster. Dieses irre Gelächter und das Gesabber machten ihn fix und fertig.
Die Mutter kam herein und schleppte vier volle Einkaufstüten. Ihr folgte die Motz-Madam. Skerritsch belastete sich nie mit den Namen der Kinder. Er gab ihnen einen Spitznamen, und das genügte. Das letzte Kind hatte er Grabbelaffen genannt, weil sein Schmusetier so ausgesehen hatte. Der Junge davor war Hängesocke gewesen und der davor Rotzi.
Er seufzte. Ganz leise.
Aber es genügte: Das Mädchen zuckte zusammen und warf einen scharfen Blick in seine Richtung. Ihr schauderte.
Skerritsch grinste zufrieden.
»Räum schon mal die Sachen hier weg, während ich in der Tiefkühltruhe nachsehe«, sagte die Mutter. »Dann machen wir uns ans Kochen.«
Skerritsch nahm eigentlich nur von den Kindern Notiz, hinter denen er her war, ihre Familien interessierten ihn nicht. Aber diese Frau hatte etwas an sich, weshalb er sie genauer betrachten musste. Auf den ersten Blick konnte man sehen, dass sie traurig war. Er fragte sich, wo der Vater der Motz-Madam war.
Vielleicht tot?
Irgendeine schreckliche Tragödie?
Nicht zum ersten Mal in seinem langen, zerlumpten Leben regte sich seine Neugier. Er unterdrückte sie sofort. Neugier war nur lästig bei der Arbeit.
Er hörte Geräusche aus der Küche: Türenknarren und -knallen, Dosenscheppern und Tütengeraschel.
»Du sagst heute ja gar nichts.«
»Ich bin nur müde«, antwortete die Motz-Madam.
Wahrscheinlich stimmte das. Skerritsch wusste, dass sie in letzter Zeit nicht gut geschlafen hatte. Weil er ihr Angst gemacht und sie wachgehalten hatte.
Er kicherte in sich rein. Die hier konnte er überhaupt nicht leiden, ganz anders als den Grabbelaffen, der eigentlich ein ziemlich niedliches Kind gewesen war. Grabbelaffe hatte Skerritsch nur mit seinen leuchtend blauen Augen angestarrt und sich an seinem zerfledderten Schmusetier festgehalten. Skerritsch hatte fast einen Anflug von Bedauern gespürt, als er das Kind in seinen Sack steckte. Fast.
Er hatte den Sack dann nur ganz lose zugebunden, damit ein bisschen Licht reinkam, und er hatte darauf geachtet, dass das Kind nicht mit dem Kopf nach unten hing.
Doch dieses Mädchen hier würde lästig werden, das spürte Skerritsch in seinen Knochen. Und weil er fast nur aus Knochen bestand, wenn er einen Körper hatte, spürte er es ziemlich deutlich.
»Hast du dich wieder mit Linette vertragen?«, fragte die Traurige Mutter freundlich.
Die Auspackgeräusche brachen ab, und Skerritsch fragte sich, was sie jetzt taten. Dann hörte er einen Topf scheppern.
»Nö. Ist auch egal, sie ist sowieso langweilig!«
Die Traurige Mutter lachte. Skerritsch fand es ein nettes Lachen.
Obwohl sich die Motz-Madam am oberen Ende der Altersskala befand – eigentlich schon fast zu alt, um ihn sehen zu können –, war es nicht ihr Alter, das ihn störte. Gerade diejenigen, die sich schon ganz erwachsen fühlten, wurden bei seinem Anblick oft zu totalen Weicheiern.
Es lag auch nicht daran, dass sie ein kluges Mädchen war und vielleicht versuchen könnte zu fliehen. Skerritsch war schneller als jeder Quick und ließ ihnen manchmal einen Vorsprung, wenn sie abhauten – sollten sie doch denken, sie könnten entkommen –, bevor er hinter ihnen herhuschte. Er lief gern die Wand hoch und über die Zimmerdecke und ließ sich dann direkt vor ihnen runterfallen, genau dann, wenn sie glaubten, sie hätten es geschafft.
Türen waren auch kein Problem. Wenn Kinder sich auf der Flucht in einen Schrank einschlossen, kauerte er sich neben sie und sagte nur leise »Buh!« – das war auch so eine Supernummer.
Nein, das Problem mit der Motz-Madam bestand darin, dass sie wie eine Motz-Madam aussah. Diese Mädchen zofften immer. Skerritsch konnte Zicken nicht ausstehen. Zu denen war er besonders fies, und einmal hatte er eine halbaufgefressen bei MrStruud abgeliefert, was nicht so gut angekommen war. Bei der Erinnerung daran schüttelte es Skerritsch.
Jetzt drangen wieder Geräusche aus der Küche.
»Oh, sieh mal«, sagte die Traurige Mutter. »Die Mäntel liegen noch da. Könntest du sie bitte aufhängen?«
Die Küchentür ging auf, und die Motz-Madam erschien mit den Mänteln auf dem Arm, die sie beim Reinkommen angehabt hatten. Vorsichtig bewegte sie sich auf die Garderobe unter der Treppe zu und wollte die Mäntel an die Haken hängen.
Skerritsch grinste in sich rein. Er ließ ein leises, tiefes Zischen hören. Motz-Madam blieb stehen. Sie riss die Augen auf und holte tief Luft.
Skerritsch ließ seine Augen ein bisschen heller glühen. Sie würde ihn nicht sehen, aber sie würde merken, dass er sie beobachtete.
Die Motz-Madam stand stocksteif da, blickte suchend in die Dunkelheit und atmete in kurzen Stößen aus. Gleich wird sie losheulen, dachte Skerritsch.
Dann trat sie mit einer ruckartigen Bewegung vor und ließ die Mäntel direkt auf ihn drauffallen. Skerritsch blinzelte in der plötzlichen Dunkelheit. Er zischte wieder – diesmal vor Wut und nicht, um die Motz-Madam zu quälen. Normalerweise genoss Skerritsch es, die Kinder wochenlang in Angst und Schrecken zu versetzen, bevor er sie mitnahm, aber bei der hier machte es nicht mal halb so viel Spaß wie sonst.
»Pah!«, knurrte er in das Jackenfutter hinein. »Spielchen spielen, wat? Na, det wern wa ja sehn!«
Vielleicht sollte er jetzt den nächsten Schritt tun.
Als es im Haus dunkel war, machte Skerritsch sich an die Arbeit. Weil er viel zu tun hatte, bewegte er sich mit Turbogeschwindigkeit – so schnell, dass er nur noch ein verschwommener Fleck war.
Als Erstes holte er eine dünne spitze Spindel hervor. Skerritsch hatte sie aus einem Knochen geschnitzt, den er im Haus der Schrecken gefunden hatte. Winzige Muster und Zeichen waren darin eingeritzt, und Skerritsch hatte ewig lange dafür gebraucht.
Geschickt zog er mit der Spindel alle Erinnerung an die Motz-Madam aus dem Kopf ihrer Mutter. Als er damit fertig war, wickelte er die Fäden zu einem festen Knäuel auf. Dann machte er dasselbe bei ihrer Oma, ihrem Opa und ihrer besten Freundin.
Wenn sämtliche Spuren des Mädchens aus den Köpfen derjenigen getilgt waren, die es sehr geliebt hatten, dann würden alle anderen, die sie nur gern gehabt oder sie gekannt hatten oder ihr ab und zu begegnet waren, sie auch vergessen.
Diesen Teil seiner Arbeit liebte Skerritsch am meisten. Es erforderte Geschicklichkeit, damit die Fäden nicht rissen, und um auch den letzten zu erwischen. Ihm gefiel das Aufwickeln des leuchtenden, glänzenden Knäuels mit diesen seltsamen Farben. Als das getan war, steckte er das Knäuel sorgfältig in den kleinen Beutel aus Spinnenseide, den er in einer Geheimtasche in seiner Weste trug. Dann wandte er sich seiner nächsten Aufgabe zu.
Schließlich konnte er das Mädchen nicht löschen, wenn von ihr überall etwas herumlag. Er musste ihre Kleider verschwinden lassen, ihre Bücher, und andere persönliche Besitztümer. Auch die Fotos, Postkarten, Schulhefte und alle möglichen anderen im Haus, in der Stadt und sogar im Land verstreute Dinge.
Dafür benutzte er wieder die Spindel, doch nun drehte er sie gegen den Uhrzeigersinn. Während er das tat, verloren die Gegenstände, die die Motz-Madam überall hatte herumliegen lassen, immer mehr an Substanz, bis sie ganz allmählich und lautlos aufhörten zu existieren. Nun gab es nur noch die Dinge, die sie anhatte oder in den Händen hielt. Zum Schluss musste Skerritsch nur noch ein bisschen aufräumen, damit keine sichtbaren Lücken blieben. Er musste zum Beispiel die leeren Schränke mit Sachen von einem anderen Menschen füllen.
Natürlich war kein Zauber vollkommen, und manchmal, aber nur sehr, sehr selten, ging ihm etwas durch die Lappen. Das hatte aber keinerlei Bedeutung, denn falls ein alter Pullover oder ein Foto übrigblieb, dann reichte so ein Ding allein nicht aus, um die Erinnerung wieder anzukurbeln. Die Menschen dachten dann nur: Wo kommt das denn her?, und warfen es in den Mülleimer.
Als die Nacht dann endlich in die frühen Morgenstunden des Dienstags überging, wurde es Zeit für das Mädchen selbst. Zu seiner Überraschung war Skerritsch diesmal ziemlich nervös.
Er sah die Wölbung der Bettdecke – aha, sie schlief. Skerritsch angelte seinen Sack hervor und holte tief Luft. Er wollte sie mit einem Schrei wecken. Das war einfach, aber wirkungsvoll. Sie wäre dann verwirrt und erschrocken, und bevor sie richtig merkte, was geschah, steckte sie schon in seinem Sack.
Eine Sekunde, bevor er loskreischte, merkte Skerritsch, dass der Klumpen im Bett nicht atmete. Der Schock traf ihn mit der Wucht eines Hochgeschwindigkeitszugs. Jemand wie er ließ sich doch nicht von dem uralten Trick mit dem Kissen unter der Decke reinlegen!
Ein Geräusch hinter ihm ließ ihn herumfahren. Bewaffnet mit einer Haarbürste kam die Motz-Madam aus ihrem Versteck zwischen der Kommode und dem Kleiderschrank heraus. Sie starrte ihn zornig an.
Skerritsch zischte.
Mit zitterndem Finger zeigte die Motz-Madam auf ihn.
»Du«, zischte sie zurück, »du hast meinen Bruder gestohlen!«
Das Etwas fletschte seine hässlich zerklüfteten Zahnreihen und schnippte mit dem Sack in seiner Hand, damit der sich öffnete. Dann spannte es sich an.
Nin sah sich verzweifelt um. Um aus dem Zimmer zu flüchten, musste sie an dem Etwas vorbeilaufen, und das war bestimmt schwierig. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sie vor Angst fast gelähmt war. Ihre Beine fühlten sich an, als wären sie aus Gummi, und wenn sie losrannte, würde sie wahrscheinlich bäuchlings auf dem Boden landen.
Das Etwas sah aus, als würde es sich gleich auf sie stürzen.
Jetzt war der richtige Moment, um die Haarbürste einzusetzen. Sie hielt sie umklammert, aber sie konnte damit nicht zuschlagen – deshalb warf sie damit. Die Bürste erwischte das Etwas mitten auf der Stirn. Mit der harten Seite.
Das Etwas kläffte und sah überrascht drein.
Nin ergriff die Chance und sprintete los.
Das Etwas sprang.
Nin schrie auf, als der Sack über ihren Kopf glitt und der raue Stoff sie umschloss. Sie drehte sich ruckartig um und machte einen Satz nach vorn. Das Etwas stieß ein scharfes Knurren aus, der Sack rutschte ab, und sie war wieder frei.
Sie wusste nicht, wie sie es bis zur Treppe schaffte. Halb rannte sie, halb stürzte sie nach unten. Vielleicht wäre es vernünftiger gewesen, in die andere Richtung zum Zimmer ihrer Mutter zu laufen, aber eine Eingebung ließ Nin zur Haustür rennen.
Als sie einen Blick zurückwagte, stöhnte sie erschrocken auf. Das Etwas machte sich nicht die Mühe, die Stufen zu benutzen. Es huschte wie eine riesige, dicke Spinne an der Wand und an der Flurdecke entlang. Nin schrie.
Eine Tür flog auf, und Lena Redstone erschien im Schlafanzug im oberen Flur. Sie machte das Licht an.
Das Etwas an der Decke erstarrte, dann ließ es sich direkt vor Nin auf den Boden fallen. Wütend starrte es die Frau mit den verwuschelten Haaren an.
Nin wurde von einer Welle der Erleichterung übermannt, als ihre Mutter die Treppe herunterrannte. Jetzt würde alles gut. Ihre Mutter würde sie retten.
Lena blieb direkt neben dem Etwas stehen. Sie stand sogar auf einem Zipfel des furchtbaren Sacks, aber sie sah nur Nin an, das Etwas existierte für Lena Redstone nicht.
Mit offenem Mund sah Nin das Etwas an, das sie widerlich angrinste.
Und dann geschah etwas noch viel Schrecklicheres.
Lena Redstone sah Nin streng an.
»Wer bist du denn?! Und was machst du in meinem Haus?«
Nin versuchte gar nicht, etwas zu erklären.
Sie hatte mitbekommen, was mit Toby geschehen war, wie vollständig er aus der Erinnerung ihrer Mutter verschwunden war. Es war sinnlos, hierzubleiben und an Lenas Erinnerungsvermögen zu appellieren.
Nin rannte zur Haustür und hatte eben den Riegel ergriffen, als das Etwas sie einzuholen versuchte. Es blieb jedoch abrupt stehen und stieß einen Fluch aus, denn der Sack, den es umklammerte, wurde immer noch vom Fuß ihrer Mutter festgehalten.
Die Tür flog auf, und draußen gab es nur die Nachtluft und die leere Straße.
Nin stürzte hinaus.
»Du hast Glück, dass ich nicht die Polizei geholt habe!«, schrie ihre Mutter ihr nach.
Dann wurde die Haustür zugeschlagen, und Nin rannte den Gartenweg entlang zur Straße und den Hügel hinunter.
Sie war noch nicht weit gekommen, als sie gegen jemanden prallte.
»Nicht so schnell!«
Sie schrie auf und versuchte sich loszureißen, aber wer immer das war, hielt ihren Arm fest umklammert. Sie senkte den Kopf, um zuzubeißen, aber dann sagte er:
»Es kriegt dich so oder so, das weißt du doch!«
Nin hörte auf zu zappeln und sah hoch. Es war der Junge, den sie schon ein paar Mal in der Stadt gesehen hatte. Der Penner im schwarzen Mantel mit dem roten Schal. Er war groß und sah aus, als hätte er seit langer Zeit keine ordentliche Mahlzeit mehr gekriegt. Seine grauen Augen blickten nicht unfreundlich, und seine fettigen Haare waren vielleicht blond, wenn man sie waschen würde.
Er lächelte.
»Alles andere später«, sagte er. »Mir nach, klar?«
Er ging rasch voran den Hügel hinunter. Nin folgte ihm wie betäubt.
»Nummer 27«, rief der Junge über die Schulter. »Das Haus ist vor fünf Jahren total ausgebrannt, weißt du noch?«
Nin nickte.
Nummer 27 lag hinter einer hohen Mauer verborgen, und Passanten konnten nur die zugenagelten Fenster im obersten Stockwerk und das eingestürzte Dach sehen.
»Du weißt, was man sich darüber erzählt?«
»Äh … ja«, krächzte Nin und bemühte sich, mit ihm Schritt zu halten. »In dem Feuer sind Menschen gestorben, und nachts soll man sie angeblich hören können, wie sie im Haus umherirren.«
Neben Nummer 27 führte ein Weg ins Nichts. Vor lauter Aufregung lief Nins Phantasie auf Hochtouren, denn als sie den Weg entlangeilten, meinte sie zu hören, wie jemand in der Ruine ächzte und an den Wänden kratzte, als wollte er an Nin herankommen.
Der Junge lief weiter, Nin rannte ihm hinterher, obwohl sie dachte, dass das gefährlich sein könnte. Aber da ihr Leben ohnehin total aus den Fugen geraten war, konnte sie genauso gut mitgehen. Momentan hatte sie keinen besseren Plan.
Sie folgte ihm also auf dem Weg ins Nichts und landete ganz woanders.
Alles wurde schwarz. Alles.
»Äh …«
»Ist schon okay«, sagte der Junge. »Das geht vielen so. Wir sind in der Drift. Skerritsch wird hier nicht nach dir suchen. Der glaubt, du wärst immer noch im Widdern.«
»Im was?«
»Ich heiße Jonas«, sagte er, anstatt ihre Frage zu beantworten.
Er konnte anscheinend gut im Dunkeln sehen, denn er bewegte sich mit großer Sicherheit in der Finsternis vorwärts. Es gab hier weder erleuchtete Fenster, Straßenlampen oder sonst irgendein Licht.
Nin zitterte. Obwohl sie links von sich die Mauer von Nummer 27 wie eine dunkle Wand wahrnahm, fühlte es sich rechts nach freier Luft an. Offenbar gab es hier keine Nachbarn.
Und wenn sie es recht bedachte, dann war es auch ganz still geworden. Kein fernes Motorengebrumm, nein … Na ja, es war Nacht, und da liefen auch keine Menschen herum, aber trotzdem fehlte etwas. Das Gesumm einer mittelgroßen Stadt, die Geräuschkulisse, die auch nachts nie verebbte, war verschwunden.
»Warte!« Sie eilte hinter Jonas her und geriet auf einem holprigen, grasbewachsenen Abhang ins Stolpern – da war kein Pflaster mehr.
»Du bist Nin«, sagte Jonas. »Ich beobachte dich schon seit längerem. Ich hab gewusst, dass er hinter dir her sein wird, wenn er Toby erst mal abgeliefert hat.«
Nin blieb stehen.
»Toby? Was ist mit Toby?«, wollte sie wissen.
Jonas drehte sich zu ihr um. Mittlerweile hatten sich Nins Augen an die Dunkelheit gewöhnt, und sie merkte, dass es doch ein wenig Licht gab. Die Sterne funkelten in einem Himmel von samtiger Tintenschwärze, und eine Mondsichel leuchtete silbern über ihnen. Ihr Blick wurde von etwas gefangengenommen, das sich wie eine Mauer aus dunstigem Weiß vor dem nördlichen Horizont erhob.
»’tschuldigung«, sagte Jonas bedauernd. »Ich konnte ihm nicht helfen. Ich kann sie nicht angreifen, weißt du, sie sind zu mächtig. Ich hab nur aufgepasst, ob ihnen einer von euch beiden entkommt. Bist du ja auch.« Er sah hoch zum Himmel. »Bis zur Morgendämmerung verstecken wir uns in den Wäldern. Nachts sollte man sich besser nicht in der offenen Drift aufhalten.«
Nin machte einen Schritt auf ihn zu, dann blieb sie stehen, weil sie nicht wusste, was sie tun sollte.
»Meine Mutter wird sich Sorgen machen.«
Jonas sah sie an. »Nein«, sagte er sanft. »Sie wird sich nicht mal fragen, wo du bist.«
Zum ersten Mal seit Beginn dieses ganzen Schreckens füllten sich Nins Augen mit Tränen.
Jonas lief weiter den Wiesenhang hinab auf die dunkle Silhouette der Bäume zu.
Nin weinte immer noch. Doch sie folgte ihm. Was hätte sie auch sonst tun sollen?
Auf dem Weg hügelabwärts bekam sie die Tränen wieder unter Kontrolle. Obwohl sie oft stolperte, war sie froh, dass es dunkel war. So konnte Jonas sie wenigstens nicht heulen sehen.
Schließlich erreichten sie das Wäldchen und tasteten sich unter den Bäumen vorwärts, bis Jonas sich auf die Erde setzte und den Rücken an einen Baumstamm lehnte. Nin setzte sich neben ihn. In dem Wäldchen fühlte sie sich sicherer, denn das Rascheln der Blätter und hin und wieder der Ruf eines Nachtvogels durchbrachen die unnatürliche Stille, die so gar nicht zu dem Dunforth Hill passte, den sie kannte. Die dunklen Silhouetten der Laubbäume verbargen die scharfkantigen Umrisse der Dächer und Schornsteine.
»Also«, sagte sie dann energisch. »Warum sind alle Lichter verschwunden? Und welcher Wald ist das hier?«
»Das ist die Drift«, erklärte Jonas geduldig. »Die Lichter sind verschwunden, weil wir in einer anderen Welt sind. Hier leben nicht viele Menschen. Und der Wald hat keinen Namen, es gibt zu viele Wälder in der Drift, um alle zu benennen.«
Nin schwieg. In ihrem Kopf wirbelten so viele Fragen durcheinander, die alle gleichzeitig ausgesprochen werden wollten und sich in einer Art Stau gegenseitig blockier- ten.
Während sie versuchte, Ordnung in dem Chaos zu schaffen, begann Jonas eine Unterhaltung.
»Ist ja auch egal. Wie hast du es geschafft? Wie bist du Skerritsch entkommen? Das hat noch nie ein Kind fertiggebracht.«
»Der hat meinen Bruder geklaut«, brach es aus Nin heraus. »Er hat Toby gestohlen, und alle außer mir haben ihn vergessen.« Sie schwieg und dachte wieder an den dunklen Schatten unter den Stufen, das leise Atmen in der Dunkelheit. »Mir war klar, dass er wegen mir zurückgekommen ist. Deshalb bin ich wach geblieben und habe gewartet, bis er mich holen wollte.«
Jonas sah sie aufmerksam an, Nin fühlte in der Dunkelheit seinen Blick wie eine kühle Berührung auf ihrem Gesicht.
»Skerritsch muss vergessen haben, deine Erinnerung an Toby zu löschen. Das sieht ihm gar nicht ähnlich, glaub mir. Es gehört zu ihrer Zauberei.« Jonas’ Stimme klang traurig. »Sie stehlen die Erinnerung an Menschen, die man geliebt hat, damit alle anderen sie auch vergessen. Wenn du mit Toby nicht so eng verbunden gewesen wärst, wäre deine Erinnerung an ihn auch verschwunden.«
»So wie sich niemand mehr an mich erinnern wird«, sagte Nin dumpf. Das war keine Frage gewesen, und Jonas wusste das. Sie blickte an seiner schattenhaften Gestalt hoch. »Aber wenn du mich schon seit längerem beobachtest … also, dann erinnerst du dich noch an mich?«
»Ich bin selbst gestohlen worden, weißt du, ich bin schon raus aus der Welt, aus dem Widdern. Man kann mir die Erinnerung nicht wegzaubern, weil es mich eigentlich nicht mehr gibt.«
»Hast du deshalb kein Zuhause? Weil du auch geklaut worden bist?«
»Ja. Aber mich hat Polpp gestohlen, und nicht Skerritsch.«
»Warum hast du nach mir gesucht?«
Sie merkte, dass er den Blick abwandte.
»Hab ich doch schon erzählt. Ich hab gewusst, dass da ein Kinderschreck zugange ist, deshalb hab ich aufgepasst.«
»Ein Kinderschreck?«
»Genau. Tja, dein Bruder hat den Abgang gemacht, und es war ziemlich wahrscheinlich, dass sie dich auch kriegen wollten. Deshalb hab ich gewartet, ob der Kinderschreck zurückkommen würde. Ich hatte eh nichts Besseres zu tun. Natürlich hatte ich keine Ahnung, dass es Skerritsch war, denn dann hätte ich mich nicht eingemischt.«
»Ich bin froh, dass du es getan hast.«
Bibbernd streckte Nin in der Dunkelheit eine Hand aus. Jonas musste das bemerkt haben, denn er ergriff sie und drückte sie leicht. Sie rutschte näher heran, bis sie seine Schulter an ihrer fühlte. Trotz der lauen Nacht war ihr kalt, und die Ungeheuerlichkeit des Ganzen verursachte ihr Schmerzen. Dann bahnte sich aus dem wilden Durcheinander in ihrem Kopf die nächste Frage ihren Weg, nämlich: »Wo sind wir hier eigentlich?«, aber vorher kam eine noch wichtigere.
»Wie viele Kinder verschwinden auf diese Weise?« Nin atmete schwer. »Ich meine, wie viele sind verschwunden, von denen niemand mehr weiß?«
»Es gibt nur noch ein paar Dutzend Kinderschrecks, und die meisten lassen sich viel Zeit und erschrecken das Kind wochenlang, bevor sie es endlich holen. Deshalb … keine Ahnung, tja, ungefähr hundert Kinder pro Jahr? Natürlich ist das gemessen an der Bevölkerungszahl ein Pappenstiel, aber …«
»Das ist ja grauenhaft! Kann denn niemand was dagegen tun?«
Jonas brach in Gelächter aus.
»Wer denn? Die Polizei? Soll sie die Kinderschrecks einfangen und hinter Gitter bringen? Ja? Einen Kinderschreck kann niemand einfach so fangen. Gar nicht davon zu reden, dass die Polizisten dann gleich ein Häufchen Asche wären.«
»Asche?«
»Jeder Kinderschreck hat einen Feueratem. Echten Feueratem, nicht nur schlechten Mundgeruch.«
Nin blinzelte.
Es wurde allmählich hell. Der kleine Ausschnitt des Horizonts, den sie unter den Zweigen erkennen konnte, wurde von sanftem Gold überhaucht.
Jonas fuhr fort: »Außerdem schnappen sich die Kinderschrecks nicht jedes Kind, sie sind hinter ein paar bestimmten Sorten her: Schüchterne, aufgeregte oder nachdenkliche. Du weißt schon, die, die in jedem Gardinenmuster Gesichter erkennen oder abends unterm Bett nachschauen, ob sich niemand drunter versteckt hat. Und wenn ein Kinderschreck ein Kind findet, das ähnliche Geschwister hat, dann kommt er meistens zurück und holt die auch.«
»Wie bei Toby und mir?«
»Hmmm. Manchen Familien passiert gar nichts, und andere verlieren alle Kinder. Das ist dann echt schreck- lich.«
»Was geschieht mit denen, die nicht fliehen können? Wie Toby?« Plötzlich hatte Nin wieder furchtbare Angst. »Was ist mit ihm passiert?«
»Wer nicht fliehen kann – und das sind die meisten –, wird zum Haus der Schrecken gebracht.« Jonas beobachtete sie aufmerksam. »Danach …« Er zuckte die Achseln. »… wurde keines von ihnen je wiedergesehen.«
»Zum Haus der Schrecken?«
»Hmmm. Dann bekommt sie Struud … Tja, und das war’s dann. Aus und vorbei.«
Nin wollte sagen: »Aus und vorbei?«, aber sie kam sich schon fast wie ein Echo vor, deshalb verkniff sie es sich.