Sikander gegen die Götter, Band 1: Das Schwert des Schicksals (Rick Riordan Presents) - Sarwat Chadda - E-Book

Sikander gegen die Götter, Band 1: Das Schwert des Schicksals (Rick Riordan Presents) E-Book

Sarwat Chadda

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Beschreibung

Mit einem Vorwort von "Percy Jackson"-Autor Rick Riordan! Wer sich mit den Göttern anlegt, der hat sie echt nicht mehr alle ... Seit ich erfahren habe, dass die Mythen des alten Mesopotamien wahr sind, steht mein Leben kopf! Ich musste mich mit reimenden Dämonen herumschlagen. Ich bin dem mächtigsten Superhelden aller Zeiten begegnet. Und ich habe den Zorn von Nergal, dem Gott der Seuchen, auf mich gezogen. Nicht cool! Zum Glück gibt es noch Belet. Belet ist der Wahnsinn: Sie befehligt eine Schar geflügelter Schutzgeister und schwingt ein sagenumwobenes Schwert. Mit ihrer Hilfe kann eigentlich nichts schiefgehen. Oder?! Persönlich empfohlen von "Percy Jackson"-Autor Rick Riordan! Entdecke alle mythologischen Abenteuer aus der Reihe "Rick Riordan Presents": "Sikander gegen die Götter" von Sarwat Chadda Band 1: Das Schwert des Schicksals Band 2: Der Zorn der Drachengöttin "Zane gegen die Götter" von J. C. Cervantes Band 1: Sturmläufer Band 2: Feuerhüter Band 3: Schattenspringer "Ren gegen die Götter" von J. C. Cervantes Band 1: Nachtkönigin Band 2: Jaguarmagie "Aru gegen die Götter" von Roshani Chokshi Band 1: Die Wächter des Himmelspalasts Band 2: Im Reich des Meeresfürsten Band 3: Das Geheimnis des Wunschbaums Band 4: Die Magie der goldenen Stadt Band 5: Der Trank der Unsterblichkeit "Tristan gegen die Götter" von Kwame Mbalia Band 1: Mythenweber

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In der Reihe „Rick Riordan Presents“ sind erschienen:

Sikander gegen die Götter

Das Schwert des Schicksals

Zane gegen die Götter

Sturmläufer

Feuerhüter

Schattenspringer

In Vorbereitung:

Aru gegen die Götter

Die Wächter des Himmelspalasts

Als Ravensburger E-Book erschienen 2022 Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag © 2022 Ravensburger Verlag Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel„City of the Plague God“ bei Disney • Hyperion, einem Imprint der Buena Vista Books, Inc. Copyright © 2021 by Sarwat Chadda Introduction copyright © 2021 by Rick Riordan Cuneiform text copyright © 2021 Digital Hammurabi Published by arrangement with Rights People, London. Übersetzung: Leo Strohm Covergestaltung: Miriam Wasmus unter Verwendung einer Illustration von Kerem Beyit. Weitere verwendete Bilder von © Alex Shadrin, © Creative HQ, © dadan_pm, © koosen, © AnthonyR, © Alx, © garikprost, alle AdobeStock Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg. ISBN 978-3-473-51118-1www.ravensburger.de

Für meine Frau und meine Töchter

Vorwort von Rick Riordan

Du liebst Mythen und Sagen? Dann erwartet dich eine unvergessliche Reise in die Welt der Antike!

Und mehr Antike als Mesopotamien ist gar nicht möglich.

Von all den Sagen und Legenden, über die ich noch nie geschrieben habe, sind mir die Geschichten der Sumerer, der Babylonier und der anderen Bewohner des fruchtbaren Schwemmlandes zwischen den Flüssen Euphrat und Tigris die liebsten. Doch zum Glück muss ich darüber gar nicht schreiben, weil Sarwat Chadda sich mit diesen Geschichten viel besser auskennt als ich. Mit diesem Buch nimmt er dich mit auf eine abenteuerliche Reise, die du nie vergessen wirst!

Falls du dich jemals gefragt hast, welche Bedeutung die Mythologie für uns haben kann, obwohl diese Sagen doch Tausende Jahre vor unserer Zeit erzählt und aufgeschrieben wurden, dann brauchst du dir nur unsere Gegenwart anzusehen. Im englischsprachigen Original trägt dieses Buch den Titel City of the Plague God, also Die Stadt des Seuchengottes. Sarwat Chadda hat es lange vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie geschrieben, ohne zu ahnen, dass wir uns schon bald einem Virus gegenübersehen würden, das das Leben aller Menschen auf der Erde bedroht. Er wollte eigentlich nur eine Fantasy-Geschichte über Nergal, den Seuchengott des antiken Mesopotamien, erzählen. Dazu hat er sich ausgemalt, wie es wäre, wenn Nergal in der heutigen Zeit existieren würde. Und durch die weltweite Verbreitung des Coronavirus kommt uns seine Geschichte mit einem Mal sehr real und glaubhaft vor.

Nachdem das Virus sich zu einer globalen Herausforderung entwickelt hatte, haben wir in der Redaktion von RickRiordanPresents ausführlich über DasSchwertdesSchicksals gesprochen. Das Buch war seit Monaten fertig und bereit zur Veröffentlichung, doch wir wollten auf keinen Fall den Eindruck erwecken, als würden wir eine weltweite Krise verharmlosen oder gar daraus Kapital schlagen wollen. Letzten Endes sind wir jedoch zu dem Schluss gekommen, dass wir aus diesem Buch und den mesopotamischen Mythen eine Menge über den Umgang mit solch gewaltigen Turbulenzen lernen können – über die Angst vor dem Unbekannten, über Tapferkeit im Angesicht großer Gefahr und die Bedeutung der Familie und einer Gemeinschaft, die zusammenhilft, um solche Probleme zu überwinden.

Seuchen waren für die Menschen im alten Mesopotamien genauso bedrohlich und besorgniserregend wie für uns heute. Die Tatsache, dass es sogar einen Gott der Seuchen und Plagen gab, zeigt, wie ernst sie diese Dinge genommen haben. Das Schwert des Schicksals ist daher eine sehr aktuelle Geschichte, die uns die Möglichkeit eröffnet, darüber nachzudenken, wie viel wir mit unseren Vorfahren aus der Antike gemeinsam haben. Genau wie Gilgamesch, genau wie Sikander Aziz, die Hauptperson dieses Buches, sind auch wir aufgerufen, zu Helden zu werden. Wir alle können etwas tun, auf unsere ganz persönliche Art und Weise, und uns einer weltweiten Seuche entgegenstellen, die uns alle bedroht. Gemeinsam können wir es schaffen!

Aber jetzt zurück zur mesopotamischen Mythologie und der großen Faszination, die sie ausstrahlt. Nehmen wir zum Beispiel das Wort Zikkurat. Allein wie das klingt – cool, oder etwa nicht? Als kleiner Junge habe ich mich leidenschaftlich mit jeder Einzelheit dieser stufenförmigen Tempelpyramiden beschäftigt. Ich habe die Mysterien der Keilschrift bestaunt, habe mir Bilder von geflügelten Löwen, Angst einflößenden Drachen und Männern mit mächtigen, lockigen Bärten und riesigen Helmen angeschaut und mich gefragt, wieso ich nicht genauso Ehrfurcht einflößend sein kann wie die Mesopotamier.

Überspringen wir ein paar Jahrzehnte und landen wir in einer Zeit, als ich bereits Lehrer war. Jedes Jahr habe ich mit meinen Schülerinnen und Schülern eine Einheit über Mesopotamien durchgenommen, und immer gehörte sie zu den beliebtesten Themen. Wir haben frischen Ton zu Platten ausgerollt und uns an der Keilschrift versucht. Wir haben eigene Siegel entworfen und unsere Tontafeln damit gekennzeichnet. Wir haben Gerichtsverhandlungen auf der Grundlage des Codex Hammurapi veranstaltet – das ist eine fast 4000 Jahre alte Gesetzessammlung aus Babylonien – und harte Strafen verhängt: Hände abhacken (mit rotem Filzstift: Ahh, ich blute!), Ertränken im Euphrat (mit Wasserpistolen) oder Steinigen (mit Papierkugeln). Meine Schülerinnen und Schüler haben auch DasGilgamesch-Epos nachgespielt, mit Plastikschwertern und falschen Bärten. Die Mesopotamier wären stolz auf uns gewesen … obwohl, vielleicht auch entsetzt. Aber wir hatten jedenfalls eine Menge Spaß.

Und dann die mesopotamischen Götter – wow! Da sind einige wirklich irre Gestalten dabei. Ishtar zum Beispiel, die Göttin der Liebe und des Krieges. Ninurta, der Gott der Jagd und des Krieges. (Fällt euch etwas auf? Alle diese Gottheiten sind für etwas Bestimmtes undKrieg zuständig. Es war eine sehr konfliktreiche Zeit damals.) Ihre Geschichten bieten einen Einblick in eine der ältesten uns bekannten Zivilisationen, die großen Einfluss auf die späteren Ägypter, Griechen und Römer, ja, auf die Entwicklung der ganzen Welt hatte.

Als dann Sarwat Chaddas Angebot kam, diese wilde, wundervolle Mythologie für RickRiordanPresents in die heutige Welt zu transportieren, da war ich sofort Feuer und Flamme. Ich war schon Jahre lang ein großer Fan seiner Bücher – der „Ash Mistry“-Reihe zum Beispiel – und mir war klar, dass er für diesen Stoff genau der Richtige war.

Mit Das Schwert des Schicksals wurden all meine Erwartungen erfüllt. Unsere Hauptfigur, Sikander Aziz, ist ein muslimischer Junge, der in New York City aufgewachsen ist. Seine Eltern sind aus dem Irak in die USA geflohen. Sein Freund Daoud ist ein hoffnungsvoller Nachwuchsschauspieler, der aber immer nur kleine Rollen als Terrorist ergattern kann. Sikanders älterer Bruder Mo ist vor zwei Jahren ums Leben gekommen, und Sikander – oder Sik – leidet immer noch unter diesem Verlust und trauert um Mo. Außerdem gibt er sich alle Mühe, um den orientalischen Imbiss seiner Familie am Laufen zu halten. Eines Abends wird das Restaurant von zwei Gestalten mit seltsamen Köpfen angegriffen. Sie behaupten, antike Dämonen zu sein. Und von da an wird das Ganze immer abgedrehter.

Schon bald hat eine seltsame Krankheit ganz New York fest im Griff. (Achtung, Spoiler: Seuchengötter verbreiten Seuchen.) Sikanders Eltern werden krank, so wie viele andere auch. Um die Ausbreitung der Seuche zu stoppen und Manhattan zu retten, muss Sikander sich in die Welt der antiken Götter, Halbgötter und Dämonen begeben und das Geheimnis seiner eigenen verborgenen Kräfte ergründen. Das geht nicht ohne Tränen und etliche bissige Sprüche ab. Außerdem bekommt er es mit einem knallharten Ninja-Mädchen, einem Streitwagen, der von riesigen Raubkatzen gezogen wird, und einem Dämon mit wirklich widerlichem Mundgeruch zu tun. Eins kann ich euch garantieren: Ihr werdet euch wünschen, dass dieses Abenteuer niemals zu Ende geht. So ist es jedenfalls mir ergangen.

Herzlich willkommen also in der Welt der mesopotamischen Mythologie, präsentiert aus der Sicht des unfassbar kreativen und herrlich schrägen Geistes von Sarwat Chadda. Gut möglich, dass ihr sie nie wieder verlassen wollt!

Der Menschheit Tage aber, sie sind gezählt, Eitel Wind ist, was immer sie wirken mag! Du hier aber scheuest den Tod! Was ist’s mit der Kraft deines Heldensinns?

Das Gilgamesch-Epos

1

„Hilfst du mir mal mit dem Gitter, Daoud?“, bat ich nicht zum ersten Mal an diesem Abend.

Daoud reckte den Zeigefinger in die Höhe und telefonierte unbeirrt weiter. „Echt jetzt? Aus Hollywood? Wann?“ Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Cool. Ich komme.“

„Endlich.“ Ich seufzte laut, als er sein Handy einsteckte. Es ging schon auf Mitternacht zu, und wir hätten unseren Deli – den Imbiss meiner Eltern – schon vor einer Stunde schließen müssen. Ich zerrte an dem störrischen Rollgitter.

Daoud spannte seinen Bizeps. „Hier sind ein paar richtige Muskeln gefragt.“ Er legte die Hand um den anderen Griff.

„Bei drei …“ Ich packte mit aller Kraft zu. „Eins …“

„Drei!“

Unter lautem Getöse ratterten die stählernen Lamellen nach unten und knallten auf den Bürgersteig. Daoud ließ das Vorhängeschloss einrasten. „Yallah, Bruderherz. Ich muss los.“

Bruderherz? Daoud benahm sich, als gehörte er zur Familie, aber in Wirklichkeit war er bloß ein Typ, den mein Bruder vor zehn Jahren mal aus der Schule mitgebracht hatte. Damals war er in der fünften Klasse gewesen. Ich habe nie begriffen, was Mo eigentlich an ihm fand. Vielleicht lag es ja daran, dass es an unserer Schule nicht viele andere Kinder gab, die aus dem Irak stammten. Seit damals habe ich Daoud zwar fast tagtäglich gesehen, aber mein „Bruderherz“ war er deswegen noch lange nicht.

„Mal wieder eine Party?“, wollte ich wissen.

„Nicht alle hier wollen ihr restliches Leben am Kebab-Grill verbringen.“

„Ist ja nicht haram. Der Mensch muss schließlich essen“, erwiderte ich. „Und? Wer ist diesmal in der Stadt? Spielberg? Der Chef von Disney?“

Er grinste. „Eine wichtige Casting-Agentin aus L. A. Sie kommt zur Premierenparty von Hamilton. Du weißt schon, dieses neue Musical. Da muss ich in genau einer Stunde sein.“

Wir wandten uns dem zweiten Rollgitter zu. „Wäre es nicht einfacher, wenn du mal eine Schauspielschule besuchen würdest?“, hakte ich nach. „Oder, keine Ahnung, mal tatsächlich irgendwo mitspielen würdest?“

Daoud zog eine Grimasse. „Falls du es vergessen hast, ich hab schon in Homeland mitgespielt. Zweimal sogar.“

„Ja, genau, und jedes Mal war dein Gesicht mit einer Kufiyah verhüllt. Was für eine Rolle war das gleich noch mal? Terrorist?“

„Anführer der Terroristen!“ Ein kräftiger Ruck, und schon ratterte das Gitter nach unten.

Ich machte das Vorhängeschloss fest. „Und wann spielst du endlich mal einen richtigen Helden?“

Daoud lachte. „Leute wie wir kriegen nie die Heldenrolle. Das weißt du doch.“

„Wieso eigentlich? Weil du Araber bist oder weil du Muslim bist?“

„Such’s dir aus, Bruderherz. Such’s dir aus.“

Warum gab Daoud sich überhaupt noch Mühe? Das konnte ich nicht verstehen. Wie konnte er damit zufrieden sein, immer nur Bösewichte zu spielen?

Da war es doch weitaus vernünftiger, mit beiden Beinen auf dem harten Asphalt zu bleiben. In der Realität.

Wir betraten den Deli durch den Hintereingang und gelangten durch die vollgestopfte Küche in den Speiseraum. Das Mo’s machte nicht viel her. Die Tische passten nicht zueinander und etliche Stühle wackelten, aber der Laden war heiß. Und damit meine ich nicht nur die Zwiebeln in der Pfanne oder das Shawarma am Drehspieß, sondern auch die Leute – die waren ziemlich heiß auf unser Essen. Wir lagen direkt an der Ecke von Fifteenth Street und Siegel Street, darum hatten wir den ganzen Tag über jede Menge Laufkundschaft. Und wir waren auf arabische und mediterrane Speisen spezialisiert, also auf die beste Küche der Welt.

Wir machten morgens um 6.00 Uhr auf, um die Büroangestellten mit frischen Pitas und türkischem Kaffee zu versorgen, der so dick war, dass man einen Löffel senkrecht in die Tasse stellen konnte. Etwas später kamen dann die Leute aus der Nachbarschaft, um ein wenig zu plaudern, Backgammon zu spielen oder mit einer Tasse Pfefferminztee am Fenster zu sitzen und den Rest der Welt vorbeihasten zu sehen.

Ich hatte die Spätschicht übernommen. Ja, ich weiß, dass Dreizehnjährige eigentlich nicht arbeiten dürfen, aber Mama und Baba haben die Unterstützung bitter nötig. In Laufweite unseres Deli gibt es jede Menge Discos und Kunstgalerien, und einen besseren Start in den Abend als ein Falafel-Sandwich, gekrönt mit einem Löffel unserer berühmten Bagdadsoße, gibt es einfach nicht. An guten Abenden wird aus unserem heißen Deli ein Deli, das in Flammen steht. Man hat dann das Gefühl, als hätte sich die ganze Stadt hier bei uns versammelt.

Wenn man sein Zuhause mit tausend anderen Menschen teilt, gibt es allerdings ein Problem: Am Ende jedes Tages muss man sehr gründlich putzen, und dafür waren Daoud und ich zuständig. Aber hauptsächlich ich.

Ich schloss die Eingangstür von innen ab und legte den Schlüssel auf die Theke, während Daoud mir in aller Ausführlichkeit – und zum tausendsten Mal – seinen Karriereplan erläuterte.

„Es geht überhaupt nicht um Talent – schau dir doch bloß mal an, wer alles die ganzen Hauptrollen abgreift –, es geht darum, entdeckt zu werden. Und entdeckt wird man auf Partys. Auf den richtigen Partys.“

„Wenn du das sagst.“

„Sieh dir doch mal dieses Gesicht an. Los, sieh es dir an.“

Ich tunkte den Mopp in den Eimer mit Seifenwasser. „Ich weiß, wie du aussiehst, Daoud.“

„Sieh doch mal hin. Na los.“

Okay, zugegeben. Daoud sah unerträglich gut aus, mit Betonung auf beiden Wörtern. Kantiges Kinn, hohe Wangenknochen, dichtes, lockiges, schwarzes Haar sowie tief liegende Augenbrauen, die seine hellbraunen Augen nur noch größer erscheinen ließen. Seinen Körper hatte er im Fitnessstudio gestählt, und seine Haut war so makellos, wie es nur mit einer täglichen dreistündigen Kosmetikprozedur möglich war. Er war noch eitler als die Promi-Schnepfen in irgendwelchen Reality-Shows und gab den Großteil seines Arbeitslohns für luxuriöse Duschseifen und Versace-Rasierwasser aus. Und ich? Ich rieche gern nach gedünsteten Zwiebeln.

Daoud deutete auf sein Kinn. „Ich habe noch genau fünf Jahre, Sik, dann ist es vorbei. Dann bin ich zu alt.“

„Mit fünfundzwanzig ist man zu alt?“

„Als Frau schon mit einundzwanzig.“

„Hast du dir deshalb zum Opferfest Botox-Gutscheine gewünscht?“

Er warf einen prüfenden Blick auf sein Spiegelbild im Fenster. „Schönheit muss auch erhalten werden.“

Ich musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. „Ist das ein Pickel?“

„Was?!“ Seine Stimme klang entsetzt. „Wo?“

„Mitten auf der Stirn. Nicht zu übersehen.“

Er heulte laut auf und rannte ins Badezimmer, um jede einzelne Pore einer gründlichen Überprüfung zu unterziehen.

Endlich hatte ich ein bisschen Ruhe. Ich zog den Eimer in die Mitte des Raums und fing an, mit langen, gleichmäßigen Zügen den Boden zu wischen.

Das Wischen war immer Mos Aufgabe gewesen. Ich war um diese Zeit schon im Bett und konnte den säuerlich-süßen Zitronenduft des Reinigungsmittels riechen, der aus dem Deli nach oben stieg, bis ich eingeschlafen war.

Einmal waren wir auf ein anderes Mittel umgestiegen, aber die Kunden hatten sich beklagt, dass das Mo’s nicht mehr so vertraut duftete wie zuvor, darum hatten wir wieder das Zitronenzeug gekauft. Man konnte Mo einfach nicht entkommen – das hier war sein Deli.

Überall an den Wänden hingen Fotos von ihm. Das größte war am Tag seines Highschool-Abschlusses entstanden und hing direkt unter dem eingerahmten Takbir, gleich neben der irakischen Flagge. Er war dort geboren worden, und obwohl er noch sehr klein gewesen war, als meine Eltern in die USA ausgewandert waren, war der Irak immer seine Heimat geblieben. Deshalb ist er auch schon während der ersten College-Ferien dorthin zurückgekehrt. Und in allen folgenden College-Ferien auch.

Ich hielt inne und sah mir die Collage an, die er aus Bildern von seinen Reisen zusammengestellt hatte – all die historischen Stätten, die bereits antik gewesen waren, als Rom noch ein kleines Dorf war. Da war er breit grinsend vor der Zikkurat von Ur zu sehen, auf einem Kamel vor den Ruinen von Ninive oder völlig verstaubt nach seinem Motorrad-Trip zu den Backsteinhügeln bei Lagash, die noch aus einer Zeit stammten, als das Land seinen altertümlichen Namen Mesopotamien getragen hatte.

Die Wiege der Zivilisation. Doch als ich die Fotos von Mo betrachtete, wie er in Flüchtlingslagern aushalf, sich am Wiederaufbau zerbombter Dörfer beteiligte und bei der Neubepflanzung von Farmen behilflich war, musste ich unwillkürlich daran denken, welche Qualen diese Wiege im Lauf der Jahrhunderte hatte erdulden müssen. Warum hatte man sie nicht einfach in Ruhe lassen können?

Auf einigen Fotos war auch ich zu sehen – an Geburtstagen oder zusammen mit Mo in Halloween-Verkleidung. Typische Geschwisterfotos eben.

Unser Deli war nicht besonders groß – acht mal drei Meter höchstens –, aber er dokumentierte Mos gesamtes Leben, vom Anfang bis zum Ende.

In erster Linie waren es die Blumen, die den Deli erst zum Mo’s machten. Mein Bruder war am Rand einer kargen Wüste geboren worden und hatte daher eine große Liebe zu Pflanzen entwickelt. Darum hatte er sich auch für ein Biologiestudium mit Schwerpunkt Botanik entschieden. Am Ende unseres Häuserblocks hatte er einen Gemeinschaftsgarten angelegt; seine Lieblingspflanzen hatte er gepresst und eingerahmt. Jetzt ließen sie die weiß getünchten Wände des Mo’s in den leuchtendsten Farben, die die Natur hervorbrachte, erstrahlen. Rosen von tief dunkelrot bis schneeweiß rankten sich an den oberen Fensterrändern entlang. Üppige lilafarbene Orchideen hingen neben den leuchtend pink-, gold- und orangefarbenen Blütenblättern zahlloser Wildpflanzen.

Ein Auto fuhr vorbei. Das Licht der Scheinwerfer strich über die hintere Wand, dehnte die Schatten und erweckte sie zum Leben.

Der Zitronenduft, die Fotos, die Blumen, die nächtliche Stille sowie die vorbeihuschenden Schatten, das alles zusammen brachte ihn zu mir zurück. Es kam mir vor, als würde mein Bruder vor mir am Tisch sitzen.

„Hallo, Mo“, sagte ich.

Asalaamu alaikum, Yakhi. Du gehörst ins Bett. Morgen musst du in die Schule.

„Und wer soll abschließen? Daoud vielleicht? Niemals.“ Ich tunkte den Mopp in das Seifenwasser und drückte ihn aus, bevor ich anfing, unter den Fenstern zu wischen.

Sag mal, hättest du heute Abend nicht eigentlich bei Aaron sein müssen? War nicht am Donnerstag immer Spieleabend mit ihm und den anderen Jungs?

„Du weißt doch, dass ich dafür keine Zeit mehr habe, Mo. Der Deli braucht …“

Es gibt noch ein Leben außerhalb des Deli, Sik.

„Aber mir gefällt es hier“, fauchte ich zurück und drückte den Mopp energisch in den Eimer. „Außerdem wäre das alles gar nicht nötig, wenn du noch hier wärst und helfen könntest. Wann hast du das letzte Mal gewischt?“

Sag du’s mir.

„Vor zwei Jahren, drei Monaten und vierzehn Tagen.“ Als wüsste ich das nicht ganz genau. „Und wann kommst du zurück?“

Hör doch auf, Sik …

„Der Ort, an dem du jetzt bist, muss wohl so eine Art Paradies sein. Ist es besser als zu Hause?“

Du hast doch Daoud.

„Er war aber immer dein Freund und nicht meiner“, erwiderte ich. „Er wohnt jetzt in deinem Zimmer. Ist das denn zu glauben?“

Immer noch besser, als wenn es leer stehen würde.

„Er zieht auch deine Klamotten an. Kannst du dich noch an die Lederjacke erinnern? Die trägt er ständig.“

Was soll denn das, Sik?

Erinnerungen überschwemmten meinen Geist. Der schlimmste Tag meines Lebens. Ich hatte neben meinen Eltern am Festnetztelefon gesessen, als sie erfahren hatten, was passiert war. Ich wusste, dass es schlechte Nachrichten waren. Wenn um drei Uhr morgens das Telefon klingelt, können es nur schlechte Nachrichten sein. Mo war nachts mit dem Motorrad unterwegs gewesen, ein Lastwagen war auf seine Fahrbahn geschlingert und … In jener Nacht hatte ich zugesehen, wie Mama und Baba von einem Augenblick auf den anderen alt geworden waren, weil ihre Zukunft zu Staub zerfallen war.

„Irgendjemand muss sich schließlich um unsere Eltern kümmern“, gab ich zurück.

Und was ist mit dem Garten? Kümmerst du dich darum auch?

Ich verzog das Gesicht: „Sicher, irgendwann, inshallah. Vielleicht kommendes Wochenende.“

Du hast seit Monaten kein Unkraut gejätet.

„Ist ja klar, dass du das weißt.“

Alles, was ich weiß, weißt du auch.

„Das stimmt nicht. Ich weiß zum Beispiel nicht, wieso du weggegangen und nie wieder zurückgekommen bist.“

Ich musste. Es war die richtige Entscheidung.

„Nein, war es nicht. Es war falsch.“

Der Irak war meine Heimat. Und es ist nie falsch, die Heimat zu retten.

Ich wollte mich nicht mit ihm streiten. Das hätte nichts gebracht. „Du fehlst ihnen so sehr, Mo. Ich sehe es Mamas Blick an. Und Babas auch, aber er kann es besser verstecken als sie.“

Vergiss mich nicht, Yakhi.

„Niemals.“ Ich hob ruckartig den Kopf, hoffte, ihn für einen kurzen Moment, nur für den Bruchteil einer Sekunde, dort am Tisch sitzen zu sehen, aber natürlich war er nicht da.

Warum tat ich das? Warum versuchte ich Abend für Abend, ihn zurückzuholen? Warum konnte ich meinen Bruder nicht einfach vergessen und mein Leben weiterleben?

Die Vertrauenslehrerin an der Schule hatte das einen „Bewältigungsmechanismus“ genannt. Das sei meine Art, mit dieser Tragödie umzugehen. Sie hatte mir versichert, dass ich mich irgendwann daran gewöhnen würde, dass Mo nicht mehr da war, aber jetzt, zwei Jahre später, war er noch genauso real wie immer. Und obwohl er nur eine durcheinandergeratene Sammlung aus Erinnerungen war, widersprach er mir – und zwar ständig. Seltsam, oder? Ich schätze mal, manche Menschen lassen sich einfach nicht beeinflussen, auch wenn sie nur das Produkt der eigenen Fantasie sind.

Ich ging in die Küche, um die Töpfe auszuwaschen, und fing mit den Resten der Libanon- und der Kairosoße an. Den Topf mit der Bagdadsoße nahm ich mir als Letztes vor und beschnüffelte ihn auch dann nur aus respektvollem Abstand. Er war zwar fast leer, aber das reichte, um mir die Tränen in die Augen zu treiben. Die tödlichen Chilischoten, die mein Vater in die Soße legt, sind einer der Gründe, weshalb unser Deli so beliebt ist. Irgendwann will jeder Gast die Bagdadsoße probieren – „eine zutiefst erschütternde und Ehrfurcht gebietende Erfahrung für die Geschmacksknospen“, sagt Baba immer. Nur die Härtesten fragen ein zweites Mal danach.

„Für dich, Yakhi“, sagte ich, während ich den Rest der dicken roten Soße in die Spüle kippte. Mo hat die Bagdadsoße geliebt. Er hat sie sogar über seine Cornflakes gekippt.

Da hörte ich draußen in der Gasse hinter der Küche eine Katze schreien, gefolgt vom Geräusch einer umkippenden Mülltonne. Der Containerdeckel knallte.

Was war denn da los? Ich machte die Hintertür einen Spalt weit auf, konnte aber in der Dunkelheit nicht das Geringste erkennen.

Dann hörte ich Stimmen.

Irgendjemand stieß einen zufriedenen Rülpser aus. „Nun sieh dir das mal an, Sidana, alter Kamerad. Auch einen Happs?“

Ein angsterfülltes Quieken ertönte.

Dann schmatzte jemand laut und vernehmlich mit den Lippen. „Fett und saftig, lecker fein, so muss eine Ratte sein.“

Jagten die etwa eine Ratte?

Es waren mindestens zwei Personen, aber ich konnte sie nicht sehen. Also hörte ich zu.

Das Quieken klang immer verzweifelter.

„Ungeziefer aus Manhattan. Was Besseres findest du nirgendwo.“

Die Ratte quiekte ein letztes Mal, dann ertönte ein Knacken und anschließend ein widerliches Knuspergeräusch, gefolgt von lautem, zufriedenem Rülpsen.

Okaaaay … Jetzt wurde es richtig abgedreht.

Die Antwort, begleitet von einem leisen Kichern, lautete: „Weißt du noch, früher, da gab es mal Finger, ganz biegsam und weich, solche fleischigen Dinger, und dazu dann das Mark, der Knochen, das Blut – das war wahrer Genuss, das war mehr als nur gut.“

Aber sowas von abgedreht! Und auch noch in gereimten Versen.

Ich zögerte einen Moment, dann legte ich meinen Wischmopp beiseite und nahm unseren großen, schweren Eisen-Wok vom Haken an der Wand. Ich huschte nach draußen, um mich umzusehen.

Aber das war, wie sich gleich herausstellen sollte, ein Riiiieeesenfehler.

2

In der Gasse hinter unserem Deli stank es. Viel übler als sonst, meine ich. Ein heißer, widerlicher Verwesungsgeruch hing zäh wie Sirup in der Luft. Seltsam, dass mir das vorhin, als ich die Hintertür benutzt hatte, gar nicht aufgefallen war. Ob da ein Abflussrohr geplatzt war oder so?

Über den Essensresten, die aus zwei aufgerissenen Müllsäcken quollen, schwebten Fliegenschwärme. Vergammeltes Gemüse lag auf dem nackten Beton verstreut, während Maden sich in den Fleischfetzen an den Backsteinwänden ringelten. Im Inneren des Containers rumorte es.

Ich schlich etwas dichter heran und wäre beinahe auf einer halben Ratte ausgerutscht. Ja, richtig, das war genauso eklig, wie es sich anhört.

Eine verwildert aussehende getigerte Katze hockte vor dem Notausgang und beobachtete mich. Ihr Körper war von zahlreichen Narben gezeichnet, ihr eines Auge war komplett weiß, und ich könnte schwören, dass sie mir damit zugezwinkert hat. Dann sprang sie auf und fauchte, während ein Typ den Kopf aus dem Container reckte und ein altes Stück Pizza durch die Luft schwenkte. „Mit Maden belegt, herrlich glitschig und lecker. Ein dreifaches Lob auf den Pizzabäcker!“

Ich duckte mich hinter einen Mülleimer, und die getigerte Katze verschwand in der Dunkelheit.

Ich habe von einem Typen gesprochen, aber das stimmte wirklich nur im weitesten Sinn des Wortes. Er hatte einen Kopf und zwei Arme, aber davon abgesehen …

Sein verbeulter Hut konnte weder den seltsam geformten, länglichen Schädel noch die langen behaarten Ohren verbergen. Auf der Spitze seiner zuckenden Nase steckte ein zerkratzter Kneifer. Drahtige schwarze Schnurrbarthaare sprossen zu beiden Seiten seines Mauls hervor, in dem jede Menge schiefe gelbe Zähne saßen. Er stopfte das Pizzastück hinein und kaute laut und vernehmlich, wobei er genüsslich mit den runden roten Augen rollte.

Jetzt erhob sich auch sein Kumpan neben ihm. Er trug einen ramponierten Bowlerhut, den er sich tief über seine riesigen Krötenaugen gezogen hatte, und leckte sich mit einer Zunge so dick wie mein Arm die wulstigen Lippen. Sein Magen knurrte vernehmlich, während er auf einer vergammelten Wurst herumkaute. „Lass Platz, Kamerad. Da warten noch viele leckere Häppchen auf uns.“

Immer mehr Fliegen schwirrten in der Gasse umher. Hässliche, glänzende Schmeißfliegen zischten an mir vorbei, als wollten sie nachsehen, ob ich auch ein leckeres Häppchen war.

Diese Typen nahmen ihre Rollen auf jeden Fall sehr ernst. Waren das irgendwelche durchgeknallten Cosplayer? Oder Einbrecher, die sich eine besonders abgefahrene Verkleidung ausgesucht hatten? Es wäre bestimmt besser gewesen, wenn ich Daoud geholt oder Baba aufgeweckt hätte, bevor ich hier rausgegangen war. Jetzt konnte ich nicht mehr zurück. Die Herren Sonderbar und Ungewöhnlich hätten mich sofort gesehen. Also kauerte ich mich noch tiefer hinter die Mülltonne und umklammerte den Griff des Woks. Der war zwar nicht gerade Thors Hammer, aber so groß und schwer, dass ich den beiden im Notfall eine dicke Beule verpassen konnte.

Das reimende Rattengesicht stocherte mit einer seiner schmutzigen Krallen zwischen seinen Zähnen herum und blickte zu den dunklen Fenstern unserer Wohnung im ersten Stock hinauf. „Dort liegen sie schlummernd in ihren Betten. Wie wär’s, wenn wir sie gleich mal tierisch erschrecken?“

Das hörte sich nicht gerade freundlich an.

Der Kröterich leckte sich mit seiner widerlich langen und schleimigen Zunge die Lippen. „Wir brauchen nur den Jungen.“

„Wohlan, an den kommen wir mühelos ran. Und anschließend sind dann die anderen dran.“ Das Rattengesicht rückte seinen Hut gerade und legte die Hand an den Rand des Containers.

Überhaupt nicht freundlich.

Und war mit dem Jungen etwa ich gemeint?

Ich bekam Angst, fast schon Panik. Am liebsten wäre ich weggerannt und hätte mich irgendwo versteckt. Überall anders hätte ich mich sicherer gefühlt als hier, aber diese beiden waren eine Bedrohung für das Mo’s, und das würde ich nicht zulassen. Niemals. Deshalb – obwohl der Wok in meinen schweißnassen Fingern zitterte, obwohl die Angst sich wie ein stählerner Ring um meine Brust gelegt hatte und ich kaum atmen konnte – stürmte ich aus meinem Versteck.

Ich schwang den Wok durch die Luft … und verfehlte die beiden. Aber sie duckten sich, und das reichte mir. Ich griff nach dem Deckel des Containers, rammte ihn mit aller Kraft nach unten auf ihre behüteten Köpfe und legte den Riegel um. Im selben Moment versuchte einer der beiden, den Deckel wieder aufzustemmen.

Ich schlug mit dem Wok gegen die Containerwand. „Ihr bleibt jetzt schön da drin!“

Die beiden warfen sich gegen die Wände, und der Müllcontainer schaukelte hin und her. Ich konnte ihre erstickten, wütenden Schreie hören.

„Daoud!“, brüllte ich. „Ruf die Polizei!“

Wo war er?

„Daoud!“

Der Container hüpfte auf und ab. Der Stahldeckel zeigte erste Beulen. Aber das spielte alles keine Rolle. Solange der Riegel an Ort und Stelle blieb, würde sich auch der Deckel keinen Millimeter bewegen.

Dann ertönte ein Knattern und ein feuchtes Pfeifen. Ein ekelerregender Gestank drang aus dem schmalen Spalt zwischen Containerdeckel und Rand hervor. Ich hielt den Atem an, um möglichst wenig davon abzubekommen.

Zwei runde dunkelrote Augen spähten durch den Spalt. „Sikander Aziz? Du bist schon zur Stelle? Für das hier landest du in der Hölle“, stieß das Rattengesicht grimmig hervor.

Ich trat einen Schritt zurück. „Ihr wisst, wer ich bin?“

Er kicherte böse. „Ob wir dich kennen? Gewiss, und zwar sehr. Wir müssen gestehen, du bist populär.“

Eine Faust donnerte von innen gegen die Containerwand. „Das wirst du bitter büßen, mein Kleiner, sobald Sidana und ich wieder draußen sind“, schimpfte der Kröterich. „Das garantiere ich dir.“

„Sidana?“ Ich blickte Rattengesicht fragend an. „Was ist das denn für ein Name?“

„Das ist kein Name, das ist ein Fluch“, erwiderte Kröterich. „So wie meiner auch: Idiptu. Präg sie dir gut ein.“

„Sidana und Idiptu, hmm?“, gab ich zurück. „Ich glaub, ich bleibe lieber bei Rattengesicht und Kröterich.“

Rattengesicht – Pardon, Sidana natürlich – fauchte wütend. Es war klar, dass die beiden nicht viel für Spitznamen übrig hatten. „All dies verheißt nichts Gutes, du kannst uns nicht entrinnen, denn wir werden unerbittlich auf finstere Rache sinnen.“

„Ach ja? Also, bis jetzt sieht es gar nicht so schlecht aus, finde ich.“ Wo steckte eigentlich Daoud? War der etwa immer noch mit seinen verstopften Poren beschäftigt?

„Du hast Mut“, gestand Idiptu.

„Ich habe einen Wok.“ Ich knallte ihn auf den Containerdeckel, sodass ein lauter, scheppernder Knall ertönte.

„Das Bürschchen da glaubt wohl, er sei ein Held. Ein auferstandener Gilgamesch, zurück in der Welt!“, höhnte Sidana. „Wir werden, darauf kann er zählen, ihn schänden, zerschmettern und ausgiebig quälen.“

Nicht schlecht. Schließlich wird man nicht jeden Tag mit dem ersten und meiner bescheidenen Meinung nach größten Helden aller Zeiten verglichen. Gilgamesch könnt ihr euch als eine Mischung aus König Artus und Herkules vorstellen, mit einer Prise Thor, und das Ganze mal fünfzigtausend.

Kröterich drückte sich so dicht wie möglich an den Spalt. „Weißt du eigentlich, wer wir sind, Kumpel? Was wir sind?“

„Ehrlich gesagt, das interessiert mich nicht besonders.“ Ich warf einen Blick zu der umgestürzten Mülltonne. Ob ich mit ihr vielleicht den Containerdeckel beschweren konnte? Anschließend würde ich ins Haus gehen und die Polizei anrufen.

„Wir sind die Großen Plagen der Menschheit, die Asakku“, sagte Idiptu. „Oder, in der Sprache der einfachen Mensch…“

„Dämonen“, unterbrach ich ihn. In der antiken Mythologie kannte ich mich aus. „Mm-hmm, na klar. Ich glaube eher, ihr seid völlig verpeilte Halloween-Geister.“

Idiptus Augen funkelten eitrig gelb. „Wir kommen aus Kurnugia.“

„Kurnugia?“ Ich rollte die Mülltonne in Richtung Container. „Liegt das bei Michigan?“ Mir war klar, dass er die Unterwelt meinte, aber jetzt saß ich am längeren Hebel, und das wollte ich auskosten.

Nebenbei schlug ich pausenlos nach den unzähligen Fliegen, die mich umschwärmten. Und nicht nur Fliegen. Ich erwischte auch einen Moskito, der sich auf meinen Hals gesetzt hatte. Als ich die Hand wieder weg zog, war sie blutverschmiert.

„Die Viecher, die stechen ganz fürchterlich“, neckte Sidana. „Und machen dich krank, so fürchte ich.“

„Sind schlechte Reime eigentlich üblich in Kurnugia? Wie wär’s denn damit?“ Ich trommelte einen Hip-Hop-Rhythmus auf der Containerwand. „Ich heiße Sik und verpass euch ’nen Kick. Ihr macht mich krank mit eurem Gestank. Ihr pöbelt, ihr droht mir mit schändlicher Tat? Haut bloß ab und verpisst euch, sonst mach ich euch platt!“

„Nicht schlecht“, grunzte Idiptu.

Wieso war Daoud immer noch nicht da? Hatte er mein Klopfen denn nicht gehört? Mir blieb gar nichts anderes übrig, als weiter zu ätzen.

„Dämonen, hmm? Ganz hübsche Idee. Aber ich glaube kaum, dass die Polizei darauf anspringen wird. Das hier ist die Wirklichkeit, hier gibt es keine Dämonen. Genauso wenig wie die Zahnfee. Und was den Weihnachtsmann angeht, da habe ich auch so meine Zweifel.“

Sidana knurrte mich so grimmig an, als hätte ich mich über seine Herkunft lustig gemacht. „Dämonen existieren nicht? Dann sage mir doch: Was bin ich?“

„Ein Typ, der dringend zum Zahnarzt muss?“

Trotz der ganzen Frechheiten, die ich von mir gab, zitterten mir die Knie. Was immer diese Typen sein mochten, ich wäre ihnen lieber nicht nachts in einer dunklen Gasse begegnet.

Der Insektenschwarm wurde immer dichter, summte mir die Ohren voll und überzog meine Haut mit Stichen. Ich schwang den Wok und zerquetschte ein paar Mücken, aber es wurden immer mehr und mehr. „Verzieht euch!“

„Idiptu, Verehrtester, leg endlich los, und öffne den Riegel mit einem Stoß“, sagte Sidana.

Idiptu rollte seine schleimige Zunge aus und schob sie durch den schmalen Spalt. Sie war einen Meter lang, schlängelte sich an der Wand des Containers herab und fing an, hin- und herzuschaukeln, bis sie gegen den Riegel stieß und ihn aufklappte.

Und dann war die Falafel mit einem Mal so richtig am Dampfen.

Mit lautem Getöse krachte der Deckel auf. Idiptu sprang heraus und landete schwerfällig vor mir auf dem Boden. Er war untersetzt und besaß einen fassförmigen Brustkorb, dazu dicke, gebogene Beine, die die Nähte seiner karierten Hose einer echten Zerreißprobe unterzogen. Sidana hingegen, der eine zerschlissene Smokingjacke trug, kletterte ziemlich mühsam ins Freie und humpelte an Idiptus Seite. Er säuberte seinen Kneifer und klemmte ihn auf die Spitze seiner haarigen Schnauze. „Meister Sikander, geht es dir gut?“ Er grinste, sodass ich freie Sicht auf seine krummen gelben Fänge bekam. „Wir zaubern Schmerzen und Qualen für dich aus dem Hut.“

Das war nicht gut. Überhaupt nicht gut. Und ich meine nicht nur den Reim. Ich wich zurück und schwenkte den Wok vor mir hin und her. „Kommt ja nicht näher.“

„Sonst? Frittierst du uns dann vielleicht?“ Idiptu zeigte auf eine wabernde schwarze Wolke am hinteren Ende der Gasse. „Wir sind nicht diejenigen, vor denen du Angst haben musst, Kumpel …“

Aus dem summenden, brummenden Schwarm schälte sich jetzt eine riesenhafte Gestalt hervor. Trotz ihrer gebückten Haltung war sie über drei Meter groß und schlurfte durch die umherschwirrenden Insekten. Doch statt der Gestalt auszuweichen, verschmolzen sie mit ihr, sammelten sich in den Falten ihres zerlumpten Umhangs, schlüpften in ihren Mund und umgaben ihren Kopf wie ein kreischender Heiligenschein.

Idiptu lüftete seinen Bowlerhut. „Das ist der Boss.“

3

„Ya Allah …“ Ich schüttelte den Kopf und hoffte auf eine schnelle Rückkehr in die Wirklichkeit, aber der riesige Fliegentyp im Mantel hörte einfach nicht auf zu … existieren.

Das Summen der Millionen Insekten wurde lauter, intensiver, sodass die Fenster, die zur Gasse zeigten, bebten. Noch ein bisschen lauter, und meine Ohren würden anfangen zu bluten.

Ich hatte immer noch meinen Wok. Ich musste etwas unternehmen.

Also rannte ich los.

Ich stürmte durch die Küchentür ins Haus und knallte sie hinter mir ins Schloss.

„Wer … was ist das da draußen?“, wollte Daoud mit aschfahlem Gesicht wissen.

„Jetzt kreuzt du auf?“ Ich schob sämtliche Riegel vor. „Schnapp dir das größte Messer, das du finden kannst.“ Ich wich zurück, als Idiptu sich gegen die Tür warf, sodass die Angeln sich bogen. „Wir müssen sie aufhalten …“

„Was? Nein, wir müssen die Polizei holen!“

„Dafür ist es jetzt leider zu spät!“, fauchte ich ihn an. „Los, such dir eine Waffe. Beeilung!“

„Die sollen sich einfach nehmen, was sie haben wollen!“, heulte Daoud. „Wir können uns oben in unseren Zimmern verstecken.“ Er wollte mich durch die Schwingtür in den Speiseraum zerren.

„Du willst denen den Deli überlassen? Niemals!“ Ich riss mich los. „Ich lasse das Mo’s nicht im Stich. Das ist deine Chance, ein Held zu werden, Daoud. Und zwar ein echter!“

Er starrte mich an, als wäre ich vollkommen irre. „Ich kann überhaupt kein Held sein, schon gar kein echter!“

„Wozu hast du denn die ganzen Muskeln, wenn du sie sowieso nicht benutzen willst?“ Ich musste ihn unbedingt auf meine Seite ziehen, bevor die Hintertür in Stücke geschlagen wurde. Also benutzte ich eine Sprache, die er verstand: „Stell dir vor, das Ganze wäre ein Film, Daoud. Und die Guten gewinnen immer, stimmt’s?“

„Ein Film?“ Daoud zog sich immer weiter zurück. „Das heißt, ich bin die verzichtbare Nebenrolle! Der Kumpel von nebenan. Wir sterben im zweiten Akt, jedes Mal, gleich nach dem Muskelprotz!“

Die Hintertür zitterte unter dem nächsten Ansturm des massigen Idiptu. Lange würde sie nicht mehr standhalten. Wir mussten sie mit etwas Stabilerem verrammeln.

Daoud starrte mich an. „Hier geht es gar nicht um den Deli.“

„Machst du jetzt mit oder nicht?“

Die Metalltür bog sich bedrohlich nach innen.

„Komm schon, Sik!“ Daoud flüchtete in den Gastraum, und ich hörte, wie er nach oben ging und die Sicherheitstür hinter sich zuschlug. Sie bestand aus massiver Eiche, war fast zehn Zentimeter dick und besaß ein automatisches Schloss. Man würde eine Kettensäge brauchen, um sie zu überwinden. Andererseits … die Hintertür war aus Metall, und ich hatte sie auch für unüberwindbar gehalten.

Ich griff nach dem Festnetztelefon in der Küche und gab drei Zahlen ein.

Es klingelte einmal … zweimal … dreimal …

„Yallah, nimm endlich ab!“, brüllte ich, während Idiptu seine Attacken unermüdlich fortsetzte.

„Mit wem darf ich Sie verbinden?“, wollte die Stimme aus der Telefonzentrale wissen.

„Polizei“, sagte ich. „Schnell. Noch schneller.“

„Ich verbinde. Bitte bleiben Sie am Apparat.“

„Das Schicksal nimmt nun seinen Lauf …“ Sidana linste durch einen Spalt zwischen dem verbogenen Metall und dem Türrahmen. „Am besten legst du wieder auf.“

Der Telefonhörer wand sich in meiner Hand. Irgendetwas kitzelte mich an den Lippen. Etwas Schleimiges.

Dicke weiße Würmer ringelten sich aus der Sprechmuschel hervor. Maden. Ich ließ den Hörer fallen und spuckte voller Panik aus. Wie war das bloß möglich? Wie konnte so etwas passieren?

„Ich hoffe sehr, du hast keine geschluckt“, sagte Sidana. „Es könnte sein …“

„Halt einfach die Klappe!“ Wer waren diese Typen? Was waren sie? Ich wollte es mir nicht eingestehen, aber das Wort Dämon kam mir allmählich gar nicht mehr so verkehrt vor.

Mein Herz raste, und mir jagten hundert panische Gedanken gleichzeitig durch den Kopf. Auf der Vorderseite waren die Rollgitter bereits unten, das war also kein Ausweg. Um Hilfe schreien? Die beiden anflehen aufzuhören? Ihnen alles überlassen, was sie haben wollten, und hoffen, dass sie dann auch wirklich verschwanden? Sich unter der Theke verstecken? Kämpfen um jeden Preis?

Ich hatte viele verschiedene Optionen, aber keine einzige machte mir irgendwie Hoffnung.

Das Beste wäre gewesen, sie gar nicht erst reinkommen zu lassen, aber die Tür würde ihnen nicht mehr lange standhalten.

Ich drückte mich mit dem Rücken an die Wand, stemmte beide Füße gegen den großen Kühlschrank und drückte. Ganz aus Edelstahl, mit einer Höhe von zwei Metern zwanzig und einer Breite von einem Meter zwanzig, war er die perfekte Blockade. „Komm schon“, ächzte ich. Meine Beine zitterten, während ich jedes bisschen Kraft, das in ihnen steckte, herauspressen wollte. Der Kühlschrank neigte sich ein klein wenig zur Seite.

Jetzt löste sich die mittlere Angel der Hintertür aus der Wand. Idiptu steckte den Kopf durch die größer gewordene Öffnung, rollte seine Zunge aus und schickte sie auf die Suche nach den Riegeln.

„Los jetzt!“, brüllte ich und gab dem Kühlschrank einen letzten, verzweifelten Stoß. Das Ding stand, seit wir es gekauft hatten, immer am selben Platz und wollte sich eigentlich keinen Millimeter von der Stelle rühren, aber … aber dann ächzte es laut, neigte sich seitlich vor die Hintertür und kippte schließlich ganz um. Mit donnerndem Getöse schlug es auf dem Fußboden auf. Schüsseln und Töpfe purzelten durcheinander. Die Kühlschranktür klappte auf, sodass alle möglichen Behälter mit Hummus und Zaziki herausfielen. Zitronen und Orangen kullerten in alle Richtungen davon.

So, das würde sie erst mal aufhalten. Ich schnappte mir den Wok, rannte in den Gastraum und hastete zur Tür, die hinauf in unsere Wohnung führte. „Daoud? Bist du da?“

„Ich telefoniere gerade mit der Polizei!“

„Wann kommen sie?“

„Äh … ich hänge in der Warteschleife, an dritter Stelle.“

Super. Einfach super. Mit Glück waren sie vielleicht um die Mittagszeit hier.

Da hörte ich Kratzgeräusche aus der Küche. Es klang, als würde ein schwerer Gegenstand, ein Kühlschrank beispielsweise, langsam über Keramikfliesen geschoben.

„Sik? Was ist denn los da unten?“ Das war Baba. Er rüttelte an der Klinke der Sicherheitstür. „Wo ist der Schlüssel?“

Ich sah ihn auf dem Küchentresen liegen. „Äh … hier?“

„Mina, hol den Ersatzschlüssel!“, brüllte Baba, ohne die Klinke loszulassen. „Bring dich in Sicherheit, Sik!“

Ich weiß, dass es verrückt war zu bleiben. Der Deli war nichts Besonderes, aber er war alles, was wir hatten.

„Sik … Habibi. Bitte. Bitte lauf weg!“

Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und packte den Wok erneut fest mit beiden Händen.

Eine unheimliche Stille hatte sich über die Küche gelegt.

Hatten sie aufgegeben? Bitte, ya, Allah, bitte, betete ich.

Als die elektrische Insektenfalle an der Decke eine Fliege erlegte, zuckte ein bläulicher Lichtblitz auf und erhellte für einen Augenblick den Gastraum. Das elektrische Summen dauerte an, dann blitzte es noch einmal, als eine zweite Fliege gegen die Drähte flog.

Die Schwingtür zwischen Küche und Gastraum knarrte, als ob jemand vorsichtig, gaaanz vorsichtig versuchte, sie aufzudrücken.

Kakerlaken huschten unter dem Türspalt hervor und verteilten sich wie auslaufendes Öl auf dem Fußboden.

Dann wurde die Tür in Stücke gerissen. Eine Druckwelle erfasste mich und presste mir sämtliche Luft aus der Lunge. Der Wok flog mir aus den Händen und krachte an die gegenüberliegende Wand.

Ein kreischender Insekten-Tornado wirbelte durch den Raum. Die Wände waren unverzüglich von einer glänzenden Schicht aus schwarz, violett und grünlich schimmernden Leibern überzogen. Sie bedeckten die Fenster und krabbelten auf mir herum, wollten in meinen Mund und meine Ohren eindringen, und das, während sie mich bissen und stachen.

„Wo ist sie, Junge? Wo ist sie?“, röhrte der riesige „Boss“. Er hatte seinen massigen, fliegenverseuchten Körper nach vorne gebeugt, sodass sein Kopf nicht an der Decke entlangstreifte. Jetzt nahm er eine leere Vase von einem der Tische, schnüffelte daran und warf sie auf den Fußboden. Er machte Schränke auf und schleuderte den Inhalt zu beiden Seiten weg, wie ein Hund, der einen Knochen ausgräbt. Als Nächstes schlug er eine von Mos gepressten Blumen von der Wand, sodass der Rahmen zersplitterte. Er zog die Pflanze heraus und nahm sie zwischen Daumen und Zeigefinger, bevor er sie zu Staub zerquetschte. Dann kam die nächste an die Reihe, dann die übernächste, und so weiter. Mit jeder Blume wurde sein Zorn größer. „Sie muss hier sein!“

Nein, nein, nein! In diesem furchtbaren Moment war es mir egal, dass er doppelt so groß und zehnmal so stark war wie ich – ich musste die Pflanzen retten. Der Wok war auf die andere Seite des Gastraums gerollt und lag außerhalb meiner Reichweite. Mit zusammengebissenen Zähnen und geballten Fäusten stürzte ich mich von hinten auf ihn.

Schnell wie der Blitz wirbelte der Riese herum und packte mich mitten im Sprung. Seine Finger schlossen sich wie ein stählernes Schloss um meinen Hals. Er zog mich dichter zu sich heran. „Sag mir, wo sie ist, Junge.“

Lederige Hautfetzen baumelten von seinem Gesicht herab, und er hatte zahlreiche große, vor Eiter triefende Wunden, in denen rotes, rohes Fleisch zu sehen war. Unzählige Fliegen krabbelten darauf herum. Klaffende Krater gaben den Blick auf die Sehnen an seinem Kiefer frei, und seine Nase bestand lediglich aus zwei fauligen Löchern. Doch das alles war nichts im Vergleich zu der Finsternis seiner Augen – reinstes Schwarz und übervoll mit Hass. Ich zitterte und konnte mich einfach nicht vom Anblick dieser unendlichen Leere loslösen. Er drückte mir die Kehle zu. „Wo ist sie?“, zischte er. Der Gestank löschte jeden Rest Sauerstoff, der mir noch geblieben war, aus.

Was meint er denn damit? Ich wollte ihn treten, aber meine Kraft war so gut wie verbraucht, genau wie die Luft in meiner Lunge. Allmählich wurde mir schwarz vor Augen.

„Lass ihn los“, sagte da eine Stimme in meinem Rücken.

In meinem benebelten, halb bewusstlosen Zustand hatte ich eigentlich die Polizei erwartet, aber stattdessen stand da …

Ein Ninja?

Na klar, warum nicht? Es war sowieso alles komplett verrückt, also warum kein Ninja? Vollkommen schwarz gekleidet, das Gesicht unter einer Skimaske verborgen, so stand die Gestalt in der Tür. Erst jetzt erkannte ich, dass es sich um ein Mädchen handelte.

In der Hand hielt sie einen glänzenden Krummsäbel. Die schimmernde Klinge wirkte unglaublich scharf, aber mir wäre es lieber gewesen, sie hätte eine Bazooka mitgebracht. Sie hob das Schwert. „Lass ihn los, habe ich gesagt.“

Der Riese ließ mich fallen und zeigte auf seine beiden Helfershelfer. „Ihr regelt das.“

Idiptu kauerte bereits grinsend auf einem Gästetisch. „Mit dem größten Vergnügen, Boss.“ Seine dicken Beine katapultierten ihn nach vorne.

Das Ninja-Mädchen wirbelte in Lichtgeschwindigkeit um ihre eigene Achse und riss dabei ihr rechtes Bein nach oben. Wie eine Abrissbirne schlug ihr Stiefelabsatz seitlich in Idiptus Kiefer ein. Zähne spritzten aus seinem Maul, und er flog in hohem Bogen gegen unser Regal mit den Sirupgläsern. Sein Bowlerhut segelte über den Tresen.

Das Ninja-Mädchen hielt inne, ohne das Bein abzusetzen. Schließlich tat sie es doch, anmutig wie eine Balletttänzerin. Sie wandte sich Sidana zu und – ich schwöre! – hob die Augenbraue. „Der Nächste, bitte.“

Vielleicht brauchte sie doch keine Bazooka.

Sidana hastete zu seinem bewusst- und zahnlosen Freund. „Nach deinem Auftritt zügle ich meinen Drang …“, erwiderte er in freundlichem Tonfall, „… und bedenke zudem deiner Mutter Rang.“

Mutter? Moment mal … die kennen sich?

Das Ninja-Mädchen packte seinen Säbel mit beiden Händen und wandte sich wieder dem Boss zu. Gleich würde ich Zeuge einer monumentalen Schlacht werden.

Der Gigant fixierte sie mit bösem Blick. „Du glaubst doch nicht wirklich, dass du gegen mich eine Chance hast? Auch nicht mit Kasusu.“

Das Ninja-Mädchen richtete die Säbelspitze auf ihn. „Probieren wir’s aus, Onkel.“

Onkel? Onkel?!

„Halte durch, Habibi!“ Baba schlug von der anderen Seite der Sicherheitstür mit irgendetwas – einem Feuerlöscher vielleicht? So hörte es sich jedenfalls an – auf das Schloss ein.

„Nein!“, brüllte ich zurück. „Es ist zu gefährlich!“

Die Gigant explodierte in einen brüllenden Sturm aus Insekten und prallte gegen die Schaufensterscheiben. Das Glas zersplitterte. Die Eisengitter wurden aus ihrer Verankerung gerissen und landeten klappernd auf dem Bürgersteig, während der Wirbelwind sich in den dunklen Nachthimmel erhob.

„Ich komme!“, rief Baba.

Sidana hievte Idiptu durch die Fensterlöcher und ließ mich mit meiner schwertschwingenden Retterin allein. Sie steckte den Säbel in eine rundliche Lederscheide und steuerte die Hintertür an.

„Warte …“, sagte ich.

Sie verharrte.

„Kannst du mir verraten …“ Ganz in der Nähe war Sirenenjaulen zu vernehmen. Ich drehte mich um. Rot-blaue Blinklichter zuckten die Straße entlang, und draußen vor dem Laden versammelten sich bereits die ersten Schaulustigen. „… was hier los ist? Er … er hat nach irgendwas gesucht …“ Aber als ich mich wieder zu ihr umwandte, um eine Antwort zu bekommen, war niemand mehr da.

Die Wohnungstür flog auf, und Baba kam mit wildem Blick hereingestürmt, den Feuerlöscher hoch erhoben. Mama war neben ihm, und hinter den beiden kauerte Daoud.

„Sie sind weg“, sagte ich und sackte auf die Knie. Ohne Adrenalin als Treibstoff verwandelte sich mein Entsetzen in reinste Erschöpfung.

Baba starrte regungslos und mit offenen Mund auf die Verwüstung, und Mama sagte: „Habibi, oh, Habibi …“, bevor sie mich in die Arme schloss.

Baba stolperte durch die Trümmer und kniete sich neben mich. „Was hast du dir bloß dabei gedacht, dich ganz alleine gegen diese Kerle zu stellen?“

Warum musste er diese Frage überhaupt stellen? „Der Deli, Baba …“

Mama drückte mich noch fester an sich. „Der Deli, Sik? Der Deli ist völlig unwichtig.“

Sie kapierten es nicht. Sie kapierten es einfach nicht!

„Seht nur, was sie angerichtet haben …“ Daoud hob einen der zerbrochenen Bilderrahmen auf und versuchte behutsam, die Blume herauszunehmen. Aber sie zerfiel zwischen seinen Fingern zu Staub.

4

Sie hatten unser Zuhause zerstört.

Schon in der Nacht hatte es wirklich schlimm ausgesehen, aber erst im gleißenden Licht der Morgensonne erkannte ich das ganze Ausmaß des Schadens. Mama schlurfte benommen durch das Trümmerfeld und flüsterte immer nur „Laa, laa, laa …“

Die Polizei war gekommen und wieder gegangen. Sie hatte fotografiert, Aussagen aufgenommen und uns einen Termin gegeben. Wir sollten auf die Wache kommen und uns Fahndungsfotos anschauen. Vielleicht würden wir ja die Männer, die uns überfallen hatten, erkennen.

Sie erkennen? Wie sollte ich diese Typen, die aussahen wie eine Kröte und eine Ratte, oder diesen aus einer Milliarde Insekten bestehenden Riesen jemals wieder vergessen? Aber ob ich sie in einer Polizei-Datenbank entdecken würde? Da hatte ich gewisse Zweifel.

War das alles wirklich so passiert, wie ich es in Erinnerung hatte? Ich hatte versucht, es einem Polizisten zu erklären, aber der hatte nur den Kopf geschüttelt und gemeint, dass ich unter Schock stünde. Mama und Baba wussten auch nicht, was sie von dem allem halten sollten, und Daoud … er behauptete, er hätte überhaupt nichts gesehen. Dass es in der Gasse zu dunkel gewesen sei. Nicht einmal beim Aufräumen hatte er uns geholfen, sondern behauptet, er sei „zu aufgewühlt“. Typisch Daoud.

Ich ging mit einer großen Mülltüte den Tresen entlang und steckte den Kohl zu dem übrigen verfaulten Gemüse. Alles war über Nacht schlecht geworden – das Gemüse, das Obst, das Fleisch, alles. Irgendwie waren die Maden sogar in luftdichte Gefäße eingedrungen. Es gibt kaum etwas Ekligeres als riesige weiße Maden, die sich in einem Glas Aprikosensirup hin- und herwinden. Und nicht nur die Nahrungsmittel waren ein Opfer der Fäulnis geworden. Die Holztische waren allesamt verrottet, und einer gar zu Sägemehl zerfallen. Und die Gasleitungen für den Herd waren mit einem Mal mit einer besorgniserregenden Rostschicht bedeckt.

„Pizza! Frisch aus dem Ofen!“

Unser Nachbar von der anderen Straßenseite, Mr Georgiou, kam mit vier großen Pizzaschachteln hereingeplatzt. Er ließ den Blick durch unseren Deli schweifen – oder besser: über das, was noch davon übrig war. Für einen kurzen Moment erlosch sein Lächeln. Dann klopfte er sich auf seinen mächtigen Bauch und reckte die Pizzaschachteln über den Kopf, als wären sie der Super-Bowl-Pokal. „Wer will ein Stück?“

„Zum Frühstück?“, erwiderte ich.

Wir räumten einen der Tische frei, und er stellte die Schachtel ab. Dann blickte er zu meinen Eltern hinüber. „Wie halten sie sich, Sik?“, flüsterte er mir zu.

Baba saß an dem anderen noch verbliebenen Tisch. Überall lagen Papiere verstreut, und er telefonierte mit der Versicherungsgesellschaft. „Sechs Monate? Wir müssen heute anfangen, unser Geschäft wieder aufzubauen, nicht erst in sechs Monaten!“ Er blätterte die Papiere durch. „Was soll das heißen, Verstoß gegen Hygienevorschriften?“ Seine Knöchel wurden weiß, so fest umklammerte er den Hörer. „Nein … wagen Sie es nicht … Hallo? Hallo??!!“

Mr Georgiou schüttelte den Kopf. „Der Laden kommt garantiert schneller wieder auf die Beine, als ihr glaubt. Besser als je zuvor.“

„Aber wie?“ Es schmerzte mich, dass unser Zuhause so … so vergiftet war. Am liebsten hätte ich es mit einer Dampfwalze platt gemacht. „Woher wollen Sie das wissen?“

Mr Georgiou grinste. „Dieses Mal kannst du deinen Eltern helfen.“

Ich? Wie sollte ich hier irgendetwas wieder aufbauen?

Aber ich musste. Diese ganze Verwüstung, das war alles meine Schuld. Ich hatte mich nicht entschlossen genug gewehrt. Worauf hatte der Fliegen-Boss es eigentlich abgesehen gehabt? Das ergab doch überhaupt keinen Sinn. Wir besaßen ja kaum etwas. Ich blickte mich in dem Durcheinander um. Und jetzt besaßen wir noch weniger.

Mr Georgiou legte seine großen Hände auf seinen noch größeren Bauch. „Das Abendessen könnt ihr uns überlassen. Livia macht euch eine Lasagne. Halal, natürlich.“

„Natürlich.“ Die Pizzen dufteten köstlich – er hatte mit Knoblauch und Sardinen nicht gespart –, aber ich hatte keinen Appetit. „Danke.“

„Gib gut auf deine Eltern acht“, sagte Mr Georgiou noch, bevor er wieder zurück in seine Pizzeria auf der anderen Straßenseite ging.

„Mache ich doch ständig, oder?“, sagte ich zu niemand Bestimmtem.

Mama seufzte und fegte ununterbrochen Glasscherben, tote Fliegen, zersplitterte Bilderrahmen und Mos Pflanzen zusammen. Die gepressten Blumen sammelte sie auf einem separaten Häufchen, und dann starrte sie sie an und kämpfte mit den Tränen. Für alle anderen waren diese gepressten Blumen völlig wertlos. Aber für uns waren sie alles, was uns von Mo geblieben war. Und jetzt? Jetzt waren sie zerstört worden, aus purer Bösartigkeit.

Sie fing meinen Blick auf und zwang sich zu einem Lächeln. „Alles wird gut, Habibi. Inshallah.“

„Ja, Mama. Inshallah.“

So Gott will.

Mama und Baba waren aus ihrer Heimat geflüchtet. Sie wussten genau, was es bedeutete, über Nacht alles zu verlieren, und hatten seit jenem ersten Mal mit der Angst gelebt, dass es wieder passieren könnte. Jetzt lag diese Angst wieder in ihren Blicken, sie ließ sich nicht verbergen. Ich spürte sie auch, wie eine schwarze Masse, die mir die Kehle zuschnürte und mich ersticken würde, wenn ich nicht aufpasste.

Ich würde ihnen wirklich helfen. Ich würde ihr Leben besser, schöner machen. Irgendwie würde ich das schaffen. Ich griff nach dem Besen. „Ich möchte dir helfen.“

Sie musterte mich mit gerunzelter Stirn von oben bis unten. „Juckt es noch?“

Ach so, das. Ich hatte mich mit Zinksalbe eingeschmiert und zu meinem morgendlichen Glas Orangensaft auch Antihistaminika geschluckt. Die vielen Insektenbisse und – stiche hatten mein Gesicht in eine rötliche Vulkanlandschaft verwandelt, und dazu kamen noch die blauen Flecken rund um meine Augen. Eigentlich hätte ich schon längst im Koma liegen müssen, aber ich spürte so gut wie keine Schmerzen. „Sieht schlimmer aus, als es ist.“

„Sehr gut. Dann gibt es ja auch keinen Grund, die Schule zu schwänzen“, sagte sie.

„Schule? Aber was ist hiermit? Mit der Küche haben wir ja noch nicht einmal angefangen. Ihr braucht …“

Mama sah mich durchdringend an. „In die Schule, junger Mann.“

„Ich könnte …“

„Sofort.“

Als ich ins Klassenzimmer und in die letzte Reihe huschte, war Gesellschaftskunde schon halb vorbei. Mr Grant bemerkte mein Zuspätkommen überhaupt nicht, weil er viel zu beschäftigt war, sich mit einer meiner Mitschülerinnen herumzustreiten. Gut. Vielleicht konnte ich eine Zeit lang nur dasitzen und mir überlegen, wie wir unseren Deli retten konnten. Wir gehen ja schließlich in die Schule, um schlauer zu werden, oder nicht? Ich setzte mich auf den freien Platz neben Jake.

Er starrte mich völlig entsetzt an. „Was … verdammt noch mal, Sik, was ist denn passiert? Hast du die Seuche?“

„Ein ganz mieser Abend im Deli.“ Ich setzte meine Kapuze auf. Ich kam auch ganz gut klar, ohne dass die ganze Schule mich anstarrte.

„Du hast gestern ein Wahnsinns-Game verpasst! Wir sind jetzt auf dem zwanzigsten Level. Da kriegen wir’s mit Dämonen zu tun! Kannst du dir das vorstellen?“

„Ehrlich gesagt, ja, kann ich“, erwiderte ich. „Wow. Zwanzigstes Level? Als ich das letzte Mal mitgespielt habe, waren wir noch auf dem fünften …“

„Ist ja auch schon lange her.“ Jake stieß mich an. „Mach doch wieder mit, Sik. Für neue Helden haben wir immer Platz.“

„Meine Eltern brauchen mich zurzeit im Deli. Du weißt ja, wie es ist.“