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Ein neuer Fall für John Sinclair. Dennis Ehrhardt und Sebastian Breidbach erzählen in ihrer Horror-Serie die Entstehungsgeschichte des Geisterjägers von Anfang an. Noch nie war Sinclair zeitgemäßer, unheimlicher und düsterer. In London werden zahlreiche Leichen gefunden, allesamt auf grausame Weise entstellt. Vom Täter fehlt jedoch jede Spur. Ein kleines Ermittlerteam um Detective Inspector John Sinclair und Detective Constable Sadako Shao nimmt die Fährte des Mörders auf – und muss erkennen, dass es keinen Menschen jagt, sondern unheimliche, körperlose Wesen, die unsere gesamte Existenz bedrohen. Sinclair Underworld ist der zweite Band einer Serie. Band 1: Sinclair Dead Zone Für Leser von Stephen King, H. P. Lovecraft und alle, die dunkle Thriller mögen.
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Seitenzahl: 667
Dennis Ehrhardt | Sebastian Breidbach
Sinclair - Underworld
Roman
Roman
FISCHER E-Books
An Heiligabend 2018 werden Detective Inspector John Sinclair und Detective Sergeant Zuko Gan im Pub »Duke of Dublin« Zeuge, wie die Archäologin Rachel Briscoe vor ihren Füßen verblutet. John Sinclair folgt der Spur des vermeintlichen Mörders, Sergeant Linus Finneran, zu einem Anleger in Creekmouth, wo die Reederei Seaways mit Hilfe des Drogenbosses Logan Costello einen übermannsgroßen Würfel aus unbekanntem Material von Bord der Baltimore schaffen will. Sinclair beobachtet, wie ein mysteriöser Schatten aus dem Körper von Linus Finneran auf einen der Wachleute auf der Baltimore überspringt, der daraufhin seine eigenen Leute tötet. Sinclair folgt dem Amokläufer in den Bauch des Schiffes und findet den Würfel, in dessen Oberfläche geheimnisvolle Schriftzeichen integriert sind. In diesem Augenblick explodiert die Baltimore. Sieben Menschen sterben, einschließlich Sinclair, dessen Leiche mit Hilfe medizinischer Unterlagen identifiziert wird. Die Explosion brennt sich als »Weihnachtsattentat von Creekmouth« in das Kollektivgedächtnis der Londoner Bevölkerung ein.
Detective Sergeant Zuko Gan glaubt nicht an Johns Tod. Zusammen mit seiner neuen Partnerin Detective Constable Sadako Shao nimmt er die Ermittlungen auf, die schon bald von offizieller Seite torpediert werden. Auf Druck von Staatssekretär Paul F. Hammerstead überträgt Superintendent James Powell die Leitung der Ermittlungen Aldous Lockhart, einem abgehalfterten Detective, der zusammen mit seinen Partnern Ashley und Dixon unter Korruptionsverdacht steht.
Zuko und Shao ermitteln auf eigene Faust weiter und stoßen auf die Spur einer mutierten Kreatur, halb Mensch, halb Spinne, die im Schacht unterhalb der U-Bahn-Station Aldwych entstanden ist und von jenem Schattenwesen befehligt wird, das nach Rachel Briscoe und Linus Finneran nun den flüchtigen Security-Mitarbeiter von Seaways, Russell Lynch, in Besitz genommen hat. Lynch ist für Shao kein Unbekannter. Vor seinem Engagement für Seaways hat er sich als Leibwächter um Logan Costellos Geliebte Deirdre Watkins gekümmert, die von Shao als Informantin rekrutiert wurde. Mit Geldern, die Costello mit dem exklusiven Verkauf der Synthetikdroge »Harmony« verdient hat, richtete Deirdre im Lund Point Tower in Stratford ein Refugium für Drogensüchtige ein, in dem diese mit Stoff versorgt wurden. In Deirdres Haus stoßen Shao und Zuko auf Lynchs Leiche. Um mehr über die Schatten herauszufinden, sucht Shao einen der höchsten »Mitarbeiter« von Logan Costello, Big Jellyfish, auf, doch offenbar wissen weder Logan Costello noch Jelly Näheres.
Da erhalten Shao und Zuko Hilfe von unerwarteter Seite: Ihr Kollege George Dixon gibt zu, dass Aldous Lockhart von Seaways geschmiert wurde und die Ermittlungen im Auftrag von Hammerstead behindert hat. Die Beweise dafür habe Lockhart zusammen mit den »echten« Ermittlungsergebnissen in einem Schließfach deponiert. Ehe Dixon ihnen mehr darüber sagen kann, wird er vor ihren Augen eliminiert. Der mutmaßliche Täter Vincent Costigan wird festgenommen, doch auf Hammersteads Hinwirken auf freien Fuß gesetzt. Auch Lockharts Schließfach ist leer. Shao und Zuko ahnen nicht, dass Bill Conolly sich der Unterlagen bemächtigt hat – ein Reporter, der mit finanzieller Unterstützung des »Daily Globe« einen Youtube-Kanal betreibt und der kurz darauf in der U-Bahn-Station Aldwych verschwindet …
Shaos und Zukos nächstes Ziel ist Costellos »Drogenhöhle« in den oberen Geschossen des Lund Point Tower, doch sie kommen zu spät. Das Spinnenwesen hat die Mehrzahl der Süchtigen massakriert und ihnen Arme und Beine abgeschnitten. Verfolgt von Logan Costellos Killern, erreichen Shao und Zuko den Ort in der Kanalisation unterhalb des Towers, an dem die Spinne einige lebendige Drogenopfer deponiert hat: ein unterirdisches Rückhaltebecken mit einem angrenzenden Siel, hinter dem weitere Schattenwesen lauern. Dort erwartet sie auch die vom Tod gezeichnete Deirdre Watkins. Aus Deirdres Mund löst sich der Schatten, der Shao und Zuko angreift. Im letzten Moment taucht ein myteriöser Mann namens Richard de Lucy auf, der die Schatten und die Spinne vertreibt.
De Lucy bittet Zuko und Shao, der Spinnenmutation zu folgen, die nur die Abtei von St. Lesnes zum Ziel haben könne, wo auch der geheimnisvolle Würfel liegen soll. Shao und Zuko folgen der Spinne und werden aus einem Polizeihubschrauber unter Beschuss gesetzt. An der Abteiruine erwarten sie statt der angeforderten Verstärkung nur Lockhart und Ashley. Dennoch gelingt es Shao und Zuko, die Spinne zu töten. Kurz danach wird Ashley Opfer einer Schrotladung aus dem Hinterhalt. Zuko wird ebenfalls mit einem Kopfschuss zu Boden gestreckt. Shao flüchtet sich ins Innere der intakten Abtei, die wie aus dem Nichts entsteht. Die Killer, darunter Costigan, kreisen Shao ein, als ihr Lockhart zu Hilfe kommt. Costigan stirbt, aber auch Lockhart wurde tödlich getroffen. In einem Nebenraum hinter dem Altar, der Lady’s Chapel, entdeckt Shao einen Schacht, der zu einer geheimnisvollen unterirdischen Anlage führt – und zum Würfel, der zwei Wochen zuvor aus dem Wrack der Baltimore verschwunden ist. Zu seinen Füßen liegt John Sinclair, der sich nicht daran erinnern kann, was seit der Explosion geschehen ist. Als Shao zusammen mit ihm die Anlage verlässt, stoßen sie auf einen Jungen, der Richard de Lucy wie aus dem Gesicht geschnitten ist …
3. April 2018, 2.56 Uhr, Central Park, East Ham, London, 265 Tage vor dem Weihnachtsattentat in Creekmouth
Shao ignorierte ihren nassen Arsch und duckte sich vor das Fenster, so dass sie das Gittertor genau im Blick hatte. Unter ihr knirschte etwas, und dann wackelte das Baumhaus auf einmal, als ob King Kong an der Eiche gerüttelt hätte. Ein paar Sekunden später steckte Amphibien-Eddie seinen Kopf durch die viel zu kleine Tür. Zugegeben, die Bezeichnung war gemein, aber sein Schädel glich tatsächlich dem einer Echse – vor allem, wenn er im Büro abtauchte, während sie mal wieder Stress mit Shepherd hatte. Was regelmäßig der Fall war. Beides.
»Eddie, bist du bescheuert? Sie haben gesagt, immer nur eine Person!«
Sie, das waren Harold und Sally Beecham, die so freundlich gewesen waren, ihr Grundstück an der Grenze zum Park für eine Operation des Drug Squad zur Verfügung zu stellen. Und ihr Sohn Andy, der Shao höchstpersönlich erlaubt hatte, den Eingang zum Park von seinem Baumhaus aus im Blick zu behalten.
»Ich dachte, du willst vielleicht auch ’n Burger.«
»’n Burger? Es ist drei Uhr morgens!«
»Stimmt, und du hast seit acht Stunden nichts mehr gegessen.«
Genau genommen seit sie sich auf diesen schmalen Holzbalken gesetzt hatte, der inzwischen vermutlich mit ihrem Körper verwachsen war. Leider hatte Deirdre nur aufgeschnappt, dass die Übergabe »diese Nacht« stattfinden würde. Und das Schlimmste: Sie war sich nicht mal sicher gewesen, ob wirklich diese Nacht gemeint war.
Eddie schob die Tüte mit den Pommes und dem plattgedrückten Burger zwischen ihre Füße. »Mit Käse. Haben sie jedenfalls gesagt.«
Sie wollte gerade zugreifen, als es in ihrem Ohr klingelte.
»Shao. Sagen Sie doch bitte Dayton, er soll sein verdammtes Handy einschalten!«
Superintendent Shepherd, der klang, als ob er sich gerade zu Hause aus seiner Satin-Bettwäsche gewühlt hätte. Und trotzdem diesen Tonfall draufhatte – dass sie verdammt nochmal stolz darauf sein durften, um drei Uhr nachts einen Anruf von ihm zu erhalten.
Sie zog eine pappige Fritte aus der Tüte. »Mach ich, Sir.«
»Sonst irgendwas Neues?«
»Bis jetzt nicht.«
Shepherd schnaubte. »Ich hab ja gleich gesagt, dass wir hier unsere Zeit verschwenden.«
Shao zermalmte das Gemisch aus Kartoffeln und Fett zwischen ihren Backenzähnen. Wir.
»Bleiben Sie noch ein, zwei Stunden, dann blasen Sie die Sache ab, okay?«
Ihr blieb die Fritte fast im Hals stecken. »Warten Sie mal, Sir! Ich glaube, da tut sich was.«
Ein schlanker Typ, der auf O-Beinen herbeigeschlichen kam und sich am Gittertor zu schaffen machte. Während er den Riegel löste, glich Shao seine Silhouette im Geiste mit den Fahndungsfotos auf der Wand im Hauptquartier ab.
Kurz darauf schwang das Gittertor auf.
»Was ist da los, Shao?«
»Hast du das gesehen?« Eddies Stimme zitterte, und er schob seinen Burger zurück in die Tüte. »Ich glaub, wir sind doch richtig heute!«
»Was hat er gesagt?«, krächzte Shepherd.
»Da ist einer, Sir«, antwortete Shao. »Ich glaub, es ist Sean Miller.«
Sean Miller war nicht so gut wie Big Jellyfish oder Logan Costello persönlich, aber trotzdem gut.
Shepherd schnaufte auf einmal wie ein Walross. »Bleiben Sie, wo Sie sind! In einer halben Stunde bin ich da!«
Scheiße, nicht das noch.
Er hatte aufgelegt.
»Was hat er gesagt?«, raunte Eddie.
Shao drückte ihm die Tüte in die Hand und zwängte sich an ihm vorbei zur Tür. »Dass du hierbleibst und alles im Blick behältst.«
»Und du?«
»Und schalt dein Handy ein! Oder Shepherd dreht durch, wenn er hier auftaucht.«
Jack Bannister warf zum vierten Mal innerhalb der letzten Minuten einen Blick durch den Spalt der Gardine, hinaus auf den verwilderten Parkplatz vor der Fabrikhalle. Die Auffahrt wurde gesäumt von zwei »Privatbesitz! Betreten verboten!«-Schildern, die den Anwohnern klarmachten, dass es klüger war, die eigene Nase nicht in ein Gebäude zu stecken, in dem Logan Costellos Leute ihre Geschäfte abwickelten. Keine einzige verfluchte Karre weit und breit auf der verfluchten Gibbons Road, die hier entlang der DLR-Gleise verlief und direkt vor dem Grundstück der Halle einen Knick machte.
Jack sah auf die Uhr und überlegte schon, Jelly anzurufen, als endlich die Kegel eines Scheinwerferpaares auftauchten.
Bannister atmete aus, während die dunkelblaue Limousine vor dem Grundstück abbremste und über die aufgebrochenen Betonplatten heraufrollte. In einer von Löwenzahn überwucherten Parkbucht blieb der Wagen stehen.
Ein Typ Mitte zwanzig stieg aus, weizenblondes Haar und breite Schultern. Er lief mit federnden Schritten um den Wagen herum und öffnete die linke Hintertür.
Eine Frau erschien, vielleicht Mitte vierzig und mit einer Figur, die für ihr Alter ziemlich ansehnlich war. Allerdings fiel Jack sofort der blasierte Gesichtausdruck auf, derselbe Blick wie bei den Studentinnen oben in Stokey, jedenfalls am Anfang, bevor sie ihn irgendwann auf Knien anflehten, ihm einen blasen zu dürfen, damit er ihnen das nächste Kügelchen Harmony rüberschob. Na ja, Stokey war lange her, fast drei Monate. Mittlerweile hatte sich Greater H etabliert, und der Geldsegen, der damit verbunden war, hatte Bannister auf der Karriereleiter nach oben getragen, mitten hinein in dieses Drecksloch hier, wo er sich mit einem alten Sack namens Gregory Turbin und einem Neuling namens Cliff um die armen Seelen kümmern durfte, die Deirdre Watkins in ihr kleines Charity-Projekt aufgenommen hatte.
Deirdre, die in letzter Zeit immer häufiger den Eindruck machte, selbst von dem Zeug zu naschen, mit dem ihr Lover ihr Geld verdiente. Aber sie war nun mal Costellos Königin, und Jack hätte sich niemals erlaubt, deswegen auch nur einen dezenten Seufzer der Kritik anzubringen.
Zumal er sich ja noch um die ganz speziellen Gäste im ersten Stock kümmern musste, die übrigens der Grund dafür waren, dass die brünette Schnalle da draußen ihr Kammerkonzert in Chelsea oder Kensington abgesagt hatte, um den kleinen geschäftlichen Termin hier wahrzunehmen.
Durch den Gardinenspalt beobachtete er, wie sie den Blick über die Fassade der Fabrikhalle schweifen ließ wie über eine faulige Frucht. Die Gibbons Road war nicht die beste Adresse, zugegeben, aber dank des unverbaubaren Blicks auf die Bahngleise war jeder Streifenwagen schon zu sehen, bevor er überhaupt zwei Meilen weiter südlich den Parkplatz des Forest Gate verlassen hatte.
Der Fahrer hatte einen handlichen Metallkoffer aus dem Kofferraum geholt und folgte der Frau zum Eingang.
Jack war schneller und öffnete die Tür.
»Dr. Lancashire? Sie können mich Jack nennen.«
»Jack.«
»Mr. Beaufort hat Sie schon angekündigt. Folgen Sie mir bitte.«
Shao verließ das Baumhaus und kletterte über die rückwärtige Mauer des Grundstücks, hinter der sich der Park erstreckte. An der Mauer entlang schlich sie in Richtung des asphaltierten Weges, der sich im Schutz weiterer Eichen hinter dem Gittertor quer durch den Park erstreckte.
Aus südlicher Richtung näherte sich ein schwarzer Fleck, schneller, als ein Mensch hätte laufen können. Als er nur noch hundert Yards entfernt war, erkannte Shao, dass es sich um einen Fahrradfahrer handelte.
Er bremste vor Sean Miller, und sie tauschten flüsternd einige Worte aus. Der Typ mit dem Fahrrad zückte ein Handy. Kurz darauf rollte eine breitere Silhouette heran – ein Transportwagen, auf dessen offener Ladefläche sie Schaufeln, Spaten und Rechen erkannte.
Shao wählte Eddies Nummer. »Siehst du den Transporter?«
»Bisschen früh, um Geranien zu pflanzen.«
»Wenn Deirdre recht hatte, dann befindet sich auf der Ladefläche die Ware. Ich seh mal, dass ich ein bisschen näher rankomme.«
»Mach keinen Scheiß. Shepherd hat gerade angerufen, er rollt mit Verstärkung an.«
»Bis der hier ist, sind die über alle Berge.«
»Also soll ich runterkommen?«
»Bleib oben und sag Bescheid, wenn dir was auffällt.«
»Mach ich.«
Aufgelegt.
Sie wählte erneut seine Nummer.
»Ist was passiert?«
»Halt die Leitung offen! Oder willst du, dass sie mich umlegen, wenn sie den Vibrationsalarm hören?«
»Klar. Ich meine, nein. Mach ich. Also, du weißt schon, was ich meine.«
Sie näherte sich dem Asphaltweg. Eine der Eichen ragte genau zwischen dem Transporter und ihr empor und verdeckte das Führerhaus. Geduckt schlich Shao darauf zu und drückte sich gegen den Stamm.
»Da kommt noch einer!«
Eddie hatte den Satz kaum beendet, als Shao neben dem Grundstück auf der Bartle Avenue das Schmatzen von Reifen vernahm. Die Silhouette eines Wagens. Ein dunkelroter Maserati Quattroporte, allerdings nicht das neueste Modell. Er blieb auf Höhe des Gittertors stehen. Die Seitenscheibe wurde runtergefahren.
Sean Miller ging dem Wagen entgegen und steckte seinen Kopf durch die Beifahrertür. Einen kurzes Gespräch, dann kehrte er zum Transporter zurück.
»Was ist los? Worauf warten die?« Eddies Stimme, gefolgt von einem Knacken.
»Eddie?«
Im nächsten Moment ertönte ein Krachen und Poltern – in ihren Ohren wie im Garten der Beechams, wo das Baumhaus mit Eddie darin sich verabschiedete und in seine Einzelteile zerfiel.
»Eddie! Alles in Ordnung?«
Ein schmerzerfülltes Stöhnen im Kopfhörer. Sean Miller rief etwas in Richtung des Maserati und rannte zum Gittertor. Der Maserati raste rückwärts die Bartle Avenue hoch, Sean Miller hinterher. Der Transporter setzte sich ebenfalls in Bewegung – in die andere Richtung, aber der Fahrer schaffte es in seiner Aufregung, den Motor abzuwürgen.
Shao glitt aus der Deckung und war mit zwei Sprüngen bei der Beifahrertür. »Stehen bleiben, Polizei!«
Der Typ geriet in Panik und sprang aus dem Wagen. Hinter sich vernahm sie eine Bewegung. Eddie, der keuchend herbeistolperte.
»Tut mir leid, aber das Scheißding ist einfach unter mir zusammengebr…«
Sie warf den Kopf herum und sah den Fahrer zwischen den Sträuchern untertauchen. Unwichtig, Hauptsache, sie hatten die Ware. »Bleib hier und lass die Karre nicht aus den Augen, bis Shepherd auftaucht!«
»Was?«
Aber da war Shao schon unterwegs in Richtung Bartle Avenue, wo der Maserati in dieser Sekunde wendete und auf die Hauptstraße einbog.
Bannister führte Dr. Shirley Lancashire und ihren Begleiter durch den verfallenen Eingangsbereich der Fabrikhalle zu einem Korridor. Er endete an einer Tür zu den »Apartments«, vor der Greg und Cliff bereits Aufstellung genommen hatten.
Gewissenhaft tasteten sie zuerst Shirley Lancashire und dann ihren Begleiter nach Waffen ab, während Jack sich eine Kippe anzündete und gelangweilt auf die Glut starrte. Vor einer Woche hatte er selbst zum ersten Mal Harmony ausprobiert und verstand seitdem, was die Mädchen in Stokey so scharf darauf gemacht hatte. Das Dumme war nur, dass seine stinknormalen Kippen seitdem schmeckten, als würde er leeres Zeitungspapier rauchen.
Cliff deutete auf den Koffer. »Aufmachen.«
Der Blonde ließ die Verschlüsse aufschnappen.
Cliff warf einen Blick hinein und nickte. »In Ordnung.«
Jack Bannister drückte erleichtert die Kippe aus. »Tut mir leid wegen der Umstände, Dr. Lancashire, aber Vorschrift ist Vorschrift. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.«
Er trat in einen weiteren Korridor, der durch den ehemaligen Verwaltungstrakt des Gebäudes führte. Links und rechts zweigten jeweils ein halbes Dutzend Türen ab, die allesamt offen standen. In den Apartments dahinter hockten kraftlose, bleiche Gestalten an der Wand oder lagen auf alten, zerschlissenen Matratzen, die sich mit Pisse und Schweiß vollgesogen hatten. Irgendwo erklang ein verschleimtes Husten, und mit dem Rücken an einen Heizkörper gelehnt, setzte sich eine ausgemergelte Gestalt eine Kanüle auf die Vene.
»Das ist der reguläre Bereich«, erklärte Jack und versuchte dabei, seiner Stimme einen fröhlichen Klang zu verleihen. Herrgott, Greg und Cliff hätten wenigstens mal die Türen zumachen können. »Wir kümmern uns natürlich um alles, Essen, Trinken, Medikamente … der perfekte Room-Service in unserer hübschen kleinen Hotelanlage!«
»Wo sind die Probanden?«
»Die, äh, sind im ersten Stock, wo wir auch die Kameras angebracht haben. Ist praktisch ’ne ganz eigene Abteilung. Erste Klasse sozusagen.«
Shirley Lancashire schritt mit ihrem arroganten Lächeln an ihm vorbei zu einer offenen Fahrstuhlkabine, deren Filztapete den Geruch von Erbrochenem verströmte.
Bannister drückte auf die Taste für den ersten Stock. »Wenn der Boss mir gesagt hätte, dass Sie heute kommen, hätte ich noch mal feucht durchgewischt, ist ja klar. Aber oben ist natürlich alles tippi-toppi, so wie Sie es sich gewünscht haben.«
»Davon bin ich überzeugt, Mr. Bannister.«
»Auf den Aufnahmen sehen Sie ja selbst, dass wir alles im Griff haben. Keine Ausfälle, keine Verluste, keine Unannehmlichkeiten, alles hochprofessionell.«
»Wir machen uns gern persönlich ein Bild.«
Bannister nickte. »Das versteh ich natürlich. Klar.«
Die Fahrstuhltüren öffneten sich.
»Bitte sehr.«
Er führte sie über einen dunklen Korridor, der mit grauem Linoleum ausgelegt war, zu einer weiß lackierten Tür. Dahinter lag ein Raum mit breiten, schmutzigen Fenstern. Sie wiesen auf die Rückseite des Gebäudes, die von Brombeersträuchern überwuchert war. Das Licht einer Neonröhre riss vier Kameras aus dem Dunkel, die knapp unterhalb der Decke angebracht und auf die Rückseite des Zimmers ausgerichtet waren: auf die insgesamt sieben Betten, die Pfosten an Pfosten unterhalb der Fenster aufgestellt waren.
Darin lagen vier Männer und drei Frauen im Alter zwischen zwanzig und vierzig Jahren. Sie alle waren abgemagert und trugen abgerissene Jogginghosen und Sweatshirts, die von Schweißflecken übersät waren. Auch wenn hin und wieder ein Finger oder ein Augenlid zuckte, verweilten die Blicke doch an einem imaginären Punkt an der Decke, der außerhalb der wahrnehmbaren Welt lag.
Lancashire trat an eines der Betten und musterte den Mann darin. Er war höchstens Ende zwanzig, doch seine Haut wirkte dünn wie Pergament. Die Oberlippe hatte sich zurückgezogen und offenbarte vereinzelte dunkle Zähne, die der intensive Harmony-Konsum übrig gelassen hatte.
Jack kratzte sich im Nacken. »Wie gesagt, wir haben uns um alles gekümmert, aber das Zeug ist schon heftig, vor allem in dieser Dosierung.«
»Dauer?«
»Seit Beginn der, äh, Studie? Zwei Monate.«
Lancashire ging zum nächsten Bett. Eine Frau von achtzehn oder zwanzig Jahren mit langen, verfilzten Haaren. Ihr Shirt war hochgerutscht, so dass die Schwangerschaftsstreifen auf dem Bauch zu erkennen waren.
»Wir haben es natürlich wegmachen lassen, bevor wir angefangen haben. Aber sie war vorher schon schwach und macht’s bestimmt nicht mehr lange.«
»Wir brauchen weitere Probanden, vor allem jünger.«
»Noch jünger?«
»Der Organismus im Ausgangszustand muss stark sein, um den Verlauf bestmöglich abschätzen zu können.«
Bannister hatte ein Kratzen im Hals. »Ja. Ja, das klingt logisch.«
Lancashire deutete auf den Mann, den sie zuerst inspiziert hatte. »Den hier nehmen wir.«
Der Fahrer stellte den Koffer vor dem Bett des Mannes ab.
Mit großen Augen verfolgte Bannister, wie er ein weißes Gerät herausholte, das in Form und Größe einem Blutdruckmessgerät entsprach. Mit einer winzigen Nadel stach er dem Mann in den großen Zeh und trug den Blutstropfen auf einen Papierstreifen auf, den er in das Gerät einführte.
»Wir haben übrigens einen Hinweis erhalten, dass dieser Standort nicht mehr sicher sein könnte.«
Der Apparat gab ein Fiepen von sich, und auf dem Display tauchte eine kurze Zahlenkolonne auf.
»Wie?« Bannister riss den Kopf hoch und musterte Lancashire. »Äh, was haben Sie gerade gesagt?«
»Möglicherweise haben Sie einen Spitzel in Ihren Reihen.«
Bannister lachte hilflos. »Das ist bestimmt ein Irrtum. Aber wenn es Sie beruhigt, der Boss denkt durchaus darüber nach, den Laden … an eine andere Adresse … Hey, was zum Teufel macht er da?«
»Wir ermitteln die Thromboplastinzeit der Versuchsperson, um nachzuprüfen, ob der regelmäßige Konsum von Harmony die Blutgerinnung herabsetzt.«
Jack nickte, obgleich er nichts verstanden hatte.
Der Blonde zog den Papierstreifen heraus und zerknüllte ihn. »INR bei sieben.«
Dr. Lancashire nickte.
»Und, äh, was bedeutet das genau?«
»Dass wir jetzt noch prüfen müssen, ob die Viskosität anderer Körperflüssigkeiten ebenfalls herabgesetzt ist – was unserer Hoffnung entsprechen würde.«
Der Blonde verstaute das INR-Messgerät im Koffer und zog eine zweite, kleinere Apparatur heraus, die über einen Schlauch mit einer beinahe handlangen Kanüle verbunden war. Er zog den Probanden an den Beinen zu sich heran und drehte seinen Leib herum, so dass er mit dem Gesicht nach unten vor ihm zu liegen kam. Dann setzte er die Kanüle knapp unterhalb des Haaransatzes im Nacken auf die Haut.
Bannister fühlte, wie sich auf seiner Stirn Schweißperlen bildeten. »Also, wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich lieber draußen warten …«
»Es dauert nicht mehr lange, Mr. Bannister.«
Er nickte und blieb stehen.
Der Fahrer drückte den Kopf des Mannes nach vorn, bis die Halswirbelsäule maximal gestreckt war, suchte den Punkt zwischen dem obersten Wirbel und dem Hinterhauptbein des Schädels und setzte die Spitze der Kanüle senkrecht auf. Ein leises Kratzen, als sie über die Halswirbel schabte.
Jack kicherte. »Wollen Sie ihm das Rückenmark aussaugen, oder was?«
»Das Rückenmark befindet sich weiter unten, Mr. Bannister.«
»Ach ja. Richtig.«
Der Fahrer legte den Handballen auf das Kolbenende der Spritze – und trieb die Kanüle mit einem Ruck zwischen den beiden Knochen hindurch eine Handbreit tief ins Gehirn. Die Glieder des Probanden zuckten, und Jack starrte wie hypnotisiert auf den Hohlraum der Spritze, der sich zügig mit einem dunkelroten Gemisch aus Blut und Gehirnflüssigkeit füllte. Er sah, wie die Lider des Probanden flatterten, die Pupillen verdrehten sich, zuerst synchron, dann gingen sie ihrer eigenen Wege. Der Fahrer drückte den Kopf des Mannes in das Kissen, so dass er keine Luft mehr bekam, schraubte das Röhrchen von der Kanüle und ersetzte es durch ein zweites. Danach schob er die Kanüle noch tiefer ins Hirn, bis zum Anschlag, und zog den Kolben aus dem Röhrchen. Die Flüssigkeit, die in das Röhrchen spritze, war jetzt heller, dickflüssiger. Der Proband rührte sich nicht mehr.
»Tut das eigentlich weh?«, fragte Jack.
Dr. Lancashire hob eine Braue. »Es gibt wohl nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.«
Der Fahrer nahm auch das zweite Röhrchen ab, zog die Kanüle aus dem Schädel und verstaute die Einzelteile seiner Apparatur zusammen mit den Proben in seinem Koffer.
»Ich denke, wir nehmen zur Sicherheit noch eine weitere Probe«, sagte Lancashire und deutete auf das junge Mädchen.
Jack keuchte auf, stolperte nach draußen und lehnte sich gegen die Wand. Irgendwas in seiner Brust bäumte sich auf, und dann spritzten die Überreste der Pizza, die er sich heute Nachmittag reingeschoben hatte, über den Türrahmen.
Shao erreichte die Ecke Bartle Avenue und Central Park Road und sah den Quattroporte gerade noch an der nächsten größeren Kreuzung in östlicher Richtung auf die High Street abbiegen. Mit ein paar Sätzen war sie bei ihrem CR-Z, den sie gegenüber in der Bartle Avenue versteckt hinter einem Lieferwagen geparkt hatte. Der Motor heulte auf, als sie den Wagen aus der Parklücke bugsierte und rückwärts in Richtung Central Park Road jagte.
»KF-854 an MP. Verfolge einen Verdächtigen in East Ham, wahrscheinlich Richtung Nordosten auf der … Scheiße, verdammt nochmal!«
Ein Golf, der hinter ihr in die Einbahnstraße einbog. Der Fahrer legte im letzten Moment eine Vollbremsung hin. Shao gab ihm mit der Hand zu verstehen, dass er sich verpissen sollte, aber der Blödmann hämmerte nur wutentbrannt auf die Hupe.
Also andersrum und über die Barking. Ihr Vorteil, dass sie die Nebenstraßen hier aus ihrer Zeit am Forest Gate kannte.
Und aus der Zeit, in der sie ein paar Straßen weiter westlich zusammen mit ihrer Mutter in Canning Town gewohnt hatte – einem Menschen, an den sie seither möglichst keinen Gedanken mehr verschwendet hatte.
Sie rammte den Vorwärtsgang rein und jagte den CR-Z mit fünfzig Sachen zwischen den engen Parkreihen der Bartle Avenue entlang.
»MP an KF-854, wiederholen Sie bitte.«
Zwei Autospiegel, die nicht eingeklappt waren, flogen über den Asphalt, dann hatte sie die Barking Road erreicht und bog nach rechts ab.
Der Quattroporte war nicht zu sehen, aber Shao konnte sich nicht vorstellen, dass er auf der High Street weiter Richtung Norden durch die Tempo-20-Einkaufszone gebrettert war.
»Hier KF-854 an MP. Wo seid ihr, verdammt nochmal? Ich sagte, ich verfolge einen Verdächtigen, dunkelroter Maserati Quattroporte, 5er Modell, fährt vermutlich auf der Barking Richtung Osten.«
Der CR-Z jagte quer über die High Street und am Backsteinturm der Town Hall vorüber. Eine Kreuzung später verengte sich die Fahrbahn, doch Shao behielt das Tempo bei, bis sie hinter einer Linkskurve in dreihundert Yards Entfernung die Rücklichter des Maserati entdeckte, der gerade auf den Kreisel unter der Autobahn einbog.
»KF-854 an MP. Hab ihn. Er ist am Kreisel! Am Kreisel unter der North Circular!«
Shao erreichte den Kreisverkehr, als der Quattroporte gerade gemütlich vor der Auffahrt Richtung Norden blinkte. Sie schloss unauffällig auf – aber im letzten Augenblick überlegte der Penner es sich anders und blieb auf dem Kreisel. Der Mistkerl fuhr eine zweite Runde, und damit war klar, dass er sie entdeckt hatte. Als er die Auffahrt zum zweiten Mal erreichte, ließ er den Motor aufbrüllen, und der Quattroporte jagte wie von der Zwille geschossen die Rampe hoch.
Shao gab Gas, doch trotz des Elektroantriebs, der den Benzinmotor ihres Hybriden verstärkte, schien der CR-Z wie mit Blei gefüllt zu sein. Ihr Glück, dass oben gerade ein Lkw vorbeiraste, der den Maserati zu einer Vollbremsung zwang – zumindest bis der Fahrer erneut auf das Gaspedal tippte, links an dem Lkw vorbeischoss und sich ein paar Yards vor Ende der Auffahrt vor der Kühlerschnauze des Lasters einfädelte.
Jetzt hatte sie wenigstens schon mal das Kennzeichen – LM 62FTG –, aber sie musste warten, bis der Laster vorbei war. Zeit, sich das Blaulicht aufs Dach zu kleben. Mit aufheulender Sirene wechselte sie auf die mittlere Spur. Der Maserati war inzwischen an zwei Pkws vorüber und schob sich hinter einem Van noch weiter nach rechts, bis er freie Fahrt hatte.
»KF-854 an MP, er ist jetzt auf der North Circular Richtung Norden! Kann vielleicht mal jemand an der Ilford Road die beschissene Straße sperren? Wenn möglich, noch diese Woche!«
Das Funkgerät blieb still, und der Fahrer eines Autotransporters, der anscheinend Tomaten auf den Augen hatte, wechselte vor Shao auf die mittlere Spur. Der Van hupte und wich nach rechts aus. Shao blendete auf, aber der Fahrer des Van hatte nicht die Absicht, gegen den Lkw-Fahrer klein beizugeben. Im Schneckentempo schob er sich an dem Laster vorbei und gab endlich die Fahrbahn frei.
»Dämliches Arschloch!«
Die Straße vor ihr war jetzt komplett frei, aber der Maserati hatte fast schon eine halbe Meile Vorsprung.
»KF-854 an MP, verdammt, hört ihr mich? Ich brauche eine Straßensperrung und Verstärkung auf der North Circular Richtung Norden!«
»MP an KF-854. Verstärkung ist unterwegs.«
Wie nett, danke!
Der CR-Z fegte über die rechte Fahrbahn. Fünfzig PS Leistungssteigerung, die sie vor einem halben Jahr in Form eines Kompressors hatte einbauen lassen – aber gegen die brachiale Kraft des Ferrari-Motors, der in dem Maserati arbeitete, war das nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Allein, das Glück war ihr weiterhin hold, denn weiter vorn setzte der nächste Lkw zum Überholen an und scherte dabei so weit nach rechts aus, dass der Maserati eine Vollbremsung hinlegen musste und ins Schleudern kam. Er blendete auf, kam aber nicht vorbei, und im Nu war Shao wieder an ihm dran.
Der Wichser versuchte tatsächlich, sie abzudrängen, aber sie zog auf der linken Spur mit ihm gleich. Durch die verdunkelten Scheiben sah sie nicht mehr als die Silhouette eines Fahrers – als ihr CR-Z plötzlich nicht mehr zog. Reflexartig trat Shao das Gaspedal bis aufs Bodenblech durch, aber genauso gut hätte sie einer Schildkröte die Sporen geben können. Die Raserei hatte den Akku leergesaugt, und damit hatte der Elektromotor vorübergehend den Dienst quittiert.
Im selben Moment gab der Lkw die Bahn frei, und der Maserati schoss an der Abfahrt zur Ilford Road vorbei und verschwand in der Nacht.
»Scheiße, scheiße, scheiße, scheiße, scheiße – Mann!«
Aus dem Funkgerät quäkte die Stimme aus der Zentrale. »MP an KF-854, die Verstärkung ist gleich an der Ilford Road.«
Sie riss den Apparat aus der Halterung. »Ganz klasse, Jungs, super gemacht – vielen Dank auch!«
Jack versuchte, sich am Türrahmen festzuhalten, und glitt an der eigenen Kotze ab. Der Gang vor ihm drehte sich wie auf einem scheiß Harmony-Trip.
Einfach nur atmen.
Kügelchen in Stokey zu verticken war eine Sache, aber die Sache, die diese Lancashire und ihr blonder Adlatus da drin am Laufen hatten, war eine ganz andere Nummer. Er musste dringend mit Greg reden, vielleicht konnte der ihn aufklären, warum es keine Möglichkeit gab, den Stoff von einem anderen Lieferanten zu beziehen.
Jack schrak zusammen, als sich die Tür öffnete und Dr. Lancashire heraustrat. Der Blondschopf mit seinem Metallköfferchen folgte ihr.
»Sie können Mr. Costello ausrichten, dass der Test zu unserer Zufriedenheit ausgefallen ist.«
»Schön«, ächzte Jack. »Das heißt, die Lieferungen laufen weiter wie geplant?«
»Außerdem haben wir soeben einen Anruf erhalten. Anscheinend hat es bei der Übergabe in East Ham Probleme gegeben.«
»Probleme? Was für Probleme?«
»Aber wir stehen zu unserer Vereinbarung. Falls also nichts dazwischenkommt, erhalten Sie die nächste Lieferung in einem Monat. – Auf Wiedersehen, Mr. Bannister.«
Jack sah den beiden nach, wie sie in der Fahrstuhlkabine verschwanden. Die Türen schlossen sich, und der Lift rauschte nach unten.
»Schön«, wiederholte Jack heiser. »Das ist doch schön.«
Blaulichter zuckten über das Gittertor am Ende der Bartle Avenue. Eddie stand vor dem Transporter und versuchte, ein schlaues Gesicht zu machen, während Shepherd ein paar Uniformierte mit großer Geste antrieb, den Tatort abzusperren.
Die Beechams standen zusammen mit ein paar Nachbarn am Gitter und tuschelten.
»Entschuldigen Sie, Detective, aber was ist denn jetzt mit unserem Baumhaus?«
Shao winkte ab. »Einen Moment, Madam.«
Sie schlüpfte durch das Tor und passierte das Absperrband.
»Scheiße, da sind Sie ja, Shao«, röhrte Shepherd.
Sie war zu aufgewühlt, um sich für das höhnische Funkeln in seinen Augen zu interessieren. »Hab ihn leider verloren, Sir.«
»Verloren? Wen haben Sie verloren?«
Shao warf Eddie einen fragenden Blick zu, aber bevor er antworten konnte, legte Shepherd ihr auch schon den Arm um die Schulter und schleifte sie zur Ladefläche des Transporters.
»Scheißegal, mit wem Sie da draußen Fast & Furious gespielt haben – in der Zwischenzeit hat unser guter Eddie hier die richtige Polizeiarbeit erledigt und uns einen wahren Schatz an Land gezogen … Na, was sagen Sie dazu?«
Shao starrte auf die Ladefläche. Zwei offene schwarze Sporttaschen, in denen Hunderte grauer handgroßer Päckchen übereinandergestapelt waren.
Eins davon war aufgerissen. Es enthielt wiederum Hunderte kleiner Kügelchen, jedes sorgfältig in ein kleines Stückchen Alufolie eingeschlagen.
Harmony. Mindestens fünfzig Kilo.
Der Jackpot.
Und Eddie hatte ihn gewonnen.
10. Januar 2019, 18.02 Uhr, Rainham, London, 17 Tage nach dem Weihnachtsattentat in Creekmouth
»Diese komischen bleichen Typen, die hinter uns her sind – die sind überall!«
Dr. Tarek Kashani schloss erschöpft die Augen – und riss sie wieder auf, als er den Seat Alhambra um ein Haar in das Schild vor dem Kreisverkehr zwischen Bridge und Rainham Road gesetzt hätte. Er riss das Steuer herum, und der Van rumpelte vom Bürgersteig. Hinter ihm hupte jemand.
»Wirklich, Dad, sie sind überall, verstehst du? Ihre Gesichter sind soo … als ob sie tot wären, verstehst du? Total bleich!«
»Bleich?«
»Und sie haben überall Wunden! Sie verfolgen mich, Dad!«
Kashani quälte weniger die Frage, wovon genau Navid redete, als die Sorge, dass sein Sohn sofort auflegen würde, wenn er ihm von der neuen Studie erzählte, die er zusammen mit Dr. Jeremias Brent, dem Leiter der Rainham-Recovery-Klinik, entwickelt hatte und die morgen anlaufen würde. Natürlich waren so kurzfristig keine Plätze mehr frei, aber in Navids Fall würde Brent sicherlich ein Auge zudrücken.
»Wenn du mir nicht hilfst, bringen sie mich um! Sie töten uns alle!«
Kashanis Gedanken schweiften weiter zu seiner Frau Valerie, seiner zweiten Frau – »Neue Kinder, neuer Hund, muss man auch erst mal schaffen«, hatte Brent mit einem anerkennenden Schulterklopfer kommentiert –, und er dachte an Valeries Blick, wenn er wieder mal zu spät zum Abendessen kommen würde. Sie war ein Glücksgriff gewesen, eine seltene zweite Chance, aber Navid hatte das Potenzial, auch dieses neue Leben zunichtezumachen, für das Kashani eine Hypothek in Höhe von 400000 Pfund aufgenommen hatte.
»Hörst du mir überhaupt zu, Dad? Diese bleichen Typen, die jagen uns! Sie wollen uns verschleppen! Bei Lesley haben sie’s schon geschafft!«
»Bei wem?«
Navids Stimme erstickte in Tränen, und Tarek Kashani hasste sich dafür, dass er diese Stimme hasste. Er versuchte, es zu überspielen, sich selbst gegenüber zu leugnen, aber es war die Wahrheit. Er hasste sie, weil sie aus der Vergangenheit kam.
»… doch von ihm erzählt. Ich wollt es ja auch nicht glauben, aber jetzt ist Lesley verschwunden! Sie haben ihn weggebracht, verstehst du? Und das nächste Mal … das nächste Mal kommen sie und holen mich!«
»Hör auf, Navid.«
»Doch, sie sind …«
»Navid, hör auf, das ist Unsinn. Es gibt keine bleichen Menschen mit Wunden im Gesicht, die dich verfolgen.«
»Ich hab sie aber gesehen! Sie sind …«
»Brauchst du etwa Hilfe? Hast du darum angerufen?«
Ein Seufzen von Navid, weil sie beide wussten, dass »Hilfe« nur ein anderes Wort für »Geld« war. Gefolgt von einem zweiten Seufzen, der offenbarte, dass Navid den Faden verloren hatte. Süßes Greater H. »Gary haben sie auch schon mitgenommen!«
Kashani hielt vor der Ampel am Manor Way. Die leere Straße vor ihm glitzerte wie ein schwarzes Band, von den Lichtinseln der Laternenmasten wie mit einer Perlenkette geschmückt.
»Sie kommen immer nachts. Weil sie Angst vorm Licht haben, verstehst du? In der Nacht fühlen sie sich sicher.«
Kashani fuhr sich über die Augen. Er holte tief Luft, fasste sich ein Herz und begann zu erzählen. »Ich will dir wirklich helfen, Navid, das musst du mir glauben, und darum musst du mir jetzt ganz genau zuhören!« Er erzählte von der Studie, in deren Verlauf Harmony-Abhängige in geschlossenen Zimmern der Klinik untergebracht werden würden, tägliches medizinisches und psychologisches Monitoring, Einzelzimmer mit Chefarztvisite und zwei warme Bio-Mahlzeiten am Tag inklusive. Natürlich kostete die Teilnahme Geld, viel Geld, was die private Klinik vor der Insolvenz und Kashani vor der Aussetzung der Raten retten würde. Beim letzten Treffen mit Navid vor sechs Wochen hatte er wirklich Mühe gehabt, die Contenance zu bewahren, als der Junge ihm offenbart hatte, dass er den größten Teil der tausendzweihundert Pfund, die Kashani ihm monatlich zukommen ließ, zuletzt in kleine, braune, in Aluminiumpapier eingewickelte Kügelchen investiert hatte. Andererseits war es nur die konsequente Fortsetzung einer Karriere, die vor fünf Jahren mit Gras und dem Abziehen von Handys ihren Anfang genommen hatte. Wenn sie überhaupt je einen Anfang gehabt hatte und nicht einfach wie ein schwarzer Schwan in Dr. Tarek Kashanis Leben geplatzt war, der zuerst seine Nerven, dann seine Karriere und am Ende seine Familie zerstört hatte. Irgendwie war es fast schon komisch, dass er sein Berufsleben dem Kampf gegen die Abhängigkeit gewidmet hatte, nur um durch die Extraschichten und die Wochenendarbeit vor dem Rechner zu Hause den eigenen Sohn an die Drogen zu verlieren.
Der Fahrer hinter ihm betätigte die Lichthupe.
Kashani gab Gas. »Also, Navid. Es ist wirklich eine einmalige Gelegenheit. Wir könnten uns am Wochenende treffen und die Details besprechen.«
»Ja, Dad.« Navids Stimme klang lahm. »Ich red noch mal mit Mum drüber, wenn ich sie s…«
Noch ein Licht, diesmal von der Seite.
Kashani sah noch das hohlwangige, von grauen Haaren umrahmte Gesicht hinter der Windschutzscheibe, als der Kühler des Porsche Cayenne sich auch schon in die Beifahrertür bohrte, Kashanis Alhambra wie ein Stier auf die Hörner nahm und in Richtung der Betonbarriere der U-Bahn-Station schleuderte.
Kashani knallte mit der Schläfe gegen die Seitenscheibe, dann gegen die Nackenstütze und dann mit dem Gesicht nach vorn in den Airbag. Als er den Kopf hob, stand der Wagen quer auf der Gegenfahrbahn. Kashani fühlte sich, als hätte jemand seinen Schädel zu einem Ballon aufgeblasen. Druck von allen Seiten. Blut lief ihm aus der Nase.
Irgendwo draußen schlug dumpf eine Autotür zu. Schritte näherten sich, und der Strahl einer Taschenlampe stach ihm ins Gesicht. Kashanis Pupillen zogen sich zusammen.
»Licht aus«, röchelte eine Stimme, die so klang, wie Kashanis Schädel sich anfühlte.
Dann ein Gesicht.
Bleich.
Und voller Wunden.
Im nächsten Moment erlosch die Taschenlampe, und etwas Schwarzes kroch durch das zerstörte Fenster ins Innere des Wracks, huschte über Kashanis Gesicht und bahnte sich durch den Rachen den Weg in seinen Körper.
»Oookay, da sind wir wieder, Brüder, eure Helden Danger und Menace berichten live vom Ort des Geschehens.« – »Was denn für ein Geschehen, Danger?« – »O Mann, mach die Augen auf, Menace. Und dann sag mir, wo wir hier sind, hm? Erkennst du den Bauzaun?« – »Hm, warte mal …« – »Mach ich, Menace. Schon die ganze Zeit. Und so viele Bauzäune gibt’s nicht in London, die außerdem mit Stacheldraht gesichert sind.« – »Stimmt, Danger! Also halt mich für bekloppt, aber ich glaub, das ist der Zaun, der die letzten Tage immer im Fernsehen war – der Bauzaun in Abbey Wood!« – »Jetzt hat Menace es auch kapiert, Leute. Wir stehen hier vor dem Gelände der Lesnes-Abtei …« – »Also da, wo die Abtei mal stand, so vor tausend Jahren. Jetzt gibt’s hier nur noch ein paar Ruinen, ein paar Mauerreste und so, einfach mal Google Earth klicken und checken.« – »Aber selbst von diesen Mauerresten sieht man jetzt nichts mehr, weil das ganze Gelände fett abgesperrt ist. Halt mal drauf, Menace. Auf die Einfahrt da.« – »Yo, mach ich. Da sind ein paar uniformierte Typen, sieht fast aus wie Polizei.« – »Security. Also Sicherheitsleute und so.« – »Und was sichern die?« – »Gute Frage. Im Moment wissen wir nur, dass hier ’ne Schießerei stattgefunden hat. Wann war die noch genau?« – »Was für ’ne Schießerei?« – »Menace …« – »Ach, die Schießerei! In der Nacht, glaub ich.« – »Ja, aber in welcher Nacht? Ich glaub, das war … Moment, hab’s gleich … Das war die Nacht vom 5. auf den 6. Januar, also heute vor genau drei Tagen!« – »Da ist auch ’n Hubschrauber explodiert, hast du das mitgekriegt? Krass, Mann, auf den Bildern sah das aus wie …« – »Sag mal, dann ist das doch ein Tatort, und dann müssten hier überall diese gelb-schwarzen Bänder rumflattern, du weißt schon, die, zwischen denen dann Leute in weißen Anzügen und so …« – »Richtig, Danger, aber nix da, keine Bänder. Nur dieser Bauzaun mit dem Stacheldraht und den Kameras, und keiner weiß, was dahinter ist.« – »Aaaa, fast keiner! Ich hab mir die Sache natürlich mal angesehen.« – »Echt jetzt?« – »Bin auf einen der Bäume rauf, fast bis nach oben auf die Spitze …« – »Krone heißt das.« – »… und dann bin ich auf einen Ast, der so rüber ist, über den Stacheldraht …« – »Das ist echt krank, Mann!« – »… und was ich da gesehen hab, das seht ihr jetzt! Film ab!« – »Mhmm, ziemlich dunkel alles.« – »Da drüben, bei der Lodge, siehst du das?« – »Lodge-was?« – »Lodge. L-o-dsch, Mann, googlen hilft. Da ist ein Café drin und so, und du kannst Souvenirs kaufen. Vielleicht Goldkettchen mit Anhängern von der Abtei und so.« – »Goldkettchen? Glaub ich nicht.« – »Und drum herum sind die Container aufgebaut. Also Wohncontainer, mein ich, so Dinger wie auf dem Bau halt.« – »Also bauen die irgendwas hier?« – »Ansonsten sieht man nur die Mauerruinen, wie früher … da … und da … ja, und dann …« – »Oops, was ist das denn?« – »Tja, da bin ich leider vom Baum gekracht.« – »Was???« – »Der Ast halt.« – »Alter …« – »Aber nicht nur der Ast war morsch, sondern auch das Laub abgefault, und auf dem Boden, da war das Gras total vertrocknet. Ich glaub, das kommt von dem Strom.« – »Strom? Was für Strom?« – »Der Stacheldraht ist unter Strom gesetzt.« – »Was???« – »Das hat überall rot geleuchtet, das muss Strom sein! Und der Elektrosmog hat dann die Blätter braun werden lassen. Ist doch ganz logisch.« – »Ähh ja! Also wie auch immer, wir halten euch auf dem Laufenden, jedenfalls wenn Danger es nächstes Mal schafft, auf dem Baum sitzen zu bleiben, den er hochgeklettert ist. Ansonsten gehabt euch wohl, ihr Psycho-Bros da draußen …« – »… und nicht vergessen …« – »… Danger und Menace freuen sich wie immer über jeden Kommentar!«
In der Finsternis wühlte der Bohrer.
John Sinclair stellte sich vor, dass es ein Bohrer war, der dieses tieffrequente, gleichförmige Wummern verursachte, indem er sich tief in der Erde durch wechselnde Gesteinsschichten grub.
Sogar der Boden unter seinen Füßen bebte.
Er bestand aus einem Gitter, das rechts und links von einem hüfthohen Geländer begrenzt wurde. Es schützte Sinclair davor hinabzustürzen, auf eine tiefere Ebene der Metallkonstruktion, die wie die Spitze einer versunkenen Bohrinsel aus der schwarzen Flut ragte. Über hundert Yards unter ihm spiegelten sich Lichtreflexe ohne Ursprung auf der Oberfläche einer schimmernden Flüssigkeit. Aus der finsteren Substanz, die viskoser und zähflüssiger schien als Wasser, ragten Quader, paarweise nebeneinander angeordnet, haushohen Grabsteinen gleich, aus der Flut. Der Blick in die Tiefe ließ ihn schwindeln. Er kämpfte um sein Gleichgewicht, unbeholfen, wie betäubt von den hellen, singenden Lauten, die in seinen Ohren klirrten.
Eine Stimme?
Worte? In welcher Sprache?
In dem Versuch, den Halt zurückzugewinnen, schlug er mit der Hand gegen das Geländer. Er wollte zugreifen, aber als hätten der Schwindel und die klirrende Stimme sein Nervensystem in Brand gesetzt, reagierten die Muskeln falsch, und er packte erst zu, als es zu spät war.
Für eine Sekunde schwebte er über dem Abgrund, über der tiefschwarzen, öligen, leimartigen, alles verschlingenden Substanz.
Dann …
»Detective Sinclair? Sie müssen sich schon ein wenig konzentrieren.«
Das Leder des Sessels knarzte, als er den Rücken durchdrückte. Mit einem Nicken signalisierte er seinem Gegenüber, dass er voll bei der Sache war.
»Natürlich, Doc.«
Campbell warf ihm über die schwarzen Hornränder ihrer Brille hinweg einen Blick zu, der ihn früher vielleicht sogar interessiert hätte. Jetzt war in seinem Kopf nur noch
das Wummern der Maschinen
das nüchterne Bild von Dr. Zelma Campbell – brünettes, schulterlanges Haar, braune Augen, perfekt sitzendes anthrazitfarbenes Kostüm –, die mitsamt dem Schreibtisch und dem Zimmer, in dem sie saß, einer Welt angehörte, die Sinclair vor drei Tagen, mit seinem Erwachen neben dem Würfel unterhalb der Abteiwiese von Abbey Wood, auf einen Schlag fremd geworden war.
Campbell blätterte in seiner Akte, als müsste sie sich noch einmal vergewissern, wer da eigentlich vor ihr saß, und tippte sich mit dem Bleistift gegen ihre Wange. »Sie sind nicht verheiratet. Sie leben allein, ohne Partner. Verstehen Sie, worauf ich hinauswill, Mr. Sinclair?«
Er sah aus dem Fenster. Vor dem Balkon des Sprechzimmers streckte eine Kiefer ihre Krone in den postkartenblauen Himmel. In den leeren Balkonkästen sammelten sich Nadeln, genauso wie auf den moosüberwucherten Fliesen. Campbell hatte jedenfalls keinen grünen Daumen. Die einzige Pflanze im Zimmer war ein Weihnachtsstern auf dem Schreibtisch, der im Verlauf der Sitzung schon zwei Blätter verloren hatte.
Natürlich wusste er, worauf sie hinauswollte.
»Ich frage mich, ob es eine Person gibt, eine vertraute Person, mit der Sie über die Ereignisse sprechen können.«
Wohl kaum, was den schlichten Grund hatte, dass es nichts gab, worüber er hätte sprechen können. Weil er sich nicht daran erinnerte, was während der zwei Wochen vor seinem Auffinden geschehen war. Er hob die Schultern. »Keine Ahnung. Powell vielleicht.«
»Ihr Chef?«
Sinclair fand, dass Powell mehr als ausreichend war. Ansonsten war da bis vor kurzem noch Zuko gewesen.
»Was ist mit Ihrer neuen Partnerin – Miss Shao? Sind Sie wütend auf sie?«
Er konnte Campbell nicht folgen.
»Sie hat Ihren Posten eingenommen, sie war in die Ereignisse involviert, und statt Zuko zu retten, hat sie am Ende Sie gerettet. Eine falsche Entscheidung?«
Er musste zugeben, dass er darüber noch nicht nachgedacht hatte. Aber Selbsthass war sowieso keine Lösung. Vielmehr musste er herausfinden, was es mit den riesigen Steinquadern auf sich hatte. Falls er wirklich dort gewesen war, auf dem Metallgang, in der Finsternis. Falls die Erinnerungslücke nicht nur das irrlichternde Produkt einiger Nervenzellen darstellte, denen ihr Job in seinem Hippocampus zu langweilig geworden war.
»Mr. Sinclair?«
Er seufzte. »Ich glaube nicht, dass Detective Shao eine Wahl hatte.«
Die Zeiger der Uhr, die wie eine Krone hinter Campbell an der Wand hing, standen auf Viertel vor elf. In fünfzehn Minuten begann die Anhörung. Hammerstead hatte sich angekündigt, außerdem der Deputy Commissioner, der unbedingt ein Opfer servieren musste, um der Presse den Schlamassel in Abbey Wood zu erklären. Sie würden Shao in den Backofen schieben, lebendig begraben in einem Römertopf, mit einem Apfel im Maul.
Campbell legte den Bleistift auf den Tisch und gleich danach ihre Brille. Distanz abbauen. »Diese Sitzungen können nur erfolgreich sein, wenn Sie aufrichtig sind. Sie müssen sich selbst gegenüber aufrichtig sein.« Sie betonte die drei Worte, als würde sie sich mit einem Vollidioten unterhalten. »Nehmen Sie die Gefühle an, die Sie empfinden.«
Der Tipp wäre gar nicht mal so schlecht gewesen, falls neben der Verwirrung in seinem Kopf noch Platz gewesen wäre für so etwas wie Gefühle. Für Empfindungen. Aber alles wurde beherrscht von der Erinnerung an die Riesenquader in der öligen Substanz und an die klirrende Stimme. Und dann das Erwachen: neben dem Würfel und in Gegenwart des nackten Jungen. Neben Shao, die ihn aus der Abtei nach draußen geführt hatte. Teilnahmslos verfolgte er, wie Campbell die Brille wieder aufsetzte.
»Vielleicht kommen wir besser voran, wenn wir die Ereignisse Stück für Stück rekonstruieren. Beginnen wir in dem Moment, als Sie die Baltimore betreten haben. Laut Protokoll haben Sie ausgesagt, es waren vier Leute bei dem Lkw, der am Anleger stand. Zwei von ihnen sind im Feuer der Maschinenpistolen umgekommen, einer ist geflüchtet.«
»Der Letzte ist auch abgehauen. Nachdem ich ihm seine Waffen abgenommen hatte.«
»Außerdem waren da noch Police Constable Linus Finneran und einer der Männer auf dem Schiff, die beide von einem weiteren Mann an Deck erschossen wurden. Die letzten beiden Männer, der Täter und eines der Opfer, zählte Ihren Worten nach zu … zu einer Art Security-Einheit.« Sie machte eine Pause und wartete auf seine Reaktion. Er wartete auf ihre Frage. »Warum, glauben Sie, hat der Täter neben Constable Finneran auch seinen eigenen Kollegen hingerichtet?«
Er hob die Schultern, weil er es nicht wusste.
»Haben Sie deswegen das Schiff betreten? Um eine Antwort zu erhalten?«
»Ich hab das Schiff betreten, um den Mörder festzunehmen.«
»Obwohl Sie damit rechnen mussten, dass sich unter Deck weitere Männer befanden? Weshalb haben Sie keine Verstärkung gerufen?«
Weil sich sein Handy in seiner Jacke am anderen Ufer des Roding befunden hatte und weil das Handy, das der Typ am Lkw dabeihatte, im Wasser gelandet war, bevor der Typ abgehauen war. Genau das sagte er Campbell und sah zu, wie ihr Stift über das Papier schrammte. Vielleicht war Shao mit Hammerstead und dem Deputy Commissioner doch nicht so schlecht dran.
»Sie sind also auf das Schiff. Und unter Deck.«
Er nickte.
»Dann haben Sie die Leichen im Maschinenraum gesehen. Und in den Labors.«
»Ich weiß nicht, ob das Labors waren. Die Leute sahen wie Techniker aus, und die Geräte, die sie bei sich trugen, gaben Geräusche von sich. Wie Geigerzähler.«
»Waren es Geigerzähler?«
»Ich hatte keine Zeit, mich zu vergewissern.«
»Weil Sie dem Security-Mann gefolgt sind, der offenbar noch mehr seiner eigenen Leute getötet hat und dann im Frachtraum die Waffe auf die Anführerin und ihren Komplizen gerichtet hat.«
Wieder nickte er.
»Was war noch in dem Frachtraum?«
Da war nur der Würfel gewesen. Der Würfel unter der Plane, die Sinclair aufgeschlitzt hatte, nachdem der Amokläufer geflohen war und die Frau und der Mann sich an seine Fersen geheftet hatten.
»Beschreiben Sie mir den Würfel.«
Sinclair beschrieb ihn. Die Kantenlänge, das obsidianähnliche Material, aus dem er gefertigt war, die seltsamen Zeichen und Linien auf den Oberflächen.
Dieselben Symbole wie auf den Steinquadern.
»Kannten Sie die Zeichen irgendwoher? Haben Sie sie früher schon einmal irgendwo gesehen oder vielleicht danach?«
»Nein, nie.«
»Was haben Sie dann getan?«
Als er nicht sofort antwortete, hob Dr. Campbell den Stift und blickte ihn an. Das perfekte Stillleben. Bis der Weihnachtsstern das dritte Blatt verlor.
»Ich hab ihn berührt.«
»Den Würfel?«
Er nickte.
»Was ist dann passiert? Nachdem Sie ihn berührt haben.«
»Dann …«
Dann bin ich auf einmal drin gewesen. In der Schwärze.
Er hob wieder die Schultern. »Ich weiß nicht, was dann passiert ist.«
»Guten Morgen, Salome.«
Schwester Salome Adhout musterte Kashani überrascht, als er gegen kurz vor elf das Schwesternzimmer von Station D betrat.
»Guten Morgen, Dr. Kashani.«
Ihr Blick blieb an seiner linken Wange hängen. Offenbar eine Schramme, die er beim Überschminken nicht bemerkt hatte. Er würde den Fehler so bald wie möglich korrigieren.
»Wie geht es dem Patienten in Zimmer 17?«
Seine Absicht, Salome zu überrumpeln und damit von ihrem Gedanken abzubringen, ging auf.
»Ja, also … der Patient in Zimmer 17 … Offenbar wurde er erst heute Nacht aufgenommen und … Woher wissen Sie eigentlich davon?«
»Wenn Sie mir bitte die Akte heraussuchen würden.«
»Natürlich. Sofort, Dr. Kashani.« Sie tastete über den Aktenstapel auf dem Schreibtisch. »Hier, bitte. Die Akte hat übrigens einen roten Aufkleber.«
Ein roter Aufkleber bedeutete, dass nur ein ausgewählter Kreis des Pflegepersonals die Identität des Patienten kannte. Eine sehr effektive Kennzeichnung, die Brent und er vor Jahren zum Schutz prominenter Patienten eingeführt hatten.
»Hier steht, der Patient hat seine Medikamente nur unter Protest eingenommen. Und dass er unbedingt seine Frau anrufen will.«
»Ich kümmere mich darum. Danke, Salome.« Er streckte die Hand aus, und Adhout legte mechanisch die Akte hinein. »Sagen Sie bitte Dr. Palmer und Dr. Larkin, dass ich sie in einer Viertelstunde sprechen möchte. Ich erwarte sie im Erdgeschoss, vor den Räumen von Phil Mulligan.«
»Vor den Räumen von Phil Mulligan?«
Aber da hatte Kashani das Schwesternzimmer bereits wieder verlassen und näherte sich der Tür von Zimmer 17, die am Ende des Korridors lag, wo hinter einer Zwischentür Station E begann. Das letzte Zimmer von Station D war ein Eckzimmer mit Aussicht auf den Rasen hinter dem Gebäude und auf die Marschwiesen, die sich dahinter bis zum Themseufer erstreckten. Der metallene Türgriff fühlte sich so kalt an wie immer, nur dass die Kälte Kashani jetzt keine Gänsehaut mehr verursachte.
Der Patient lag mit dem Gesicht zur Wand in seinem zerwühlten Bett. Seine Haare standen strohig vom Kopf ab. Kashani drehte ihn unsanft auf den Rücken und leuchtete ihm in die geweiteten Pupillen.
»… willfmmeine … ffrau …schbrechn …«
Kashani präsentierte ein über zwanzig Dienstjahre einstudiertes Lächeln, das weder seine Augen noch sein Inneres erreichte. »Jetzt werden wir Sie erst einmal auf Zimmer 7 verlegen. Der Ausblick dort ist fast so schön wie hier, und wir haben Sie damit ein wenig näher am Geschehen – so, wie Sie es lieben, nicht wahr, Mr. Conolly?«
Eine Viertelstunde später schob Kashani das Faltgitter des Aufzugs zur Seite und ließ Dr. Ellen Palmer und Dr. Gerald Larkin den Vortritt. Bestürzt ließ Palmer den Blick über die von Schimmelflecken überwucherten Kacheln gleiten, während Larkin selbst hier, im trüben Zwielicht der rostigen Emaille-Lampenschirme, wirkte wie ein sorgloser Junge, der sich gleich in seinem Cabrio auf den Weg zum Tennisplatz machte.
»Was zum Teufel machen wir hier?«
»Eine hübsche Überraschung jedenfalls.« Larkin nickte grinsend. »Ich wusste nicht mal, dass es diese Etage überhaupt gibt.«
»Folgen Sie mir bitte.«
Kashani führte sie über einen Korridor, der sich an den Raum vor dem Aufzug anschloss. Palmer folgte ihm wie immer mürrisch und ungeduldig, während Larkin die alten Türen rechts und links des Ganges neugierig betrachtete. Seit Jahren ergänzten sich ihre gegensätzlichen Charaktere zum Vorzug des Rainham Recovery Hospital. Während Palmer zusammen mit Kashani die Entwicklung neuer Therapieprogramme vorantrieb, posierte Larkin als Posterboy für den zahlungskräftigeren Teil der Kundschaft, der neben einer erfolgreichen Therapie stets auch eine Geschichte sowie eine angemessene persönliche Behandlung erwartete. Mochte sich Dr. Brent mit »seinem« RRH während der vergangenen Jahrzehnte auch einen exzellenten Ruf erarbeitet haben, so blätterte in einigen Zimmern inzwischen buchstäblich der Putz von den Wänden. Spätestens wenn Brent in zwei Jahren in den Ruhestand ging, würde die Privatklinik nicht mehr allein von der Vergangenheit leben können. Kashani und Palmer hatten während der vergangenen Jahre fast jeden Abend und jedes Wochenende geopfert, um auf diesen Tag vorbereitet zu sein. Eine Arbeit, die mit dem Vorfall von letzter Nacht obsolet geworden war. Kashani verspürte keinen Verdruss deswegen, sondern nahm die Tatsache gleichgültig hin, so wie er auch sonst keinen einzigen Gedanken mehr an sein bisheriges Leben verschwendete, das von einem Augenblick zum anderen unwichtig geworden war.
Sie hatten inzwischen ein Dutzend Türen passiert, und der von trüben Glühbirnen beleuchtete Gang vor ihnen schien mit jedem Schritt kälter und finsterer zu werden.
»Ich hoffe sehr, diese Sache führt zu etwas«, bemerkte Palmer mürrisch. »In einer Viertelstunde beginnt meine Visite.«
Larkin zwinkerte ihr zu. »Machen Sie es wie ich und erzählen Sie den Patienten, was sie hören wollen. Dann sind Sie auf jeden Fall schneller fertig.«
Palmer würdigte ihn keiner Antwort.
»Ich zeige Ihnen diese Etage aus einem bestimmten Grund. Wenn die neue Studie beginnt, werden wir weitere Patientenzimmer brauchen. Ich glaube, dies wäre der richtige Platz dafür.«
Palmer stieß hörbar die Luft aus. »Ihr Ernst, Tarek? Wir brauchen Monate, um aus dieser Etage eine vorzeigbare Station zu machen. Von den Kosten für den Umbau ganz zu schweigen.«
Larkin zeigte zwei Reihen perlweißer Zähne. »Ich dachte, bei der neuen Studie geht es um diese neue synthetische Droge, dieses Harmony. Wer das Zeug lange genug nimmt, kriegt von seiner Umgebung sowieso nichts mehr mit.«
Palmer quittierte seinen Kommentar mit einem verächtlichen Schnauben.
»Die nächste Tür ist es. Ich habe dahinter etwas vorbereitet, das Sie beide auf der Stelle überzeugen wird.«
»Und das muss unbedingt jetzt sein?«
»Keine Sorge, Ellen. In zehn Minuten sind Sie wieder bei Ihren Patienten.«
Kashani blieb vor der Tür stehen. Larkin sah ihm neugierig zu, wie er den Schlüssel ins Schloss schob. Die Scharniere heulten auf, als er die Tür öffnete. Das Zimmer dahinter lag im Dunkeln.
»Bitte sehr.«
Der Geruch von Schimmelsporen verstärkte sich. Ellen Palmer trat als Erste ein und drückte auf den Lichtschalter. Nichts geschah. Larkin strich mit den Fingern über die schwarzen Flechten an Decke und Wänden, die in ihrer Ausbreitung und Struktur an ein Geflecht von … Adern erinnerten.
»Was zum Geier ist das?«, murmelte Larkin.
Ellen Palmer ließ einen mürrischen Laut hören. »Kann vielleicht mal jemand Licht machen?«
Larkin keuchte auf und sprang zur Seite.
»Oh, Vorsicht«, sagte Kashani. »Durch den Schimmel könnte es hier und da etwas glitschig sein.«
»Ich bin nicht ausgerutscht!«, keuchte Larkin. »Das war der Boden. Er war auf einmal weich wie …«
Palmer, die sonst nie um eine gehässige Antwort verlegen war, drehte sich einmal im Kreis, in dem hilflosen Versuch, in dem schmalen Lichtstreifen, der vom Korridor hereindrang, mehr von ihrer Umgebung zu erkennen. Larkin zitterte und rieb sich die Arme, als ob sich die Temperatur um sie herum auf einmal dem Gefrierpunkt näherte.
Kashani schloss die Tür.
Vor einem Moment zum anderen standen sie in tiefer Finsternis.
»Was soll das?«, flüsterte Palmer. »Machen Sie sofort die Tür wieder auf!«
Larkin schluckte. »Ich muss auch sagen, Tarek, so langsam schulden Sie uns eine Erklärung.«
Aber Kashani schuldete ihnen gar nichts mehr.
Aus der Finsternis hinter ihnen zuckten zwei dunkle Schwaden auf Ellen Palmer und Gerald Larkin zu, die beide vor Schreck den Mund aufrissen.
Die Nebelschwaden nahmen die Einladung an.
Shao musste die Augen gegen die tiefstehende Sonne abschirmen, um die beiden Plastikstühle in der Mitte des Konferenzraums zu erkennen – der Grillrost, als den Powell sie in seiner unnachahmlichen Art bezeichnet hatte. Heimspiel im dritten Stock der Forest Gate Police Station –, aber vielleicht hatte Staatssekretär Hammerstead aus genau diesem Grund diesen Schauplatz gewählt. Damit Shao sich in falscher Sicherheit wiegte.
Powell mit seinen ausgreifenden Schritten erreichte die beiden Stühle als Erster. Graues Haar, grauer Anzug wie immer, nur der Hemdkragen zur Feier des Tages gesteift und in der Brusttasche eine zerknitterte Packung Chesterfield für den Notfall: ein fünfeinhalb Fuß hoher lebender Schutzschild für Shao, den Hammerstead erst mal sturmreif schießen musste.
Sie nahm Platz, wobei ihr ein stechender Schmerz durch die Schulter schoss – an der Stelle, an der Vincent Costigans Kugel ihrer Schutzweste einen Huftritt verpasst hatte –, und musterte das Tribunal, das sich auf der Fensterseite im Gegenlicht nur schattenhaft abzeichnete.
Hammerstead saß in der Mitte, der Rumpf schlaff und untersetzt, was ihn auf den ersten Blick einfältig wirken ließ. In seinen Augen lag allerdings jener raubtierhafte Blick, den Shao aus den Pressekonferenzen kannte.
Mit seinen fleischigen Fingern drückte er auf die Taste einer Fernbedienung vor sich auf dem Tisch. Die Rollläden an den Fenstern in seinem Rücken glitten herab und stoppten auf halber Höhe, so dass Shao jetzt auch seine beiden Sitznachbarn betrachten konnte. Der Typ links trug eine altmodische Nickelbrille und auf den Epauletten ein verschränktes Zepter vor dem Lorbeerblatt, das Abzeichen für »Commander«, der rechts zusätzlich, unter der Krone, in doppelter Ausfertigung das Tria Juncta In Uno, Drei Vereint In Einem. Voller Christbaumputz also.
Dabei überraschte es sie durchaus, dass es auch den Deputy Commissioner hierher verschlagen hatte. Eher hätte sie mit ihrem Erzfeind Detective Superintendent Shepherd aus dem Drogendezernat gerechnet, mit Popcorn und Tacos in der ersten Reihe, um zu genießen, wie sie aufgrund einer windig begründeten Dienstenthebung ihre Pensionsansprüche verlor.
Abschließend, ganz rechts, durch die Videokamera mit Stativ vom Triumvirat abgetrennt, die Schriftführerin: eine magere Frau Anfang vierzig, mit blondem Pony und Lidschatten, den Blick verbissen auf den Laptop vor sich gerichtet.
Ein Wink an den Techniker hinter der Kamera, und Hammerstead setzte zur Begrüßung an. »Willkommen, Detective Constable … Sadako Shao …« Das Arschgesicht musste wahrhaftig in die Akte vor sich auf dem Tisch linsen, um ihren Namen richtig auszusprechen. »… Dienstnummer KF-854, zur Anhörung im internen Ermittlungsverfahren im Fall Baltimore. Anwesend sind Deputy Commissioner Ryan Goodspeed, Commander Samuel Dayton, Staatssekretär des Inneren Paul Fitzgerald Hammerstead sowie die Schriftführende. Ebenfalls zugegen neben der Befragten Detective Constable Shao ist Detective Superintendent James Powell, Leiter des Murder Investigation Team am Forest Gate und verantwortlicher Ermittler im Fall Baltimore.« Hammerstead hob den Kopf und blickte ihr zum ersten Mal in die Augen. »Als Beamter der formal übergeordneten Instanz, des Innenministeriums, werde ich die Befragung leiten. Sind Sie einverstanden und bereit, Detective Shao?«
Aber so was von, schon seit Tagen.
»Ja, Mr. Secretary.«
Er lehnte sich zufrieden zurück. »Nun, wie Sie wissen, geht es um die fragliche Nacht, die mit dem Absturz des Hubschraubers und dem Feuergefecht zwischen den Ruinen der Lesnes-Abtei endete. Beginnen wir allerdings mit der Ankunft von Detective Sergeant Zuko Gan und Ihnen einige Stunden vorher im Lund Point Tower.« Hammerstead öffnete demonstrativ die Akte und klopfte sich nachdenklich gegen die Vorderzähne, was eine beknackte Marotte von ihm war. »Aus welchem Grund haben Sie den Tower aufgesucht?«
»Weil wir dort ein Drogenquartier vermutet haben.«
»Welche Grundlage gab es für diese Vermutung?«
»Wir hatten schon länger danach gesucht, weil wir Hinweise hatten, dass der Mörder von Livia Parson und Gregory Turbin ebenfalls dorthin wollte. Also, in das Quartier. An dem Abend hatten wir außerdem Vincent Costigan festgenommen, den Mörder von George Dixon …«
»Den mutmaßlichen Mörder von Detective Sergeant George Dixon, Detective.«
»… den definitiven Mörder von George Dixon, und wir hatten Hinweise darauf, dass die Morde mit der Explosion auf der Baltimore in Verbindung standen. Das Verhör von Costigan brachte uns nicht weiter, wir mussten ihn gehen lassen, und am Ende kam der Tipp, wo wir die Drogenhöhle finden konnten, von Quincy Hobart, einem Immobilienmakler, Schrägstrich, Bindestrich, Verwalter, der für Logan Costello arbeitet.«
»Logan Costello?« Hammerstead war wie ein Felsen, der ihre Worte als Echo zurückwarf.
»Smack und Charly, aber auch Greater H. Zuletzt fast nur noch Greater H, als hätte er dafür ’ne Art Exklusivlizenz erworben.« Sie bemerkte das Stirnrunzeln, das sich auf das Gesicht des Deputy Commissioners schlich, und schob hinterher: »Koks, Heroin und Harmony. Harmony ist eine synthetisch hergestellte Droge, die sich während des letzten Jahres in der Stadt ausgebreitet hat. Logan Costello investiert außerdem in Mädchenhandel und Prostitution. Vermutlich auch Mord. Fragen Sie Shepherd vom Drug Squad, falls Ihnen der Name unbekannt ist.«
Das Stirnrunzeln vertiefte sich, und Powell rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her.
Reiß dich am Riemen, Shao.
»Gut, gut«, befand Hammerstead und klopfte sich wieder gegen die Zähne. »Lassen wir die Frage, wie eng die Verbindungen zum Fall Baltimore wirklich waren, erst einmal außen vor, und konzentrieren wir uns stattdessen auf die Situation, die Sie im Tower vorgefunden haben.«
»Wir fanden Leichenteile. Arme, Beine, und zwar jede Menge davon. Sie waren in Kokons eingesponnen.«
Natürlich hatten alle drei da vorn im Vorfeld ihre Aussage gelesen, trotzdem ruckten Deputy Commissioner Goodspeed und der Commander, dessen Name Shao vergessen hatte, hoch und schienen auf einmal hellwach zu sein.
»Aber keine Rümpfe und keine Köpfe«, präzisierte sie. »Wir schlossen daraus, dass der … also, der Mörder, dass er die Rümpfe und Köpfe weggeschleppt hat. Die Spuren führten in den Keller und weiter in die Kanalisation.«