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Beschreibung

Nicht erst seit dem Überfall der Hamas auf Israel sind antisemitische Hetze und Vorurteile sowie antisemitisch grundierte Positionen in Deutschland wieder salonfähig geworden. Dieser Band versammelt rund 80 Satiren, Essays, Gedichte, Geschichten und Cartoons gegen den Hass. Wenn sich die Menschheit schon auf sonst nichts einigen kann, so doch jederzeit darauf, dass an allem immer die Juden schuld sind, selbst am 7. Oktober 2023. Linke und Rechte, Migrationshintergründler und Kartoffeln, Islamisten und Queere, Neonazis, Berufszonis und Dekolonialist*innen stimmen in den schrägen Gesang mit ein. Doch solche Misstöne bleiben nicht unwidersprochen! Dank einer großzügigen Spende der Weisen von Zion und der Bill-Gates-Foundation haben sich die scharfsinnigsten und komischsten unter den jüdischen und nicht-jüdischen Autor*innen versammelt, um dem neuen und alten Antisemitismus die Stirn zu bieten. Denn gegen den Hass hilft Lachen, und sei es auch manchmal ein bitteres. Mit Texten und Cartoons von Ahne, Katja Berlin, Bov Bjerg, Franz Dobler, Danny Dziuk, Hartmut El Kurdi, Alexander Estis, Flix, Katharina Greve, Thomas Gsella, Hauck & Bauer, André Herzberg, Dmitrij Kapitelman, Charles Lewinsky, Julia Mateus, Til Mette, Susanne M. Riedel, Stefanie Sargnagel, Dana von Suffrin, Peter Wawerzinek, Bodo Wartke, Ella Carina Werner und vielen anderen.

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Seitenzahl: 349

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Lea Streisand, Michael Bittner, Heiko Werning(Hrsg.)

SIND ANTISEMITISTEN ANWESEND?

Satiren, Geschichten und Cartoons gegen Judenhass

E-Book-Ausgabe September 2024

© Satyr Verlag Volker Surmann, Berlin 2024

www.satyr-verlag.de

Cover: Elias Hauck

Korrektorat: Matthias Höhne

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über: http://dnb.d-nb.de

Die Marke »Satyr Verlag« ist eingetragen auf den Verlagsgründer Peter Maassen.

ISBN: 978-3-910775-19-0

Inhalt

Vorwort der Herausgebenden

Rattelschneck

I. Worte finden

Lea Streisand: Sind hier Antisemitisten?

Flix

Erica Zingher: Backen gegen Terror

Dmitrij Kapitelman: Sonnenallee

Franz Dobler: Gegen Hass nicht mehr drin

Jess Jochimsen: Worte finden

Leo Riegel

Stefan Gärtner: Im Kontext

Til Mette

II. Keine Antisemiten, nirgends

Hartmut El Kurdi: Keine Antisemiten, nirgends

Bettina Schipping

Thomas Gsella: Wie wird man Judenhasser*in?

Richard Schuberth: Wie sich der verkappte Antisemit von heute die Antisemitismuskeule verbittet

Charles Lewinsky: Das wird man ja wohl noch sagen dürfen

Leo Riegel

Fritz Eckenga: Antisemit???

III. Wieso nur immer Israel?

Dana von Suffrin: Tochter Zion

Danny Dziuk: Wieso nur immer Israel?

Leo Fischer: Immer Ärger mit Maturien

Jan Feddersen: Israel? Twelve points!

Hauck & Bauer

Christian Kreis: Hamaskritik

Elke Wittich: Berlin, 12. Oktober 2035

IV. Sie sind gescheitert, lasst uns essen

Alexander Estis: Jüdisches Leben

Teresa Habild

Annika Blanke: Vielleicht. Oder: Mutmaßungen über eine damalige Zukunft

André Herzberg: Sie sind gescheitert, lasst uns essen

Franziska Hauser: Empfang von 1 Judenstern

Miriam Wurster

Ramona Ambs: Antisemitenaufnahmestopp­einbürgerungstestfragen­kompetenzen

Dana von Suffrin: Die Gouvernante der Nation

V. Kristall

Katja Berlin

Susanne M. Riedel: Kristall

Andreas »Spider« Krenzke: Erinnerungen an den Antifaschismus

Bettina Schipping

Olaf Guercke: Hinterlist

Volker Surmann: Meine betuchte Jugend

Fabian Lichter: In Hass vereint

Mark-Stefan Tietze: »Wer sowas macht, ist kein Mensch.« – ZDF-heute-Follower kommentieren einen tragischen Vorfall: eine explorative Studie

Samy Challah

Roman Israel: Schleifen

Katharina Greve

Michael Ringel: Bombe aus Beirut

VI. Es gibt zu viele Juden

Mareike Barmeyer: Zwei Tassen im Schrank

Ruth Hebler

Harriet Wolff: Hitler zur Abwechslung

Peter Wawerzinek: Nieder mit den Großbuchstaben und Symbolzahlen

Rattelschneck

Tim Wolff: Es gibt zu viele Juden

Benjamin Weissinger: Das ist meine Meinung und die lasse ich mir auch nicht nehmen

Teresa Habild

VII. Bei meinem Libanesen

Bov Bjerg: Sonnenallee, 7. Oktober

Andreas »Spider« Krenzke: Originelle Portemonnaies

Heiko Werning: Bei meinem Libanesen

Michael Bittner: »Wir sind völlig normal«

Klaus Stuttmann

Julia Mateus: Gleich und gleich radikalisiert sich gern

VIII. Ein Regenbogen für Palästina

Clint Lukas: Aufstieg und Fall eines Stadtmagazins

Stefanie Sargnagel

Jessica Ramczik: FUCK HAMAS

Danny Dziuk & Wiglaf Droste: Sie stellen keine Juden wie Jesus heut mehr her

Til Mette

Christian Bartel: Ein bunter Haufen Hass

Markus Liske: Im Gehirn von Judith Butler (eine gescheiterte Satire)

Uli Hannemann: Ein Mittwoch im Oktober

Volker Surmann: Ein Regenbogen für Palästina!

IX. Quo vadis, jüdische Weltverschwörung?

Til Mette

Björn Kuhligk: Der Zentralrat

Bodo Wartke: Die Lösung

Katharina Greve

Anselm Neft: Quo vadis, jüdische Weltverschwörung?

X. Palast der Erinnerung

Ahne: Zwiegespräche mit Gott – heute: Changes

Henning Christiansen

Ella Carina Werner: Gutes Gespräch

Manfred Maurenbrecher: Wie weit kann man gehen?

Heiko Werning: Interrail machen

Björn Högsdal: Wann endet ein »Nie wieder«?

Karsten Krampitz: Bad English: Weihnachten in Jerusalem

Richard Schuberth

Ariane Lemme: Mein Herz rast

Alexander Estis: Was bedeutet das für die Juden?

Lea Streisand: Palast der Erinnerung

Die Mitwirkenden sowie bibliografische Hinweise

Vorwort

In den ersten Tagen nach dem 7. Oktober 2023 war keinem von uns nach Lachen zumute. Der Terrorangriff der Hamas auf Israel war ein Schock. Nicht nur aufgrund der Bestialität der Verbrechen, die an diesem Tag an Männern, Frauen und Kindern in Israel verübt wurden. Verstörend fanden wir auch die nachfolgenden Reaktionen auf den Angriff, die Freudenfeiern auf der Neuköllner Sonnenallee noch am Abend des Massakers, die sofort einsetzenden Relativierungen der Taten nicht nur durch autokratische Herrscher, sondern durch Vertreter der Demokratie wie UN-Generalsekretär António Guterres oder vorgebliche Repräsentanten eines linken, intellektuellen Humanismus wie Judith Butler.

In den Wochen nach dem Überfall stieg die Zahl der Übergriffe und Anfeindungen gegen Juden weltweit. Synagogen wurden mit Brandsätzen beworfen, Wohnhäuser von Juden mit Davidsternen markiert. Als wäre der 7. Oktober eine Art Startschuss gewesen für eine Revolution, einen Aufstand gegen die Juden.

Aber wer sollte denn das sein, die Juden? Wo war die Macht, die man ihnen abringen wollte? Erinnerte das nicht alles frappierend an Ereignisse, die in diesem Herbst genau 85 Jahre zurücklagen? Waren sich nicht alle einig gewesen, dass Aggressionen gegen das Jüdische nur Platzhalter waren für viel größere Konflikte, soziale, gesellschaftliche; Ablenkungsmanöver zur Beschäftigung der Massen? Wir hatten das doch – zumindest in Deutschland, der Schweiz und Österreich – alle in der Schule gelernt, in Büchern gelesen, im Kino gesehen, was das war, der Antisemitismus – und wohin er führen konnte …

Die Demonstrationen infolge der Anschläge richteten sich in vielen Teilen der Welt fast ausschließlich gegen Israel. Und dann saßen Studierende vor dem Auswärtigen Amt in Berlin auf der Straße und skandierten: »Free Palestine from German guilt« – »Befreit Palästina von deutscher Schuld«. So etwas nennt man dann wohl Paradigmenwechsel.

Das Leid der Menschen in Gaza ist groß, wir sehen es. Doch warum treibt ausgerechnet dieser Krieg Menschen auf die Straße, motiviert sie zu flammenden Bekenntnissen am Stammtisch, im Hörsaal, auf Klimademonstrationen, der Bühne der Berlinale oder vor dem Eurovision Song Contest, die sich ansonsten mehrheitlich keinen Deut interessieren für das Elend und die Gewalt in anderen Regionen der Welt? Wie konnten achtzig Millionen deutsche Virologen so schnell die Umschulung zu Nahostexperten durchlaufen? Wie ließe sich all das erklären, wenn nicht durch schlichten Antisemitismus? Blöde rhetorische Frage – natürlich gar nicht.

Fast ist man angesichts der obsessiven Israelkritiker und jener, die »nichts gegen Juden haben«, sondern nur »fragen dürfen« wollen, warum die Juden die Welt beherrschen und uns andere mit Mikrochips impfen, dankbar für den unverstellten, klaren Judenhass, der in Teilen der arabischen Welt ebenso unverkrampft zur Schau gestellt wird wie von hiesigen Nazis. Wie Hartmut El Kurdi zu Beginn des zweiten Kapitels unseres Buches schreibt: »Bei ihnen weiß man, woran man ist: Sie geben zu, Antisemiten zu sein, und sind sogar noch stolz darauf.«

Doch so bedrohlich die Radikalen auch sind, eine ebenso große Gefahr geht aus vom alltäglichen Antisemitismus, dem internalisierten, der so tief eingeschrieben ist in das kollektive Unbewusste, dass er – zynisch gesagt – ein Teil unserer DNA geworden zu sein scheint, oder wie der nette Taxifahrer in Charles Lewinskys Hessen-Satire es ausdrückt: »Wenn Sie mich fragen: Die haben das in den Genen.«

Wie jede Form von Diskriminierung beruht auch der Antisemitismus auf einem großen Märchenschatz an Narrativen und Zuschreibungen. Das Besondere hier ist die enorme Flexibilität der Narrative. Das Jüdische ist immer das Fremde.

In die Verdrängung dieses Fremden sowie des Antisemitismus wurde viel investiert, Kraft, Geld, Denkmale und Therapiesitzungen, davon erzählen nicht nur jüdische Beiträge in unserer Sammlung, wie die von André Herzberg, Erica Zingher, Lea Streisand und Dana von Suffrin.

Verdrängung ist sowieso – wenig überraschend – ein übergreifendes Thema dieses Buches. Die Geschichten von Susanne M. Riedel, Olaf Guercke und Heiko Werning berichten übereinstimmend vom Tabu, mit dem nach 1945 allein das Wort »Jude« in Deutschland belegt war, und davon, wie schon damals im kollektiven Unbewussten die Täter mit ihren Opfern gleichgesetzt wurden, wenn es bei Riedel heißt: »Das Wort ›Jude‹ auszusprechen war genauso tabu, wie ein Hakenkreuz in einen Baumstamm zu ritzen.«

Franziska Hauser erzählt wie Herzberg und Streisand aus der spezifischen Perspektive jüdischer DDR-Nachkommen, auch im östlichen Deutschland gab es nach dem Holocaust kaum noch Juden, weil sich von den wenigen Überlebenden fast niemand mehr selbst als jüdisch bezeichnete. Das Tabu galt auch hier. In der DDR lebten nach eigenem Verständnis ausschließlich Antifaschisten und der Antisemitismus war durch den antifaschistischen Schutzwall ausgesperrt worden.

Eine Wiederbelebung des jüdischen Selbstbewusstseins erhoffte man sich im Nachwendedeutschland von den sogenannten Kontingentflüchtlingen, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mit Gönnergeste ins Land geholt wurden.

Zu ihnen gehören in unserem Buch neben Erica Zingher auch Alexander Estis und Dmitrij Kapitelman. Und es ist kein Zufall, dass unsere jüngsten Autor*innen zugleich die alten Hasen im Umgang mit der Ausgrenzung des Jüdischen aus der Mitte der Gesellschaft sind.

Dana von Suffrin formuliert deutlich, wie wenig Lust sie noch hat, als »Gouvernante der Nation« zu dienen, um die Deutschen von ihrem schlechten Gewissen zu befreien.

Alexander Estis antwortet auf die Frage nach dem jüdischen Leben in Deutschland nach klassisch jüdischer Witztradition in Talmudtechnik mit der Gegenfrage: »Ja, führe ich denn selbst überhaupt ein jüdisches Leben? Wache ich morgens auf und denke mir: ›Masl tov! Das wird wieder ein wunderschöner Tag werden in meinem jüdischen Leben!‹«

Doch wie bereits oben erwähnt, die selbst ernannten deutschen Weltmeister der Aufarbeitung haben kein Exklusivrecht am Antisemitismus. Es gibt ihn auch in der Schweiz, in Österreich – nein, Entschuldigung, dort natürlich nicht, wie Richard Schuberth in seiner »Antisemitismuskeule« schlüssig darlegt: »Ich spiele Fagott in einer Klezmerband, daher ist meine Israelkritik über jeden Vorwurf erhaben.«

Apropos Österreich – in einem Buch mit Witzen über Antisemitismus darf ein Verweis auf den Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud natürlich nicht fehlen, welcher bekanntermaßen selbst ein begnadeter Erzähler und Sammler von (hauptsächlich jüdischen) Witzen war und der als Fortsetzung seiner revolutionären »Traumdeutung« (1900) die Studie »Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten« (1905) vorlegte, worin er die Funktion des Witzes als temporäre Entlastung des Verdrängten beschreibt.

Komik entsteht aus der Verkehrung des Tragischen und der Konfrontation der Gegensätze zwischen Ideal und Wirklichkeit, also dem, was Menschen sagen, und dem, was sie tun. Und manchmal kann die Satire die Realität kaum übertreffen, wie in Volker Surmanns Imagination eines queeren Protestcamps für Palästina.

Judenhass ist in aller Munde, könnte man recht geschmacklos – oder nach Freud »tendenziös« – witzeln angesichts der bitteren Reportage von Dmitrij Kapitelman über die Stimmung bei den Zuckerbäckern auf der Neuköllner Sonnenallee nach den Freudenfeiern im Oktober 2023.

Aber Essen und Alkohol helfen bekanntlich bei der Verdrängung und fördern den Humor, so wird dann auch beides in mehreren Texten ausführlich zelebriert. Denn wie lassen sich alle jüdischen Feiertage in einem Satz zusammenfassen? – Sie wollten uns töten, wir haben überlebt, lasst uns essen!

Antisemitismus ist absurd. Eine verschwindend kleine Gruppe Menschen, die sich kaum definieren lässt, deren Individuen sich weder durch Herkunft noch Aussehen oder Verhalten von ihrer Umgebung unterscheiden lassen, wird für sämtliches Unheil der Welt verantwortlich gemacht, bis hin zum Klimawandel. Da kann man sich doch nur drüber lustig machen!

Kurz gesagt: Eine Sammlung mit im weitesten Sinne komischen Texten und Bild-Witzen über Antisemitismus schien uns einige Monate nach dem grausamsten Judenpogrom seit Ende des Zweiten Weltkriegs dann doch gewissermaßen das Gebot der Stunde zu sein. Wobei wir uns ausdrücklich nicht über das Leid der Opfer auf allen Seiten lustig machen, sondern lediglich über die gedanklichen Pirouetten und aktionistischen Blüten, zu welcher die Mutter aller Verschwörungstheorien ihre Anhänger treibt auf der verzweifelten Suche nach einer stabilen Weltordnung ohne Widersprüche, beim Versuch der Rückkehr ins Paradies.

Volles Vertrauen haben wir, dass uns trotzdem die allgegenwärtige Mahnung ereilen wird, die Kritik an der israelischen Politik dürfe nicht als Antisemitismus denunziert werden. Und die Unterscheidung ist auch tatsächlich richtig. Nur sind es gerade die Feinde Israels selbst, denen sie besonders schwerfällt. Den Mördern vom 7. Oktober kam im Blutrausch immer wieder das Wort »Jude« über die Lippen, als sie ihren Angehörigen am Telefon freudig von ihren Verbrechen berichteten. Sie vergaßen im Eifer der Tat die Selbstdisziplin, mit der Judenhasser sich seit Jahrzehnten als Feinde nur der »Zionisten« bezeichnen. Die Maske ist aber auch fern des Schlachtfeldes äußerst löcherig. Wenn auch bei uns mit erschreckender Regelmäßigkeit sowohl Jüdinnen und Juden als auch Synagogen sowie Gedenkveranstaltungen zur Erinnerung an die Shoa angegriffen werden, alles im Namen der Israelkritik, dann lässt sich der Kurzschluss, der zwischen dem Nahen Osten und Juden hergestellt wird, nur durch antisemitischen Wahn erklären.

»Israelkritisch« hat es inzwischen bereits zu einem eigenen Duden-Eintrag gebracht, anders als »russlandkritisch«, »chinakritisch« oder »takatukalandkritisch«, von »deutschlandkritisch« ganz zu schweigen. Wir dürfen gespannt sein, wann das Finanzamt »Israelkritiker« endlich als Berufsbezeichnung akzeptiert, verdienen lässt sich damit jedenfalls offenkundig recht auskömmlich. Das Weltfinanzjudentum guckt schon ganz neidisch!

Wenn Kritik an Israel tatsächlich verboten wäre, dann würde die Umsetzung dieses Verbots wirklich lausig überwacht. Und es gibt viele Gründe, die Politik Benjamin Netanyahus und seiner rechtsradikalen Verbündeten abzulehnen. Auch die Herausgebenden dieses Buches sowie viele seiner Autorinnen und Autoren üben solche Kritik. Aber einem Land Frieden und eine bessere Regierung zu wünschen, ist etwas fundamental anderes, als nach dessen Zerstörung zu rufen. Kein anderes Land außer Israel wird ununterbrochen dazu aufgefordert, seine bloße Existenz zu rechtfertigen, und ist dadurch permanent gezwungen, sie zu verteidigen. Der Staat Israel sei nicht legitim, sondern nur ein »koloniales, weißes Siedlerprojekt«, heißt es im modischen Jargon der postkolonialen Theorie, die inhaltlich die Nachfolge eines steinzeitlichen Antiimperialismus angetreten hat. Als hätten auf dem Gebiet des heutigen Israel nicht schon Juden gelebt, als Mohammed noch nicht einmal Quark im Schaufenster war.

Um den jüdischen Staat zu dämonisieren, ist keine Beschimpfung zu grob. Wer nach dem 7. Oktober auch nur flüchtig an einer der zahlreichen propalästinensischen Demonstrationen vorbeischlenderte, dem dröhnte unweigerlich aus irgendeinem Megafon der Begriff »Kindermörder Israel« in den Ohren. Nun soll man bei offenkundig erregten und emotional betroffenen Menschen nicht jeden Mord auf die Goldwaage legen, aber ein wenig kurios ist es natürlich schon, mit dem Kindermord-Argument in einem Krieg ausgerechnet Partei für die Seite zu ergreifen, deren Vertreter ihn mit tatsächlichen, absichts- und planvoll begangenen Kindermorden überhaupt erst begonnen haben. Aber auch wenn wir den falsch benutzten Mord-Terminus mal als reine Überspitzung betrachten und ihn auf seinen Kern reduzieren, nämlich den Vorwurf, dass die Regierung Benjamin Netanyahus in ihrem Krieg gegen die Hamas eine unbestritten erschütternd hohe Anzahl ziviler Opfer unter der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen in Kauf nimmt, dass viele Unschuldige und darunter auch Kinder getötet werden, bleibt ein Befremden zurück.

In keinem anderen Krieg dieser Tage wird der argumentative Fokus so sehr auf Kinder gelegt. Das Kind wird als Sinnbild der Unschuld und Reinheit stets gern zu propagandistischen Zwecken genutzt, jedoch meist in Personalunion mit der Mutter. Dies gilt sowohl für marktwirtschaftliche Zwecke wie Windel- oder Waschmittelwerbung, als auch in Bezug auf sonstige kriegerische Auseinandersetzungen wie den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Zu dessen Beginn waren die deutschsprachigen Nachrichten voll von bewegenden Mutter-Kind-Schicksalen.

Dennoch haben weder Sahra Wagenknecht oder Tino Chrupalla bislang den Vorwurf eines »Kindermörders Ukraine« erhoben, ebenso wenig wie man Anton Hofreiter oder Norbert Röttgen vom »Kindermörder Russland« sprechen hörte. Auch bei anderen Kriegen und bewaffneten Konflikten wird zwar stets beklagt, dass nicht nur »unschuldige Zivilisten« im Allgemeinen, sondern »auch Frauen und Kinder« im Speziellen zu Tode kommen, die argumentative Konzentration auf Kinder im Gaza-Krieg scheint aber doch etwas ziemlich Einmaliges zu sein. Die Israel-Boykott-App etwa, mit der die geschasste SWR-Moderatorin Helen Fares durch die Supermärkte auf der Suche nach judenfreien Schokodrinks tingelte, wurde von ihren Entwicklern mit dem Argument beworben: »Hier kannst du sehen, ob das Produkt in deiner Hand das Töten von Kindern in Palästina unterstützt oder nicht.«

Das Gerücht vom kindermordenden Juden gehört zu den ältesten antisemitischen Narrativen der Welt. Seine ständige Wiederholung ist ein Grund dafür, dass der Antisemitismus so unausrottbar durch die Jahrhunderte und die Kulturen mäandert. Jene, die nach eigenem Bekunden nichts gegen Juden haben, sondern nur den Staat Israel kritisieren wollen, täten also eigentlich gut daran, diese Kritik nicht ausgerechnet mit dem Prototyp antisemitischer Propaganda vorzubringen. Dass sie es so obsessiv dennoch immer und immer wieder tun, legt den Verdacht nahe, dass ihnen der Staat Israel eigentlich ziemlich egal ist.

Angeblich soll in Israel auch eine »Apartheid« herrschen. Um an diese Gleichsetzung mit der rassistischen Diktatur zu glauben, muss man sich vermutlich nur lange genug einreden, die schwarze Bevölkerung hätte in Südafrika wählen dürfen und die politischen Rechte ganz so besessen wie die nichtjüdischen Bürgerinnen und Bürger im Staat der Juden.

Einen »Genozid« verübe außerdem die israelische Armee an der palästinensischen Bevölkerung in Gaza, behaupten die gleichen Leute, die im Massaker vom 7. Oktober ganz und gar nichts Völkermörderisches entdecken können, allenfalls einen etwas rustikalen Beitrag zum Befreiungskampf des globalen Südens.

Im Gedankenspagat der Schuldumkehr wird konstruiert, die Juden in Israel seien den Palästinensern gegenüber die neuen Nazis – eine Leier, die seit nunmehr siebzig Jahren von Antisemiten aller politischen Couleur unermüdlich gespielt wird und die einerseits eine Legitimation und andererseits eine Verharmlosung des Holocaust darstellt.

Dass sich ausgerechnet die Klemmnazis der AfD über den angeblich importierten Antisemitismus ereifern, scheint absurd zu sein, ist aber folgerichtig. Wer freut sich schon bei einem seiner Markenkerne über noch mehr Konkurrenz, wenn der Markt ohnehin so heiß umkämpft ist? Denn auch die aufgeregt nach links und Süden zeigenden Bürgerlichen von CDU und FDP müssen ja gut aufpassen, dabei nicht so vehement herumzufuchteln, dass man hinter ihnen versehentlich in den Einschlagkrater von Jürgen W. Möllemann oder den Tornister ihres Koalitionspartners Aiwanger blicken kann, siehe dazu die Karikatur von Teresa Habild »Was man mit siebzehn halt so macht«.

Wir, die wir diese Anthologie herausgeben, haben sehr unterschiedliche Biografien. Gemeinsam ist uns die künstlerische Herkunft – die Lesebühne, Schnittstelle von Theater und Literatur, Radio und Zeitung, Kleinkunst und Hochkultur. Die Lesebühne lebt vom Verarbeiten des Alltäglichen. Die Distanz zwischen erzählendem Ich und Autor gelingt dabei meist durch komische Verfremdung oder Überspitzung.

Für uns war es selbstverständlich, auch den 7. Oktober und seine Folgen in unseren Texten mit den Mitteln der Komik zu verarbeiten, wobei wir uns darin einig sind, dass es sich immer um eine Komik der Heraufsetzung handeln sollte, die an der Seite der Opfer steht und nicht das Lachen der Täter reproduziert.

Mit Freude und einer gewissen Genugtuung bemerkten wir, dass ein großer Teil unserer Szene nicht der grassierenden, latent bis offen antisemitischen Stimmung vieler anderer Bereiche des Kulturbetriebs anheimgefallen ist. Noch größer war die Freude, als es uns gelang, zahlreiche weitere Autorinnen und Schriftsteller aus anderen Genres sowie Musiker und Kabarettisten für unser Projekt zu gewinnen.

Unsere Motivation war dabei individuell unterschiedlich.

Lea Streisand wurde durch den 7. Oktober und seine Folgen erst zur Jüdin gemacht – eine Identifikation, die sie als Nachfahrin einer Dynastie von assimilierten Buchhändlern und ostdeutschen Geisteswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern stets abgelehnt hatte. Die Anschläge und das folgende Aufflammen des Antisemitismus stürzten die Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin in eine Art existenzielle Identitätskrise, die sie durch Analyse der eigenen Familiengeschichte und der Geschichte des Antisemitismus bearbeitete. Neuen Halt fand sie im Austausch mit Jüdinnen und Juden und der Feststellung, dass sie nicht die Einzige war, die die Zeichen nicht gesehen hatte. Ihr Dank gilt Alexander Estis, der sie auf Benefizlesetour gegen Judenhass mitnahm, Ariane Lemme für tröstliche Telefonate und Mareike Barmeyer für den Rückhalt bei ihrer Lesebühne Rakete 2000. Berührt und geehrt war sie von der Begegnung mit dem Comiczeichner Flix, der ihre Geschichte in eindrückliche Bilder fasste. Als Heiko Werning sie im Februar 2024 nach einem Gastauftritt bei den Brauseboys fragte, ob sie Mitherausgeberin einer satirischen Anti-Antisemitismusanthologie werden wolle, sagte sie sofort zu. Die intensive Textarbeit verhalf ihr zum Ankommen in der Realität und der Versicherung, dass keineswegs nur jene mit jüdischem Transgenerationstrauma sich gegen Antisemitismus aussprechen.

Wer sich selbst, wie Michael Bittner, als links versteht, kann nur Trauer darüber empfinden, dass ausgerechnet der Antisemitismus von links seit dem 7. Oktober besondere Aufmerksamkeit auf sich zieht, obwohl der faschistische und der islamistische Antisemitismus immer noch am mörderischsten sind. Weil Michael Bittner seit vielen Jahren über und gegen die politische Rechte schreibt, noch dazu lange von Sachsen aus, ist er es gewohnt, zum Ziel von Hass von dieser Seite zu werden. Nun aber öffnet sich ein Abgrund auch im Verhältnis zu Menschen, die er lange als Gleichgesinnte und Verbündete betrachtete. Dass es auch unter Linken fanatische Israelhasser gibt, wusste er natürlich. Sie gegenwärtig in Aktion zu sehen, bereitet aber Schmerzen ganz eigener Art. Man kann sich mit der Hoffnung trösten, dass viele der jungen Linken, die weltweit bei Klimastreiks, Waldbesetzungen und Friseurterminen »Free Palestine« kreischen, dies nur tun, weil die politische Rechte sich – oft in kalkulierter Heuchelei – zur Verteidigerin Israels und der Juden aufgeschwungen hat. Der Trost ist aber schwach: Wenn es Juden gibt, die Schutz bei der Rechten suchen, dann liegt das auch daran, dass sie der gesellschaftlichen Linken nicht vertrauen. Dort verkürzen eben zu viele die Kritik am Kapitalismus zum Hass gegen den großen und den kleinen Satan und suchen im verkorksten Bündnis mit autoritären Herrschern und islamistischen Gotteskriegern einen Weg aus der politischen Bedeutungslosigkeit. Wer gegen den Westen ist, kann doch schon einmal kein schlechter Kerl sein, so die Unlogik, die schon den Blick mancher Linker auf den Überfall Russlands auf die Ukraine trübte. Dahinter steckt ein stumpfsinniges Freund-Feind-Denken, wie man es eigentlich von Rechten kennt. Aus ihm entspringt auch die denunziatorische Behauptung, wer nicht kompromisslos gegen Israel eintrete, stehe bedingungslos an der Seite Netanyahus, wer nicht jede Gewalt im Namen vermeintlich oder wirklich Unterdrückter begrüße, sei im Bunde mit dem Weltkapital. Michael Bittner freut sich, dass in diesem Band viele Autorinnen und Autoren der gesellschaftlichen Linken den Beweis antreten, dass man klüger denken und schreiben kann, so unter anderen – in ganz unterschiedlichem Stil – Hartmut El Kurdi, Stefan Gärtner und Karsten Krampitz. Vielleicht fühlen sich so einige Menschen nach dem Lesen dieses Buches etwas weniger einsam.

Heiko Werning ist in Westdeutschland aufgewachsen. Juden kannte er, ebenso wie Muslime und Migranten, in seiner Heimatstadt Münster nur aus dem Schulunterricht oder den Fernsehnachrichten. Als er vor über dreißig Jahren zum Studium nach Berlin zog und dort im Wedding landete, änderte sich das schlagartig. Plötzlich war er umgeben von muslimischen Mitmenschen, hier konnte er seine bis dahin rein theoretisch formulierte Überzeugung, jedem Menschen möglichst vorurteils- und diskriminierungsfrei zu begegnen, in der Praxis erproben. Schnell hat er seine Grundannahme bestätigt gefunden, dass es auch unter migrationshintergründischen Menschen die übliche Mischung aus liebenswürdigen Zeitgenossen, Trotteln und echten Arschlöchern gibt. Also genau wie bei den Urdeutschen seiner westfälischen Heimat, den indigenen Berlinern der x-ten Generation und den ganzen Migranten aus Schwaben, Niedersachsen oder gar aus der Zone. Und weil das so ist, hat er seine muslimischen Nachbarn stets leidenschaftlich in seinen Texten gegen die grassierende Ausländer- und Islamfeindlichkeit verteidigt. Wie es eigentlich selbstverständlich sein sollte unter aufgeklärten, nicht-ewiggestrigen Zeitgenossen. Umso mehr irritierte ihn zusehends die Beobachtung, dass genau diese Zeitgenossen aber mitunter ganz merkwürdig wurden, wenn es um Juden ging. Die also nicht nur von den üblichen Verdächtigen ebenso wie Migranten mit Stereotypen und Vorurteilen belegt und drangsaliert werden, sondern häufig auch von denen, die gegen Stereotype und Vorurteile bei Migranten kämpfen. Die Erkenntnis, dass Antisemitismus noch immer durch die gesamte Gesellschaft wabert, ist in Werning also erst eher spät gereift, besonders auch durch intensive bis exzessive Diskussionen im befreundeten Kollegenkreis, vor allem mit Danny Dziuk, Wiglaf Droste, Bov Bjerg und Manfred Maurenbrecher, sowie durch seine langjährige Arbeit für die Titanic und die taz-»Wahrheit«, die sich dem Thema beharrlich immer wieder mit allen Mitteln der komischen Kunst gewidmet haben und aus deren Umfeld eine ganze Reihe von Autorinnen und Autoren auch für diese Sammlung Texte, Gedichte und Cartoons beigesteuert haben.

Nach dem 7. Oktober war Werning froh, auf seinen Lesebühnen Brauseboys und Reformbühne Heim & Welt nicht nur seine eigenen Gedanken zum Geschehen vortragen zu können, sondern vor allem auch aus den Geschichten und Satiren der Kolleginnen und Kollegen Trost und Mut ziehen zu können – und dabei oft auch noch richtig gute Texte zu hören, so etwa die hochkomischen Aufarbeitungen des Erlebten und Erlesenen durch die Mitstreiterinnen und Wegbegleiter Bov Bjerg, Uli Hannemann, Andreas »Spider« Krenzke, Clint Lukas, Lea Streisand und Volker Surmann. So entstand die Idee, diese in einem Buch zu sammeln.

Besonders freuen wir Herausgebenden uns über die eigens für diese Anthologie geschriebenen Beiträge von Ahne, Mareike Barmeyer, Franz Dobler, Franziska Hauser, André Herzberg, Hartmut El Kurdi, Jan Feddersen, Leo Fischer, Olaf Guercke, Roman Israel, Karsten Krampitz, Ariane Lemme, Fabian Lichter, Markus Liske, Julia Mateus, Jessica Ramczik, Susanne M. Riedel, Mark-Stefan Tietze, Peter Wawerzinek, Benjamin Weissinger, Elke Wittich und Tim Wolff. Und darüber, mit unserem Brauseboys-Freund und Satyr-Verleger Volker Surmann den idealen Partner für unser Vorhaben gefunden zu haben, der auch die Ansprache der Cartoonist*innen übernahm.

Unser besonderer Dank gilt Elias Hauck, der das Cover für uns gestaltete, was angesichts der Komplexität des Themas und der ideologischen Fallstricke, die sich daraus ergeben, eine Herausforderung war, welche der Profi jedoch mit Bravour meistert, indem er den Antisemitismus auf seinen Kern reduziert: totalitäre Naivität. Denn wie jede andere antihumanistische Ideologie behauptet der Antisemitismus die Existenz einfacher Lösungen für komplexe Probleme. Stefanie Sargnagels »Jonas löst den Nahostkonflikt« karikiert die gespenstische Überheblichkeit hiesiger selbst ernannter Konfliktlöser, indem sie das blonde Jüngelchen in Socken hingelümmelt in die Sicherheit der deutschen Sofalandschaft mit dem Handy vor der Nase als Totenkopf mit Haaren darstellt, der sich seiner Allmacht so sicher ist, dass ihm ein Mobiltelefon reicht, um gemütlich bei Bier und Zigarette einen der verfahrensten weltpolitischen Konflikte der Gegenwart zu lösen.

Auch wir, die wir dieses Buch herausgeben, sind uns dieser Gefahr bewusst. Denn wir sind drei weiße Deutsche, die Diversität unseres Kollektivs wird lediglich dadurch gewährleistet, dass wir zwei Brillen tragende Männer und eine Frau mit Gehbehinderung sind, zwei Ostdeutsche und ein Westdeutscher.

Naivität und die Verantwortungslosigkeit, die sich sowohl aus antijüdischen Zuschreibungen als auch deren Negierung ergibt, sind Gegenstand zahlreicher Karikaturen in unserem Band. Und manchmal steht auch der Karikaturist scheinbar hilflos mit hängenden Schultern daneben, wie Till Mettes Figur am rechten Bildrand mit Blick auf die propalästinensischen Studierenden der Columbia University, und denkt: »Waren die am 7. Oktober noch zu jung, um sich zu erinnern, was da war?«

Sprachlosigkeit und die Suche nach (Ant-)Worten ist das Thema des ersten Kapitels unserer Sammlung, deren erster Text zugleich die Herkunft unseres Buchtitels erklärt. Er ist auch eine Reminiszenz an die britischen Meister der Komik Monty Python und ihren Klassiker Life of Brian (1979), wo in der deutschen Synchronisation in absurder Verdrängung des Offensichtlichen die Frage gestellt wird: »Ist Weibsvolk anwesend?«

Die Gliederung des Buches folgt zwar gewissermaßen einem Vorgang der Erkenntnis – angefangen beim Entsetzen über die Realisierung und Betrachtung der verschiedenen Spielarten des Antisemitismus von links, rechts, oben und unten, aus der Mitte der Gesellschaft und von den fanatischen Rändern her.

Eine Erlösung kann es jedoch nicht geben. Das Konzept gibt es im Judentum nicht und kann somit auch für die Ablehnung des Jüdischen nicht greifen. Die Idee eines »Wir tun einfach so, als wäre nichts passiert« wäre nur eine christliche Form des Antisemitismus, Verdrängung durch Nächstenliebe, die versuchte Negierung aller Probleme und Auslöschung aller Widersprüche durch das Wasser der Taufe. Uns bleibt nur die Hoffnung auf Frieden und die unermüdliche Anstrengung, die Widersprüche auszuhalten, ohne wegzuschauen, und dabei weder unseren Mut noch unseren Humor zu verlieren.

Den Antisemitismus werden also auch wir mit diesem Buch nicht besiegen können. Nicht einmal den Nahostkonflikt werden wir wohl mit ihm lösen. Die hier versammelten Autorinnen und Autoren vertreten sogar recht unterschiedliche Ansichten zu der Frage, wie dies überhaupt gelingen könnte, und auch zum Vorgehen Israels sind wir keineswegs einer Meinung. Nur in einem Punkt sind wir uns alle einig: Nichts rechtfertigt Antisemitismus.

Lea Streisand, Michael Bittner und Heiko Werning

Berlin, im Juli 2024

Rattelschneck

I.

WORTE FINDEN

Sind hier Antisemitisten?

Lea Streisand

In dem Advent, als mir nicht weihnachtlich werden wollte, bin ich in die Synagoge gegangen. Das erste Mal seit vierzig Jahren ungefähr. Ich wusste gerade noch, wie man das Gebetsbuch hält, aus meinen zwei Semestern Judaistikstudium ein halbes Leben zuvor.

Ich hatte nie verstanden, was Israel mit mir zu tun haben soll. Die Geschwister meines Urgroßvaters hießen Wilhelm, Margarete und Bianka, echte Berliner laut Kurt Tucholsky: »Der Berliner ist meist aus Posen oder Breslau und hat keine Zeit. Er hat immer etwas vor, er telefoniert und verabredet sich, kommt abgehetzt zu einer Verabredung und etwas zu spät – und hat sehr viel zu tun.«*

Mein Urgroßvater Hugo kam mit Geschwistern und früh verwitweter Mutter um 1900 als Buchhändlerlehrling aus Grätz. Sein Onkel Emil unterhielt eine Druckerei in der Friedrichstraße, schon der Großvater war Bibliothekar gewesen. Hugo war guten Mutes. Das antisemitische »Geschrei der Herren vom ›Alldeutschen Verband‹ brauchte man nicht ernst zu nehmen«.**

Hugo eröffnete ein Antiquariat in Berlin-Charlottenburg, spezialisierte sich auf »wissenschaftlichen Sozialismus«, heiratete seine Angestellte, die Mitglied der Bekennenden Kirche war, und zeugte zwei Kinder, die später die DDR mitaufbauen sollten, nachdem sie – wie er – den NS überlebt hatten, als einzige Streisands in ganz Deutschland. Alle anderen waren emigriert oder ermordet worden.

Hugo schreibt:

»Ein großer Teil meiner jüdischen Verwandten und Bekannten verließ Deutschland sofort bei der ›Machtergreifung‹. Ich dachte nicht daran. Einmal fühlte ich, dessen Vorfahren seit Generationen um das deutsche Buch verknüpft waren, mit völliger Selbstverständlichkeit als Deutscher und hatte keinesfalls die Absicht, diesen Anspruch gegenüber einer randalierenden Rotte einfach aufzugeben; andererseits erschien mir diese Mischung von Gangster- und Banditentum, wie sie sich beim Reichstagsbrand, im Benehmen der SA, bei den Ereignissen des Juni 1934 zeigte, so untergangsreif und lebensunfähig, dass ich völlig von ihrem schnellen Abwirtschaften überzeugt war. Und so wie ich dachte ein großer Kreis; bei jedem neuen Gewaltakt trösteten wir uns: ›Umso schneller geht es mit ihnen zu Ende.‹ Die folgenden Jahre haben gezeigt, dass die Voraussage an sich nicht falsch war, denn zwölf Jahre sind wohl, historisch gesehen, keine lange Zeit. Unvorstellbar war uns nur das grauenvolle Ergebnis dieser Jahre.«*

Hugo nannte sich selbst »Nicht-Jude«, er sei lediglich »jüdischer Abstammung«. Noch in den Dreißigern ließ er sich und seine Kinder taufen – zur Unbill jener Verwandten, denen Tradition wichtiger war als das eigene Überleben. In der Pogromnacht wurde das Antiquariat Hugo Streisand trotzdem zerstört. Hugo schreibt:

»Inmitten von Glasscherben und Bücherfetzen stellten wir eine notdürftige Ordnung her, und so im Halbdunkel, hinter herabgelassenen Jalousien, fristete ich ein halb verborgenes Dasein.«*

Fast auf den Tag genau 85 Jahre später erlebte ich zum ersten Mal Hass auf der Bühne.

Seit ich Studentin war, mache ich Bühnenliteratur. Seit zehn Jahren bespiele ich eine wöchentliche Kolumne im Radio. Im echten Leben bin ich oft orientierungslos, voller Schuldgefühle. Auf der Bühne aber ist nichts peinlich. Es ist Theater. Radio, sagt man, versendet sich. Ich schreibe immer bis kurz vor dem Auftritt, noch am Veranstaltungsort. Ich ändere Texte während der Tonaufnahme.

Von der Bühne, aus dem Radio stoße ich den Text in die Gegenwart. Morgen wird er von gestern sein.

Als meine Welt kippte, schlief und aß ich wenig, schrieb und las dagegen viel. Das Publikum war berührt, beschämt, verärgert; lachte oder weinte; aber nie hätte ich mit Anfeindungen gerechnet für das Sprechen über Antisemitismus.

Also im Internet, ja. Aber im Theater?

Buh-Rufe, lautes Stöhnen und Zischen hallten aus dem Dunkel des Zuschauerraumes bei Sätzen wie: »Die Geschichte des jüdischen Volkes ist eine seit 2.000 Jahren andauernde Aneinanderreihung von Demütigung, Vertreibung und Mord, die schließlich im Zivilisationsbruch Auschwitz mündete.«

»Schwachsinn!«, rief eine Stimme aus dem Dunkel.

Ich stand auf der Bühne wie angewurzelt, festgewachsen in meiner »jüdischen Abstammung«, als hätte mir jemand die Krone weggepustet. Der Zuschauer ist die wichtigste Person im Theater, der lachende Dritte erst macht eine Geschichte zum Witz. Schreiben ist Sprechen ist Dialog vor dem Spiegel. Woher kam der Hass?

Die Antwort las ich aus den Schriften meines Urgroßvaters. Mit Salven bedeutungsloser Buchstaben hatte er für die Sprache und das Land, die seine Heimat waren, gekämpft, hatte versucht, seine mörderischen Nachbarn in Nachbarn zurückzuverwandeln:

»Wenn man die unmittelbare Schuld gerade an den in den Lagern verübten Gräueln so häufig dem gesamten deutschen Volke zuschiebt und sagt, dass es unmöglich wäre, dass nicht jeder davon gewusst haben müsste …« Ich konnte ihn sich winden sehen zwischen den endlosen Sätzen, über Kommas stolpernd, die schmerzenden Begriffe »Schuld«, »Lager«, »Gräuel«, »Volk« unter Füllwörtern begrabend, das Unfassbare relativierend – die Ermordung seiner Schwestern. Margarete war im Konzentrationslager Chełmno ermordet worden, Bianka war in Theresienstadt an Entkräftung gestorben, zwei Monate nach Kriegsende. Sie hatte schon eine Sitzplatzreservierung für den Zug nach Berlin. Ihre Koffer kamen allein zurück nach Hause.*

Hugo schrieb 1947 siebzigjährig seine Erinnerungen nieder und erwähnte die Schwestern mit keinem Wort. Verdrängung ist Knochenarbeit, die keine Verschnaufpause duldet und von Vater zu Sohn, Mutter zu Tochter vermacht wird. Die Schuld muss verdrängt werden, um Raum zu schaffen für den Spiegel, auf dessen Oberfläche wir unsere Glaubenssätze schreiben. Der Antisemitismus war eine Erfindung von Adolf Hitler und mit ihm ist er gestorben.

Mein Spiegel zerbrach, als die Jugend von heute vor dem Auswärtigen Amt schrie: »Free Palestine from German guilt!«

Seit fünfzehn Jahren war ich in Therapie. Seit die Panikattacken losgingen, wenn ich Menora sah oder Davidsterne. Oder authentische Bilder von Auschwitz. Die Symbole des Judentums waren in meinem Kopf verschmolzen mit den Zeugnissen der versuchten Auslöschung des jüdischen Volkes durch die Nationalsozialisten. Ich schämte mich dafür. Meine Angst kam mir anmaßend vor, eine Marotte, die nichts mit der Realität zu tun hatte. Ich war keine Jüdin. Nicht einmal mein jüdischer Urgroßvater war Jude gewesen, nur deshalb hatte er überlebt. Das Jüdische war der Tod, nichts Lebendiges. Ironische Begrüßungen wie »Schalömchen, Lea!« konnte ich nur gequält belächeln, die Israelbegeisterung von Freunden bewundern. Was die sich trauten!

Fünfzehn Jahre lang war mir erzählt worden, die Bedrohung existiere lediglich in meinem Kopf, ich könne die Angst überwinden, die Scham abstreifen, wenn ich nur wollte. Dabei hatte mein Wille schon meine Gehbehinderung nicht verschwinden lassen, sondern nur meinen Selbsthass genährt. Hass von außen kannte ich nicht.

Meine Mutter sah mich traurig an, als ich ihr von den Rufen erzählte. Sie zuckte die Achseln und sprach: »Wenn du dich so enthüllst …«

Sie kannte den Hass der anderen auf das Jüdische, der sich gegen unsere Körper richten konnte, wenn wir darüber sprachen. Weil das Sprechen unsere Körper zu lebenden Juden machte, jenseits der Shoa, zu Golems der Schuld.

Meine Mutter schwieg und behielt ihre Angst für sich. Schon bei ihrer Einschulung Ende der 1950er in Ost-Berlin hatte sie ihre Mitschüler angesehen mit dem Wissen: Wenn deren Eltern gewonnen hätten, säße ick jetzt nicht hier.

Selbstverständlich erzählte ich die Geschichte im Radio. Das einzige Mittel gegen Sprachlosigkeit ist Weiterschreiben.

Danach gab es ein Gespräch mit den Veranstaltern der Lesung. Alles täte allen wahnsinnig leid, man hätte auch gleich im Team gefragt: »Sind hier Antisemitisten?« Habe sich niemand gemeldet.

In meinem Kopf formierte sich ein Stuhlkreis aus Männern mit gelben »Ungeimpft«-Sternen am Revers. »Hallo, mein Name ist Dieter, ick bin Antisemit«, sagt einer. Alle antworten: »Hallo, Dieter!« Darauf erhebt sich eine jüngere Person mit Kufiya um den Hals: »Ich bin Antisemitista!«

Ich musste mir das Lachen verkneifen.

Es gab Empörung darüber, dass ich »diese Sache« »an die große Glocke« gehängt hatte.

»Welche Sache?«, fragte ich mit gespielter Verwirrung, »Den 7. Oktober? Meinen Selbsthass der Assimilierten? Oder die Einsicht, dass der Antisemitismus größer ist als Adolf Hitler?«

Der Empörte zuckte zusammen und machte eine Handbewegung, als wolle er lästige Fliegen verscheuchen. Ihn erzürne lediglich die »haltlose Unterstellung«; niemals habe er sich derartigen Vorwürfen ausgesetzt gesehen; »Als ob wir was gegen Juden hätten!«. »Und überhaupt«, setzte er nach kurzer Atempause hinzu, »in der Ankündigung stand drin, ihr würdet lustige Texte lesen. Da braucht ihr euch nicht wundern, wenn sich das Publikum beschwert.«

Die Luft war raus. Sämtliche Anwesende nickten. Und mit einem Mal herrschte Unsicherheit, wo die Beteiligten sich an dem Abend aufgehalten hatten und was genau eigentlich während der Lesung passiert war.

»Euch ist schon klar«, unternahm ich einen letzten Versuch, einen Funken Realitätsbezug in die Debatte zu bringen, »dass ich momentan unter Polizeischutz auftrete?«*

Alle Gesprächsteilnehmer fielen aus allen Wolken. Das sei ja furchtbar!

Ich verkniff mir die Frage, womit sie sich eigentlich die Zeit vertrieben hätten, während ich mich in meiner Wohnung verbarrikadiert hatte und Nachrichten inhalierte. Ich bat nur darum, in Zukunft bei Beschimpfungen wenigstens verbal verteidigt zu werden, zurückzupöbeln, mich nicht als Opferlamm auf der Bühne stehen zu lassen.

»Ja natürlich …«, hieß es, »alles Erdenkliche…« und: »Du kannst dich auf uns verlassen.«

Nachts lag ich wach und versuchte, mir den ursprünglichen Vorfall ins Gedächtnis zu rufen. Wir waren doch in der Pause hinter die Bühne geflüchtet? War ich paranoid? – Du bist paranoid, antwortete die Stimme in meinem Kopf. Aber Judenhass wurde seit jeher durch Judenpogrome befeuert und Auschwitz wird man euch niemals verzeihen.

Morgens kam die Mail von einem der Veranstalter, er persönlich könne das leider nicht leisten, den aktiven Widerstand. Aber sie stünden alle voll hinter mir und fänden ganz toll, was ich mache.

Meine Erschöpfung dauerte mehrere Tage an, doch ich schrieb weiter, schrieb die Geschichte als Anekdote ins Internet, woraufhin ein Redakteur der Jüdischen Allgemeinen sie für seine Zeitung haben wollte.

Auch er hatte Freunde verloren nach dem 7. Oktober, nicht durch Ermordung in Israel glücklicherweise, sondern durch Unverständnis in Deutschland und reflexartige Schuldumkehr. »Wenn ihr so weitermacht, müsst ihr euch nicht wundern, wenn die Züge bald wieder rollen«, zitierte er einen Verwandten. Der Mann war praktizierender Jude, bei ihm konnte von Identitätsverleugnung keine Rede sein. Er bestärkte mich darin, mit Freunden die Synagoge zu besuchen.

Und so schlidderte ich an einem kalten Freitagabend im Dezember »verabredet, abgehetzt und etwas zu spät« im Dunkeln durch Berlin-Prenzlauer Berg, in Richtung der Synagoge, die schon meine Mutter zu DDR-Zeiten besucht hatte – zusammen mit Freunden, die später ausgereist waren. Vor der Synagoge wachten Polizisten hinter doppelten Barrikadenzäunen.

Innen war es hell, der Kantor traf den Ton, der Rabbi sprach nur kurz und tröstlich fatalistisch. Die Geschichte, wie Jakob mit dem Engel kämpft und den Beinamen Israel erringt. Fazit: Israel wurde immer angegriffen und trotzdem nie vernichtet. Und ich dachte, Moment mal, Jakob, das war doch der mit der Erbsensuppe, äh, dem Linsengericht, der Leah heiraten musste, die hässliche Schwester von Rahel.

Ich hatte meine Eltern als Kind zur Rede gestellt, wie sie bitte auf den Namen gekommen waren, und dann hatte ich die Bibel studiert, die ersten dreißig Seiten vom ersten Buch Mose, bis zur Geschichte von Leah – der Hässlichen mit den vielen Kindern, deren Name wörtlich übersetzt »die sich vergeblich Abmühende« bedeutet.

Als ich die Geschichte später einmal auf der Bühne erzählte, saß meine Mutter im Publikum, welche an dieser Stelle mit erhobenem Zeigefinger korrigierte: ›Die Schieläugige‹! Leah heißt ›die Schieläugige, sich vergeblich Abmühende‹.«

In der Synagoge traf ich auf alte Bekannte. »Ihr seid jüdisch«, rief ich erstaunt.

»Lea«, riefen sie, »du hier!«

Hinter den Stirnen arbeiteten die Gedächtnisse auf Hochtouren, dann machte es klick und alle riefen: »Ja klar, bei dem Namen!«

»Streusand«, kicherte mein Sohn einige Tage später, als wir von der Kita durch gelben Schnee nach Hause stapften. »Ich heiße jetzt Streusand.«

Ich seufzte. Jeder von uns muss diesen Witz über sich ergehen lassen. Jeden Winter wieder, wenn die Streugut-Container auf Straßen und Bahnsteigen stehen: »Endlich Immobilienbesitzer, was?«

Der Name Streisand leitet sich aber nicht – wie man vielleicht meinen könnte – von einem alten jüdischen Straßenreinigungsunternehmen her. Er bezieht sich vielmehr auf den Sand, den man früher auf nasse Tinte streute. Statt Löschpapier. Die Streisands waren Schriftgelehrte. Juden, die lesen und schreiben konnten. Nu kieke.

In diesem Sinne:

םכילע םולש

Schalömchen, alle miteinander!

* Kurt Tucholsky: »Berlin! Berlin!« (1919) als Ignaz Wrobel, zitiert nach ders.: Westend bis Köpenick, hrsg. von Ingrid Feix, Berlin: 2017, S. 9.

** Hugo Streisand: »Aus meinem Leben« (geschrieben 1947), in ders.: Ein halbes Jahrhundert mit Büchern 1901-1951, Berlin: 1951, S. 55.

* Ebd. S. 61.

* Ebd. S. 62.

* Der Nachlass von Biankas Tochter Hella Hassel befindet sich im Besitz des Jüdischen Museums Berlin, das Biankas Geschichte zu einer Online-Ausstellung aufbereitet hat, siehe hier: https://artsandculture.google.com/story/ngWRB0o_gUWQLQ?hl=de.

* Benefizlesungen für Opfer antisemitischer Gewalt wurden nach dem 7. Oktober 23 zum Schutz vor Anschlägen von der Polizei bewacht.

Flix

Backen gegen Terror

Erica Zingher

In Extremsituationen reagieren Menschen extrem. Sie weinen und hören nicht mehr auf. Sie schreien unaufhörlich. Sie verstummen.

Am 7. Oktober 2023, als Terroristen der Hamas israelische Zivilisten abschlachten, stelle ich mich in meine Küche und knete Hefeteig. Aus diesem backe ich später Zimtschnecken, ich backe und backe wie eine Irre, ich kann gar nicht mehr aufhören zu backen, backe so viele Zimtschnecken, dass ich das ganze Viertel damit satt bekommen könnte. Ich knete den Teig, ich boxe ihn mit meinen Fäusten, als ob mein Leben davon abhinge, und lasse dabei Videos von Terroristen laufen. Ich leide, still und leise, für mich allein in meiner Wohnung.

Der sowjetische Mensch hat gelernt, zu leiden und stets die Klappe dabei zu halten. Mit dieser Überzeugung wuchsen schon meine Großeltern auf, sie gaben diese weiter an meine Eltern, die wiederum an mich, obwohl es schon keine Sowjetunion mehr gab, als ich geboren wurde. Als Nachkomme sowjetischer Juden wusste ich natürlich noch besser, wie man am besten leidet. Bei uns zu Hause war der Kühlschrank nie leer. Die Welt hasst uns? Jetzt erst mal essen.

»Schluss damit, wir haben genug gelitten«, sagt meine Mutter nach dem 7. Oktober zu mir am Telefon. Wir lachen, vielleicht ein bisschen hysterisch, weil es ja eigentlich nichts zu lachen gibt.

Als ich den Kreislauf des Leidens durchbrechen will, und weil kein Platz mehr in der Tiefkühltruhe für weitere Backerzeugnisse aus Selbstherstellung ist, finde ich mich wieder auf einem Sessel eines schick eingerichteten Behandlungszimmers. Mir gegenüber eine Psychologin.

Ich habe Hoffnung in sie gesetzt, also erzähle ich: Ich leide unter Verfolgungswahn. Überall, denke ich, ist jemand, der mich tot sehen will. Selbst unschuldige Hundebesitzer, die draußen im Park mit ihren Kläffern an mir vorbeispazieren, werden zu potenziellen Angreifern. Ein Spatz, der in Hochgeschwindigkeit an meinem Kopf vorbeifliegt, lässt mich zusammenzucken. Ich schlafe nicht mehr und wenn doch, schlagen mir Terroristen den Kopf ab oder jagen mich bis in meine Wohnung. Ich esse nicht, weil ich nicht mehr einkaufen gehe und mir der Appetit fehlt. Ich bin mir selbst fremd, weil ich backe.

Ich soll mich mal an einen Ort denken, an dem ich gerne bin, und die Augen schließen, sagt sie. Und schiebt hinterher: Berge oder Strand? Ich sage Strand und denke an den in Odessa, meinen Lieblingsort, aber der ist mittlerweile ja auch vermint, dank Russland.

Als Deutsche spürt man jetzt so richtig die eigene Verantwortung, höre ich die Psychologin sagen, da bin ich gedanklich noch am Strand. Also frage ich vorsichtig: Hm?

Ihr Opa sei an der Front in Russland gewesen, alles Weitere höre ich dann schon nicht mehr.