Sinnlose Weisheiten - Beate Bartoschewski - E-Book

Sinnlose Weisheiten E-Book

Beate Bartoschewski

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Beschreibung

Eine teilweise biografische Reise, in Wirklichkeit sind es mehrere, die nicht nur durch Räume und Zeiten, sondern vor allem zu Menschen, und unter anderem dadurch ins Innerste der Protagonistin führt. Tagebücher, Log,-und Notizbücher geben tiefe Einblicke in das nicht gerade unbewegte Leben der Ich-Erzählerin. Über einen Zeitraum von gut dreißig Jahren entwickeln sich die Beziehungen der Handelnden zueinander. Verbindung ist hier ein Schlüsselwort. Begegnungen, Naturerlebnisse, Sexualität, Krankheit und Tod wirken und verändern. Weisheiten kommen und gehen.

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Seitenzahl: 569

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Dank an die klugen Kusinen Zinka Carandell und Andrea Thode für ihre wortgewandte und inspirierende stete Hilfsbereitschaft.

Jürgen, dem Segler, Alles-Reparierer, Leser, Co-Autor, Gedulds- mensch speziell bei „Computererklärungen“, und geliebter Ehemann, ohne dessen Beteiligung dieses Buch nicht entstanden wäre, widme ich es.

Personen:

Hilde Rosinski geb: Göttsch, und ihr Mann

Bruno Rosinski, Schleswig-Holstein.

Sie per Rad unterwegs. Er auf längerer Segeltour.

Helena und ihr Mann

Wolfgang Müller. Irgendwo in Südeuropa. Eltern von:

Max, der mit seiner Lebensgefährtin Clara in Berlin lebt.

Gerda Göttsch, verwitwet, Schleswig-Holstein, Mutter von:

Hilde (s.o.),

Rudi, (jung durch Freitod verstorbener Zwillingsbruder von Hilde),

Olga.

Vier erwachsene Kinder von Olga (von zwei Vätern, zu denen kaum Kontakt besteht):

Evelyn Gruber geb: Göttsch, mit Ehemann Robert.

Eltern von drei Kindern:

Daniel, und den Zwillingen Kati und Karl. Wien.

Greta Göttsch, mit Lebensgefährte Peter. Eltern von:

Grit und Mimi. Berlin.

Sarah Göttsch mit Lebensgefährte Harry. Eltern von:

Jan. Berlin.

Julian Göttsch, alleinstehend. Berlin.

Cornelia Domingo geb: Göttsch, verwitwet, Schwester von Gerda Göttsch und Mutter von:

Franka Domingo, geschieden, Hildes Lieblingskusine, liiert mit

Gaspar. Mutter von:

Tom und Victoria. Die Familie lebt in bzw. bei Barcelona.

Pia, Kusine von Hilde mit Lebensgefährte Horst. Lübeck

Edeltraut geb: Rosinski, geschieden, alleinstehend. Schwester von Bruno Rosinski. Eine Tochter:

Sanne mit Ehemann Holger. Schleswig-Holstein.

Gemeinsame Freunde von Hilde und Bruno Rosinski:

Lila und Fred. Schleswig-Holstein

Magda und Ted. Jamaika

Freundinnen von Hilde:

Judith, (Freundschaft aus Hippi-Zeiten) und Ehefrau

Agnes. Schleswig-Holstein

Luise, bei New York lebende Freundin aus der Schulzeit

Marlene, Kinderfreundin. Schleswig-Holstein

Margot, Reha-Bekanntschaft. Brandenburg

Schulfreundin von Bruno:

Elisabeth, Hamburg

Anna, Nachbarin von Bruno und Hilde

Moritz, Kinderfreund von Max Müller.

Inhaltsverzeichnis

1. Buch

Westwärts

Ostwärts

Westwärts

Ostwärts

Westwärts

Ostwärts

Westwärts

Ostwärts

Westwärts

Ostwärts

Westwärts

Ostwärts

Westwärts

Ostwärts

Westwärts

Ostwärts

Westwärts

Ostwärts

Westwärts

Ostwärts

Westwärts

Ostwärts

Westwärts

Ostwärts

Westwärts

Ostwärts

Westwärts

Berlin

Westwärts

Berlin

Westwärts

Berlin

Westwärts

Berlin

Westwärts

Berlin

Westwärts

Berlin

Westwärts

Berlin

Westwärts

Berlin

Westwärts

Berlin

Westwärts

Berlin

Westwärts

Berlin

Westwärts

Berlin

Westwärts

Berlin – Kiel

Kiel

Westwärts

Kiel - Berlin

Westwärts

Berlin

Westwärts

Berlin

Westwärts

Berlin

Berlin - Kiel

Westwärts

Kiel

Westwärts

2. Buch

Kiel

Westwärts

Kiel

Westwärts

Kiel

Westwärts

Kiel

Westwärts

Kiel

Westwärts

Kiel

Westwärts

Kiel

Vergangenheit schleicht sich an...

Schiffbruch

3. Buch

Verwirrung

Vergangenheit

Helena

Südwärts

Corona

Viertes Buch

Epilog

1. Buch

Westwärts

Logbuch Segelyacht „Hilde“ vom 22.06.2019 Ziel: Jamaika 1. Reisetag: Kiel Wellingdorf - Schleuse Giselau

1.Tag der Reise mit Max: Sehr schöne Verabschiedung am Steg in Wellingdorf von sehr vielen Leuten. 11.40 Uhr Leinen los. „Irmi“ begleitet uns bis Holtenau. Nach 2 ½ Stunden Warten um 13.45 Uhr in die Schleuse. 14.10 Uhr im Nord-Ostsee-Kanal. Stimmung gut. Motor läuft sehr schön. Rader Insel zum Tanken empfohlen. Eine Stunde zu spät: geschlossen seit 16.00 Uhr. Weiter nach Rendsburg (Schiffsbegrüßungsanlage), wo Lila und Fred mit einem Banner: „Gute Reise, Bruno!“) stehen. Kurz aufgestoppt und geschnackt. Fein. Anschließend von Max unterwegs mit Spaghetti und lecker Tomatensauce bekocht.

21.00 Uhr Liegeplatz Schleuse Giselau: sehr idyllisch: Fische springen, Reiher fliegen, Rehe glotzen. Für Max Lager im Cockpit gebaut: draußen schlafen! Für Morgen den Wecker auf 3.30 Uhr gestellt, und dann Nachtruhe. Fühl` mich sehr gut, nachdem ich noch mit Hilde telefonierte. Morgen tanken!

Ostwärts

Mein „Logbuch“: beginnend mit Brunos Segel - und meiner Radtour von Schleswig-Holstein nach Berlin

Zuhause, Samstag, 22. 6.`19

Nun sitze ich hier an unserem Küchentisch. Wie still es auf einmal ist. Bin froh, daß ihr bei Sonnenschein gestartet seid. Was für eine nette Versammlung dort auf dem Steg! So viele Menschen. Überraschend viele meiner ehemaligen Arbeitskollegen mit ihren Kindern. Der kleine Jan auf dem Schoß seiner traurigen Mutter. Mein Segler hat so schöne Worte extra für ihn gefunden, und unser kleinster Großneffe hat so konzentriert zugehört. Ja, er wird viel größer sein bei deiner Rückkehr. Was für ein Tag! Proppevoll mit Gefühlen.

Olga wollte auch gern Tschüß sagen. Steckte jedoch im „Kieler-Woche-Stau“ fest.

Dann endlich nach vielen Handyphotos, Umarmungen, guten Wünschen, einigen Tränen und zu vielen mitleidigen Blicken in meine Richtung, legt ihr ab. In Begleitung des ehemaligen Eigners mit seiner neuen Yacht „Irmi“. Mit deinem Boot, das du nun in „Hilde“ umbenannt hast. Aberglaube hin oder her... Erst, als alle fort sind - Sarah und Harry sind extra mit Jan und seiner kleinen Kusine Anna aus Berlin gekommen; Sarah hinterm Steuer unseres Autos, das ich ihr für die Dauer von Brunos Abwesenheit leihe - gibt`s auf meinem Radl` sitzend die Erlaubnis für Tränen. Anscheinend waren sie vor deiner Abreise irgendwie verboten.

Ach, Liebling; jetzt erst merke ich allmählich, daß wir zwei Hübschen eine ziemlich große Sache am Start haben. Muß auf dem Weg nach Hause absteigen, weil ich nichts mehr sehen kann, vor lauter-lauter...

Als ich das Haus betrete, klingelt das Telephon. Anrufbeantworter: die ehemalige Arbeitskollegin aus Fehmarn sagt ab. Sie habe keine Zeit, und daher wird also auch nichts aus diesem Schlafplatz. Zunächst bin ich deshalb durcheinander.

Nach ein wenig Sammlung beschließe ich, trotzdem die Kiel-Berlin-Route über Fehmarn zu nehmen, und fühle mich mit diesem Beschluß plötzlich überraschend frei. Niemand wartet auf mich. Jetzt noch rasch die Wäsche aufhängen. Geschirrspüler ausräumen, Spielsachen und Kinderbücher an die alten Orte zurück bringen, fegen, saugen. Das Chaos ist deutlich größer als sonst zu unseren Geburtstagen. An meinem vor ein paar Tagen kamen Familie und Freunde, selbst Nachbarn in solch einer Vielzahl vor allem deshalb, um sich von Bruno zu verabschieden. Natürlich auch von Max. All die Nichten und Neffen mit ihren Kindern; Max` Clara. (Wenn er das jetzt lesen könnte, würde Max auf seine gutmütige Art schimpfen: “...das ist nicht MEINE Clara...“)

Von meinen Freundinnen Agnes und Judith eine Fahrradversicherung - gültig für ein Jahr - geschenkt bekommen. Vermittelt Sicherheit, obwohl ich nicht glaube, daß ich sie brauchen werde.

Es soll einfach keine Pannen geben!

Betten auf - Betten abziehen... Die mit viel Mühe ausgehobenen „Fallen“ der Kinder im Rasen mit Komposterde wieder zugeschüttet. Wie beeindruckt - auch etwas erschrocken - unser süßer Jan von den Regenwürmern war! Kindertraktor mit Hänger in den Schuppen zurückbringen. Zwischendurch ziellos das Eine oder Andere für meine Reise neben die bereitstehenden Packtaschen legen. Ich sortiere mich beim Aufräumen.

Das Haus besinnt sich auf eine andere Atmung. Und sachte, sachte versiegt der Tränenfluß.

Es war schön, vorhin, gegen Mitternacht, deine Stimme zu hören. „Mein“ Max und du; nun schlaft gut ihr beide in eurer ersten Nacht auf dem Boot.

Seit 1 ½ Jahren hast du tatsächlich nicht eine einzige Nacht neben mir im Bett ausgelassen. Stets mit leichtem Schlaf, so daß du bei der leisesten Bewegung von mir fragtest: „... Alles in Ordnung...?“ So ganz vorbei ist es noch nicht mit den Tränen...

Freu` mich schon jetzt, wenn wir in 1- höchstens 3 Jahren Logbücher tauschen werden! Kassetten und so lasse ich auf jeden Fall daheim! Hab` ich ja sowieso ewig nicht genutzt...

Westwärts

2. Reisetag, 23.06.2019 Ziel: Jamaika

Position morgens: Giselau, Position abends: Helgoland

Schleuse: 18 Euro, Hafengebühr: 31 Euro

3:5o Uhr Wecken. In der total idyllischen Giselauschleuse. Bei Sonnenaufgang durch den restlichen Kanal. Brunsbüttel schleust uns als einziges Boot! Ebbstrom in der Elbe: 8 Knoten über Grund! Später am Nachmittag Gegenstrom. Danach wieder Okay. Kurz vor 21.00 Uhr auf Helgoland. Max war da noch nie!

Sehr schöner Segeltag mit Max (Sachen ausprobiert). Am Abend noch Inselspaziergang zu den Lummen, die gerade den „Lummensprung“ erledigen und zur „Langen Anna“. Max hat einen Minisonnenstich mit Kopfschmerz, trotz Kappe und Sonnenschutz. Morgen Ruhetag. Insel schauen/Düne/Robben/Baden u.s.w.

Sonst geht`s uns gut.

Ostwärts

Zuhause, So. 23.6.`19

Großes Bedürfnis, Klar-Schiff zu machen vor meiner Abreise. Sogar hinten im Garten noch den Ästeberg weggeschreddert. Meinen Rosen das Wasser-Buttermilch-Gemisch aufgesprüht.

Also deine „Rehe-Vergraul-Gartenarbeit“ heute übernommen. Wie wird wohl der Garten meine wochenlange Abwesenheit überstehen...? Hoffentlich wird der Sommer nicht wieder so mörderisch, wie im letzten Jahr.

Am Vormittag war Mutter da. Mitteilungsdrang, sowie Faszination bezüglich ihres Handys und der Teilnahme an deiner WhatsApp-Reisegruppe ist ins Unermessliche angewachsen. Unbedingt soll ich Photos anschauen und lesen, was Bruno schreibt, und Gott und die Welt daraufhin kommentiert. Daß ich ihre Begeisterung nur äußerst bedingt und eigentlich nur ihr zuliebe teile, scheint sie nicht wahrzunehmen. Völlige Verständnislosigkeit und auch so etwas wie Ärger darüber, daß ich immer noch handyresistent bin.

Versucht erneut, mich von der Notwendigkeit, ein Handy für meine Tour anzuschaffen, zu überzeugen. Macht sich Sorgen. Versuche, ihr diese zu nehmen, indem ich verspreche, mich häufig bei ihr zu melden. Ein paar Telephonzellen gibt`s ja schließlich noch auf dieser Welt...

23:00 Uhr. Müde und aufgeregt zugleich. Viel geregelt heute. Bißchen zuviel wahrscheinlich. Sollte aufpassen. Habe mir eine Blasengeschichte zugelegt. Tee und Augentropfen gegen das ständige Gepieke besorgt. Bin überzeugt davon, daß alles nur schlimmer wird, wenn ich meine Reisepläne verändere. Ja; morgen geht`s los!

Und wenn ich in ca. 5 Wochen wieder zuhause bin, buche ich den Flug nach Jamaica und nach New York, und kaufe einen richtig tollen Staubsauger...

Westwärts

3. Reisetag, 24.6.2019 Ziel: Jamaika,

Position morgens: Helgoland/Position abends: Helgoland

Hafengebühr: siehe gestern

Hafentag auf Helgoland! Zum Ausruhen. Erstmal ausgeschlafen, dann verholen müssen, weil wir am Abend nicht gesehen hatten, dass wir auf einem 16m-Platz lagen. Mit Marinesegler „Taifun“ Plätze getauscht.

Dann mit der Fähre zur Düne übergesetzt, und die Kegelrobbenkolonie besucht. Eindrucksvoll. Zirka 150 Tiere. Alle Generationen. Beim Baden/Schwimmen eine Bucht weiter tritt Max gegen eine Kegelrobbe unter Wasser! Beide erschrocken: Max sehr schnell aus dem Wasser, nachdem beide aufgetaucht und sich angeschaut haben. Tolles Erlebnis. Im Nachhinein ärgerte er sich ein bisschen, dass er nicht dringeblieben ist. Am Abend noch Essen gegangen (Pizza/Pasta mit „Kriegerfleisch“. Inzwischen noch ein Riesenboot aussen an unserem Zweierpäckchen. Beschlossen morgen früh spätestens um 7.00 Uhr nach Norderney zu segeln. (Borkum ist wegen der Tide nicht machbar.)

Ein schöner Hafentag mit Erlebnissen, Sonne und guten Gesprächen.

Ostwärts

Zuhause, Mo. 24.6.`19

Bin erst um 13:00 Uhr bei Tachostand 962 km losgekommen.

Morgens schaut die Mutter kurz herein, um das Neueste von den Seglern zu berichten, was ich ja bereits durch das gestrige Telephonat weiß. Davon sage ich nix, um ihr den Spaß nicht zu verderben. Die Sonne steht hoch, als sie sich verabschiedet. Vorher schießt sie noch ein Handyphoto auf der Terrasse vom vollgepackten Fahrrad und mir - selbstverständlich mit Helm! - welches sie sofort weiter sendet. (Erst viel später wird mir klar, daß das jetzt ja viele Leute sehen können. Will ich das? Na, egal...)

Als sie geht, kommt unser treuer Katerversorger Moritz. Diesmal ist alles ein bißchen anders, weil ich/wir ja so lange fort sein werden. Im Prinzip weiß er ja gut Bescheid über Katzenfutter, Schlüssel in der alten Blechmilchkanne usw. Gebe ihm für den Notfall - falls irgendwas mit Haus oder Garten sein sollte - die Telephonnummer von Mutter. Die kann sich ja dann bei Olga melden. Bitte ihn, die Blumen im Hause jeden zweiten Sonntag zu gießen. So sind sie`s gewohnt. Leider sind es ziemlich viele... Zeige ihm auch den Umgang mit dem Gartenschlauch. Damit er den Pflanzen unterm Dachvorsprung, die nie was vom Regen abbekommen, Wasser geben kann. Er verspricht, alles so zu machen, und ich beteuere, daß für mich nun wirklich nicht gleich die Welt untergehen wird, wenn die eine oder andere Blume nicht überlebt. (Wahrscheinlich hat er gemerkt, daß dies nicht so ganz wahr ist...)

Trinken noch einen kleinen Espresso im Garten, und unterhalten uns über Max. Er weiß viel mehr über seinen alten Kinder-Schulfreund als ich. Sind natürlich gut vernetzt; wie`s so schön heißt. Bringe ihn zur Gartenpforte, wo wir uns herzlich verabschieden. Fesch sieht er aus in seiner Feuerwehruniform. Er setzt sich in ein kleines rotes Auto von der Feuerwehr, um direkt als Ausbilder zu einem Lehrgang zu fahren.

Während ich ihm hinterher winke kommt Olga. Ich freue mich so sehr darüber, daß auch sie mir noch Tschüß sagen will. Kurz, jedoch ganz in Ruhe, setzen wir uns ins schattige Wohnzimmer. Natürlich reden wir über nichts anderes, als über ihre acht Enkel. Besonders über den Jüngsten. Mein süßer, kleiner Jan... den vermisse ich ja jetzt schon! Wie gut mir das tut; ihr Verständnis und Vertrauen. „Hilde“, sagt sie, „du bist sowas wie die Oma für all meine Enkel. Die Glücklichen haben gleich zwei von der Sorte!“ Dabei lächelt sie und umarmt mich kurz.

Thermoskanne mit frisch gekochtem Blasen-und Nierentee gefüllt, ein letztes Mal unser heimisches Klo aufgesucht, Lieblingsknopfohrring von Franka ins Ohrloch (einer meiner Lieblingsohrringe; besser gesagt.)

Den anderen - bisher noch nie getragenen -, den ich damals kurz nach unserem Einzug in dieses Haus, beim Putzen hinter einem Kühlschrankfuß fand, in das Beutelchen zu den drei anderen gelegt. Eine Perle in ihrem unvergleichlichem Schimmer. Und von seltener Form; nämlich wie das Oval des Eies. Das großartige Ei...

All die Jahre hatte sie ihr heimliches Versteck, und ich schämte mich die ganze Zeit - und auch in diesem Moment - weil ich sie weder der Besitzerin zurückgegeben, noch sie einfach weggeworfen habe. Weshalb ich das jetzt beichte, weiß ich nun wirklich nicht. Bitte nichts Max erzählen!

Und wieder wundere ich mich bei einem letzten unbeabsichtigten Blick in den Spiegel über die nachgewachsenen, ehemals langen, glatten, dunkelblonden Haare, die zu Löckchen geworden sind, in denen es viel Grau zu sehen gibt.

Fördewanderweg ist seit heute 13:00 Uhr gesperrt. Die gesamte Kieler Woche über. Die spinnen, die Römer... Dir brauche ich nicht zu erklären, was das an Umweg bedeutet. Nun trinke ich erstmal in einer versifften und vollkommen verräucherten Eckkneipe in Laboe einen großen Kaffee. Klobesuch. Darf meinen Pott mit wirklich starkem Filterkaffee mit nach draußen nehmen. Hab` die Augentropfen vergessen, und warte jetzt bis die Apothekenmittagspause beendet ist, um mir neue zu kaufen. Sehr heiß und sehr windig. Die Sonnenstrahlen setzen dem Auge heftig zu. Sonnenbrille nützt seltsamerweise gar nichts. Schadet eher. Bin froh, daß ich wenigstens schon mal los gekommen bin. Und jetzt das mitgenommene Kalenderblättchen von heute. Von Theodor Fontane:

Guter Rat

An einem Sommermorgen

da nimm den Wanderstab,

es fallen deine Sorgen

wie Nebel von dir ab.

So heimisch alles klingt

als wie im Vaterhaus,

und über die Lerchen schwingt

die Seele sich hinaus.

In Schönberg ein Fischbrötchen gegessen. Ansichtskarte gekauft, beschriftet, und zu der Mutter auf den Weg gebracht. Habe die Idee, ihr immer dann ein paar Zeilen zu schreiben, wenn ich keine Telephonzelle finde.

Gut, daß ich schon mal viele Briefmarken gekauft habe. Nach ca. 35 km stellt sich ein „Lerchengefühl“ ein.

20:00 Uhr Hubertushöhe. Ich ganz allein am Strand. Den Schlafsack ausrollend beschließe ich, die Nacht hier zu verbringen. Esse Knäckebrot, Käse, Äpfel, Mohrrüben, trinke Wasser dazu und höre und sehe der Ostsee bei ihrer Plätscherei zu.

Und ihr; welches Wasser habt ihr um euch herum? Die Nordsee vielleicht? Denke viel darüber nach, wie ihr wohl miteinander klarkommen werdet. Kann mir das eigentlich überhaupt nicht vorstellen. Ihr wart euch doch nie besonders nah. Jedenfalls habt ihr nie viel miteinander geredet. Naja; das Interesse fürs Segeln(oder soll ich besser die Leidenschaft sagen?) verbindet wohl...

Beim Pinkeln einen Donnerkeil gefunden.(Mit fast jedem unterwegs angetroffenen Gebüsch dank Tee vertraut). Entdecke das „alte“ Fläschchen mit den Augentropfen gut verwahrt in meiner neuen Lenkertasche!

Extrem tüddelig heute...Lese ein wenig in dem Buch, das Du mir zum Geburstag schenktest. Es ist vom Dalai Lama und heißt: „Kleines Buch zur inneren Ruhe“. Die finde ich nicht.

So packe ich mein ganzes Geraffel wieder in die Packtaschen, gehe an der Steilküste zurück zum Rad. Die Augen sind froh über weniger gleißendes Licht, über etwas abgekühlten Wind, abendliche Ruhe, in der sich spürbar Tiere und Pflanzen auf die Nacht vorbereiten, und ich, ich finde in der Bewegung zu meiner inneren Ruhe.

Falle auf ein wettergegerbtes, altes geschnitztes Schild rechter Hand neben dem Radweg, auf einen Feldweg Richtung Ostsee hinweisend, herein. „Hafen Lippe 7,3 km“, ist zu lesen. „Hurra“, denke ich, „da bin ich mal mit Dir gewesen! Das schaff` ich noch, bevor es ganz dunkel is`...“

Sehr bald ist kein Weg mehr erkennbar und hoch gewachsenes Gras zwingt zum Absteigen und Schieben. Ein prächtiger Hase rennt direkt vor meinem Vorderrad in den neben mir liegenden Wald. Rehköpfe mit aufgestellten, gespitzten Ohren. Eine Eule laut rufend direkt über mir. Bussarde. Etwas läuft da sehr schnell. Ein Fuchs? Oder Marder? Ich störe alle. Die Tiere flüchten vor mir. Den Bäumen ist`s nicht möglich; sonst würden sie`s bestimmt auch tun. Höre das Meer, ohne es zu sehen. „Holsteinische Schweiz“: bergauf, bergab. Stockdunkel. Als ich eine kleine Funzel im Wind hin und her taumeln sehe, bin ich erstaunt darüber, daß dies doch tatsächlich die Hafenlaterne von Lippe ist! Ignoriere ein Schild. „Betreten des Hafengeländes nur für Segler gestattet...“

Der winzige Hafen ist voll mit Booten. Alles dunkel und sehr still. Eine alte Holzbude. Fischimbiss. Davor vier offene Strandkörbe, runde Tischchen mit ein paar Gartenstühlen. Mache es mir in einem der Strandkörbe bequem. Bin so erledigt, daß es mich reichlich Überwindung kostet, die paar Meter zum Ufer zu gehen, um dort, statt direkt bei meiner Lagerstatt, Tee und sonstige Flüssigkeiten dem Wasser zu übergeben.

Schlafen jetzt. Hoffentlich ist es morgen weniger stürmisch.

Westwärts

4.Reisetag, 25.06.2019 Ziel: Jamaika,

Position morgens: Helgoland/Position, abends: Norderney

Hafengebühr: 20 Euro

Morgens um 6.00 Uhr aufgestanden, und festgestellt, dass nachts (3.30 Uhr) noch ein „fetter“ Engländer das Päckchen vergrößert hat. Um 6.45 Uhr beide Nachbarn außen losgemacht, um auslaufen zu können. Bei ca. 5 Windstärken aus dem Hafen.

Max hatte schon abends Kopfschmerzen; sind beim Schlafen leider nicht verschwunden. Muß nach einer Stunde einmal opfern, und geht dann für drei Stunden in die Koje. Danach besser. Ein Glück; er tut mir echt leid!

Dann aber wieder sehr gutes Segeln und Navigieren nach Norderney. Alles richtig berechnet: mit Strom in das Seegatt geheizt, und um ca. 17.00 Uhr in Norderney fest.

Erstmal zusammen Baden gegangen, unglaublich heiß (32 Grad C°). Wasser erfrischend. Max am Boot geblieben, geduscht usw. Ich, Klapprad: Insel und Ort anschauen. Danach selbst geduscht, während Max einen sehr leckeren Salat und Kartoffeln macht. Einkauf dafür auf Helgoland. Zusammen gegessen und erzählt.

Beschlossen die nächste Etappe morgen Vormittag nach Den Helder zu starten (120 SM) und die erste Nachtfahrt einzuplanen. Haben beide Lust darauf. Wind soll etwas mehr, aber günstig sein. Mir, und Max glaube ich geht`s auch ganz schön gut.

„Grotamar“ nachfüllen.

Ostwärts

Hafen Lippe, 25.6.`19 4:50 Uhr km:1018

Wie gut, daß ich es gestern doch noch zum Wasser geschafft habe, denn beim morgendlichen Augenaufschlagen blicke ich doch direkt in das runde Auge einer an der Bude angebrachten Überwachungskamera! Nix wie weg hier!

Keine menschlichen Geräusche, außer meinem Atem. Die Sonne steht schon hoch. Windstill. Juchhu, nicht nur die Beine können sich freuen. Lerchengezwitscher. Leise bewege ich mich zu einer Holzbank mit Tischchen. Blick auf den Hafen. Inhalation und Augentropfen, und einmal wieder denke ich dankbar: „... Nach all dem nur so wenig Medizin!“

Nach meinem weltbesten Espresso und einem kleinen Frühstück sowie zwei Bechern Blasen-und Nierentee, und Zähneputzen, nehme ich noch rasch ein Bad in der Ostsee, welche ich bei der Gelegenheit enorm vergrößere. Hellwach die Lebensgeister. Die Knochen machen prima mit; spüre sie kaum. Ein Blick auf die Karte und auf geht`s! Wind ist leider zunehmend und zunehmend...

19:00 Uhr. Jugendherberge in Burg auf Fehmarn erreicht. Bin so dermaßen hinüber, daß ich gerade noch den Mitgliedsausweis erwerben, mich die Treppe zu dem 6-Bettzimmer hochschleppen (muß zweimal gehen; zu schwer sind all die Taschen mit einem Mal), aufs freie untere Bett plumpsen, und in einen ohnmachtsähnlichen Schlaf fallen kann.

Nach zwei Stunden die Augen unendlich schwer auf bekommen. Geweckt worden von einer Frau in meinem Alter, die mich offenbar unbedingt begrüßen wollte. Bin unter die Dusche geflüchtet. Alles geht unglaublich langsam und zittrig. Alles tut weh. Sonnenbrand. (trotz wiederholtem Eincremen; wo die Sandalen ihre Aussparungen haben, ist auf meinen Füßen deutlich zu sehen.) Brennen beim Pinkeln. Fieber. Bekomme es mit der Angst zu tun.

Das war eindeutig zuviel! Wenn ich auf diese Art weitermache werde ich krank! Also: tief in dich hineinhorchen Hilde, und schauen, was für dich jetzt erholungsmäßig das Beste wäre!

Schleiche also zur Rezeption und buche für eine weitere Nacht. Nach dieser Tat geht`s sofort besser. Jeder Schritt will vorher gut überlegt sein. Erinnert mich an meine schwächsten Zeiten während der Therapie, wo ich mir jede Bewegung gut einteilen mußte. Sonst bekam ich die Teetasse nicht zum Mund...zum Beispiel.

Die zwei (bzw. drei, wenn ich das Schreiben dazu zähle) letzten Aktionen dieses Tages sind: 1. Hübsch vorsichtig das Radl zu dem dafür vorgesehenen Schuppen schieben. (Hatte ich unabgeschlossen neben der Haustür an die Wand gelehnt...) 2. Bett beziehen

Olga sprach von der „Macht der Gedanken“. Ich spreche lieber von der „Kraft der Gedanken“. Auch der Dalai Lama beschäftigt sich mit diesem Thema. Da ich fest von jener Kraft überzeugt bin, habe ich gute Gedanken für und an Dich und Mäxchen.

Westwärts

5. und 6. Reisetag, 26.06./27.06.2019 Ziel: Jamaika,

Position morgens: Norderney, Position abends nach 27 Stunden: Den Helder

Nachtfahrt. Zunächst im Hafen Norderney ein Reff ins Groß gebunden. Dann Ansteuerung „Dovetief“(„Taubentief“...?) gegen Wind und heftige Welle gekreuzt. Anschließend auf Kurs Den Helder.

Max sagt, ihm ist etwas mulmig, ich sage das gleiche. Bei mir allerdings wird es schnell schlimmer: ein Schluck Cola und ich darf mich über die Reling hängen! Im Laufe der nächsten Stunden keine Besserung, eher Verschlimmerung.

Max ist total klasse und übernimmt das Ruder für die nächsten 9(!) Stunden! Jedesmal, wenn ich mich langlegen will oder die Augen schließe wird es noch schlimmer! So kenne ich das nicht! Zwischendurch noch ein paar gemeinsame Manöver (Max mit Gurt und Lifebelt am Mast, ich an der Pinne...) Danach lege ich mich nach erneutem Kotzen dreimal in die Koje, wo ich erst beim dritten Mal (zwischen 3.00 und 5.00 Uhr) richtig schlafe; danach deutlich besser. Max hält die ganze Zeit an der Pinne durch und erledigt seine erste Nachtfahrt quasi alleine. (Sehr schlechtes Gewissen meinerseits!) Davon will er aber nichts hören!

Als ich ihn um 5.00 Uhr endlich ablöse, und er endlich in seine Koje kann, ist er anschließend noch genervt von mir, daß ich ihn habe bis 9.00 Uhr einfach schlafen lassen: er wollte doch nur 2 Stunden!!! Danach stabile Lage bei allen Beteiligten, und wir verbringen den Vormittag mit Segelstellungsexperimenten (genau von achtern) und Kaffee und “Behelfsfrühstück“. Nach schönem Aufkreuzen nach Den Helder sind wir dann froh im Hafen und wie geplant mit der Tide angekommen zu sein.

Plan für morgen doch nicht Amsterdam, sondern Scheveningen (Den Haag).

Mit dem Fahrrad von dem Marine-(Militär)hafen, wo wir gelandet sind, in die Stadt! Sehr nett. Gibt auch Coffeeshops, aber quasi keine Banken/Geldautomaten. Mit Max Abendbrot gegessen und dann relativ früh in die Koje. Morgen Wecken um 7.00 Uhr.

20 l Trinkwasser nachgefüllt, „Grotamar“ erledigt!

Ostwärts

Burg/Fehmarn, 26.6.`19 Km:1087

Die Herberge ist voll mit Jugendgruppen. Hormone, Hormone; entsprechendes Gekicher, schubsende Körperkontakte, verstohlene Blicke, Grüppchenbildungen von jeweils Jungen und Mädchen, die sich plötzlich vermischen, und sich sofort wieder trennen, und in die scheinbare Sicherheit des eigenen Geschlechts zu flüchten. Mit viel Gejohle und spitzen Schreien wiederholen sich diese Spiele, und es hallt ganz wunderbar in diesem steinbodenbewehrten Hause...

Nach einem Frühstück mit allem Pi-Pa-Po, bei dem ich mittendrin das muntere Treiben gut beobachten kann, und darüber die Wehwehchen buchstäblich aus den Augen verliere, radle ich über viel Kopfsteinpflaster zum Marktplatz von Burg. Reges Leben im Schatten der roten Backsteinkirche, denn es ist Markttag.

Bin bereits erschöpft nach dem Kauf von sogenannter After-suncreme und einer Ansichtskarte und gehe daher in eine italienische Gaststätte, deren Terrasse ebenfalls im Schatten der Kirche liegt. Neben der Tür des Lokals ist ein ca. ein Meter langes Thermometer angebracht. 29° C im Schatten um 9:30 Uhr! Bestelle einen doppelten Espresso und dazu eine Flasche Wasser ohne Sprudel. (Kohlensäure scheint mir momentan etwas zu stark. Bin ein bißchen stolz auf mich selbst, weil ich doch ziemlich gut auf mich aufpasse.) Bevor der Kellner mit den Sachen wiederkommt; schnell die Toilette aufgesucht und die kühlende Creme überall dort aufgetragen, wo die Sonne mich gestern verbrannte.

Weiße Nase, weißes Dekollete, weißer oberer Rücken und weiße Füße... Grinse beim Blick in den Spiegel - denke natürlich sofort an das Kapitel aus „Die Kuh, die weinte“, in dem der Autor A. Brahm genau dies empfiehlt, nämlich täglich lächelnd in den Spiegel zu schauen, und muß nur noch viel mehr lächeln.

Bin froh über die lange, leichte Leinenhose, die ich seit gestern trage. Lege mir vorsichtig das dünne Tuch um die Schulter, und treffe draußen den Kellner beim Servieren an, der auf meine Frage, wo es die nächste Telephonzelle gäbe, behauptet, daß gar keine mehr in Burg vorhanden sei. So werde ich wohl eine zweite Karte für Sarah kaufen, der ich schließlich wie jedes Jahr zu ihrem heutigen Geburtstag gratulieren möchte. Also beschrifte ich, mit Muße Kaffee und Wasser genießend, die Karte an Mutter, und auf der anschließenden Suche nach einem Briefkasten, entdecke ich am Marktplatz in unmittelbarer Nähe des Lokals, gleich zwei Telephonsäulen. Der Mutter spreche ich einen Gruß, und Sarah schmettere ich so laut ich kann ein Geburtstagsständchen, sowie beste Wünsche und liebste Grüße an den Lütten und Harry auf den Anrufbeantworter. Passanten mustern mich mehr oder weniger amüsiert. Mir gefällt die Vorstellung, für etwas verrückt gehalten zu werden. Kennt mich ja keiner...

Außerdem bin ich gar nicht traurig, keine von den beiden persönlich erreicht zu haben, denn mir ist immer noch ziemlich kodderig, und irgendwie bin ich sehr nah am Wasser gebaut. Sicher wären einige Energien dabei draufgegangen, nicht loszuheulen.

Sehe das Schild, dass die Richtung zum Bahnhof angibt und habe ganz, ganz kurz dieses Bild vor Augen: Hilde mitsamt ihrem Geraffel und Rad im Zug nach Hause zu dem Kater und ihren Blumen...

Morgen noch ein Ausruhtag auf der Insel und dann schaun mer mal.

Burg/Fehmarn, 27.6.`19

Mir ist jetzt klar, was da in seiner Gesamtheit zu diesem Erschöpfungszustand führte. Nicht nur die Sonne, die Blasengeschichte, Nachwirkungen der Behandlung im letzten Jahr, körperliche Überanstrengung; in der Mittagshitze in Heiligenhafen immerzu im Kreis gefahren, einfach nicht rausgefunden aus dieser verdammten Stadt, so daß ich schließlich in meiner Verzweiflung an der stark befahrenen Bundesstraße ohne Radweg zur Brücke nach Fehmarn wackelte.

Nein; es ist da auch so ein Getriebensein.Weiter, weiter, immer weiter... Womöglich schaffst du`s nicht pünktlich zum Familienfest in Berlin zu sein...

Die ständige Sucherei in den zwei Packtaschen, dem Rucksack und der Lenkertasche kostet Nerven. Sorgt auch für Ärger auf mich selbst, wo ich mir doch so umsichtig extra eine Küchen - sowie eine Kleiderschrankabteilung in den Taschen einrichtete... Trotzdem andauernd dieses Durcheinander!

Und vor allem diese Brücke! Diese Höhe! Lediglich auf einer Seite gibt es einen sehr schmalen Wander - bzw. Radweg. Neben mir der Abgrund! Schaumkronen auf dem Meer tief unter mir. Was für ein Sog! Hinab, hinab... Meine bekannte und ausgeprägte Höhenangst läßt sich partout nicht ignorieren. Mach` mir fast in die Hose vor lauter Angst.

Und die Gedanken an euch. Max schläft im Cockpit, wie ich (natürlich) von Oma Gerda erfuhr. Versteht ihr Euch womöglich nicht? Öfter mal war und bin (?) ich ja nun mal die Vermittlerin...

Fünf Tage seid ihr nun schon unterwegs. Es war so schön, wie ihr nach dem Ablegen allen Zurückgebliebenen zugewunken, und Du, mein Bruno, lang und anhaltend die Schiffshupe betätigt hast. Bleib` ruhig. Du brauchst ja niemandem etwas beweisen. Noch nicht einmal dem Max. Du weißt doch, wie das ist: je mehr man das versucht, desto mehr Fehler passieren.

Gestern schrieb ich wohl etwas abfällig über die Dame in „meinem“ Zimmer. Sie ist tatsächlich sehr mitteilungsbedürftig, aber es ist auch wirklich interessant, was ich zu hören bekomme. Und sie ist mit ihren 76(!) Jahren eine imposante Erscheinung. Hennarotes, stets offen getragenes, Haar, hinunterreichend bis zu ihrem ziemlich breiten Gesäß. Reisen ist ihr Lebensmotto. Davon vielleicht später.

Am Abend gesellt sich noch eine Lehrerin aus Hamburg ins Zimmer, die den selben Namen trägt wie Olgas`Älteste, Evelyn,. Komme sehr schnell ins Gespräch mit ihr, und wir gehen zusammen in den Ort und essen ein Eis. Adressen ausgetauscht.

Bei dieser Gelegenheit kurz mit der Mutter telephoniert, die mir Bericht erstattete: nach der ersten Nachtfahrt Norderney erreicht, Segler sind wohlauf, obwohl Max beim Baden mit einer Robbe zusammen gestoßen ist. Du meine Güte..., da hätte auch Schlimmeres passieren können. Schließlich haben diese Tiere ja Zähne...

„Guter Schlaf“, sagt der Dalai Lama, „ist sehr wichtig für Alles“. Ja, ich Glückliche hatte ihn! Blase ist fast wieder die Alte, und auch sonst ist alles viel besser. Und, Du? Du Heide? Ich bete dafür, daß auch Du ihn hast. Den guten Schlaf. Besonders bei nächtlicher Segelei, wenn Du und Max abwechselnd nach kurzen Stunden eure Wachen absolvieren müsst...

Zurückgekommen in der Herberge überreicht der Herbergsvater mir ein Zettelchen, welches er gerade mit Tesafilm an unsere Zimmertür bappen will.

„Liebe Grüße von Ihrer Nichte Sarah, die sich sehr über Ihr Ständchen gefreut hat. Außerdem soll ich Ihnen sagen, daß sie gut auf sich aufpassen sollen. Und sie wünscht eine gute Nacht.“ Bin gerührt. Den Zettel hebe ich natürlich in meinem Logbuch auf.

Und jetzt erstmal (sehr frühzeitig; die Sonne ist längst noch nicht unten) ins Bettchen, denn morgen geht`s runter von der Insel. Mit frischem Mut über die Brücke. Leider hat der Wind im Laufe des Nachmittags wieder ordentlich zugelegt.

Westwärts

7. Reisetag,28.6.2019 Ziel: Jamaika,

Position morgens: Den Helder, Position abends: Scheveningen Hafengebühr: 41 Euro

Morgens um 8.30 Uhr mit dem Strom raus. Danach auf Kurs Süd mit achterlichem Wind gegen 2 Knoten Strom. Verschiedene Sachen mit der Windfahne und den Segeln ausprobiert. Ruhiger, sonniger Tag. (nicht heiß!) Gegen Abend beim Üben des Beidrehens ein Riss in der Fock. An der „Marstal-Reparatur“! Genervt!

Bei Sonnenuntergang in den Hafen motort. Supervoll! (Motoryachten) Max steigt aus, und schnackt mit den Leuten von einer Megamotoryacht, die morgen nach Kanada geht. Die empfehlen eine Lücke, in die wir „einparken“. Hafenamt schon geschlossen. Abendbrot, und Plan für morgen: Segelmacherei finden, Segel reparieren; hier bleiben (sowieso kein Wind angesagt). Wahrscheinlich Sonntag umso mehr! Also vielleicht erst Montag oder Dienstag weiter.

Bin sehr froh über die Strecke, die wir schon geschafft haben. Kurz vor der Einfahrt in den Hafen rief Hilde von P. und H. aus Lübeck an. Gefreut!

Mal sehen, wie es mit der Reparatur klappt. Werde auf Dauer wohl um eine neue Fock/Genua nicht herumkommen. Na Danke!

Ostwärts

Unter der Brücke, 28.6. `19

„...was für ein Wind, was für ein Wind...!“, aber im Gegensatz zu Klein Ida (A. Lindgren aus „Michel aus Lönneberga“) finde ich das nun überhaupt nicht lustig.

Auf dem Weg bis hierher wurde ich fast vom Deich geweht. Setze mich auf eine Bank. Direkt neben mir die gewaltigen Brückenpfeiler. Vor mir das aufgepeitschte Meer. Regenschwere, dunkle Wolken jagen sich gegenseitig. Versuche, mir die Augenmedizin zu geben. Klar, daß die Tropfen sonstwohin fliegen; nur nicht in die Augen... Leider verabschiedet sich bei dieser Aktion auch gleich noch der Verschluß des Fläschchens...

Was für`n Scheiß das Ganze! Schiß wegschreiben gelingt bedingt. Es tut gut, Trauriges zu Papier zu bringen. Mitten in der Nacht plötzlich hellwach gewesen, weil jemand (weiß nicht wer) im Traum zu mir einen einzigen Satz sagte: „Rudi ist tot.“

Das war der ganze Traum. Wirklich! Es ist nicht so, daß ich etwas vergessen habe, oder nicht erinnern kann.

So einen kurzen Traum hatte ich bestimmt noch nie. Da lag ich in diesem schmalen Etagenbett und wunderte mich über mich selbst. Keinerlei Betroffenheit. Sehr rasch war ich wieder eingeschlafen. Jetzt jedoch ist alles anders. Die Brücke, der Sturm, das Alleinsein.

Nur mein toter Bruder scheint bei mir zu sein. Ich kann seine Stimme hören. Ganz leise.

Nehme mir vor, in Heiligenhafen eine Telephonzelle zu finden. Mutter anrufen. So, und nun geht’s rüber!

Heute sind Wohn, und Lastwagen verboten. Im Gegensatz zu dem, was jetzt hier ist, war der Hinweg zur Insel vor zwei Tagen ein netter Spaziergang...

Nur langsam schiebend lässt sich die Brücke überwinden. Heftige Böen, so daß da nicht nur die Furcht ist, ins Meer, sondern auch auf die stark befahrene Straße geblasen zu werden. Immer wieder werden Rettungsgassen gebildet, um Feuerwehr - Notarzt - Polizeiwagen mit hohem Tempo vorbei zu lassen. Sirenen, Blaulicht. Hubschrauber direkt über mir Richtung Heiligenhafen. Sie schlucken die Sturmgeräusche; lassen mich jedoch weder die Höhe, noch die Tiefe - so tief, so tief - unter mir vergessen.

Erreiche endlich die Landstraße mit Radweg. Nach ca. 500 Metern Vollsperrung. Autos stehen in der Schlange, Fußgänger dürfen nicht weiter und Radler natürlich auch nicht. Schwerer Verkehrsunfall. Überall Polizisten mit bleichen Gesichtern, die aufpassen, daß sich tatsächlich niemand der Unfallstelle nähert. Stille.

Plötzlich absolute Stille. Nicht ein Vogellaut, nicht ein Windhauch. Und auf einmal ist mir klar: mein nächtlicher Traum hat diesen Unfall vorweggenommen. Hier ist jemand gestorben.

Mit Rudi hat dies nichts zu tun. Und ich bete für die in den Unfall verwickelten. Nach einer längeren Wartezeit lassen die Polizisten Fußgänger und Radler auf dem Radweg weitergehen. Niemand spricht. Alles scheint in Zeitlupe abzulaufen.

Westwärts

8. Reisetag, 29.06.2019 Ziel: Jamaika,

Position morgens: Scheveningen, Position abends: Scheveningen Hafengebühr: 41 Euro

Hafentag wegen Segelreparatur. Um 10.00 Uhr in die Segelmacherei. Mit einer sehr netten Segelmacherin und ihrem Chef das Segel lange begutachtet! Lohnt eigentlich nicht mehr zu reparieren. Wird trotzdem (Zeit) gemacht (180 Euro) und morgen Abend (leider erst!) am Boot ein neues ausgemessen, das dann nach Brest – oder woandershin - nachgeschickt wird...ca. 1500 Euro...

Um 15.00 Uhr abgeholt (jedesmal ein irrer Weg um den ganzen Hafen mit der Karre herum...). Anschließend Einkaufen. Danach Segel wieder anschlagen: OK!

Im Ankerkasten fließt das Wasser nicht durch die Lenzöffnungen ab, obwohl sie nicht verstopft sind, und das Boot gut getrimmt im Wasser liegt??? Max reinigt noch im Hafen (mit Badehose und Taucherbrille) das Ruder und befestigt die klappernde Badeleiter.

Dann später zum Südstrand zum Baden. Unglaublich viel los! Danach lädt Max mich zum Essen (Thai) ein: sehr lecker! Wieder auf dem Boot (23.30 Uhr) noch ein bißchen reden, ein Bier, nochmal duschen und dann in die Koje. Morgen noch ein Hafentag (Segel...). Den Haag anschauen. Und am Montag dann endlich sehr früh weiter! (Heiß!!!)

Max spricht nochmal seine Sorgen um Sicherheit an Bord an: wir vereinbaren, uns prinzipiell bei Wind/Welle/Nachtwache usw. auch im Cockpit einzupicken.

Eigentlich fällt es mir sehr schwer, Kritik anzunehmen. Andrerseits freue ich mich darüber, daß Max und ich auf Augenhöhe kommunizieren, diskutieren und Lösungen finden. Unterm Strich alles gut! Bin sehr froh, daß er dabei ist; auch als Regulativ.

Ostwärts

Scharbeutz, 29.6.`19

Mitten in der Nacht in der Jugendherberge in Scharbeutz angekommen. Jetzt sitze ich hier auf dem Hof, in den ich mich gestern hineinschlich, und versuche so eine Art von Betäubung mit Hilfe von Logbuch schreiben, sowie sehr viel Espresso von mir abzuschütteln.

Was für ein Tag gestern! 80 km.War einfach zuviel. Kurz hinter Heiligenhafen wurde es warm. Die Bewegung war heilsam; so sehr, daß ich nicht gewahr wurde, wann es genug gewesen wäre. Das merkte ich erst beim Absteigen in der dunklen und stillen Jugendherberge. Natürlich waren alle Türen verschlossen. Pinkeln und schlafen; nur noch schlafen.

Und egal, wo. Nur das bescheidene Sanitärgebäude hatte ein schmutziges, von Mücken umschwirrtes Lämpchen über der weit geöffneten Tür. Ab zum Klo! Spärlich beleuchtete das Licht den Hof, wo ich zu meiner größten Überraschung Zelte ausmachte. Viele und große. Erinnerte mich an Militärzelte. Jedes mit einer Art Vordach. Darunter Holzpaletten. Auf diesen sah ich die Umrisse von Kunststoffmöbeln, Trockenständern, Kleider - oder Handtuchhaufen. So konnte ich erkennen, welche Zelte belegt waren. Außerdem waren die Planen der Eingänge der bewohnten Zelte seitlich festgebunden. Am äußersten Ende des Grundstücks endlich eines mit leerer „Terrasse“ und zugeklappter „Tür“. Innen sah ich bei dem Licht meines Feuerzeugs dicht an dicht links und rechts jeweils zehn leere Pritschen stehen.

So fühlt sich also eine Einbrecherin... Mir war kalt vor Müdigkeit. Also die dicken, selbstgestrickten Wollsocken von Mutter über die eiskalten Füße, rein in den Schlafsack, und sofort auf der ersten Pritsche neben dem Eingang eingeschlafen.

Ja, heut` werd` ich`s wirklich ruhig angehen lassen! Ausgiebig gefrühstückt. Bei Sonnenaufgang auf meiner Terrasse schreiben, und dabei beobachten, wie allmählich alles um mich herum erwacht. Zusammen gepackt, gründlichst Zähne geputzt, Sonnenschutzcreme auf alle unbedeckten Hautregionen, und auf zur Rezeption, wo ich der Dame beichte, daß ich ein Zeltbett und Wasser gebraucht habe.

„ Das geht aufs Haus,“ antwortet sie lächelnd auf meine Frage, was ich zu bezahlen hätte.

Fühle mich von Minute zu Minute frischer und vor allem zuversichtlicher. Heute will ich nur Lübeck erreichen und mich an die Karte halten. Also immer hübsch auf dem eingezeichneten Weg bleiben (meine „Kopenhagen - Berlin - Route“- Karte war schließlich teuer genug!), und nicht wie gestern kilometerweit im Nieselregen und kräftigem Gegenwind bergauf-bergab fahren, weil ich unbedingt direkt neben der Ostsee bleiben wollte.

Als ich dann nämlich endlich den Weg oben auf der Steilküste erreicht hatte, war der gar nicht mehr so richtig da. Nur eine Absperrung mit einem im Winde schaukelnden Schild: „ Sturmschäden! Wegen Abbruch des Weges ist das Begehen untersagt! Der Bürgermeister“

„Nee, Herr Bürgermeister, Sie glauben doch wohl nicht im Ernst, daß ich jetzt diese ganze Strecke wieder zurück fahre...!“ dachte ich und konnte doch tatsächlich nach Umgehung der Absperrung - und mich herrlich rebellisch fühlend - noch ein Weilchen mein Rad problemlos schieben. Doch dann war der schmale Weg abrupt zu Ende, und ich sah mich stattdessen der relativ frisch abgebrochenen, etliche Meter steil abfallenden Kante gegenüber. Herzklopfen.

Links tief unter mir das immer noch recht wilde Meer, rechts neben mir teils dorniges Gebüsch und hohe Gräser. Bahnte mir einen Weg nur mit dem Gepäck und ohne Rad. „Vergaß“ den Abgrund, und während meiner Pinkelpause entschloss ich mich, den nicht vorhandenen Weg fort zu setzen.

Gepäck abstellen, Rad nachholen. Erneut Gepäck schleppen, Rad holen. Dies wiederholte ich solange, bis ich in einiger Entfernung sah, daß die Steilküste abfiel, und sich allmählich zum Strand entwickelte. Dort war nur noch Alles zirka einen halben Meter zum Strand hinunter zu heben.

Ich sah den alten, richtigen Weg! Alles über Steine und Sand dort hinschaffen, aufladen und endlich schweißüberströmt weiterradeln bis zu einem kleinen Parkplatz, wo ein paar Leute, die sich jedoch bei diesem Wetter zunächst nicht blicken ließen, in bemalten Wohnmobilen und VW-Bussen wild campten. Drei Hunde begrüßten mich schwanzwedelnd. Hippieambiente.

Unter einem großzügig überdachten Infostand des Naturschutzbundes mit Holzbänkchen nahm ich Platz, und war glücklich und stolz, dieses Abenteuer ganz allein ohne allzu viele Blessuren überstanden zu haben. (Zwischendurch oft gedacht, wie einfach alles mit Dir zusammen wäre. Und auch, daß ich umkehren sollte. Schon sehr gut, daß ich mir nicht den Fuß verstaucht habe oder so; so ohne Handy. Da nützt auch die schönste Radversicherung wenig...)

Mittagspause. Mit Hilfe der Packtaschen schützte ich die Flamme des Campingkochers vorm Wind. Gelang nicht so gut, und ich wartete lange, ehe der Kaffee durchgeblubbert war. Beruhigend; Reservekartusche ist dabei! Äpfel, Knäckebrote mit Käse, Tomaten, Wasser und Espresso. Alles fein säuberlich auf meinem Geschirrhandtuch auf dem Bänkchen ausgebreitet. Kein Regen mehr. Die Sonne zeigte sich wieder, und als ich gerade mit meiner Mahlzeit beginnen wollte, tauchten schüchtern zwei Mädchen im Alter von 6 - 7 Jahren in Begleitung der Hunde auf.

In einigen Metern Abstand schauten sie schweigend, ernst blickend, und sehr aufmerksam zu mir hinüber.

„Hallo“, rief ich, „wollt ihr was abhaben?“ Ohne näher zu kommen sagte das ältere Kind:

„Unsere Mutter will wissen, ob du was brauchst.“

„Vielen Dank“, antwortete ich, „ich hab` Alles. Aber sie kann gern einen Schluck Kaffee bei mir trinken, wenn sie will.“ Die Mienen der Kinder hellten sich auf.

Sie liefen weg, um kurz darauf mit ihrer Mutter zurück zu kehren. Auch sie sehr schüchtern hielt mir eine Untertasse voll mit Keksen entgegen: „Bitte“.

„Oh, danke“, sagte ich. Stellte das Tellerchen zu den anderen Sachen, spülte schnell mit etwas Wasser den Becher meiner Thermoskanne aus, und reichte ihr den mit Espresso gefüllten Becher. Die Drei, die Hunde sowieso, wurden schnell zutraulich. Den Kindern schmeckte alles, und ihre junge Mutter meinte, sie habe noch niemals so guten Kaffee getrunken.

Sie waren sehr interessiert an mir. Woher ich komme, wohin ich fahre, wie alt ich bin, ob ich Kinder habe, ob ich wirklich ganz allein sei.

Von den Selbstgesprächen abgesehen hatte ich wenig gesprochen in den letzten Tagen. Das merkte ich auf einmal bei dieser Begegnung. Wir wünschten uns gegenseitig alles Gute, die Hunde wurden gestreichelt und kurz zum Abschied winkend, fuhr ich weiter.

Heiß geworden. Parallel zur Strandpromenade verläuft der Radweg. Menschen, Menschen und noch mal Menschen. Pommes Frites - Geruch wabert über allem. Die gesamte Küste gerahmt von Buden voller Eiscreme, Souveniers, Kleidung, Zeitschriften, Fressständen. Finde eine intakte Telephonzelle. ( Die in Scharbeutz hat keinen Hörer mehr...)

Juchhu, meine Lübecker Kusine freut sich auf meinen Besuch. Auch mit Mutter gesprochen. Ließ sich nicht bremsen: wollte unbedingt von Euch berichten. Mir würde es schon völlig reichen, lediglich zu erfahren, daß Ihr wohlauf seid.

Briefe, meine „Morgenseiten“, oder Ansichtskarten. Jede Schreiberei unterscheidet sich von der anderen. Natürlich kann ich das, was ich im Moment tue, eigentlich nicht als „Logbuch“ bezeichnen. Fühlt sich so ähnlich an, wie Briefeschreiben. Nun ja; nicht alles braucht einen Namen...

Liebevoll Empfangen von meiner Kusine Pia und ihrem Lebensgefährten Horst. Sie schlugen ein chinesisches Restaurant in der Nähe vor, und ich lud die Beiden dorthin ein. Wieder bei ihnen Zuhause mit Dir telephoniert, von ihrem Handy. So ist sie jetzt in deiner WhatsApp-Gruppe. Total begeistert davon.

Und ich begeistert vom anschließenden Duschen und dem frisch bezogenen Bett.

Westwärts

9. Reisetag, 30.06.2019 Ziel: Jamaika,

Position morgens: Scheveningen, Position abends: Scheveningen Hafengebühr: 29 Euro (?)

Noch ein Hafentag. Segelmacher kommt erst abends. Ausgeschlafen. Max nur semibegeistert, als ich ihn mit einem Kaffee wecke. Frühstück und danach Fußmarsch (Max. Ich: Klapprad) zum Fahrradverleih. Erst durch Scheveningen, dann nach Den Haag reingeradelt. In einem sehr großen Park ein nettes Festival mit zwei großen und mehreren Nebenbühnen. Eintritt frei. Super. Musik gehört. Ein Bier. Viel geredet. Dann Hunger bekommen und weiter.

In der Stadt einen Coffee - Wraps - Kiosk gefunden. Total freundlicher Mensch aus Ghana, der auch mit dem Boot gekommen war. Aber ganz anders... Spitzen vegetarische Wraps, guter Kaffee, unglaublich nett!

Auf dem Boot zurück war der Segelmacher schon da. Ca. 1 ½ Stunden ausmessen, reden, verhandeln, ein Bier trinken usw.; dann alles klar: Segel wird in ca. 14 Tagen (oder etwas mehr) dahin geschickt, wo ich dann bin. 400 Euro Anzahlung. Kommunikation über Whatsapp.

Max kocht dann noch ein so großes Curry, daß wir nach dem Essen (22.00 Uhr) noch gut für morgen übrig haben. Danach noch Abwaschen, Aufräumen, Logbuch schreiben und reden. Wecker auf 4.30 Uhr! Auch heute noch ganz schön heiß.

Segel ist bestellt. Ca. 1450 Euro

Vorne Wassertank umgesteckt.

Ostwärts

Lübeck, 30.6.`19

Eier, Salami, Frischkäse, verschiedene Sorten Käse, selbstgemachte Himbeer - Erdbeer - und Aprikosenmarmelade - Brötchen, Orangensaft, Kaffee, Tee. Ein wahrlich fürstliches Frühstück, bei dem vorwiegend über die Segler gesprochen wird. Und über ihr Pech wegen des gerissenen Segels.

Wir finden alle gut, daß dies jetzt passiert ist, und nicht später auf dem Atlantik. Meine zwei Gastgeber sind sehr angetan von Max und Bruno. „Wie Vater und Sohn! Wußte ja gar nicht, daß die beiden eine so gute Beziehung haben. Dein Bruno ist ja eher einsilbig; dem muß man doch immer die Würmer aus der Nase ziehen!“ lacht Pia, und fährt weiterhin herzlich lachend fort:

„Na, zum Glück sind wir da ja ganz anders, als unsere Männer! Und das muß man ihm ja nun wirklich lassen; er hat ja gut für dich gesorgt, als du Krebs hattest! Gut, daß wenigstens das jetzt vorbei ist. Dachte ja eigentlich immer, daß du dich besonders gut mit Max verstehst. Warum ist der eigentlich aus seinem eigenen Haus ausgezogen? Hat er wieder Kontakt zu seinen seltsamen Eltern? Na ja, als du so krank warst, war er ja wenigstens oft bei dir, oder?“

Geistesgegenwärtig erwidere ich: „Ehrlich gesagt möchte ich nicht mehr an die Vergangenheit denken.“

„Ja, ja, natürlich..., aber, was ich nun wirklich gar nicht begreife, weshalb du dir eine so große Tour antun musst, und das auch noch ohne Handy! Aber darüber haben wir ja gestern schon geredet..., musst du mir ja auch nicht erklären..., musst ja selbst wissen, was du tust. Aber ich finde dich leichtsinnig. Das mußte ich einfach mal loswerden jetzt. Und eure Mutter? Die findet das wahrscheinlich auch nicht gut; macht sich bestimmt furchtbare Sorgen...“

„Apropos“, falle ich ihr ins Wort, „ darf ich sie von euch aus noch mal kurz anrufen? Und dann will ich auch mal los, damit ich vor der Mittagshitze schon etwas vorangekommen bin.“

Horst springt sofort auf: „Mach` du mal deine Sachen, ich mach` inzwischen mein Rad klar, und dann bring` ich dich raus aus der Stadt. Weil, das is` nämlich gar nicht so einfach.“

Stimmt. Hätte mich mit Sicherheit verfahren und bin dankbar, daß er mich geleitet hat. Bei Schlutup steht ein Koloss von Grenzstein, auf dem Folgendes eingemeißelt ist:

„Das Geheimnis der Freiheit ist der Mut. 1945 - 1988“

Bin am Nachmittag in Boltenhagen. Bis dahin wollte mir Pia einfach nicht aus dem Kopf gehen. Ihre Eltern, unser Vater. Alle drei tot inzwischen. Krieg, Gefangenschaft, Flucht in den Westen... und dann wir, die Nachkriegskinder. Geboren ins große Schweigen. Das verbindet uns. Reden wir deshalb so viel? Vielleicht habe ich mich ja deshalb auf dieses Unternehmen eingelassen, um mir das abzugewöhnen... Das viele Reden, mein` ich.

Finde ein wenig belebtes Lokal, das einem Campingplatz angeschlossen ist. Direkt am Deich und mit Blick aufs Wasser. Es gibt eine Terrasse mit etwas Schatten. Kühlender Wind, eine duftende Rose im Topf, Bockwurst, serviert mit selbstgemachtem Kartoffelsalat und Bautz`ner Senf im Glas. Zum Nachtisch noch warmer Apfelkuchen mit einem Berg Sahne und Cappuccino dazu.

Das ist so dermaßen lecker, daß ich mir den Nachtisch gleich nochmals bestelle. Komme mit der freundlichen Wirtin ins Gespräch, und wundere mich im Nachhinein, wie ausführlich ich dieser fremden Frau von meinem Privatleben erzähle. Flüchtig, aber sehnsüchtig, denke ich in diesem Moment an eine Zigarette...

Hoffentlich ernährt ihr beide Euch auch gut. War erstaunt, als Du mir gestern am Telephon sagtest, daß Max gekocht hat. Und, daß es geschmeckt hat. Wie er das wohl gelernt hat...? Seit seinem Auszug kreisten meine Sorgen oft ums Thema Essen, und ich meinte, daß Pizza und Döner den Speiseplan ausmachen würden...

Heute suche ich mir frühzeitig ein möglichst einsames Schlafplätzchen am Strand. Immer noch sehr heiß. Augen und Kopf sind doof, Blase deutlich besser. Wenn es kühler wird irgendwann, werde ich bestimmt kaum noch Probleme haben.

Nie zuvor einen derart beeindruckenden Sonnenuntergang erlebt! Gemütlich auf meinem Schlafsack sitzend, mit dem Rücken an der Wand eines kleinen Holzschuppens lehnend und meinen Tee schlürfend, beobachte ich, wie sich der Strand langsam von all den vielen Leuten leert, die genau wie ich von diesem Naturschauspiel fasziniert sind. Ganz ruhig ist es. Wie Andacht in der Kirche. Hinter mir befindet sich ein Miniwäldchen parallel zur Landstraße und vor mir liegen der Strand und die Ostsee. Freue mich aufs Schlafen. Gute Nacht!

Westwärts

10. Reiesetag, 01.07.2019 Ziel: Jamaika,

Position morgens: Scheveningen, Position abends: Roompoldsluis Hafengebühr: 15 Euro

Um 4.30 Uhr den Wecker verflucht! Sehr schlecht geschlafen (2std.?), geschwitzt, hin und her gewälzt. Mit mulmigem Gefühl und Selbstzweifeln losgesegelt: schon am Steg ein Reff eingebunden! Nach 7.00 Uhr auf Kurs, soweit möglich: Kreuzen angesagt!

Mache ich mir unter Deck einen Kaffee, und schon wird mir wieder schlecht! Nicht so schlimm, aber absolut ätzend. Zirka 2 Std. im Cockpit gedöst.(Max steuert). Dann für den Rest bis 22.00 Uhr die Pinne übernommen, und mich sehr allmählich erholt. (Unglaublich müde!) Vorsichtig essen und trinken; am Abend dann langsam wieder ok... Wegen der vielen Kreuzschläge ist Ostende nicht mehr am Tage zu machen. Fühle mich zu müde für eine Nachtfahrt. Max auch. Wir fahren nach Roompoldsluis, wo wir uns beim Schleusen mit unseren Leinen blamieren, und am Ende rückwärts(!)aus der Schleuse müssen!

Im Binnenhafen dann ein weiteres peinliches Motor-Hafenmanöver. Bei Seitenwind und rückwärts ist das Schiff fast nicht zu kontrollieren (vor allem in sehr engen Häfen).

Anschließend mit Max den Rest vom Curry gegessen und noch einen Spaziergang gemacht. Strand, den es nur bei NW gibt! Bei der Rückkehr zum Boot entdeckt Max Meeresleuchten im Hafenbecken (gibt nur drei Gastboote). Nach anfänglichem Zögern geht er im Leuchten baden: Phantastisch, wie das Leuchten funktioniert. Ein Erlebnis, das man nicht so oft haben wird. Mancher nie.

Ostwärts

Strand, 1.7.`19 KM: 1283,0 um 5:00 Uhr

Schnell weg von diesem Strand!

Wismar. Mittlerweile ist es 9:30 Uhr und bereits heiß, heiß, heiß... Sitze an der Hafeneinfahrt in einem Cafe´ und habe Honigbrötchen, eine Flasche Wasser und sehr viel Kaffee bestellt.

Schreibend werde ich jetzt die letzte Nacht Revue passieren lassen. Danach wird`s mir hoffentlich besser gehen:

In dieser Nacht wurde es nicht richtig dunkel. Aber es wurde still und ich war allein, so daß ich mein Lager bereitete. Vorher noch Einiges fürs Frühstück und das morgendliche Bad aus den Packtaschen geholt und mit meinem einzigen Handtuch abgedeckt, das Rad hinter dem Schuppen abgestellt und, als ich endlich auf meinem Schlafsack lag statt drin - zu warm - und meinen Kopf auf dem zum Kissen umfunktionierten Anorak gebettet hatte, und gerade ins Land der Träume glitt, kamen Leute.

Ohne mich zu sehen gingen sie zielstrebig in wenigen Metern an mir vorbei zu vier Strandkörben, die sie im Rund zueinander schoben, und von allen die Holzgitter gewaltsam entfernten. Zwei Männer, zwei Frauen. Alle jung, übergewichtig, angetrunken und ausgesprochen laut. Mit ihren Stimmen gelang es ihnen, die aggressiv wummernde Musik, die aus ihrem Radio dröhnte, noch zu übertönen. Geklimper von Bier - und sonstigen Flaschen, Geknister von aufreißenden Chipstüten. Party ging los.

Reflexmäßig wollte ich nur noch ganz schnell weg von diesem Ort. Aber wie? Ehe ich all meine Sachen zusammen, und das Rad rausgezerrt hab`, haben die mich doch längst entdeckt! Und was passiert dann?

Was also machen? Mich tot stellen. Schien die einzige Möglichkeit. ...Wagte noch nicht einmal, Spucke runter zu schlucken. Immer wieder wurde „Prosit“ gegröhlt. Man trank Tequila und Bier dazu. Unstimmigkeiten wegen der Senderwahl. Der Ton wurde rasch zunehmend rauer. Der Inhalt der aufgeschnappten Wortfetzen ebenfalls. Die Frauen wurden herumkommandiert und begrabbelt und ließen sich alles gefallen. Es war klar, daß sie nur zum Schein mit hohen Stimmen riefen: „...Ey, lass` das mal, Alter!“ oder, „ ...fick` dich!... kannste dein Bier nich` selber abgreifen, oder was!?“ In all die Rohheit schwappte immer wieder etwas Zartes, Sanftes hinein.

Ja, auch weinerlich wurden sie zwischendurch. Als eine der Frauen lallend erzählte, daß sie mit 17 schwanger wurde, ihr Freund sie sofort verließ, weil es für einen Abbruch zu spät war, und man ihr das Kind nach der Geburt wegnahm, „...weil die Scheiß-Wessies meinten, ich könnte mein eigenes Kind nicht großziehen“, hörte ich die Traurigkeit in ihrer Stimme und mich erfasste tiefes Mitgefühl. Das sind keine schlechten Menschen, dachte ich. Nur irgendwie verloren.

Dann verließ eine der Frauen die Party, um, wie sie sagte, Bier aus dem Auto zu holen, und aufs Klo zu gehen. Als ich dies hörte fiel mir ein, daß ich einen Campingplatzwegweiser gesehen hatte. Da ich diese spezielle Feierstimmung noch nie so richtig gemocht hatte, hatte ich meine Nachtruhe bisher stets in sicherer Entfernung von solchen Orten gefunden. Dieses Mal hatte ich nicht aufgepasst...

Nach einiger Zeit kehrte sie mit einem Mann an ihrer Seite zurück. Und damit veränderte sich alles.

Ein 70-jähriger Nazi! Auch er alkoholisiert, und sofort das Wort führend. Auf brutale Weise und immer wieder angeberisch die Anzahl seiner Lebensjahre, sowie seine angeblich unendliche Potenz betonend. Frauen verachtend, sexualisierend und Morddrohungen ausstoßend. Keinen dieser Sätze mag ich zitieren. Unzweideutig war, daß er mit der Frau, mit der er gekommen war, schlafen wollte. Diese zeigte keinerlei Abwehr. Niemand widersprach ihm. Bewunderung schien sich mit einer gewissen Ängstlichkeit zu mischen. Ich wagte kaum zu atmen. Hatte Angst. Richtige Angst.

Und dann stand einer der jungen Männer auf, und bewegte sich torkelnd in meine Richtung. „... Scheiß dunkel hier..., mach mir gleich in die Hose, Mann...“, brabbelte er vor sich hin und schaltete seine Handytaschenlampe ein. Ich war entdeckt.

„Hier pennt einer“, rief er, und leuchtete mir direkt ins Gesicht. Sofort gesellten sich die anderen zu ihm, und alle schalteten ihre Handys ein. Reflexartig kniff ich die Augen zusammen.

„Nee, das is` `ne Frau! `Ne Oma!“ rief die Frau, die von ihrem Kind gesprochen hatte, verwundert aus.

„Was mach`ste hier? Biste allein?“ fragte der Alte, der auf wenige Zentimeter an mich herangekommen war, so daß sein Schnapsatem mich umnebelte. Ich spürte überdeutlich seine mich taxierenden Blicke. „Mach` ma` die Scheißmucke aus!“ befahl er über die Schulter.

„Ja,“ antwortete ich, und es fiel mir wahrlich nicht schwer, mit einer ganz kleinen Stimme zu sprechen: „Ich bin allein. Mit dem Rad unterwegs.“ Instinktiv erwähnte ich den Krebs: „Sehe ja aus wie `nen alter, grauer Pudel... die wachsen so komisch nach, die Haare. Das soll normal sein nach so `ner Chemo...“, und mir gelang sogar ein winziges Lachen.

Abstand nehmend fragte er noch, woher ich komme und wohin ich will. Ich siezte ihn und die anderen weiterhin die ganze Zeit.

Außer Gefahr! Ungeeignet für ihn; zu alt, zu häßlich, zu nüchternlangweilig und ja, auch zu arm.

Die Jungen zeigten in all ihrer Trunkenheit ihr Interesse an meiner Person; so etwas wie Mitgefühl und auch Respekt. Mal sprachen sie mich mit „Du“, mal mit „Sie“ an. Wollten sogar mein Rad sehen, und konnten kaum glauben, daß ich ohne Motor reise. Wie Kinder waren sie, und es rührte mich, als eine der Frauen meinte, ich hätte doch was sagen sollen, dann hätten sie doch die Musik leiser gemacht, damit ich hätte schlafen können.

„... Aber wir hauen jetzt sowieso ab. Dann können Sie mal pennen..., wird ja schon hell...“.

Alle waren der einhelligen Meinung, daß man später aufräumen könne, und ein Schlachtfeld hinterlassend, verließen sie „Tschüss“ und „Gute-Nacht“ murmelnd den Ort des Geschehens. Der Alte hielt sein Schandmaul; wirkte beleidigt. Bei Morgengrauen wurde ihrer aller Müdigkeit erkennbar. Und die Tätowierungen.

Weder das fehlende Bad in der Ostsee, noch Frühstück und anschließendes Zähneputzen stellten echten Verzicht dar. Nur noch weg! War einfach nur froh nach eiligem Zusammenpacken den Fahrtwind düstere Gedanken fortwehen zu lassen. Auch verlor sich all die Zittrigkeit beim Tritt in die Pedale.

Heute bei Km 1332,3 hat eines von Olgas vielen Enkelkindern Geburtstag, die kleine Mimi.

Spät am Abend, kurz vorm Dunkelwerden, erreiche ich den Ort Rerik. Vorher, auf dem Weg dorthin war ich des öfteren kurz davor, die Reise abzubrechen. Obwohl ich viele Pausen - im Schatten natürlich - einlegte, literweise Wasser zu mir nahm, eines meiner zwei Handtücher wegwarf , und mein Ersatzschloß gut sichtbar für einen freundlichen Finder in ein Bäumchen hängte, weil mir einfach alles als viel zu schwer erschien, empfand ich das Pieken, nunmehr in beiden Augen - trotz der häufig angewendeten Tropfen - und das unentwegte Dröhnen des Kopfes als schier unerträglich.

In dem Dorf Stove duftete es schon von weitem nach frisch gebackenen Brot und Kuchen, was, wie sich herausstellte nicht verwunderlich war, denn hier gibt es eine riesige alte Mühle mit Mühlenmuseum und Backstube. Trotz der großen, antiken Öfen war es angenehm kühl im Inneren der Mühle. Ich setzte mich auf eine der Holzbänke an einen enormen Tisch und schaute fasziniert einer älteren, dünnen Frau bei ihrer Arbeit zu.

„Komme gleich zu Ihnen! Nur noch dieses Blech...!“ rief sie mir zu. Sie war bekleidet mit ziemlich abgeschabten Lederhandschuhen, deren Schäfte fast bis zu ihren Ellenbögen reichten, einem fadenscheinigen, ärmellosen Hemdchen, einer löchrigen, weiten Hose, die mittels einer Kordel um ihren Bauch hielt, und Holzpantinen. Sie verschwand mit einem riesigen, schwarzen Blech, auf dem Rosinenbrote in Reih` und Glied dampften. Später erfuhr ich, daß diese als „Brötchen“ bezeichnet werden. Nie zuvor hatte ich derart große Brötchen gesehen!

Ihre Arme, Gesicht und Hals glänzten vom Schweiß. Sehnige, kräftige Arme. Schön.

„Kommen Sie mit! Können sich was aussuchen. Hab´ frisch gebacken“, forderte sie mich auf, und ich folgte ihr zu einem genauso alten Nebengebäude, in dem sich hohe Gestelle befanden, in die die Bleche mit den heißen Backwaren zum Auskühlen hinein geschoben wurden. Auf zwei wackeligen Holztischen waren zur Auswahl gelegt: riesige Laibe Brot von einer Sorte, großzügig quadratisch geschnittene Streuselkuchen, und besagte Rosinenbrötchen. Alles noch warm. In der Mühle standen Kaffee, Kräutertee und in einem Kühlschrank mit gläserner Tür die kalten Getränke in geringer Auswahl. Ich entschied mich für Tee und ein Rosinenbrötchen, das für mehr als zwei Tage reichen sollte... Und während sie mich wortlos bediente trafen einige Touristen und einheimische Kunden ein; Letztere sprach sie mit Vornamen an. Sie war für Alles allein zuständig. Backen, Bedienen, Museum. Mit Reden hielt sie sich nicht groß auf. Sie tat ihre Arbeit ohne Hast, sich jedoch keinesfalls aufhalten lassend. Ihre Einsilbigkeit überschritt fast die Grenze zur Unhöflichkeit.

Ach, sie ist wie Helena! Diese Schroffheit, diese Arme...und wie sie allen kurz in die Augen blickt! So streng. Und doch irgendwie freundlich.

Gestärkt durch Essen und Trinken, aber vor allem durch ihre Gegenwart, stellt sich plötzlich Entschlußkraft ein: heute wird nicht im Freien geschlafen! Die nächstbeste Unterkunft ist meine! Schließlich gibt Bruno ja auch Geld aus...

Fast verzweifelt bin ich dann am Abend, weil sich einfach nichts finden lassen will. Als ich schon aufgeben, und mein Lager irgendwo aufschlagen will, sehe ich das hölzerne Hinweisschild, in welches ein Fahrrad und das Wort „Radpension“ eingeschnitzt sind.

„Prima“, denke ich, „das wird klein und bescheiden sein. Genau das Richtige für mich!“

Pustekuchen! Das Gegenteil ist der Fall. Man hatte quasi eine Reihenhaussiedlung angelegt. Mit Terrassen! Es gibt drei Reihen mit zirka 30 eingeschossigen Häuschen. Ein jedes eingebettet in kurzgehaltene Rasenflächen. Keine Hecken, kein Busch, keine Blumen, geschweige denn irgendein Baum. Und außer meinem ist nicht ein einziges Fahrrad zu entdecken. Einige Gäste, die natürlich absolut freie Sicht auf das Tun und Lassen ihrer Nachbarn haben, grillen auf den Terrassen. Das und frische Farbe sind zu riechen. Die Rezeption hat das „Geschlossen“-Schild an der Tür hängen.

Ich setze mich auf den Boden, und lehne mich an die Eingangstür eines unbewohnten Hauses. So müde, daß mir Alles egal ist.

„Ich rühr` mich nicht mehr von der Stelle jetzt...“, denke ich, als ich eine Frau die Tür zur Rezeption aufschließen sehe. Sie hat etwas vergessen und ist deshalb zurück gekehrt. Da rappele ich mich doch noch einmal auf, und mir wird eine Unterkunft mit einem überdimensionalen Doppelbett vor einer Phototapete, welche einen Palmenstrand mit Südsee zeigt, vermietet. Als ich dabei bin, die knapp 90 (!!!) Euro zu bezahlen, fragt die Frau weshalb ich denn so geschwollene, rote Augen habe. Ich nutze ihr Mitleid aus, indem ich nur sage, daß es nicht so schlimm sei, wie es aussähe und flunkere bei der Gelegenheit, daß ich mein Handy verloren hätte und frage, ob ich ihres kurz benutzen dürfe.

Also rufe ich Tante und Onkel in Rostock an, erreiche sie doch tatsächlich, und mache so meinen nächsten Schlafplatz klar. Außerdem bitte ich die Beiden, Mutter von meinem Wohlergehen zu unterrichten.

Falle ungewaschen ins Bett.

Nach einer im Tiefschlaf verbrachten Nacht, und einem wahren Duschfest frühstücke ich so ausgiebig, daß von all meinem Proviant nur noch Espressokaffeepulver übrig bleibt, und schreibe dabei. Höre das tröstliche Schnauben von Pferden. Gleich werde ich mich leise auf den Weg machen.

Früh morgens am 2.7.`19.

Hier scheint noch Alles außer den Pferden zu schlafen. Nehme mir vor, bei dem heutigen Lebensmittelkauf auch eine Glückwunschkarte für meine kleine Nichte zu kaufen, um ihr nachträglich zu gratulieren. Fühle mich munter, und auch die Augen sehen besser aus.

Häufig vergesse ich, daß wir uns ja gegenseitig versprochen haben, unsere „Logbücher“ zu tauschen, wenn du wieder zurück bist. Dann bin ich freier. Wenn ich vergesse. Das Radfahren erlaubt so viele Gedanken. Mir fällt auf, daß ich viel mehr an den Bruno von früher denke. Damals in unserer kleinen Wohnung mit Balkon. Ohne Max.

Westwärts

11. Reisetag, 2.07.2019 Ziel: Jamaika,

Position morgens: Roompoldsluis, Position abends: Oostende Hafengebühr: 27 Euro

Heute morgen 5.30 Uhr raus; trotzdem erst 7.30 Uhr ausgeschleust! Kein Klo im Hafen. Bordklo benutzt...