Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Wie wird man eine perfekte Darcy? Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit, dass Wickham Foster ein Arsch ist. Zumindest für Georgiana Darcy. Denn dank ihm ist ihr Ruf an der Pemberley Academy vollkommen ruiniert. Kein Wunder also, dass ihr bei der Rückkehr an das Eliteinternat von allen Seiten Misstrauen entgegenschlägt. Und dann ist da auch noch ihr Bruder Fitz, der Georgie wie ein Helikopter umkreist. Einzig der charmante Avery scheint sie nicht zu hassen. Ganz klar, Georgie braucht einen Plan: Sie muss allen beweisen, dass auch sie eine perfekte Darcy sein kann. Doch das ist leichter gesagt als getan … Ein mitreißendes Jane-Austen-Retelling voller Humor und Romantik "Fitz konnte mich nicht vor allem beschützen. Darum war ich hier, verstieß gegen die Ausgangsregeln und fühlte mich erbärmlich, wie ich vor Wickham stand, der mich ansah, als hätte er mich im Griff. Wieso sollte er auch etwas anderes denken? Ich hatte mein Leben lang unter fremder Kontrolle gestanden. Aber eine echte Darcy ließ es nicht zu, dass jemand über sie bestimmte. Ich musste für mich selbst einstehen." In Amanda Quains moderner Stolz und Vorurteil- Nacherzählung kann nun endlich auch Georgiana Darcy ihre eigene Geschichte erzählen – eine Geschichte über toxische Beziehungen, Selbstakzeptanz, Liebe und das Finden des eigenen Weges.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 445
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Inhalt
Kapitel 1 – Mein großer Bruder …
Kapitel 2 – Als ich am …
Kapitel 3 – Wenn Fitz wüsste, …
Kapitel 4 – Am nächsten Morgen, …
Kapitel 5 – Ich musste mich …
Kapitel 6 – Samstagvormittag, und ich …
Kapitel 7 – Averys Auto hätte …
Kapitel 8 – Avery war von …
Kapitel 9 – An dem Freitag …
Kapitel 10 – Es war schlimm …
Kapitel 11 – Du sagst ab?« …
Kapitel 12 – Okay.« Avery stieß …
Kapitel 13 – Die Spielfeldprobe verlief …
Kapitel 14 – Avery fand mich. …
Kapitel 15 – Die Fangemeinde kannte …
Kapitel 16 – Es war seltsam. …
Kapitel 17 – An diesem Abend …
Kapitel 18 – Ich setzte mich …
Kapitel 19 – Das war mit …
Kapitel 20 – Ich war immer …
Kapitel 21 – Als mein Handy …
Kapitel 22 – Die nächste Stunde …
Kapitel 23 – Mist. Mit zitternden …
Kapitel 24 – Der Highway lag …
Kapitel 25 – Ich wurde von …
Kapitel 26 – Ich hatte mich …
Kapitel 27 – Was?« Mehr als …
Kapitel 28 – Ich fand Fitz …
Kapitel 29 – Am nächsten Tag …
Kapitel 30 – Der Buchstabe leuchtete …
Epilog – Sechs Monate später
Danksagung
Für Dustin, weil er mir die Welt geschenkt hat.
»Was ist Miss Darcy für ein Mädchen?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, ich könnte sie liebenswert nennen. Es schmerzt mich, schlecht über eine Darcy zu reden, doch sie hat zu viel Ähnlichkeit mit ihrem Bruder und ist hochgradig stolz. Miss Darcy ist hübsch, ungefähr fünfzehn oder sechzehn Jahre alt und, wie ich hörte, sehr gut erzogen.«
George Wickham
Jane Austen.
Mein großer Bruder Fitzwilliam Darcy konnte mich mal.
Echt jetzt. Er benahm sich schon seit vier Monaten wie die brüderliche Ausgabe von Helikoptereltern, aber jetzt hatte er es endgültig übertrieben. Er tat bei seinem kurzen Samstagsbesuch nicht einmal so, als hätte er mich vermisst, seine einzige Schwester. Es ging ihm ausschließlich darum, nach mir zu sehen und sich zu vergewissern, dass ich vorhatte, meine Hausaufgaben zu machen, am Unterricht teilzunehmen und keinesfalls meine Mitschüler in der Highschool auf illegale Weise mit Adderal zu versorgen.
Wie letztes Jahr – was ich allerdings nicht wiederholen wollte.
Als ich aus dem Schlaftrakt der Pemberley Academy in die kühle Luft des Staates New York hinaustrat, hüllte ich mich zitternd enger in meine Jacke. Im September war das Wetter reine Glückssache, es konnte fünfundzwanzig Grad warm und perfekt oder um die null sein, nur um die neuen Kids durcheinanderzubringen, deren Eltern sie von Florida zur bestmöglichen Ausbildung hierher verfrachtet hatten. Ich war hier aufgewachsen und konnte mich auf die Kälte einstellen, aber eiskalte Septembertage fühlten sich immer noch verkehrt an.
Immerhin war ich den Elementen nicht lange ausgesetzt, da Fitz direkt vor dem Schlaftrakt geparkt hatte – noch näher, und er wäre in dem holzgetäfelten Eingangsbereich gelandet. Er hatte sich in den paar Tagen, seit er mich an der Schule abgesetzt hatte, endlich einen neuen Wagen gekauft. Ich erkannte das Modell nicht sofort, aber Fitz kaufte immer die gleiche Sorte Auto. Nobel, aber nicht protzig, und dennoch so teuer, dass Leute, die etwas davon verstanden, stehen blieben. Da ich nicht zu diesen Leuten gehörte, stieg ich auf der Beifahrerseite ein und sagte: »Dieser Wagen hat weniger Getränkehalter als der letzte.«
»Ich wünsche dir auch einen guten Morgen.« Fitz hatte vielleicht ein anderes Auto, aber er selbst würde sich nie ändern.
Da wir beide groß und dunkelhaarig waren und scharf geschnittene Züge und hellbraune Augen hatten, sahen die Leute auf den ersten Blick, dass wir Geschwister waren. Der große Unterscheid bestand darin, dass mein Bruder in meiner Gegenwart immer eine enttäuschte Miene zur Schau trug. »Schön, dich zu sehen.«
»Finde ich auch. Wieso haben sie die anderen Getränkehalter weggelassen?« Ich trommelte mit den Fingern auf die Armlehne, die eindeutig beheizt war. Ein nettes Extra und ein elegantes Trostpflaster für ihn, nachdem er meinetwegen in die Kälte des Staates New York hatte zurückziehen müssen. »Wo lässt man jetzt seine Getränke?«
»Vorn, wo nur zwei sitzen, gibt es nach wie vor zwei Getränkehalter.« Seufzend fuhr Fitz aus der Einfahrt vom Schulgelände. Im Speisesaal durfte ich Gäste empfangen, und sämtliche Angestellten in Pemberley würden lobpreisend niederknien, wenn Fitz zum Frühstück käme. Seit er vorletztes Jahr seinen Abschluss gemacht hatte, wurde ich immer nur gefragt: Wie geht’s Fitz? Wo ist Fitz? Was für ein Jammer, ich habe gehört, dass er das College wechseln musste, bestimmt ist er froh, in deiner Nähe zu sein. Und genau aus diesem Grund nahm ich ihn nie mit. »Wozu braucht man mehr als zwei Getränkehalter?«
»Willst du mir weismachen, dir fällt keine einzige Situation ein, in der jemand mehr als ein Getränk benötigt?« Als wir durch die Tore von Pemberley fuhren, erlaubte ich mir, tief auszuatmen. Zurzeit fühlten sich diese schmiedeeisernen Tore mit ihren spitzen Zacken wie meine persönliche eiserne Jungfrau an. Seit dem Vorfall, aber ehrlich gesagt auch schon vorher. »Stell dir doch mal vor, großer Bruder, du fährst quer durchs Land. Ein unglaublicher Roadtrip. Vermutlich zum Grand Canyon.«
»Fliegen würde Zeit und Geld sparen.«
»Stimmt, aber du bist nicht geflogen.« Unser gewohntes Geplänkel war eine genauso gute Ablenkung wie alles andere, um kurz so zu tun, als hätte der Vorfall unsere Beziehung nicht unwiderruflich zerstört. Als wäre das letzte halbe Jahr unseres Lebens nicht für die Tonne gewesen. Ich spielte mit dem Türschloss und ließ es hin und her schnappen, bis Fitz die Kindersicherung einschaltete. »Du fährst«, fuhr ich fort. »Es ist spät. Du brauchst dein Koffein, aber es ist auch wahnsinnig heiß, du bist in der Wüste und unsere bleichen Yankeekörper sind für diese extremen Wetterbedingungen nicht geschaffen.«
»Und?«
»Und …« Ich legte eine theatralische Pause ein. Hohe Bäume, deren Blätter teilweise bereits welkten, flogen an meinem Fenster vorbei. »Und du sehnst dich nach Kaffee, aber gleichzeitig brauchst du ein Kaltgetränk! Ta-da! Damit sind die beiden Getränkehalter hier belegt, und dein Mitfahrer kann sehen, wo er bleibt. Von Gastfreundschaft keine Spur!«
»Gut, wenn du Fahrzeug-Innendesign studierst, kannst du direkt als Erstes diese Verbesserung einführen.« Wer Fitz nicht kannte, hätte nie den spröden, scherzhaften Unterton gehört, den ich sofort erkannte. So weit war es in den letzten Jahren mit seinem Humor gekommen. Mein Bruder war kaum wiederzuerkennen.
Wir bogen auf den Parkplatz vom Townshend’s ein, einem Diner, den Fitz (natürlich) in seiner Zeit in Pemberley entdeckt hatte. In meinem ersten und seinem zweiten Jahr an der Schule waren wir mindestens einmal im Monat hergefahren, wenn er mit meiner Wenigkeit abhängen wollte, statt mit seinem Team im Debattierclub zu gewinnen oder sich an den weltbesten Colleges zu bewerben. Damals bestellten wir zahllose Pfannkuchen, obwohl sie im Diner damit gedroht hatten, sie von der Karte zu nehmen, nachdem wir uns einen Tag vor den Frühjahrsferien legendär damit vollgestopft hatten. Für ein paar Dollar mehr gab es sogar Schlagsahne und M&Ms dazu. Fitz hatte aus vollem Herzen gelacht und nicht wie jetzt dezent hüstelnd einen Vorwurf unterstrichen, und ich hatte gern Zeit mit meinem Bruder verbracht, dem einzigen Verwandten, der mir geblieben war.
Ohne Stoffservietten und einen Sommelier entsprach das Lokal zwar nicht dem, was unsere Eltern uns vorgelebt hatten, doch seit Dad vier Jahre zuvor gestorben war, als ich zwölf war, und meine Mom die Gelegenheit genutzt hatte, meinen Bruder und mich einander und den Hausangestellten zu überlassen, konnte uns niemand mehr etwas vorschreiben.
Jetzt konnte nur noch Fitz mir etwas vorschreiben.
»Das darf nicht wahr sein.« Der Freudenschrei der Kellnerin hallte durch den relativ leeren Diner, als wir hereinkamen und die Wärme der voll aufgedrehten Heizung uns eine willkommene Atempause von der beißenden Kälte bot. »Fitz Darcy höchstpersönlich.«
»Jenn.« Fitz’ Mundwinkel hoben sich wie zu einem Lächeln, das nur leider seine Augen nicht erreichte. Freudenschreie waren praktisch Standard, wenn Erwachsene in der Umgebung von Pemberley auf Fitz trafen. Hätten die Lehrkräfte, das Betreuungspersonal und die Einheimischen jemanden zum Homecoming-King wählen können, wäre er jedes Mal erkoren worden.
Dazu kam es jedoch nicht, weil es sich um einen Beliebtheitswettbewerb unter Teenagern handelte, und echte Beliebtheit bei Gleichaltrigen hatte noch nie zu unseren Stärken gehört. Fitz war eher der Typ Jahrgangsbester und ich … nichts von alledem. Trotzdem.
»Was machst du überhaupt hier?« Jenn führte uns langsamer zu unserem Tisch, als mir lieb war, so sehr knurrte mein Magen bereits. »Hat das Semester an der Caltech noch nicht angefangen? Oder müssen Genies da weniger Vorlesungen über sich ergehen lassen?«
»Ehrlich gesagt bin ich dieses Jahr an der SUNY Meryton.« Die letzten Überbleibsel von Fitz’ Lächeln schwanden, als wir uns hinten im Diner in die Sitzecke mit dem gerissenen Lackleder quetschten, wo mich der Duft von den Kuchenblechen geradezu überwältigte. »Ich habe gewechselt, um näher an Zuhause zu sein.«
»Wieso willst du – oh.« Jenn sah zu mir, und da war sie, die plötzliche Erkenntnis, an die ich mich wohl besser gewöhnen sollte. Ich wollte mit dem Lack verschmelzen, wollte eins damit werden, da Lackledernischen vermutlich nie aufgrund eines einzigen Fehltritts ihr Leben lang ein schlechtes Gewissen haben würden. Außerdem durften sie in der Nähe von Pfannkuchen existieren, und Kinder ließen ständig Reste in die Ritzen fallen. Es wäre ein weniger schmachvolles Leben als meins zurzeit. »Ach ja.«
Die Gerüchteküche der Pemberley Academy arbeitete schnell und effizient. Nach nur wenigen Stunden hatte jeder gewusst, dass Brian Churlfords Dad, ein Senator, mit einer Geliebten bei einer Spritztour nach Kanada erwischt worden war. Über GroupMe war ordentlich etwas los gewesen, als Andrea Smithing jemanden aus der Stadt bestochen hatte, die SAT-Prüfung für sie zu bestehen, und sie daraufhin von der Schule geflogen war.
Und als ich, Georgiana Darcy, Erbin des Darcy-Empires und kleine Schwester des Goldjungen der Schule, Fitz Darcy, zum Ende des zweiten Schuljahrs in einen Drogenskandal verwickelt war und nur aufgrund meines Nachnamens nicht von der Schule verwiesen wurde? Das machte ebenfalls schnell die Runde.
Meine Finger zuckten, und ich zwang mich, sie nicht zu Fäusten zu ballen. Darcys ließen sich nicht anmerken, wenn sie sich ärgerten.
»Unsere übliche Bestellung, Jenn, danke.« Fitz umklammerte die Speisekarte, seine Knöchel waren weiß. »Und einen Orangensaft für meine Schwester.«
»Ich habe mir gerade die Zähne geputzt«, sagte ich, als Jenn die Karten an sich nahm und rasch flüchtete, wobei sie sichtlich erleichtert war, dem Darcy-Drama zu entkommen. »Du musst nicht für mich bestellen.«
»Ich kenne deine Essgewohnheiten, wenn ich nicht dabei bin, Georgie.« Er holte sein Handy heraus und schrieb eine Kurzantwort, bevor er mir erneut seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte. »Die Vitamine in dem Saft könnten die einzigen sein, die du diese Woche zu dir nimmst.«
»Nicht witzig.« Ich verdrehte die Augen. Fitz war nur vier Jahre älter als ich. Keineswegs alt genug, um meinen Vater zu spielen, und dennoch wand ich mich unter seinem Blick, da ich genau wusste, welche unausweichliche Unterhaltung auf mich zukam.
Tatsächlich stützte Fitz sich auf die Unterarme, verschränkte die Finger und beugte sich weit über den Tisch. Ohne Ellbogen selbstverständlich. Auch wenn mein Bruder in einem billigen Diner billige Pfannkuchen aß, vergaß er nie, dass er ein Darcy war. Mich ließ er es ebenfalls nicht vergessen.
»Hast du was von ihm gehört?«
Okay nein, das hatte ich dann doch nicht erwartet, dass er so schnell und so früh am Morgen auf ihn zu sprechen kam. In meinem Magen grummelte es unangenehm. »Natürlich nicht.« Jenn servierte unsere Getränke, einen großen Becher Kaffee für Fitz und eine Cola light für mich. Mit einem Lächeln entschuldigte sie sich für das Glas Orangensaft, das sie danebenstellte. »Er hat meine Nummer nicht mehr.« Fitz hatte mir kurz nach dem Vorfall, sobald er mich von der Schule genommen hatte, ein neues Handy besorgt. Der Todesstoß für mein nicht vorhandenes Sozialleben.
»Er hat dir keine Mails geschickt?«, bohrte Fitz weiter, während ich Blasen in meine Cola blies, weil ich wusste, wie sehr ihn das nervte. Obwohl ihn der Softdrink schon genug nervte. »Oder eine DM.«
Ich verzog das Gesicht. »Nein, Fitz, Wickham hat mir keine DM geschickt.« Das war nicht einmal gelogen, ich hatte die Wahrheit höchstens ein wenig … angepasst. Und ich hatte seine E-Mails auch nicht gelesen, die alle auf einmal auf meinem Handy aufgetaucht waren, als Fitz mir im Sommer für kurze Zeit wieder Zugang zum Internet gewährt hatte.
Zumindest hatte ich sie nicht oft gelesen.
Nicht mehr als einmal.
Na gut, zweimal.
»Bohnenstange.«
»Nenn mich nicht so.« Nach Dads Tod hatte er aus einem für einen Sechzehnjährigen seltsamen väterlichen Impuls Dads Spitznamen für mich übernommen. »Was sollte das hier aus deiner Sicht werden, Fitz? Ein lustiges Frühstück, bei dem ich dir erzähle, hey, ist mir ganz egal, dass du mich zwei Wochen vor Ende des Schuljahrs abgeholt hast? Und dass ich den ganzen Sommer lang zu niemandem Kontakt aufnehmen durfte und somit nicht einmal meine Sicht des Ganzen erklären konnte? Oder dass meine Mitschüler mich jetzt alle hassen?«
»Hättest du dich nicht mit einem Drogendealer eingelassen …«
»Ich wusste nicht, dass er ein Drogendealer war!«
»Pfannkuchen!« Jenns fröhliches Trällern unterbrach einen Streit, der allmählich ausuferte. Und bevor ich hinzufügen konnte: Außerdem war es deine Idee, dass wir uns anfreunden. Fitz und ich lehnten uns zurück, und er richtete den Kragen seines feinen Hemdes. Ich dagegen machte mir nicht die Mühe, die Falten meines gebatikten Camp-Sandion-T-Shirts zu glätten. »Ihr wisst, wie der Hase läuft. Keine neuen Teller, bevor die alten leer sind. Wollt ihr heute neue Rekorde aufstellen?«
»Die Welt ist groß und voller Möglichkeiten, Jenn.« Ich hielt den Blick auf meinen Bruder gerichtet, dessen Augen wütend funkelten. »Wir wollen nichts ausschließen.«
In den nächsten zehn Minuten schwiegen wir, wenn man mein aggressives Kauen und das Zischen der Schlagsahneflasche nicht zählte. Da Jenn mir den zweiten Teller in der Sekunde servierte, in der ich mit dem ersten fertig war, brachte ich ihr nun deutlich mehr Wohlwollen entgegen. Fitz hatte in der Zwischenzeit seine Pfannkuchen nur hin und her geschoben und klammerte sich an den Kaffeebecher wie an einen Rettungsring, während er mir zusah.
»Du wirst noch ersticken.«
»Und du verlierst unseren Pfannkuchen-Wettbewerb.« Ich deutete mit dem Kopf auf seinen Teller, auf dem das Butterstückchen auf seinem Stapel zu einer fettigen Lache geschmolzen war, die seitlich an den Pfannkuchen herunterlief. »Jetzt mach.«
»Ich habe nicht so viel Hunger.«
»Na, dann«, sagte ich. Nach dem Tod unseres Vaters hatte Fitz’ Appetit nachgelassen und war endgültig versiegt, als er mich mit Wickham erwischt hatte. Sein Kaffeekonsum dagegen … Jenn füllte im Vorbeigehen wortlos seinen Becher, und Fitz verzog das Gesicht, als er einen großen Schluck trank. »Von dem Zeug bekommst du noch ein Magengeschwür.«
»Glaub mir, vom Kaffee bekomme ich sicher kein Magengeschwür.« Er wandte den Blick von mir zu der tintenschwarzen Flüssigkeit in seiner Tasse. Diesmal verzog ich das Gesicht. Niemand konnte so hinterhältig sticheln wie ein Darcy, das hatte er von unserer Mutter gelernt. »Kein einziger Freund mehr übrig?«
»Kein einziger«, antwortete ich mit vollem Mund. Tatsächlich waren es davor auch nicht gerade viele gewesen. Von Anfang an war ich nicht richtig in Pemberley angekommen, und nach Fitz’ Abschluss war es keineswegs besser, sondern schlimmer geworden. Die wenigen Freundschaften, die ich in der Marschkapelle geschlossen hatte, waren als Folge der Wickham-Sache kaputtgegangen. »Na ja, gestern Abend hat mir jemand die Fahrstuhltür aufgehalten, als ich in die Bibliothek wollte. Aber dann hat er mein Gesicht gesehen und auf den Knopf gedrückt, der die Türen schließt. Kurz bevor ich da war. Aber der Knopf funktioniert nicht, und ich konnte doch einsteigen, sodass wir über vier Etagen miteinander eingesperrt waren.« Die Erinnerung tat weh, aber Fitz wirkte … kein bisschen betroffen. Es berührte ihn nicht.
Früher hatte mein Bruder immer Partei für mich ergriffen, doch schon vor dem Vorfall hatte sich zwischen uns etwas verändert, wenn ich ehrlich war. Nicht ganz plötzlich nach Dads Tod oder nachdem Mom uns verlassen hatte. Sondern nach und nach, sodass es mir gar nicht aufgefallen war. Es war wie, wenn man überrascht feststellte, dass man ein Stück gewachsen war.
Mir war erst bewusst geworden, dass Fitz und ich uns auseinandergelebt hatten, als wir plötzlich nicht mehr zusammenpassten. Als Fitz mir mitgeteilt hatte, er werde nach Kalifornien gehen, dachte ich zunächst Wie kann er nur?, doch nachdem er monatelang nicht zurückgerufen oder zurückgeschrieben hatte, wurde daraus: Logisch, was sonst?
Und dann hatte ich zugelassen, dass Wickham unserer Beziehung den Rest gab.
»Ich erinnere mich, wie langsam diese Aufzüge sind.« Fitz seufzte, schnitt ein winziges Stück vom Pfannkuchen und steckte es in den Mund. Er kaute und schluckte mit Sorgfalt, bevor er weitersprach. »Ich habe nicht vor, dein Leben zu zerstören, Bohnenstange. Kannst du versuchen, das zu verstehen?«
Klar, das musste er mir nicht noch mal sagen. Ich kannte seine Einstellung – die einzige Person, die mein Leben zerstörte, war ich selbst.
Also blies ich weiter Blasen in meine Cola. Es hatte keinen Sinn, mit meinem Bruder darüber zu sprechen. So war es schon immer gewesen, und so würde es ewig bleiben. Er wollte sich meine Gründe für das Schlamassel gar nicht anhören. Ich sollte unter seiner Aufsicht mein Leben auf die Reihe kriegen, während er dafür sorgte, dass so etwas nie wieder passierte. Und einfach so tat, als wäre es zwischen uns schon früher so gewesen. Als wäre er zuvor nicht mein bester Freund gewesen, sondern schon immer diese schräge Vaterfigur.
Und ich hatte einen Plan. Echt. Doch wenn ich Fitz davon erzählte, würde er mich nur erneut ermahnen – und ausnahmsweise wollte ich mal selbst etwas regeln.
»Irgendwann musst du mit mir reden«, sagte Fitz schließlich und trank seinen Kaffee aus. »Wir veranstalten diese ›Tête-à-Têtes‹ jedes Wochenende, bis du wieder fest im Sattel sitzt.«
»Schreib ›Tête-à-Tête‹ auf die Liste der Wörter, die du nicht benutzen sollst.« Mein Herz schlug schon schneller, wenn ich Fitz nur dabei zusah, wie viel Kaffee er trank. »Soll ich meine Hausaufgaben mitbringen? Willst du sie unterschreiben, bevor ich sie den Lehrern zurückgebe?«
Fitz ließ die Gabel auf den Teller sinken, machte den Mund auf, sagte jedoch nichts. Ich spürte, wie das Ungesagte zwischen uns stand. Spürte seine Enttäuschung und die Wahrheit, die jetzt all unseren Gesprächen zugrunde lag. Ich habe Kalifornien für dich abgebrochen, also mach es nicht noch schlimmer.
Er hatte es nie gesagt. Denn dann müssten wir viel intensiver über unsere Gefühle reden, als es ein anständiger Darcy je tun würde.
Doch es stand immer im Raum. Jedes Mal, wenn er mir schrieb oder mich anrief, um zu hören, wie es mir ging. Im Sommer, als er mir das Internet gestrichen oder mich dazu verdonnert hatte, im Wohnzimmer zu lesen, wo er mich im Blick hatte. An jenem Frühlingstag, als er, nachdem er mich nach Hause geholt hatte, mein Zimmer durchsucht hatte, um sicherzustellen, dass ich nichts Verbotenes versteckte.
Ich wusste noch zu gut, wie er mich zu Beginn meines zweiten Schuljahres in Pemberley abgesetzt hatte. Er hatte mich fester umarmt als je zuvor.
»Du schaffst das schon, Georgie. Pemberley hat nur auf dich gewartet.«
»Du wirst mir fehlen.« Meine Stimme war wie schon den ganzen Vormittag peinlich belegt. Zum Glück war außer uns niemand da. Fitz und ich waren eine Woche vor den anderen Schülern nach Pemberley gefahren, damit er mir beim Eingewöhnen helfen konnte, bevor er nach Kalifornien reiste. Darcy-Privilegien.
»Nicht so sehr wie du mir, Bohnenstange.« Er löste sich aus der Umarmung. Ich hatte einen Rotzstreifen auf seinem schicken Hemd hinterlassen. Ich war ja so was von reif. »Aber du kommst klar, versprochen.«
»Woher willst du das wissen?« Ich hatte gar kein gutes Gefühl. Im ersten Jahr hatte ich die ganze Zeit am Rockzipfel meines Bruders gehangen, und jetzt sollte ich einfach so ohne ihn hier sein? Niemand kannte mich so gut wie Fitz. »Und wenn ich mich aus Versehen in Brand setze?«
»Darcys setzen sich nicht selbst in Brand.« Fitz’ Augenfältchen kräuselten sich in einem Anflug von Lachen, wie ich es bald nur noch über FaceTime sehen würde. »Aber ich habe etwas, das dich aufmuntern wird.«
»Caltech eröffnet einen zusätzlichen Universitätscampus am Ende der Welt im Staat New York?«
»Fast.« Fitz lehnte sich an mir vorbei, steckte den Kopf aus meinem Zimmer – Gott sei Dank wieder ein Einzelzimmer – und blickte in den Gang. »Wickham? Kommst du?«
Ich drehte mich blitzschnell um, so rasend schnell, wie ich es keinem Menschen zugetraut hätte. Nie im Leben!
Doch er war es. Wickham Foster, unser Nachbar aus der Kindheit, in den ich buchstäblich immer schon, o ja, verknallt war, hier an der Pemberley Academy, in (überaus wohltrainiertem) Fleisch und Blut.
»Wickham?« Mit Mühe gelang es mir, nicht zu quietschen – so schwer es mir auch fiel –, als er grinsend hereinschlenderte. Wickham beeilte sich nie. »Was machst du denn hier?«
»Ich habe die Schule gewechselt, Kid.« Er schüttelte Fitz die Hand und zog mich anschließend in eine Umarmung, die meinen ganzen Körper innerlich erschauern ließ. Es war ein paar Jahre her, seit ich Wickham gesehen hatte – zuletzt bei der Beerdigung, stellte ich plötzlich fest –, und obwohl er immer unverschämt gut ausgesehen hatte, kam es mir vor, als wären seine früher schon harten Gesichtszüge wie frisch geschliffen.
»Du zeigst Wickham alles, ja, Georgie?« Als Fitz sich zu mir drehte, rief ich mir mahnend ins Gedächtnis, dass er keine Ahnung von den Gefühlen hatte, die ich früher für Wickham gehegt hatte. Von heute ganz zu schweigen. »Er spielt mit dir in der Marschkapelle, du kannst ihm also helfen, sich einzugewöhnen.«
»Klar, mache ich.« Ich richtete mich auf, lächelte und hoffte, wie eine anständige Schülerin auszusehen. Wickham warf mir einen zweiten Blick zu, doch diesmal nahm er sich mehr Zeit, mich zu betrachten. Als wollte er mir damit etwas sagen. »Es ist mir ein Vergnügen.«
»Ganz meinerseits«, sagte er, und zum Glück war Fitz ein wenig zur Seite gegangen, um auf sein Handydisplay zu schauen, denn Wickhams Blick hätte ihm gar nicht gefallen.
Vielleicht wäre es besser gelaufen, wenn er ihn gesehen hätte. Vielleicht hätte er das alles verhindern können. Oder ich war bereits auf dem Weg zu meiner unausweichlichen Selbstzerstörung gewesen, und mein Bruder hätte nichts mehr für mich tun können.
Jetzt, in unserer Sitzecke, die sich sekündlich klaustrophobischer anfühlte, schob Fitz seinen Teller mit den fast unberührten Pfannkuchen zur Seite. Statt ein Wort zu sagen, winkte er Jenn zu sich.
»Zahlen, bitte.«
Das war’s, er war fertig mit mir. Wie alle anderen.
Als ich am nächsten Nachmittag in meinem Zimmer auf dem Bett lag, unter mir die samtplüschige Tagesdecke, die ich aus der Darcy-Villa in Rochester mitgenommen hatte, starrte ich auf das Sage Hall-Poster an der Decke. Ich sehnte mich inständig danach, in diese Serienwelt einzutauchen.
Als ich es am vergangenen Donnerstag dorthin geklebt hatte, hatte meine neue Mitbewohnerin Sydney die Nase gerümpft und die ersten Worte seit unserer Ankunft an mich gerichtet: »Hast du das da oben als eine Art Sexding aufgehängt?«
Es erschien mir sinnlos, sie darauf hinzuweisen, dass sie bereits alle vier Wände unseres winzigen Doppelzimmers mit gerahmten Fotos von Blumen behängt hatte, die wie Deko-Überbleibsel einer Umkleide im Forever 21 aussahen. Nur die Decke war verschont geblieben.
Ich hatte ihr in die Augen gesehen und geflüstert: »Es gibt nur eine Möglichkeit, das rauszufinden«, und weiter meine Sachen ausgepackt, bis sie endlich die Flucht ergriffen hatte, um mit den anderen Mädchen von der Fahnengarde abzuhängen und bestimmt die ganze Zeit zu jammern, dass sie es nicht fassen konnte, eine Mitbewohnerin wie mich zu haben.
Das beruhte auf Gegenseitigkeit.
Ich konnte noch so sehr den Cast meiner Lieblings-BBC-Serie anstarren, der sich zu einem Familienporträt vor dem riesigen Herrenhaus versammelt hatte, im Hintergrund die beim Publikum hochgradig beliebte Dienerschaft – ich wurde nicht in den Kaninchenbau hineingesogen. Seufzend setzte ich mich auf und zog den Laptop näher heran. Wenn ich mich schon nicht im echten Leben in die Serie beamen konnte, wollte ich zumindest den Rest des Tages etwas darüber lesen.
Ich hatte in der Mittelschule Gefallen an Sage Hall gefunden, direkt nachdem sich meine Familie aufgelöst hatte. Fitz war zu der Zeit schon hier in Pemberley, um mich kümmerte sich wechselndes Personal, und Mom hatte schließlich zugegeben, dass sie aus dem Eat-Pray-Love-Bullshit, den sie in diesem Monat gebucht hatte, nicht zurückkehren würde. Sie hatte Fitz das Sorgerecht für mich übertragen, der daraufhin mit sechzehn zum mündigen Minderjährigen erklärt wurde und für uns beide Entscheidungen treffen konnte. Zu Hause machte es … keinen wirklichen Spaß, daher scrollte ich von morgens bis abends durch Tumblr. Nach ein paar Dutzend Sage Hall-GIF-Sets war ich hooked. Nach zehn Minuten der ersten Folge war ich süchtig.
Einen Monat später schrieb ich meine erste Fanfiction, den letzten Schrott, den ich mittlerweile aus den Eingeweiden des Internets gelöscht hatte. Doch ich hatte weitergeschrieben, daran gearbeitet und war irgendwie ganz gut geworden. Und plötzlich mochten mich Leute, denen mein Nachname nichts sagte und die mich einfach cool und meine Sachen lesenswert fanden.
Nicht dass ich in letzter Zeit etwas hochgeladen hätte. Seit Wickham hatte ich nichts mehr geschrieben.
Jeder andere wäre von der Schule geflogen. Ich hätte von der Schule fliegen sollen, als Fitz letztes Schuljahr aufgetaucht war und herausgefunden hatte, dass Wickham Adderall aus meinem Zimmer vertickte. Obwohl Fitz ihn in die Flucht treiben konnte, ohne die Polizei zu rufen, war es dem Dekan zu Ohren gekommen, und es hatte Fitz alle Macht gekostet – die Macht unseres Nachnamens –, mich vor einem Schulverweis zu retten. Da es keine Beweise gab, die mich mit einem Verbrechen oder auch nur einem Verstoß gegen die Schulordnung in Verbindung brachten, hatte ich ihnen die Wahrheit gesagt: dass ich von Wickhams Machenschaften keine Ahnung gehabt hatte. Und da niemand bei der Schulleitung bezeugt hatte, mich mit den Medikamenten gesehen zu haben … ließen sie mich auf der Schule, ein Zeugnis meines Privilegs als reiches weißes Mädchen und einer Darcy im Besonderen.
Wickham hatte weniger Glück gehabt.
Im Nachhinein betrachtet hatten offenbar alle außer mir gewusst, dass Wickham mein Einzelzimmer zum Dealen benutzt hatte, sobald ich nicht da war. Meine reichen Mitschüler hassten mich nun, weil es keinen Nachschub mehr gab, und alle anderen dachten, ich hätte den deutlich beliebteren Wickham verpfiffen, weil ich meine Nase überall reinstecken musste. Für den Hofstaat der Pemberley Academy war ich eine unverbesserliche Petze.
Ich dagegen war natürlich auf die größte Lüge aller Zeiten hereingefallen, weil ich geglaubt hatte, dass Wickham mich liebte. Auf jeden Fall war ich von meiner eigenen Liebe zu ihm überzeugt gewesen.
Und jetzt saß ich in Pemberley fest, umgeben von den Folgen meines Irrtums, der Naivität einer Sechzehnjährigen, die für den Nachbarn aus ihrer Kindheit geschwärmt und tatsächlich geglaubt hatte, er würde sich für sie interessieren, wenn es sonst niemand tat.
Doch selbstverständlich hatte Wickham mich nur benutzt. Er hatte sich meines Zimmers bedient, meine Unwissenheit ausgenutzt und gleichzeitig noch sehr viel weitergehende Dinge geplant.
Seine E-Mails verfolgten mich aus meinem Posteingang, obwohl es mir gelungen war, die neuesten Nachrichten der letzten Tage nicht zu lesen. In der Betreffzeile stand jeweils ein aufreizendes »Hey« oder »Was geht, Kid?«, was mich bei jeder anderen Person unverzüglich dazu bewegen würde, die Mail ungelesen zu löschen.
Außerdem kannte ich den Inhalt, weil es nur ein Echo seiner Mails aus dem Sommer sein konnte. Er wollte mich so weit manipulieren, ihn wieder in mein Leben zu lassen, ihm zu erlauben, sich wieder einzuschleichen, bis sich erneut alles nur um Wickham drehte. Und das konnte ich nicht noch einmal zulassen. Auf keinen Fall.
Ich musste sie dringend löschen.
Aber Scheiße, jedes Mal, wenn mich in den Gängen jemand böse ansah, jedes Mal, wenn mir schmerzlich bewusst wurde, nie genügen zu können … sehnte ich mich nach ihm.
Ich holte tief Luft und versuchte, einen klaren Kopf zu bewahren. Fitz wüsste natürlich gern von mir, dass Wickham weiterhin Kontakt zu mir aufnahm, aber das wollte ich ihm auf keinen Fall gestehen.
Der Tag, an dem er uns in meinem Zimmer erwischt hatte, hatte sich in mein Gehirn eingebrannt.
Wickham, der an der Tür versucht, Fitz den Weg zu versperren. Fitz, der sich an ihm vorbeidrängt und brüllt, wie ich meinen Bruder noch nie habe brüllen hören …
Nein. Auf keinen Fall. Wie er Wickham angesehen hatte, war schrecklich genug gewesen, aber wie er mich angesehen hatte? Damit hatte er alles stillgelegt. Ich wollte diese Erinnerung nicht mehr aufleben lassen. Deshalb riss ich mich vom Anblick der Tür los und klickte auf eine Word-Datei, an der ich arbeitete. All das würde ich, so ermahnte ich mich streng, Fitz nicht noch mal antun.
Ganz oben stand der Titel des Dokuments: Georgie Darcys Anleitung, ihren extrem angeschlagenen Ruf wiederherzustellen, Freunde zu finden und ein für allemal zu beweisen, dass sie es verdient, den Namen Darcy weiterhin zu tragen, völlig unabhängig davon, was Tante Catherine im Familien-Newsletter gesagt hat.
Bisschen zu lang vielleicht, aber mich kurz zu fassen, war noch nie meine Stärke gewesen. Diese geöffnete Seite in Times New Roman mit doppeltem Zeilenabstand würde mich retten.
Ich hatte diesen Vorsatz letzte Woche gefasst, während ich für die Schule packte und mich mit Fitz’ Checklisten und Google-Kalender-Einladungen wie zum Beispiel »Stundenplan prüfen, Küche, 15.30Uhr« und »Kleidung für neu entstandene Bedürfnisse begutachten, bei dir, 10Uhr« herumschlug. Mein Bruder liebte es, Einladungen über den Google-Kalender zu verschicken.
Hatte ich schon erwähnt, dass wir eine echt lustige Familie waren?
Egal, die dazugehörigen Checklisten, die jeden Morgen wie das Tagesprogramm der grässlichsten Kreuzfahrt der Welt vor meiner Tür lagen, hatten mich auf eine Idee gebracht. Selbst wenn die Vorliebe der Darcys für Organisation bei mir vielleicht nicht voll ausgeprägt war, musste ich doch zugeben, dass alles im Leben einfacher wurde, sobald man es in machbare Schritte unterteilte. Und die Herkulesaufgabe, meinen guten Ruf wiederherzustellen? Musste unbedingt runtergebrochen werden.
Leider war die Datei bis auf den wundervollen Titel gähnend leer.
Dabei hatte ich es versucht. Ich hatte sie mindestens einmal am Tag geöffnet, den Cursor angeschaut, der mich und meine offensichtliche Unfähigkeit, auch nur einen ganz einfachen Plan aufzustellen, blinkend verspottete. Aber ich hatte so etwas auch noch nie tun müssen. Es hatte gewisse Vorteile, eine Darcy zu sein, darunter insbesondere ein bereits gesicherter Ruf in Pemberley. Ich war Fitz’ Schwester. Etwas anderes musste ich nicht darstellen.
Aber das hatte ich letztes Jahr in Schutt und Asche gelegt. Jetzt musste ich es … wiederauferstehen lassen.
Als am unteren Bildschirmrand eine Nachricht aufpoppte, klickte ich sie an, ohne nachzudenken. Sie kam von der Fanfiction-Seite, für die ich schrieb – ein neuer Kommentar zu einer Geschichte.
Ach ja. Das war schon ziemlich nah dran an einem Erfolgserlebnis.
Man könnte sagen, ich war echt groß rausgekommen. Nicht viele hatten über mein Lieblingspaar Jocelyn und Andrew, alias JocAndrew, geschrieben, als ich damit anfing: sie, das reiche Mädchen in den Zwanzigern, die an all den falschen Regency-Orten in Sage Hall nach der großen Liebe suchte, und er, der blendend aussehende, rebellische Pferdebursche, der scheinbar auf sehr viel mehr Spannung aus war, als Jocelyn zu bieten hatte. Ich aber hatte genau gewusst, dass Jocelyn mehr aus sich herausholen konnte, als ihr in der Serie vergönnt war, und als ich die passende Fanfiction nicht finden konnte, hatte ich sie eben selbst geschrieben.
Die Leute fanden es toll. So richtig. Ich hatte sogar mit meinem großen Werk angefangen, einem dicken Roman über mein Lieblingspärchen.
Gegen Ende hatte ich vielleicht ein bisschen zu viel von mir selbst in die Geschichte reingeschrieben. Als es mit Wickham, meinem eigenen attraktiven rebellischen Typen, immer intensiver wurde.
Ich hatte mit dem Updaten aufgehört, als ich anfing, den Unterricht zu schwänzen, um mit Wickham in meinem Zimmer abzuhängen, ohne zu dem Zeitpunkt zu wissen, dass ich seine Verkaufsfenster durcheinanderbrachte. Und später, danach … keine Ahnung. Verbotene Liebe hatte deutlich an Reiz verloren.
Der Kommentar war durchaus nett, aber ich löschte die Nachricht nach einem flüchtigen Blick. Noch jemand, der mich anflehte, ein neues Kapitel hochzuladen, das ich nicht schreiben konnte, hatte mir gerade noch gefehlt.
Ich klickte meinen Posteingang an, in dem Wickhams Mails metaphorisch Staub ansetzten. Ich wollte einfach nur über ihn hinwegkommen. Den nächsten Schritt tun, neu anfangen und – noch einmal – definitiv keine seiner E-Mails beantworten, über denen mein Mauszeiger schwebte, weil ich es eben doch in Erwägung zog.
Apropos drüber hinwegkommen. Mir wurde mulmig, als eine Kalendernotiz auf dem Bildschirm aufpoppte. Montag war Marschkapelle angesagt, meine erste Probe in diesem Schuljahr. Wegen des Exils, das Fitz mir auferlegt hatte, hatte ich nicht mit ins Camp fahren dürfen, noch etwas, das man mir ohne meinen Nachnamen niemals hätte durchgehen lassen.
Ich würde bei der Probe Leute treffen, die ich seit dem letzten Schuljahr nicht gesehen hatte. Menschen, die ich verletzt hatte.
Na toll.
Aber es würde schon gut gehen, es musste gut gehen, oder? Die Marschkapelle bestand aus lauter Spinnern und Außenseitern wie mir, aus Leuten, die ebenfalls Fehler gemacht hatten, selbst wenn ihretwegen nicht gleich der beste Trompeter von der Schule verwiesen wurde. Und sobald ich wusste, wie, würde ich sie alle davon überzeugen, dass es schlimmere Menschen gab als mich, und sie würden mir verzeihen. Das mussten sie einfach.
Als mein Handy vibrierte, zuckte ich zusammen. Fitz rief an und wollte sich vermutlich vergewissern, dass ich seit unserem letzten Treffen nicht in kriminelle Machenschaften verwickelt worden war. Man konnte schließlich nie wissen, wenn es um mich ging.
Obwohl ich erst nicht drangehen wollte, tat ich es doch, weil er sich sonst direkt ins Auto setzen und ein Drama veranstalten würde.
»Was geht, Bruderherz?«
»Hey, Georgie.« Fitz seufzte ins Telefon. »Ich wollte nur mal hören, wie es dir geht.«
»Gute Idee! Seit unserem letzten Gespräch bin ich verhaftet worden. Oh, und ich habe eine Brücke niedergebrannt. Gut, dass du mich aufhältst, ich wollte gerade die Schule abfackeln.« Ich stellte den Anruf auf laut und drehte mich auf den Rücken. Da Sydney – für den Fall, mein wie auch immer geartetes Dasein als soziale Außenseiterin könne ansteckend sein – immer erst spät zurückkam, störte ich niemanden. Selbst wenn es nur Fitz war, hörte sich seine Stimme in diesem leeren Zimmer gut an. »Soll die Stadt die Rechnungen direkt an dich schicken?«
»Zum Glück habe ich dir dein Taschengeld bereits überwiesen«, sagte Fitz trocken, und ich konnte ihn mir genau vorstellen, wie er sich mit seiner stocksteifen Haltung nur eine Sekunde lang erlaubte, den Kopf ein wenig hängen zu lassen. »Dann kannst du selbst zahlen.«
»Unabhängigkeit steht ganz oben auf meiner Liste.« Seufzend starrte ich auf die Zimmertür. Ich hätte sie undekoriert gelassen, weil es sich um eine Tür handelte, doch Sydney hatte eins dieser Katzen-Motivationsposter aufgehängt, die ich für ein Requisit aus Sitcoms gehalten hatte. »Solltest du nicht rausgehen und Party machen? Das machen die Collegestudenten in den Filmen.« HALTE DURCH!, flehte das Poster.
»Charlie hat mich gestern Abend mitgeschleppt.« Fitz hatte Charlie Bingley im Sommer kennengelernt, bei einer Orientierungsveranstaltung für Studenten, die das College wechselten, und obwohl er anders war als die Typen, mit denen mein Bruder sich sonst anfreundete – mit anderen Worten, entspannt –, schien er ihm gutzutun. Ich glaubte nicht, dass Fitz in seinem ersten Jahr an der Caltech auch nur auf eine einzige Party gegangen war. »Er ist schon in eine Studentenverbindung eingetreten. Die Party war ungefähr so schlimm, wie ich es erwartet hatte.«
»Hast du dich etwa nicht betrunken und die Nacht durchgetanzt?«
»Du weißt, dass ich nie tanze.« Er trank auch nicht, doch das musste nicht extra erwähnt werden. Nach Wickham hielten wir uns beide von Rauschmitteln aller Art fern. »Ich wüsste aber auch nicht, mit wem ich hätte tanzen sollen. Charlie hat mich sofort nach unserer Ankunft einfach stehen lassen, weil er ein Mädchen entdeckt hat. Jane, Nachnamen habe ich vergessen.«
»Keine Liebe auf den ersten Blick für dich?«
»Ich bitte dich!« Fitz schnaubte. »Charlie hat mehrfach versucht, mich mit der Schwester des Mädchens zu verkuppeln, aber nicht mal sie war hübsch genug, um mich in Versuchung zu führen.«
»Fitz.« Wahrscheinlich machte er Witze, auf seine superironische Art, die er selbst lustig fand, alle anderen aber nicht. Das machte sie allerdings nicht besser. »Sei nicht so eklig.« Nachdem ich mich doppelt vergewissert hatte, dass der Ton an meinem Computer stumm geschaltet war, lud ich Tumblr und scrollte durch den Sage Hall-Tag. Für den Fall, dass dieses Gespräch eine Wendung zu meiner Disziplinierung nehmen sollte, wollte ich mich ablenken können.
»Sorry.« Fitz seufzte erneut. »Sie war nur eine von diesen … Sie hat zu allem einen schlauen Kommentar abgegeben.«
»Du hast dich mit ihr unterhalten.« Obwohl es im Gang laut geworden war, blieb niemand vor meiner Tür stehen, und ich musste Fitz noch nicht wieder leise schalten. »Und ich dachte, du hättest sie nur vom anderen Ende des Raums angeglotzt wie ein Serienmörder.«
»Charlie war sehr beharrlich.« Da ich Charlie vor einigen Wochen über FaceTime kennengelernt hatte, überraschte mich das nicht. »Aber ich werde alles geben, um mich von Lizzie Bennet fernzuhalten.«
»Du weißt, wie sie heißt?« Bilder von Jocelyn und Andrew tanzten über meinen Bildschirm, Aufnahmen, wie sie einander über einen Saal hinweg ansahen, und die ich wochenlang bis ins Kleinste analysiert hatte. Jetzt wurde mir dabei leicht schummrig. »Wie interaktiv von dir.«
»Wie gesagt, alles wegen Charlie.« Fitz murmelte etwas über Partys und dass er sie nicht mal mochte, wenn es einigermaßen zivilisiert zuging, was auf dieser definitiv nicht der Fall gewesen war. Ich scrollte weiter und blendete ihn aus.
Es fehlte mir, über die beiden zu schreiben, merkte ich, während Fitz sich weiter beschwerte, mittlerweile wahrscheinlich über die schreckliche Musik, die die Studierenden heutzutage hörten, oder etwas in der Art. Es fehlte mir, wie meine Finger über die Tastatur flogen und ich nur vom Bildschirm aufsah, um einen Blick auf die Pinnwand aus Kork zu werfen, die ich über meinen Schreibtisch gehängt und mit den besten Fotos von meinem Traumpaar dekoriert hatte. Wenn ich schrieb und in der Welt von Sage Hall versank, wo der Tod eines Elternteils nur ein bald vergessener Teil der Handlung war und die älteren Brüder, die zum College fortgegangen waren, in jeder zweiten Folge zu Besuch kamen, fielen alle Sorgen von mir ab.
Der Mauszeiger wanderte wie von selbst zum Mailsymbol, als hätte er einen eigenen Willen.
»Sagte ich bereits, dass sie vier Schwestern hat? Ehrlich, Georgie, wer hat heutzutage noch so viele Kinder? Bei der wirtschaftlichen Lage?«
»Geht’s immer noch um Lizzie Bennet?« Ich schaute auf die Uhr auf meinem Laptop. Er quatschte seit fünf Minuten über dieses Mädchen, das er angeblich nicht ausstehen konnte. Normalerweise geriet Fitz nicht so ins Schwafeln. Worte waren etwas für andere Leute.
»Sie ist einfach … Ach, egal«, unterbrach Fitz sich mit einem Alte-Menschen-Räuspern, denn er stand offenbar gern schon mit einem Bein im Altenheim. »Ich kann einfach nicht verstehen, wie man sich für so witzig halten kann.«
»Selbstbewusstsein?« Zurück zu Tumblr und ooh, eins meiner Lieblings-GIFs. Jocelyn und Andrew mal wieder in einem vollen Saal – in Sage Hall kamen häufig volle Säle vor, weil man so schön liebevolle Blicke durch den Raum werfen kann. Das GIF stammte aus der zweiten Staffel, in der die Fangemeinde gerade erst zu vermuten begann, zwischen ihnen könnte etwas sein. Er lächelt sie unverfroren an und hält ihrem Blick stand, während sie ihn einfach nur mustert. Ich hatte diese Szene als Inspiration für, sagen wir mal, ungefähr zwanzig meiner eigenen kurzen Geschichten benutzt. Das könnte ich auch nach wie vor tun und versuchen, Andrews freches Grinsen zu ignorieren, das Ähnlichkeit mit Wickhams Grinsen hatte.
Doch wenn ich anfangen würde zu schreiben, würde ich am Ende heulen und ganz bestimmt seine E-Mails beantworten.
»Hey, Fitz?«, unterbrach ich meinen Bruder, der das Gespräch auf eine andere Tirade gelenkt hatte, von der ich bewusst nur »unglaublich« und »hat ihre Katze mitgebracht« gehört hatte. »Was dagegen, wenn wir aufhören? Ich habe … meine Periode.«
Das war die schlechteste Ausrede, die ich ihm je präsentiert hatte, aber als Mädchen konnte man ein Gespräch mit dem Bruder vermutlich am schnellsten beenden, wenn man die Menstruation erwähnte.
»Bisschen verfrüht, oder?« Wenn besagter Bruder Fitz war, ließ er sich natürlich schwerer abwimmeln. Als Reaktion auf meine allererste Blutung, direkt nachdem Mom uns verlassen hatte, hatte er uns beiden je ein Exemplar von Nur für Girls – Alles, was du wissen musst gekauft, um es gemeinsam zu lesen. »Ist dein Zyklus nicht normalerweise eher bei vier Wochen?«
»Tschüss, Fitz!«, rief ich laut und beendete das Telefonat. Nur weil mein Bruder superaufgeklärt war, was die Menstruation anging, wollte ich noch lange nicht mit ihm darüber reden. Ich warf mein Handy aufs Bett und seufzte tief. Im Gang kicherten ein paar Mädchen. Mein Verstand sagte mir, dass sie nicht über mich redeten, doch seit dem Vorfall zuckte ich immer zusammen, wenn ich jemanden lachen hörte. Da ich mich einfach nicht entspannen konnte – ganz was Neues –, öffnete ich wider besseres Wissen eine alte E-Mail von Wickham – und zwar schnell, als wäre ich nicht dafür verantwortlich, als wäre es unbewusst passiert.
Hey, Kid,
ich vermisse dich. Habe ich das schon gesagt?
Allerdings, das schrieb er immer.
Ich wünschte, wir könnten uns treffen.
Da war er der Einzige.
Ich weiß genau, was ich mit dir machen würde.
Schnell wegklicken. Klicken, klicken, klicken, die Erinnerungen an ihn am besten verbannen, genau wie die Erinnerungen an die Dinge, die wir zusammen gemacht hatten – und auch an die Dinge, die ich nur in meiner Vorstellung, in dem lächerlichen Märchen, das ich für uns gesponnen hatte, mit ihm gemacht hatte – und wie es sich angefühlt hatte. Wie er mir das Gefühl gegeben hatte, ein eigener Mensch zu sein und nicht nur Fitz Darcys Babyschwester.
Nur hatte er mich keineswegs so gesehen, ermahnte ich mich. Für ein Baby hatte er mich sicher nicht gehalten, stattdessen aber für ein Mittel zum Zweck. Da im letzten Schuljahr der Sohn des Generalbundesanwalts sein Mitbewohner gewesen war, hatte er seine Transaktionen dort nicht riskieren können. Ich dagegen hatte überhaupt kein Risiko dargestellt.
Lass das, Georgie. Ungebeten wie immer schlich sich Fitz’ Stimme in meine Gedanken. Vergiss ihn endlich.
Verdammt, ich wollte trotzdem antworten.
Vielleicht brauchte ich das. Konnte doch sein – ihn zu ignorieren, hatte ihn jedenfalls nicht verschwinden lassen. Ich steckte fest, in einem ewig drehenden Hamsterrad, seit Fitz mich von der Schule genommen hatte, in einem Hamsterrad aus Schuldgefühlen, Scham und Selbstzweifeln. Es musste einen Grund geben, warum ich keinen Plan hatte, wie ich mein Leben wieder auf die Reihe bekam. Vielleicht musste ich mir noch einmal näher ansehen, was ich hinter mir ließ.
Vielleicht vermisste ich seine Augen.
Noch eine alte E-Mail. Aus dem Frühsommer.
Ich vermisse dich immer noch. Hoffentlich vermisst du mich auch. Ich weiß, dass du deinem Bruder gehorchen musst, aber irgendwann hört das auf.
Diese Mail traf mich, selbst nachdem ich sie wieder geschlossen hatte, weil sie mich an Fitz’ Blick im Diner erinnerte. Wenn es nach ihm ging, würde er von nun an mein Leben kontrollieren. So war es ja bereits im Sommer gewesen.
Und ich hatte es satt. Es stand mir bis hier, unter seiner Fuchtel zu stehen, beziehungsweise dass Fitz meinte, er wüsste, was das Beste für mich war. Ich hatte es satt, mich zu verkriechen, während die Welt mich auslachte und mir tuschelnd Dinge andichtete, die ich gar nicht getan hatte.
Was machte eine E-Mail schon aus? Ich konnte ihm zurückschreiben, das hieß noch lange nicht, dass wir wieder zusammenkamen. Wickham war Tausende Meilen weit weg, soweit ich wusste. Wenn ich antwortete, konnte ich rausfinden, an welchem Punkt alles schiefgelaufen war. Und dann konnte ich endlich den Neuanfang wagen und die Darcy sein, die Fitz haben wollte.
Es gab noch eine E-Mail von Wickham, von heute. Ich sollte sie nicht lesen.
Natürlich tat ich es trotzdem.
Hey, Kid,
rate mal, wer in die Stadt zurückkehrt?
Oh.
Oh.
Oha. Scheiße.
Wenn Fitz wüsste, was ich hier machte …
Ehrlich, er dürfte aus den verschiedensten Gründen sauer auf mich sein. Ich hielt mich nicht an die Ausgangsregeln. Ich hatte Wickham geantwortet. Und war nicht warm genug angezogen. Ich musste Fitz ein Notizbuch zu Weihnachten schenken, in dem er auflisten konnte, wie flächendeckend ich ihn enttäuscht hatte.
Die Sache mit Wickham würde eindeutig das Schlimmste sein.
Schlimmer als die Tatsache, dass ich keine gefütterte Jacke trug.
Kaum hatte ich Wickhams Mail gelesen, hatte ich auch schon geantwortet, bevor ich es mir anders überlegen konnte. Mit zitternden Händen hatte ich getippt:
Wickham,
um 22Uhr am Treffpunkt.
Georgie
Ich hatte es kaum geschafft, mich von ihm fernzuhalten, als er nur als E-Mail in meinem Posteingang existierte. Wenn er wirklich wieder in der Stadt war, musste ich mich mit eigenen Augen davon überzeugen.
Deshalb war ich hier und verstieß sowohl gegen die Regeln der Pemberley Academy als auch gegen Fitz Darcys, indem ich mich zu später Stunde aus dem Schlaftrakt schlich, um Wickham zu treffen. Wäre es sieben Grad wärmer gewesen, hätte es im letzten Frühling sein können.
Doch diesmal war es ganz anders. Schließlich wollte ich Wickham nicht sehen. Ich … musste es nur einfach.
Der Unterschied war nicht eindeutig erkennbar, aber ich würde ihn herausarbeiten.
Ich erschauerte in der Herbstluft, weil (noch) niemand da war, vor dem ich meine Verletzlichkeit verbergen musste. Wie erwartet, kam Wickham zu spät. Ich tigerte unter der Eiche hin und her, die an dieser Seite des Schultors Wache hielt und ein paar lockere Gitterstäbe verbarg, durch die Wickham und ich uns im letzten Schuljahr vom Gelände und wieder zurück geschlichen hatten. Eigentlich hatte ich gedacht, jemand hätte sie mittlerweile repariert, doch anscheinend hatten wir dieses eine Geheimnis für uns behalten können.
Scheiße, wie blöd und verkorkst war das denn, auf gemeinsame Geheimnisse mit Wickham immer noch stolz zu sein? Doch so war es. Wenn ich nicht einmal dann ehrlich zu mir selbst sein konnte, wenn ich ganz allein hier in der eisigen Dunkelheit am Rande des Schulgeländes stand und auf die Erfüllung einer miesen Idee wartete, wann dann?
Und als ich das Kratzen von Metall auf Metall hörte, das Zeichen dafür, dass jemand durchs Tor ging, ging es mir … na ja.
Niemand hatte mich je so gewollt wie Wickham.
Als er sich zu seiner vollen Größe von über eins achtzig aufrichtete, fiel mir auf, dass er die Haare länger und in einem tiefen Pferdeschwanz trug. Seine Augen glänzten im Dunkeln, er hatte diesen Blick, der sagte Ich habe ein Geheimnis, sodass man es sofort um jeden Preis herausfinden wollte. Als er mich sah, grinste er, weil er seit der Pubertät im Grinsemodus stecken geblieben war, und verbarg die Hände tief in den Taschen seiner Ripped Jeans.
»Hi, Georgie.« Seine Stimme klang wie immer.
»Du bist wieder da.« Ich nickte ihm zu, konnte seinem Blick aber nicht standhalten und schaute zu Boden. »Ich dachte, du wärst in Florida. Gab es da nicht eine einzige Schule, die dich wider besseres Wissen aufgenommen hat?«
»Oooh, du hast es dir gemerkt.« Ich hatte nie jemanden getroffen, dessen Sticheleien einen schärferen Unterton hatten als Wickhams. »Und ich dachte schon, ich wäre den Speicherplatz nicht wert.«
»Haben sie dich schon rausgeworfen?« Ich nahm mir vor, nur auf seine Schuhe zu blicken. Abgewetzt und für das Wetter ungeeignet, doch Wickham war anscheinend nie kalt.
»Ich hatte hier noch etwas zu erledigen.«
Und dann küsste er mich.
Mit einem einzigen Schritt überbrückte er den Abstand zwischen uns, drückte entschlossen seine Lippen auf meinen Mund und küsste mich, als wäre nichts geschehen, als wären wir wieder in meinem Zimmer, zu Frühlingsbeginn, wo Pollen durch das offene Fenster schwebten und er mir aufzählte, auf wie vielerlei Weise er mich begehrte, auch wenn sonst niemand etwas von mir wissen wollte. Sein Duft erinnerte mich auf brutale Weise an all das, was uns verbunden hatte, legte sich grausam an meinen Gaumen und erinnerte mich daran, wie leicht es wäre, in den vergangenen Mai zurückzufallen. Ich schmiegte mich an ihn, Brust an Brust, während er mich in den Armen hielt.
Wickham fuhr mit den Händen durch meine Haare und löste diverse Locken aus meinem Pferdeschwanz, während ich die Finger einen Augenblick zu lang an seiner Taille verweilen ließ, ehe mir einfiel, dass so etwas nicht mehr vorkam. Dass Wickham nicht mehr vorkam.
Mist.
Ich taumelte rückwärts, bloß weg von Wickham und seiner Wärme, und ich rechnete es ihm (ein ganz klein wenig) an, dass er mich gehen ließ und nicht versuchte, mich erneut in die Arme zu schließen. Wickham nervte, aber so ein schlechter Mensch war er nun auch nicht. Er sah nur grinsend zu, wie ich versuchte, mich zu sammeln, indem ich meinen Mantel glättete und meine Haare hinter die Ohren strich, als hätte ich diesen Kuss nicht bis in sämtliche Nervenenden gespürt. Ich machte den Mund auf und schließlich wieder zu und verschränkte die Arme, als würde uns das endgültig voneinander fernhalten. Mir ging es um Informationen. Um mehr nicht.
»Du hättest nicht zurückkehren sollen.« Da meine Brust wie zugeschnürt war, staunte ich über diese Äußerung. Ich schüttelte den Kopf, bis der Pferdeschwanz über meine Wangen glitt. Ich hasste es, wie jung ich mich dabei fühlte. »Was auch immer du denkst, was hier für dich drin ist … Du irrst dich. Du solltest gehen.«
»Und wenn nicht?« Sein Grinsen wurde nur noch breiter. »Wir leben in einem freien Land, Kid. Und diese Stadt hat mir immer schon gefallen. Ich dachte, du würdest dich freuen, mit jemandem wie mir abzuhängen.«
»So weit wird es nicht kommen.« Offenbar hatte ich vollkommen die Kontrolle verloren, das Gespräch entglitt mir. Ich wollte eigentlich nur rausfinden, warum er wieder da war, und dafür sorgen, dass er für immer verschwand, doch der Plan, der mir in meinem Zimmer so leicht erschienen war, erwies sich im Mondschein als tausendmal komplizierter.
»Ach nein?« Dieses blöde Lächeln, bei dem mir im letzten Schuljahr ständig das Herz stehen geblieben war. »Ich weiß zufällig, dass du immer für dich bist. In Pemberley habe ich noch Freunde – mehr als du, denke ich.«
Er hätte mich nicht tiefer verletzen können.
Als ich Wickham zum ersten Mal getroffen hatte, war ich acht und in einer Die Braut des Prinzen-Phase. Ein Kindermädchen hatte den Film vermutlich angemacht, denn meinen Eltern hätte er sicher nicht gefallen. Aber ich fand ihn toll, ja, ich lief sogar begeistert über das Anwesen der Darcys und gab mich in einem langen roten Kleid, das mein Dad für mich bestellt hatte, als Prinzessin Buttercup aus.
Dieses Kleid trug ich an dem Tag, als ich Wickham kennenlernte, und obwohl er noch kein ausgewachsener attraktiver Rebell war, erkannte ich einen Westley, wenn ich einen sah: einen als Piraten verkleideten schlitzohrigen Stalljungen, der mich wie die Prinzessin behandeln würde, die ich dem Bekunden meines Vaters nach war.
Er und seine Mutter seien gekommen, um sich vorzustellen, sagte er, sie seien weiter unten auf der Straße eingezogen. Fitz und Wickham verstanden sich auf Anhieb, und als sie mich dann auf dem Anwesen antrafen …
Schönes Kleid, hatte Wickham gesagt, mit zehn Jahren, aber nicht gemein wie einige andere Jungen, mit denen Fitz sich hin und wieder wegen gesellschaftlicher Verpflichtungen treffen musste. Aus Die Braut des Prinzen, stimmt’s?
Ich hatte genickt, sprachlos und schon verliebt, so verliebt, wie man mit acht Jahren sein konnte, und dann mit neun, zehn, elf und immer so weiter.
Vielleicht war ich hier und redete unter einem Baum mit ihm, weil ich immer noch den netten Jungen suchte, der sich in einen schlechten Kerl verwandelt hatte. Vermutlich wünschte ich, er würde sich in den Jungen zurückverwandeln, der mich bemerkt hatte.
Schönes Kleid.
Mit einem Kleid hatte es angefangen und mit dem Gebrüll meines Bruders in meinem Zimmer aufgehört, und die Gefühle, die ich zwischendurch für Wickham entwickelt hatte, ließen das Ende umso schmerzhafter sein.
Er redete immer noch.
»Ich hatte nie die Absicht, dich in all das reinzuziehen. Wenn Fitz sich nicht eingemischt hätte …« Wickham zuckte mit den Schultern und strich sich übers Haar. Seine Worte machten mich fertig, dieses Hin und Her zwischen sanfter Verhätschelung und Manipulation. Er konnte bei mir schon immer die richtigen Knöpfe drücken und mich so sehr beeinflussen, bis ich ihm gab, was er wollte. »Er hat wirklich das Talent, im Weg zu stehen, oder?«
Das Problem mit Wickham war, dass er nur selten falschlag.
»Warum wolltest du mich denn nun sehen, Wickham?« Die Frage rutschte mir raus, als ich meine Jacke enger zog, aber schließlich war er nicht nur hier … um mich zu küssen und in alten Zeiten zu schwelgen. Irgendwann in den vergangenen fünf Minuten hatte ich meine wilde Entschlossenheit verloren, mit der ich runtergekommen war. Wickham war wie eine ansteckende Krankheit. Selbstverständlich würde er nicht von allein verschwinden.
»Weil du mir gefehlt hast.« Er kam einen Schritt näher, nicht so nah, dass ich zurückweichen musste, aber näher, als zwei fremde Menschen voreinander stehen würden. Aber das waren wir ja auch nicht. Wir waren uns nicht fremd, ich kannte Wickham länger als die meisten anderen. Scheiße, ich kannte ihn besser als die meisten anderen: Ich kannte die scharfe Linie seines Kinns, wie sich seine Haare um die Ohren lockten und wie er aussah, wenn er alle ignorierte, die um seine Aufmerksamkeit bettelten und sie stattdessen – uneingeschränkt – mir schenkte.
Ungeteilte Aufmerksamkeit erlebte die kleine Schwester von Fitz Darcy nur selten, und obwohl ich in meinem tiefsten Inneren wusste, wie hohl Wickhams Aufmerksamkeiten waren, sehnte ich mich nach ihm.
»Wir hatten doch Spaß, oder?« Er streckte die Hand aus und strich mir übers Haar. »Es fehlt mir, mit dir abzuhängen.«
Du fehlst mir auch.