So fern von dir - Katharina Dietrich - E-Book

So fern von dir E-Book

Katharina Dietrich

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Beschreibung

Als die gebürtige Französin Amelé Dupont aufgrund eines Studentenaustausches in Helsinki zum ersten Mal auf den Finnen Leevi trifft, ist ihr noch nicht bewusst, wie ähnlich sie sich sind und wie sehr er ihr Leben verändern wird. Beide kennen das Gefühl des Verlustes und die Auswirkungen einer Depression, jedoch auf völlig unterschiedliche Weise. Und während Amelé den jungen Mann, der auf sie oftmals so unfassbar unglücklich wirkt, langsam kennen und lieben lernt, muss sie sich bald schon die Frage stellen, ob ihre Liebe allein reicht, um ihn vor sich selbst zu retten.

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TRIGGER WARNUNG

In diesem Roman werden Suizid, Depression und selbstverletzendes Verhalten thematisiert. Wenn es Dir mit diesen Themen nicht gut geht und Du möglicherweise getriggert werden könntest, verzichte lieber darauf, das Buch zu lesen – oder lese es in Anwesenheit einer vertrauten Bezugsperson.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel I

HELSINKI

LEEVI

AMELÉ

LEEVI

Kapitel II

AMELÉ

LEEVI

AMELÉ

LEEVI

Kapitel III

AMELÉ

LEEVI

AMELÉ

LEEVI

AMELÉ

LEEVI

Kapitel IV

AMELÉ

LEEVI

AMELÉ

LEEVI

AMELÉ

Kapitel V

LEEVI

HAMBURG

AMELÉ

LEEVI

AMELÉ

Kapitel VI

LEEVI

Kapitel VII

AMELÉ

LEEVI

AMELÉ

LEEVI

AMELÉ

LEEVI

Kapitel VIII

AMELÉ

I

Die Dämmerung war hereingebrochen, als der Kapitän die Durchsage machte, dass das Flugzeug bald zur Landung ansetzen würde. Die dichte Wolkendecke, deren dunkles Blau schon in rotoranges Licht getaucht wurde, würde bald in völliger Dunkelheit verschwinden und unter uns erkannte ich noch nichts – keine kleinen Lichter, die am Boden tanzten, keine ersten Häuser und kein Meer. Zu undurchdringlich war der Dunst der zu Eis gefrorenen Wassermoleküle, die die Luft in sich aufgesogen hatte.

Ich streckte mich und spürte ein leichtes Knacken im Nacken und ein zufriedenstellendes Ploppen in den Ohren.

»Willst du wieder Kaugummi?« Daria hielt mir die Packung unter die Nase, deren Süße nach purer Chemie roch, und ich nickte dankbar.

»Ja, bitte.«

»Tun dir die Ohren weh?«

»Zum Glück nicht. Ist alles gut.«

»Super!« Sie lächelte.

Wenn Daria lächelte, funkelten ihre haselnussbraunen Augen, die vor Lebensfreude strotzten. Sie war charismatisch, liebenswert und selten aus der Fassung zu bringen. Manchmal war sie so unbeschwert, dass es mich fast wahnsinnig machte. Jetzt klatschte sie leise – und dennoch bestimmt – in ihre Hände und kicherte wie ein kleines Kind.

»Ich freue mich so«, gluckste sie. »Bald sind wir da, kann's kaum erwarten! Bist du auch so aufgeregt?«

»Ja, klar, schon.« Meine Worte klangen wenig überzeugend, weshalb ich mich zu einem schiefen Grinsen zwang, das Daria mit einem Augenrollen kommentierte.

»Wie kannst du so gelassen sein?« Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Die Zeit in Helsinki wird bestimmt ganz wunderbar. Und ehrlich, ich bin ein bisschen neidisch, dass du nur einen Katzensprung von der Universität entfernt wohnst; kannst immer ausschlafen.«

»Naja«, ich kaute auf dem süßlichen Asphaltkleber herum, der in spätestens drei Minuten seinen Geschmack verlieren würde, und wich ihrem Blick aus, »dafür bin ich von dir recht weit weg.«

»Also bitte… wir können doch schreiben oder telefonieren. Die Stadt ist kleiner als Hamburg, der Weg zu mir also noch kürzer und im Übrigen gibt's auch in Finnland öffentlichen Nahverkehr.« Sie grinste. »Mach dir nicht schon wieder so einen Kopf, Amelé.«

»Du hast leicht reden«, spielerisch zog ich einen Schmollmund, »bist schließlich bei einer Studentin untergebracht.«

»Na und?« Wieder verdrehte sie die Augen. »Dir gehen die Argumente echt nicht aus. Dein Student wird schon nett sein.«

»Und wenn nicht?«

»Dann sagst du ihm, dass er sich benehmen soll – oder du kommst zu mir. Ganz einfach. Du bist doch sonst nicht auf den Mund gefallen.«

»Okay«, gab ich mich geschlagen und hob kapitulierend meine Hände, »hast ja recht. Ich hoffe nur, dass er keine Mietbeteiligung verlangt. Das letzte, was ich aktuell gebrauchen kann, ist ein überzogenes Konto.«

»Quatsch.« Sie zog die Stirn kraus. »Er kann sich seine Bude schließlich auch ohne dich leisten.«

»Vielleicht lebt er nur in einer kleinen Studentenwohnung und sieht in mir das Mittel zum Zweck?«

»Amé, Schluss jetzt.« Ihr Blick wurde grimmig. »Geh nicht direkt vom Schlimmsten aus. Er hat sich als Austauschpartner angeboten, also kann er nicht von dir erwarten, dass du zahlst. Wohin hat sich dein Selbstbewusstsein verkrochen? Wenn er dir wirklich ein paar Euro abdrücken will, sagst du ihm, dass du es nicht so dicke hast und er wird's verstehen. Wenn's nach dir ginge, wären alle auf diesem Planeten Unmenschen.«

»Nun…«, setzte ich an, doch sie hob sofort mahnend ihren Zeigefinger und schnitt mir damit das Wort ab.

»Ich weiß genau, was du sagen willst. Bloß nicht!« Ihre Gesichtszüge lockerten sich, sie lachte kurz laut auf und hielt sich im Anschluss eilig die Hand vor den Mund, während sie sich prüfend nach den anderen Fluggästen umsah. »Irgendwann wirst du noch zur Misanthropin«, fügte sie flüsternd hinzu.

»Kann schon sein«, antwortete ich schmunzelnd.

Ich machte mir einen Heidenspaß daraus, Daria zu ärgern. Natürlich war mir bewusst, dass sie recht hatte. Trotzdem war mein Unbehagen nicht gespielt. Mich quälte das schlechte Gewissen. Mein Vater war schließlich derjenige, der mir – zusammen mit dem knappen Zuschuss des Stipendiums – die Teilnahme am Austausch überhaupt erst möglich gemacht hatte. Ohne ihn wäre es für mich finanziell nicht tragbar, einfach so drei Monate nach Finnland zu reisen.

Während Darias Aufmerksamkeit wieder zu ihrem Handy wanderte, schnappte ich mir eine der Broschüren, die in die Rückenlehnen der Vorderreihen gesteckt worden waren, und blätterte sie lustlos durch. Mein Plan, nicht müde zu werden, ging damit zwar nicht auf, aber wenigstens wurde ich abgelenkt.

HELSINKI

Kaum war unsere Maschine auf der Landebahn zum Stehen gekommen, begann schon das große Gedränge. Gepäckstücke wurden von den Ablagen gehievt, entnervtes Gestöhne folgte und im Flur drängelten sich die Ersten in ihren dicken Winterjacken hintereinander. Daria, ein paar andere und ich saßen, warteten und hielten uns vom stressigen Gehetze fern. Unterdessen ließ ich die Kulisse außerhalb des kleinen Gucklochs auf mich wirken. Dichte Nebelschwaden zogen das Gelände entlang und verschwammen mit dem grellen Licht der Lampen, die den Teer für die Piloten erhellten. Ein paar Mitarbeiter in gelben Westen wuselten über das Areal und obgleich es im Flugzeug nicht kalt war, stellten sich die Härchen an meinen Armen auf. Insgesamt hätte die Szenerie etwas Beruhigendes an sich gehabt, wäre nicht das lästig monotone Stimmengewirr im Hintergrund gewesen.

Erst als sich der Trubel gelegt hatte und die nervigsten Drängler verschwunden waren, erhoben wir uns von unseren Plätzen und schlurften durch die engen Reihen zum Ausgang, wo sich die Stewardessen übertrieben freundlich verabschiedeten und mit einer Armbewegung nach draußen wiesen. Dort wurden wir, nachdem wir über die herangerollte Treppe den festen Boden unter unseren Füßen wiedererlangt hatten, vom Personal in Empfang genommen und zum Terminal geleitet.

Ich hatte mir von der Kälte, die meinen Atem in der Luft sichtbar werden ließ und mein Haar mit feinen Schneeflocken bedeckte, nicht zu viel versprochen und zog automatisch den Reißverschluss meines Anoraks bis ganz nach oben zu. Selbst wenn ich es versucht hätte, wäre es unmöglich gewesen, mich der nordischen Atmosphäre zu entziehen. Sie schlug sofort auf mich über und gab mir das Gefühl, in einem typisch skandinavischen Krimi festzustecken.

Daria tänzelte vor mir her, ihre dunklen Locken wippten bei jedem Schritt und wie so oft fragte ich mich, wie sie es nur schaffte, immer so energiegeladen zu sein. Während ich durch meinen niedrigen Blutdruck oft auf Sparflamme lief, schien sie vor Power zu explodieren. Was mich jedoch wenig störte, denn neben ihrem wahrlich grenzenlosen Tatendrang war sie zusätzlich die Kommunikativere von uns beiden, die gern und viel redete und dabei kaum zu bremsen war. Eine Eigenschaft, die sie allerdings konsequent bestritt.

Im Gebäude war es angenehm warm, ich ließ meine zuvor fröstelnd angezogenen Schultern hängen und mich vom Sog der Menschenmenge zur Gepäckausgabe führen, wo der allgemeine Lärmpegel weiter anstieg, was meine beste Freundin mit einem Grummeln kommentierte. Es waren die klassischen Dramen, die sich an Flughäfen abspielten: das panische Aufspringen kurz nach der Landung, um als Erster den Flieger zu verlassen, und das unruhige Platzverteidigen in heißer Erwartung auf das Gepäck. Wer nach Stress suchte, fand hier sicher ein Ventil.

Irgendwann bildete sich eine Lücke, deren Vorteil wir flugs nutzten und nach vorne eilten, um unsere Koffer vom Band zu hieven und im Anschluss mit ein paar anderen Studenten auf unsere übrigen Kommilitonen am Ende der Halle zu warten. Nur wenige Meter trennten uns noch von unseren finnischen Partnerinnen und Partnern und ich wurde langsam unruhig. Ein unangenehmes Schwitzfrieren wanderte meinen Körper entlang und ich warf einen flüchtigen Blick auf mein Handy. Ob er wohl schon hier war? Planmäßig hätten wir vor etwa einer Stunde landen sollen, doch Turbulenzen zwischendurch und eine verspätete Landeerlaubnis hatten das verhindert. Daher musste er längst hier sein.

Eilig pustete ich ein paar lose Strähnen aus meiner Stirn, band mein brustlanges blondes Haar zu einem lockeren Zopf und mischte mich unter meine Gruppe, die sich nun erneut in Bewegung setzte.

»Gleich ist es soweit!« Daria war neben mich getreten und zog mit hochrotem Kopf und angestrengtem Schnaufen zwei riesige Koffer hinter sich her.

»Wanderst du aus?«, fragte ich sie spöttisch.

»Du bist heute aber besonders witzig.« Sie schnitt eine Grimasse. »Projekt Minimalismus ist in Arbeit, weißt du doch.«

»Jaja, natürlich.«

Seit Wochen verschlang sie die unterschiedlichsten Videos über ein bewussteres Leben und erzählte mir jedes Mal mit glühender Begeisterung davon. Ich teilte ihre Freude und unterstützte sie dabei, hoffte allerdings inständig, dass es sich nicht nur um eine kurze euphorische Phase ihrerseits handelte, die bald wieder in Vergessenheit geriet.

Während wir den anderen hinterher trotteten, erhaschte ich einen schnellen Blick auf mein Spiegelbild in einer Scheibe und verzog das Gesicht. Die feinen Härchen, die nicht in den Zopfgummi passten, hatten sich in der trockenen Luft statisch aufgeladen und standen nun wie wild zu Berge.

Zudem erinnerte mich meine Blase in dieser Sekunde intensiv daran, dass ich mir seit einer halben Stunde das Pinkeln verkniff, jedoch jetzt auch keine Zeit mehr dafür hatte. Wir erreichten den Ausgang, bogen um die Ecke und erblickten im Empfangsbereich zwei Dutzend fremder Gesichter, die etwa in unserem Alter waren und Schilder mit unseren Namen emporhielten.

»Guck mal!« Daria stieß mich in die Seite. »Ich glaube, das ist meine.« Sie wies auf eine junge Frau mit kinnlangem blondem Haar, neben der ein ebenfalls blonder Mann mit kleinem Jungen auf dem Arm stand. Beide suchten die Menge nach ihrer unbekannten Mitbewohnerin ab und meine beste Freundin grinste glücklich. »Die sehen voll nett aus.«

Ich stimmte ihr zu, während ich nach meinem Austauschpartner suchte, den Daria zuerst entdeckte. Scharf sog sie die Luft ein.

»Oha!« Sie packte mich an der Schulter. »Schau, Amelé. Da! Schau!« Dieses Mal zeigte sie auffällig in Richtung eines jungen Mannes, der dummerweise im selben Moment zu uns blickte und schief grinste. »Meine Güte, ist der schön.«

»Daria, geht's noch?«, zischte ich leise und huschte reflexartig vor sie, um ihr die Sicht zu versperren. »Hör auf damit.«

»Was ist denn? Guck halt hin!«

»Ja, ich sehe ihn. Und er sieht uns auch. Weißt du, wie peinlich das gerade war?«

»Geh hin!« Ohne auf meinen Einwand zu reagieren, schob sie sich an mir vorbei und winkte ihrer Austauschpartnerin, die amüsiert lachte, dem Mann neben sich Bescheid gab und dann gemeinsam mit ihm und dem Kind auf uns zukam. Ebenso wie Leevi, der von Daria bewunderte Unbekannte, bei dem ich mich die nächsten Monate einquartieren würde. Am liebsten wäre ich vor Scham im Erdboden versunken.

Die Studentin umarmte uns, der Mann reichte die Hand und der Junge brabbelte Unverständliches.

»Hi, na«, grüßte sie uns freundlich. »Du bist also Daria?«

»Genau, die bin ich! Es freut mich sehr, euch kennenzulernen.« Vor Aufregung fleckten sich ihre Wangen rot.

»Ich bin Elena, das ist mein Freund Elias und der Kleine hier ist Emil.« Der Junge hob sein winziges Händchen. »Und du bist?«, wandte sie sich an mich.

»Ich bin Amelé.«

»Hast du deinen Austauschpartner noch nicht gefunden?«

»Doch, hat sie.«

Innerlich zuckte ich zusammen, als seine klare Stimme mit sanftem Unterton erklang, er neben uns trat und ich ihn wohl oder übel ansehen musste.

Leevi war groß – groß und schlank, was ihn einerseits eindrucksvoll und andererseits wie ein Fähnchen im Wind wirken ließ. Seine Haut war ebenmäßig, das Gesicht knochig und die Hand, die er mir nun reichte, kühl.

»Hattet ihr einen guten Flug?«, erkundigte sich Elena und Daria nickte, ehe sie irgendetwas von starken Windböen, einer verspäteten Landeerlaubnis und fluffigen Wolken faselte, was mir verriet, dass ihre Nervosität überhandnahm.

Ich verfolgte den Dialog nur halbherzig, denn ich war viel zu sehr damit beschäftigt, dem stechenden Blick Leevis blauer Augen standzuhalten, die mich zu durchbohren schienen. Er sagte nichts, musterte nur stumm mein Gesicht und störte sich wenig daran, gesellschaftliche Normen über den Haufen zu werfen. Schlimmer war jedoch, dass ich mich nicht einmal abwandte, um ihm zu signalisieren, dass ich mich unwohl fühlte, sondern es ihm stattdessen gleichtat und dabei vermutlich ziemlich dämlich dreinblickte.

»Wir machen los, okay?« Daria zupfte an meinem Ärmel und unterbrach so unser befremdliches Glotzen.

»Was?« Ich sah sie fragend an, ehe ihre Worte vollständig bei mir ankamen und ich bemüht schnell nickte. »Klar. Okay. Wir dann auch.« Ich lachte, doch das Geräusch klang brüchig und erzwungen.

»Alles gut bei dir?«

»Ja, logisch.«

»Er ist so schön.« Sie kicherte und ich warf Leevi, der unbeholfen grinste, einen prüfenden Blick zu, ehe ich mich wieder ihr widmete.

»Sei still«, ermahnte ich sie.

Am liebsten hätte ich Daria, die mich nun zum Abschied fest umarmte, durchgeschüttelt und gefragt, wo ihr Verstand geblieben war, doch um mir weitere Peinlichkeiten zu ersparen, blieb ich still und litt heimlich.

Erst nachdem die anderen abgezogen waren und die Halle sich weitgehend geleert hatte, räusperte sich Leevi.

»Willkommen in Helsinki«, sagte er freundlich. »Ihr hattet also einen ereignisreichen Flug?«

»Ach«, ich winkte ab, »so aufregend wie Daria ihn beschrieben hat, war er dann doch nicht.«

»Dachte ich mir schon.«

»Sorry, dass du warten musstest.«

»Kein Problem. Ist schließlich nicht dein Verschulden. Wollen wir los?« Wie selbstverständlich nahm er mir den Griff des Koffers aus der Hand, der für seine Größe eindeutig ein wenig zu kurz geraten war, und zog ihn in leicht gebückter Haltung hinter sich her. Seine Schritte waren flink, was mir Mühe bereitete, ihm zu folgen, und der schmal geschnittene, dunkelblaue Mantel verlängerte sein Erscheinungsbild maßgeblich. Die Sohlen seiner Schnürstiefel klackten auf dem Kunststoffboden.

Fünfundzwanzig Jahre war Leevi Virtanen alt – und er lebte in einer Wohnung direkt neben einem Park namens Esplanadi. Das war alles, was ich von der Universität über ihn erfahren hatte. Sonst nichts. Keine Mailadresse, keine Nummer.

Ich atmete tief durch, als wir das Gebäude verließen, und hatte kurz das Gefühl, dass die eisige Luft in meiner Lunge gefror.

Leevi führte mich zum Parkhaus, wir fuhren mit dem Aufzug in die oberste Etage, das offene Parkdeck, und während wir schweigend nebeneinander herliefen und über uns der dunkle und sternenlose Nachthimmel thronte, bohrte sich ein unwohles Gefühl durch meine Magengegend. Hier war es zu finster und zu einsam. Das Surren der Rollen meines Koffers auf dem Asphalt klang fast bedrohlich.

Meine Unruhe schien auf den Finnen überzugehen, denn er verlangsamte sein Tempo und sah mich an.

»Da vorne ist gleich mein Auto«, sagte er gelassen, zog den Schlüssel hervor und betätigte den Sensor, der umgehend das grelle Xenonlicht des neuen Mercedes im hintersten Eck aufleuchten ließ. Ich zog die Brauen nach oben und Leevi lächelte verlegen, als mir ein bewunderndes Staunen entkam.

»Oha«. Peinlich.

Eine Antwort bekam ich nicht, stattdessen betätigte er einen weiteren Knopf, der die automatische Heckklappe aktivierte und es ein bisschen auf mich wirken ließ, als wollte er mich beeindrucken. Besonders als er – kaum hatte er den Rolli im Kofferraum verstaut – flink auf meine Seite huschte, mir die Beifahrertür öffnete und kess grinsend wartete, bis ich eingestiegen war. Erst im Anschluss schlenderte er schlaksig zu seiner Seite und ließ sich auf dem Fahrersitz nieder.

»Danke«, murmelte ich und vermied es, ihn anzusehen.

Nach einer Weile schweigender Fahrt wagte ich es, ihn zu mustern. Der schlichte graue Rollkragenpullover gab Leevi einen Ausdruck von Seriosität und die silberne Uhr an seinem Handgelenk, die erst beim Fahren zum Vorschein gekommen war, ließ ihn um Jahre altern. Eigentlich wirkte er mehr wie ein Geschäftsmann, der von einem Meeting nach Hause fuhr, als ein normaler Student.

Er sah mich an, ich starrte nach draußen.

Etwa eine halbe Stunde würde es dauern, bis wir seine Wohnung erreichten. Das hatte meine Recherche auf Google Maps ergeben. Zumindest auf Entfernungen konnte ich mich vorbereiten.

Mittlerweile schneite es stärker und die im Licht der Straßenlaternen glänzenden Schneeflocken verwandelten sich am Boden zu rutschigem Matsch. Erst waren es einzelne Häuser, die uns entgegenkamen, bald darauf größere Wohnsiedlungen und schlussendlich die Stadt. Wir ruckelten über das unebene Kopfsteinpflaster der schmalen Straßen, die menschenleer und so gut wie unbefahren waren. Hätten die Lichter in den Häusern nicht gebrannt, hätte Helsinki wie ausgestorben gewirkt. Die links und rechts parkenden Wägen waren vom eisigen Weiß bedeckt und Leevi schaltete den Scheibenwischer auf die höchste Stufe.

»Amelé Dupont. Französisch, oder?«, fragte er beiläufig.

»Ja, richtig.« Seine Stimme hatte sich in der Stille befremdlich angefühlt. »Bin in Paris geboren«, fügte ich hinzu.

»Wow, Paris ist eine wunderschöne Stadt«, antwortete er. »Seit wann lebst du in Hamburg?«

»Seit elf Jahren.«

»Ah, schön.«

Sein Englisch war fehlerfrei und er sprach in britischem Akzent. Leevis gesamtes Erscheinungsbild hatte bisher eine ziemlich einschüchternde Wirkung auf mich.

»Wir sind da«, ließ er kurz darauf verlauten, als er vor einem Altbauwohnblock mit herrlich schöner Fassade zwischen zwei Autos parkte und aus seinem Seitenfach eine Mütze hervorzog.

»Hast nicht gerade das beste Wetter erwischt.« Er grinste. »Bleib einfach sitzen, bis ich dein Gepäck geholt habe, okay? Dann wirst du nicht so nass.«

»Oh… okay, mach ich. Danke.«

Ich beobachtete ihn über den Rückspiegel und schmunzelte, als er leicht schlitterte und den Koffer wenig elegant auf meine Seite zog, um mir die Tür zu öffnen. Er verneinte, als ich ihm meinen Rolli aus der Hand nehmen wollte, und sperrte die Tür des Wohnhauses auf. Vom Eingang aus führten hohe Treppenstufen mehrere Etagen nach oben und Leevi rückte die Mütze auf seinem Kopf zurecht, während er tief durchatmete.

»Vierter Stock« grummelte er leise.

»S…soll ich mein Zeug selber nehmen?«

»Was?« Sein Blick wanderte ungläubig in meine Richtung und verwandelte sich in ein belustigtes Grinsen. »Ich glaube nicht, dass du das möchtest.«

Ohne eine weitere Reaktion von mir abzuwarten, griff er flugs nach meinem Koffer und begann, vor mir nach oben zu stapfen. Dass ich ihm hätte helfen können, war ihm scheinbar nicht in den Sinn gekommen – doch sollte es mir recht sein.

Anfangs schienen Leevi die knapp neun Kilo extra Gewicht noch leichtzufallen, doch spätestens nach dem dritten Stock, den er bewusst schnell umrundete, bemerkte ich, dass seine Beine merklich zitterten.

»Geht's?«, fragte ich und erhielt nur zustimmendes Gemurmel.

Seine Wangen leuchteten rot, als wir endlich vor seiner Tür zum Stehen kamen. Sichtlich bemühte er sich darum, sich nicht anmerken zu lassen, wie gern er jetzt eigentlich nach Luft geschnappt hätte. Das ließ die Anspannung etwas von mir abfallen. Wenn auch nur für wenige Sekunden, denn kaum hatte er mir einen ersten Blick ins Innere seines Zuhauses gewährt, fiel mir unfreiwillig die Kinnlade hinunter. Das hier war definitiv keine durchschnittliche Studentenwohnung, nicht mal ansatzweise, das hier war – ganz getreu seines schicken Autos – eine renovierte Maisonette.

»Oha.« Schon wieder ehrfürchtiges Staunen und innerliche Scham. »Was für eine wunderschöne Wohnung.«

»Ach.« Er lächelte, winkte ab und rang nach Worten. »Nicht der Rede wert.«

»Natürlich!« Ich sah ihn entgeistert an. »Wie kannst du dir das leisten?«

Kaum waren mir die Worte über die Lippen gekommen, hätte ich mir am liebsten eine geschmiert. Zuvor hatte ich noch an Darias Verstand gezweifelt, nun schien ich meinen selbst zu verlieren. Welch' grandiose Idee, ihn in der ersten Stunde unseres Kennenlernens direkt nach seinen finanziellen Mitteln zu fragen. Was für ein Fauxpas!

»Ganz klassisch«, reagierte er überraschend gelassen. »Paid by Vati und Mutti. Ich bin ein richtig verwöhnter Schnösel.« Er lachte und wich meinem Blick aus. »Alleine könnte ich mir das hier nie leisten.«

»Was arbeiten denn deine Eltern?«

»Meine Mutter war Chefärztin, mein Vater Richter. Beide sind aber mittlerweile im Ruhestand.«

»Beeindruckend.« Ich wippte anerkennend mit dem Kopf.

Der Flur führte in ein großes Wohnzimmer, das als Zweiteiler aus Küche und gemütlichem Lesebereich bestand. Neben der Couch stand ein halbhohes Bücherregal, auf dem ein paar kleine Kakteen ruhten. Dahinter boten große Bogenfenster einen schönen Blick auf den Park. Rechts folgten zwei Türen und davor eine Treppe, die nach oben in eine zweite offene Etage wies. Die hölzernen Möbel und die unkoordiniert abgestellten Pflanzen gaben der sonst sehr modernen Einrichtung eine gemütliche und heimische Atmosphäre. Die Wände wurden von bunten Kunstwerken geziert, deren Künstler ich nicht ausmachen konnte, und ein rostrotes Sofa rundete den großen Raum mitsamt graumeliertem Teppich am Boden ab.

»Die beiden Türen sind ganz dein Reich.« Leevi war neben mich getreten. »Ein Gästezimmer und ein kleines Bad. Kannst dich gerne umsehen.«

Er öffnete die erste Tür und stellte meinen Koffer im dahinterliegenden Raum ab. Ein großes Doppelbett aus Paletten, auf dem sich einladende Kissen stapelten, erwartete mich. Links im Eck stand ein Kleiderschrank und rechts daneben ein altmodischer Spiegel. Dazwischen folgte ein hohes Fenster, das von langen, weißen Vorhängen umrahmt wurde.

»Ich lasse dir jetzt deine Ruhe. Du willst sicher erst einmal auspacken. Wir können uns später gerne auf ein Glas Wein zusammensetzen.« Leevi lächelte scheu und wanderte mit seinen Augen über mein Gesicht. »Wenn du das möchtest«, fügte er hinzu.

Ich fühlte mich wie in einer anderen Welt, als das Wasser der Regendusche auf meine Haut prasselte und meine kalten Glieder wärmte. Die Fliesen waren marmoriert, die Armaturen vergoldet und als ob das nicht schon genug Luxus wäre, vollendete eine Fußbodenheizung meinen unrealistischen Traum vom perfekten Wohnen.

Ich stellte die Dusche ab und genoss den Dampf, der durch den Raum zog, während ich mich abtrocknete. Erst im Anschluss, nachdem ich das Fenster gekippt und der Spiegel sich langsam geklärt hatte, folgte zur Ernüchterung mein Gesicht. Ich sah müde aus. Dunkle Schatten umrahmten meine Augen und rissige Stellen schmerzten auf meinen Lippen. Gern hätte ich mir etwas Schickeres angezogen, doch ich besaß nichts dergleichen. Mein gewöhnlicher Alltag passte gar nicht in diese feine Welt, in die Leevi hineingeboren war. Ein Grund, weshalb ich mich schlichtweg fehl am Platz fühlte. In Jogginghose und Flauschpulli gekleidet spähte ich schlussendlich aus der Tür. Von meinem Gastgeber fehlte jede Spur und auch als ich seinen Namen rief, erhielt ich keine Antwort. So stieg ich die Treppe zur Empore nach oben und entdeckte dort zwei weitere Türen und eine gemütliche Sitzecke mit Fernseher. Die Couch in dunklem Petrol und der niedrige Metalltisch mit schwarzer Marmorplatte, der auf einem Perserteppich stand, erinnerten mich an eine arrangierte Möbelausstellung. Lediglich mit dem kleinen Unterschied, dass sich bei Leevi doch der ein oder andere Staubfussel finden ließ.

Ich setzte mich, schloss meine Augen und atmete tief durch.

»Scheinst meinen Lieblingsplatz gefunden zu haben.« Leevi sprach mich an, ich riss die Augen auf – und donnerte prompt mit dem Fuß fest gegen den Stein des Tisches, als ich erschrocken zusammenzuckte.

»Oh, fuck«, fluchte ich, während ich meinen schmerzenden Knöchel rieb und er laut auflachte.

»Sorry. Ich wollte dich nicht erschrecken.«

»Kein Problem«, gab ich ihm peinlich berührt zur Antwort und Leevi setzte sich mir gegenüber. Seine Haarspitzen waren feucht, die Augen leicht durchädert, als hätte er versehentlich Shampoo hineinbekommen, und er trug ebenso eine Stoffhose. Dem reichen Schnösel war Bequemlichkeit also auch wichtig. Wie erleichternd.

»Ich wollte nicht herumschnüffeln«, entschuldigte ich mich und er schüttelte den Kopf.

»Ach was. Für die nächsten Monate wohnst du hier, also fühl' dich bitte wie zu Hause. Hast du irgendwelche Fragen?«

Trotz seiner Freundlichkeit kam es mir vor, als würde ich in einem Vorstellungsgespräch sitzen – erzwungen, angespannt und voll darum bemüht, den besten Eindruck zu hinterlassen. Doch ich durfte mich nicht beschweren; immerhin versuchte er, eine normale Konversation aufzubauen, was mir vermutlich nach drei Tagen noch nicht gelungen wäre.

Ich überlegte, – suchte mehr oder weniger sogar fieberhaft nach etwas, das ich hätte fragen können –, und »Was ist der Plan für die restliche Woche?« erschien mir schlussendlich am sinnvollsten.

»Was auch immer du möchtest.« Er zuckte leicht mit seinen Schultern. »Ich habe schon mitbekommen, dass ihr von euren Dozenten kaum Infos erhalten habt, darum übernehme ich das mal. Die nächsten zwei Tage sind noch frei, damit ihr euch in Ruhe einleben könnt, und am Montag geht es mit den Vorlesungen los. In der Uni hast du alle Kurse mit mir zusammen – heißt, du musst dich nicht unnötig orientieren – und in drei Monaten folgen die Klausuren, für die wir sehr gerne gemeinsam lernen können.« Er hielt inne, sah mich an und ich nickte resigniert, ohne mich von der Tiefe seiner Augen abwenden zu können.

Sprich einfach weiter, dachte ich angespannt.

»So.« Er räusperte sich. »Übermorgen, am Freitag, findet eine kleine Willkommensfeier am Strand mit Lagerfeuer statt. Da die meisten von euch am Stadtrand untergebracht sind, passt die Location dort am besten. Außerdem wird niemand gestört, sollte es lauter werden.« Er grinste schelmisch. »Wir können aber damit rechnen, dass es arschkalt sein wird. Ich würde dir raten, dich warm einzupacken. Am besten ziehst du ganz viele Lagen an. Hast du eine Fleecejacke dabei?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Nicht so schlimm. Kannst eine von mir haben. Mir ist vor nicht allzu langer Zeit eine in der Wäsche eingelaufen. Wenn ich ehrlich bin…«, er machte eine Pause, »anfangs war ich echt unschlüssig, ob ich meine Wohnung überhaupt anbieten soll. Wir sind zwar sehr nah an der Uni, aber von den meisten deiner Kommilitonen ein bisschen weiter weg. Ich hoffe, das stört dich nicht. Gib mir gerne Bescheid, wenn du jemanden außerhalb der Stadt treffen möchtest. Dann fahre ich dich hin und hole dich auch wieder ab.«

»Das ist sehr lieb von dir, danke. Die Entfernung stört mich aber wirklich nicht.« Mein Schwindel strafte mich prompt mit glühenden Wangen. »Außerdem sehe ich die anderen ja in der Uni«, fügte ich deshalb schnell hinzu.

»Stimmt, klar. Was möchtest du morgen machen? Wir können durch die Innenstadt schlendern, bei meinen Eltern vorbeischauen oder einfach faulenzen. Wie es dir am liebsten ist.«

»Möchten mich deine Eltern denn kennenlernen?«

»Unbedingt.« Er lachte. »Meine Mutter ist super neugierig. Am liebsten wäre sie sogar mit zum Flughafen gekommen.«

»Was echt? Das ist ja süß«, antwortete ich amüsiert und er schüttelte schmunzelnd den Kopf.

»Du hättest mich für bescheuert gehalten, hätte ich sie mitgebracht, gib es zu. Und die anderen erst! Ich überlege mir was für morgen, okay? Möchtest du ein Glas Wein?«

Ich zögerte. Eigentlich war ich kein sonderlich großer Fan von Alkohol und dementsprechend auch weder trinkfreudig noch trinkfest, doch ich empfand es als unfreundlich, sein Angebot abzulehnen.

»Ein kleines aber nur«, sagte ich daher.

Nachdem er wieder nach oben gekommen war und zwei Gläser auf den Tisch gestellt hatte, hielt er mir die Weinflasche unter die Nase und grinste kess. »Ein Glas Merlot?«

Ich nickte. »Sehr gern. Danke.«

»Super komisch, oder?«, fing er an, während er sich setzte und uns einschenkte.

»Was?«

»Dass wir jetzt zusammenwohnen, ohne uns zu kennen.«

»Schon.«

»Bist du nervös?«

»Bisschen.«

»Musst du nicht sein.«

Er reichte mir mein Glas und wir stießen an.

»Oh«, ich verzog unfreiwillig das Gesicht, »der ist trocken.«

»Schmeckt dir nicht?«

»Doch, schon, ich trinke nur so gut wie nie etwas.«

»Bin ich ein schlechter Einfluss?« Wieder umspielte ein verschmitztes Lächeln seine Lippen und ich legte den Kopf schief.

»Vielleicht.«

Er sah mich eine ganze Weile lang an und schwieg dabei. Es schien Leevi gar nichts auszumachen, dass er mich mehr und mehr verunsicherte. Möglicherweise wollte er das sogar. Oder er bemerkte es selbst nicht.

Um die Situation erträglicher zu machen, nippte ich erneut am Alkohol, sah nach draußen und musterte die Umrisse der Baumkronen, die im Wind leicht schwankten. Die Schneeflocken waren feiner geworden.

Das obere Stockwerk der Maisonette wurde nur durch eine Stehlampe direkt neben mir in schwaches Licht getaucht, was mich langsam müde machte. Und während ich heimlich auf die Uhr an der Wand schielte, erwischte mich Leevi dabei.

»Bist du müde?«

»Ein wenig.«

»Erzähl mir was von dir.« Er griff nach seinem Wein, trank einen großen Schluck und leckte sich über die Lippen.

Seine gequälten Versuche, eine Unterhaltung aufzubauen, fühlten sich fast schmerzhaft an und ich war insgeheim kurz davor, einfach aufzustehen und mich in mein Zimmer zu verkriechen. Doch das wäre natürlich unhöflich gewesen.

So hielten mich mein Anstand und auch mein Interesse an diesem sonderbar wirkenden Kerl, der mir gegenübersaß und den Kopf auf der Hand abstützte, zurück.

»Ich fühle mich wie in einem Bewerbungsgespräch«, gab ich ihm ehrlich zur Antwort und er lachte leise.

»Ich weiß nicht, was ich dich fragen soll.«

»Ich auch nicht.«

Immerhin waren wir da einer Meinung.

»Von wem sind die Bilder an deinen Wänden?«, fand ich schließlich eine passende Frage, als ich meinen Blick über das offene Geländer nach unten ins Wohnzimmer schweifen ließ und an den Kunstwerken hängenblieb.

»Von mir«, sagte er kaum hörbar und ich sah ihn mit großen Augen an.

»Von dir?«

Er nickte.

»Wow. Die sind ja wunderschön.«

»Nur bisschen Farbe.«

»Also bitte!« Ich setzte mich aufrecht hin. »Ich wünschte, ich könnte überhaupt etwas Brauchbares auf Papier bringen, aber leider ist dieses Talent völlig an mir vorbeigegangen.«

»Was machst du denn gerne?«

Ich schnaufte. »Zurück zum Bewerbungsgespräch.«

Da lachte er schallend und feine Fältchen umspielten seine Augen. »Sorry, ich habe es selber gemerkt.«

»Ich mache nicht viel. Bin richtig langweilig. Ich verschlinge Bücher und versuche ab und an selbst zu schreiben. Aber darin bin ich nicht sonderlich gut.«

»Was liest du so?«

»Alles Mögliche. Romane, Thriller, alte Klassiker. Schullektüren fand ich immer super – die Leiden des jungen Werthers, Schuld und Sühne, Krieg und Frieden. Nur Faust war zugegeben etwas zäh…«

»Interessierst du dich für Bücher russischer Autoren?«

»Mitunter ja, aber jetzt nicht speziell. Wieso?«

»Meine Mutter ist Russin.« Er grinste.

»Ach?« Ich zog erstaunt die Brauen nach oben. »Wie cool! Dein Vater auch?«

»Nein, der ist halb Finne, halb Deutscher.«

»Also spricht er Deutsch?«

»Ja, das tut er. Mein Vater ist zwar in Finnland geboren, hat aber zeitweise – wenn ich mich richtig erinnere – in Stuttgart gelebt und dort auch seinen Abschluss gemacht. Ganz genau weiß ich das aber leider nicht.«

»Okay. Interessant.«

»Geht.« Er grinste.

»Erzähl mir was von dir.«

»Zurück zum Bewerbungsgespräch? Ich reise gern.«

»Wohin reist du gern?«

»Hm.« Leevi überlegte, sah nachdenklich aus dem Fenster und fuhr sich mit den Fingern durch sein Haar. »Ist mir eigentlich egal. Hauptsache ist, dass ich von hier flüchten kann.«

Wieder nahm er einen großen Schluck, leerte das Glas und füllte es erneut.

»Was meinst du damit?«, fragte ich.

»Ach«, antwortete er und winkte ab, ohne mich anzusehen. »Vergiss, was ich gesagt habe.«

»Bist du nicht gerne hier?«

»Doch, schon, natürlich. Amelé, ich rede Unsinn. Ich habe fast die ganze Welt gesehen. Ich kann mich gar nicht entscheiden, wo ich es am schönsten fand.«

»Wow.«

»Sag das doch nicht.«

»Ich würde sehr gerne von deinen Reisen hören.«

Seine Wangen röteten sich, die Lippen waren leicht violett verfärbt. Es war ihm unangenehm, das merkte ich, doch ich wollte sein Schweigen nicht akzeptieren. Fast die ganze Welt – für mich unvorstellbar.

»Bitte«, betonte ich mit Nachdruck und er knabberte unruhig auf der Unterlippe herum, ehe er nachgab und durchatmete.

»Wo soll ich anfangen?«

»Frankreich.«

»Na gut.« Leevi lachte. »Côte d'Azur…«

»Bin ganz Ohr.«

Mit dem nächsten Morgen kamen der Sonnenschein, aber auch die Kopfschmerzen. Ein sich wiederholendes Stechen bohrte sich durch meine Schläfen und ich rieb mir über die Stirn. Ich vertrug eindeutig keinen Alkohol, obwohl ich es wirklich bei einem Glas belassen hatte. Im Gegensatz zu Leevi, der nach bestimmt vier vollen Gläsern durchaus gesprächig geworden war und dabei bewiesen hatte, dass er mehr als fünf Sätze auf einmal herausbrachte, und sogar eine ganze Stunde mit Erzählungen über seine Reisen füllen konnte, ohne dass ich überhaupt zu Wort kommen musste.

Er hatte etwas Beruhigendes an sich. Die Art, wie er sprach, war so gar nicht aufgesetzt, und seine Augen funkelten begeistert, wenn er sich etwas Schönes in Erinnerung rief. Die Liste der beeindruckenden Länder und Schauplätze, die er schon gesehen hatte, war lang und doch wählte er seine Worte bedacht. Leevi erwähnte immer wieder, dass er das nur seinen Eltern zu verdanken hatte und es sehr zu schätzen wusste. Er ruhte sich nicht auf der Selbstverständlichkeit aus, die ihn sein Leben lang schon zu begleiten schien.

Ich warf die Decke zurück, schwang meine Beine aus dem Bett und tapste zum Vorhang, um ihn zur Seite zu ziehen, als ich Geräusche aus der Küche vernahm.

Der heutige Himmel war wolkenlos, eine leicht wärmende Wintersonne schien und der Schnee glitzerte auf den Dächern. Ein Kribbeln durchfuhr meinen Körper und ich lächelte zufrieden. Vielleicht würde es doch eine gute Zeit werden; besser als ich sie mir erwartet hatte.

Leise öffnete ich die Tür und sah Leevi mit dem Rücken zu mir an der Kaffeemaschine hantieren.

»Guten Morgen«, grüßte ich ihn und er drehte sich überrascht um.

»Du bist schon wach?«

»Wie du sehen kannst.« Ich lachte.

»Ich habe gar nicht damit gerechnet, dass du so früh auf den Beinen bist; wollte dich eigentlich mit einem Frühstück überraschen.«

»Oh.« Die Röte schoss mir in die Wangen. »Wie lieb von dir, aber das wäre doch nicht nötig gewesen. Ich gehe kurz ins Bad, okay?«

»Na klar, keine Eile. Aber wenn du wiederkommst, tust du wenigstens überrascht.«

»Mach ich, versprochen.«

Nach einem ausgefallenen Frühstück, bei dem ich einiges erst skeptisch beäugt hatte, machten wir uns nun auf den Weg zu seinen Eltern.

Ich war unsicher und sträubte mich insgeheim gegen den Besuch, doch das würde ich mir nicht anmerken lassen. Leevi musste wirklich nicht wissen, welch' Heidenrespekt ich vor seiner Familie hatte und wie elend ich mich mit dem Gedanken fühlte, in seine Welt einzutauchen. In meiner Vorstellung fehlten mir dafür der förmliche Knigge, der stolze Gang und natürlich besonders das Geld. Letzteres bekam ich zu spüren, als wir nach einer etwa zwanzigminütigen Fahrt die Insel Kulosaari erreichten, die überwiegend von schicken Häusern bebaut war und von wohlhabenden Leuten bewohnt wurde. Vor einem dieser beeindruckenden Häuser blieben wir stehen, das eiserne Eingangstor öffnete sich automatisch und Leevi stellte im Innenhof den Motor des Wagens ab. Anschließend rieb er sich nervös die Hände.

»Beim Hausbau kamen die extravaganten Vorlieben meiner Mutter etwas zu sehr zur Geltung«, versuchte er die Szenerie abzuschwächen.

Seine Mutter, eine schlanke Frau in Kostüm mit schick frisierten Haaren, wartete an der Eingangstür. Direkt hinter ihr folgte ein hochgewachsener, freundlich lächelnder Mann mit grauen Haaren, weißem Hemd und Pullover darüber. Daneben ein kniehoher fuchsroter Spitz, der aufgeregt hechelte.

»Noch nicht aussteigen«, wies Leevi mich an und ignorierte meinen fragenden Blick. Stattdessen nickte er nur eindringlich, sodass ich seinem Willen folgte und wartete, bis er seine langen Beine aus der Wagentür geschwungen hatte und um das Auto herumgeschlendert war, um meine Seite zu öffnen.

Ah, deshalb also.

Er grinste schelmisch, wies mit einer Handbewegung Richtung Haus und schob mich sanft an der Taille nach vorne, als ich nicht sofort reagierte. Die Stelle, an der er mich berührte, fühlte sich elektrisiert an und am liebsten wäre ich ihm ausgewichen. Auch weil ich Angst hatte, dass er mein rasendes Herz spüren konnte.

Mittlerweile war der Hund unruhig geworden, tippelte von einer Pfote nervös zur anderen und sah zwischen Leevi und seinem Vater hin und her. Eine minimale Handbewegung des älteren Herrn genügte, um ihn wie wild auf uns zustürmen zu lassen.

»Hey, Kleiner! Ist ja gut!« Leevi kniete auf dem Boden, ließ sich freudig die Pfoten des Fellknäuels auf die Schultern werfen und hob ihn mit einer Leichtigkeit hoch.

»Leevi, dein guter Pulli!« Die ersten Worte seiner Mutter.

»Kann man waschen!«, kam von ihm zurück.

Ich war erstaunt über seine Gleichgültigkeit und er strahlte mich an, während die Aufmerksamkeit seiner Eltern zu mir wanderte. Seine Mutter schüttelte fest meine Hand und begrüßte mich erst auf Finnisch, dann auf Englisch. Ebenso sein Vater, der mir im Anschluss Kaffee auf Deutsch anbot.

Ich musste sichtlich überfordert gewirkt haben, denn Leevi trat kurz vor dem Wohnzimmer neben mich und flüsterte mir zu, dass ich nicht nervös sein brauchte, was ich resigniert bejahte. Er hatte schließlich leicht reden.

Das Gebäude war von innen überwältigend. Blitzeblank – hier konnte man nirgendwo Flusen erkennen –, hell erleuchtet und von einem großen Wintergarten mit Glasfronten geziert, der einen weiten Blick über den gepflegten Garten bot. Der schwere Mahagonitisch im Wohnzimmer rundete das mehr als klassische Erscheinungsbild auf edle Weise ab.

Leevis Vater brachte Kaffee und Tee, dann setzte er sich.

»Willkommen«, wiederholte seine Mutter, deren russischer Akzent nicht zu überhören war und deren Augen ebenso blau funkelten wie die ihres Sohnes. »Schön, dass wir dich kennenlernen dürfen, Amelé. Ich bin sehr froh, dass Leevi an diesem Projekt teilnimmt. So etwas hat nur Vorteile. Wurdest du von ihm auch angemessen empfangen?«

»Mutter«, murmelte Leevi und knirschte mit den Zähnen.

»Ja, vielen Dank.« Ich lachte scheu. »Ich freue mich sehr, hier zu sein.«

»Wir haben uns noch gar nicht richtig vorgestellt«, ergriff nun sein Vater das Wort. »Das ist meine Frau Olga und ich bin Mikael. Amelé – noch nie gehört. Ist das französisch?«

»Ja, klingt so.« Ich wippte mit dem Kopf auf und ab und fühlte mich dabei wie ein Wackeldackel. »Aber eigentlich ist mein Name nur die Erfindung meiner Mutter.«

»Sehr schön. Hat sie französische Wurzeln?«

»Sie ist in Paris geboren, genauso wie ich. Mein Vater ist allerdings Deutscher.«

»Bezaubernd!« Seine Mutter musterte mich. »Wie kommt es, dass du nach Deutschland gezogen bist?«

Ich schluckte verlegen. Genau mein Thema. »Die Scheidung meiner Eltern war der Grund. Aber die ist lange her. Seit elf Jahren lebe ich mit meinem Vater in Hamburg. Auch er ist sehr begeistert vom Austauschprogramm.«

Während sie mich über meine Kindheit in Frankreich und mein Leben in Hamburg ausquetschten, was ich so knapp wie möglich zu beantworten versuchte, schlich mir der Hund irgendwann unter dem Tisch um die Beine und reckte seinen Kopf zwischen meinen Knien nach oben.

»Er heißt Chaplin«, erklärte Leevi.

»Na, Chaplin? Du bist ja ein Süßer.« Ich strich dem Fellknäuel sanft über den Kopf. »Wie alt ist er?«

»Sieben.«

»Ein wunderschöner Hund.«

»Danke.«

Wir sahen uns an und für ein paar Sekunden war es still am Tisch. Da war ich – weit weg von meinem Zuhause, noch weiter weg von Paris – im Hause einer Familie, die sich von meiner nicht mehr hätte unterscheiden können. Sie wirkten so sorglos, so harmonisch. Und nie war es mir unmöglicher vorgekommen, mein Herz nicht schwer werden zu lassen.