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Atemberaubendes Jugendbuch mit historischem Setting in Venedig
Einmal das Meer sehen! Niemals hätte Pietro zu hoffen gewagt, dass sein Traum in Erfüllung geht. Doch der Krieg gegen die Hunnen hat alles auf den Kopf gestellt. Gerade noch ein einfacher Schweinehirte zieht Pietro jetzt als Soldat durch das Land. An seiner Seite Justina, Tochter aus reichem Haus, die sich als Junge verkleidet hat, um den Soldaten zu folgen. Niemand darf wissen, wer sie wirklich ist. Und niemand darf erfahren, dass Pietro und Justina sich trotz aller Standesunterschiede immer näher kommen ...
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Einmal das Meer sehen! Niemals hätte Pietro zu hoffen gewagt, dass sein Traum in Erfüllung geht. Doch der Krieg gegen die Hunnen hat alles auf den Kopf gestellt. Gerade noch ein einfacher Schweinehirte zieht Pietro jetzt als Soldat durch das Land. An seiner Seite Justina, Tochter aus reichem Haus, die sich als Junge verkleidet hat, um den Soldaten zu folgen. Niemand darf wissen, wer sie wirklich ist. Und niemand darf erfahren, dass Pietro und Justina sich immer näher kommen ...
© Tamara Casula
Davide Morosinotto wurde 1980 in Norditalien geboren. Bereits mit 17 Jahren schrieb er seine erste Kurzgeschichte. Seitdem hat er über 30 Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht. Sein Kinderbuch "Die Mississippi-Bande" wurde für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Für sein Jugendbuch "Shi Yu" wurde er mit dem "Premio Strega", dem wichtigsten Literaturpreis Italiens ausgezeichnet. Davide Morosinotto lebt als Autor, Journalist und Übersetzer in Bologna.
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Viel Spaß beim Lesen!
Davide Morosinotto
Aus dem Italienischen von Cornelia Panzacchi
Thienemann
Die Zeit fliesst nichtwie ein Fluss,sondern rollt wie ein Rad.Auf den Sommer folgtder Herbst,nach dem Winter istschon wieder Frühling.
Viele Jahre lang verlief das Leben im Haus vollkommen ereignislos.
Dann kamen die Barbaren.
Ausgerechnet Pietro erfuhr es als Erster, was eigentlich seltsam war, weil er zwar für das Haus arbeitete, jedoch nicht dort wohnte. Denn das Haus stand in der Stadt und gehörte dem Senator, der es mit seiner Familie und seinen engsten Vertrauten bewohnte. Pietro dagegen war nur der Schweinehirte.
Für den Abend war ein Festessen geplant, deshalb kam früh im Morgengrauen ein Diener zum Schweinepferch und verlangte ein Spanferkel, das am Rost gebraten werden sollte.
Da der Mann es sehr eilig hatte, schlug Valdo vor, dass sie ihm das Spanferkel vorbeibringen könnten. Zu Pietro sagte er: »Kümmere du dich darum.«
Valdo war der Vater von Pietro, doch sie sahen einander überhaupt nicht ähnlich. Valdo war ein klein gewachsener Mann mit dunkler Haut, während Pietro mit seinen vierzehn Jahren beinahe ein Riese war, ein junger Mann mit breiten Schultern und einer hellen Haut, die in der Sonne ständig verbrannte. Deshalb rieb ihm seine Mutter jeden Abend mit einer Salbe aus Fett und Kräutern den Rücken ein.
Valdo war der Besitzer des Schweinepferchs und führte sich auf, als wäre er auch der Besitzer von Pietros Mutter. Ständig erteilte er ihr Befehle und schlug sie, wenn sie nicht schnell genug gehorchte.
Nie hatte Pietro genug Mut oder Kraft gehabt, etwas dagegen zu unternehmen, bis er eines Tages nach Hause kam und sah, wie Valdo über der am Boden liegenden Mutter einen Stock schwang. »Nein!«, sagte er in dem Moment.
Er sprach nie viel, denn er hatte gemerkt: Wenn man wenig sagt, hat das, was man sagt, umso mehr Gewicht. Und tatsächlich hatte an dem Tag ein einziges Wort genügt, um Valdo aufzuhalten. Ein seltsamer Funke war in seinen Augen aufgeblitzt und zum ersten Mal war Pietro bewusst geworden, dass sein Vater den Kopf in den Nacken legen musste, um zu ihm aufzuschauen. So klein war er – und Pietro dagegen so groß. Mit einem Faustschlag gegen die Schläfe hätte er ihn töten können.
Valdo musste etwas Ähnliches gedacht haben, denn er hatte die gemeinsame Hütte verlassen und war erst zurückgekommen, als es Schlafenszeit wurde. Am folgenden Morgen hatte er getan, als ob nichts wäre. Die Mutter aber hatte er nie wieder geschlagen.
Pietro ging seinem Vater seitdem möglichst aus dem Weg. Eigentlich wäre es ihm viel lieber gewesen, wenn er ihn gemocht hätte, doch es gelang ihm nicht und das machte ihn traurig.
Auf jeden Fall aber war und blieb Valdo sein Vater und deshalb musste er ihm gehorchen.
»Nimm ein Spanferkel und bring es in die Stadt«, lautete sein Befehl.
Der Schweinepferch befand sich mitten im Wald, damit man die Tiere hinauslassen konnte, wo sie Pilze, Eicheln, Früchte und all das andere fanden, das sie gerne fraßen. Der Wald lag am Fuß der Hügel, die mit ihren runden Kuppen einen langen Abschnitt des Horizonts verdeckten. Diese Kuppen sahen ein bisschen wie Mädchenbrüste aus, und seit einiger Zeit dachte Pietro etwas zu oft über diese Ähnlichkeit nach und über die Brüste von Galla, die so alt wie er war und auf den Feldern hinter dem Wald arbeitete.
Pietro kannte nicht viele andere Mädchen und hatte daher kaum Vergleichsmöglichkeiten, doch für ihn war Galla wunderschön. So ähnlich ging es ihm auch mit dem Wald und den Hügeln, die er wunderschön fand, weil er kaum andere kannte. Er dachte oft, dass er Glück gehabt hatte, an einem Ort geboren zu sein, an dem es ihm gefiel, denn wahrscheinlich würde er sein ganzes Leben hier verbringen, bis zu seinem letzten Atemzug.
Pietro schlüpfte unter das Dach, unter dem die Säue mit ihren Spanferkeln lagen, jene jungen Schweine, die im Frühjahr geboren und jetzt drei Monate alt waren. Eines purzelte ihm fröhlich grunzend entgegen. Es war ziemlich groß, musste ungefähr dreißig Kilo wiegen und war von einem schönen Rosa mit kleinen schwarzen Tupfen.
»Bietest du dich als Freiwilliger an?«, fragte Pietro. »Das ehrt dich, denn dadurch rettest du deinen Geschwistern das Leben.«
Er hob das Ferkel auf und legte es sich über die Schultern. Das Tier wand sich hin und her.
»Bleib ruhig«, sagte Pietro. »Sonst muss ich dich fesseln. Willst du nicht lieber den Spaziergang genießen?«
Mit seiner Last auf dem Rücken verließ Pietro den Pferch und schlug den Pfad ein, der durch den Wald führte. Die Stadt Ateste war ein paar Meilen entfernt, eine beachtliche Strecke, wenn man eine schwere Last zu tragen hatte, doch Pietro war kräftig, deshalb machte es ihm nicht viel aus.
Er ließ den Wald hinter sich und ging auf der Römischen Straße weiter, die entlang des Flusses Athesis verlief. Pietro mochte den Fluss, weil er immer in Bewegung war. Oft kam es ihm vor, als flüstere er ihm Geschichte von fernen Orten zu. Der alte Ranilo, der Fährmann, hatte ihm einmal erzählt, dass der Fluss im Osten in einen riesigen See mündete, den man »Meer« nannte, und dass in diesem Meer unglaublich viel Wasser war. Man konnte es nicht trinken, denn es war salzig.
Pietro fragte sich, ob das stimmte. Der alte Ranilo war schließlich bekannt dafür, dass er verrückte Geschichten erzählte, vor allem dann, wenn er einen Becher Wein zu viel getrunken hatte.
Und jetzt, hinter der Kurve, tauchte plötzlich Ranilo höchstpersönlich vor ihm auf. Er stand am Flussufer und schrie einen Reiter am anderen Ufer an. Dieser Reiter war eindeutig nicht von hier: Er trug eine kurze Tunika, die ihm nur halb über die Oberschenkel reichte, einen ledernen Brustpanzer und genagelte Sandalen, wie Soldaten sie hatten.
In der über den Fluss geschrienen Diskussion ging es darum, dass der Reiter übergesetzt werden wollte, Ranilo sich jedoch weigerte, weil das Pferd zu schwer für sein Floß war.
»Du musst drei oder vier Meilen zurückreiten, da findest du eine Brücke«, rief Ranilo.
»Ich habe keine Zeit«, rief der andere zurück. »Sie haben gesagt, mit der Fähre geht es schneller.«
»Zu Fuß ja. Mit dem Pferd nicht.«
»Aber es ist wichtig. Ich habe Nachrichten für die Kurialen.«
Die Kurialen waren die Herren des Stadtrats. Die mächtigen Herren. Männer wie der Clarissimus, der Senator.
»Was für Nachrichten sollen das sein?«, wollte Ranilo wissen.
»Die Barbaren kommen!«
Der alte Fährmann und Pietro wechselten einen Blick.
»Das ist keine große Neuigkeit«, rief Ranilo hinüber.
Tatsächlich zogen durch diese Gegend häufig Barbaren. Meistens waren es Goten, Sarmaten oder Alanen. Sie alle waren Krieger mit langen, hellen Haaren. Manche kämpften für das römische Heer, manche auf eigene Rechnung, doch den Leuten hier hatten sie nie etwas getan.
»Dieses Mal ist es anders!«, rief der Reiter. »Die Hunnen kommen! Sie sind wie Raubtiere und sie werden von Attila dem Eroberer befehligt. Ich muss so schnell wie möglich zum Senator.«
Ranilo kratzte sich am Kinn. »Und was machen wir jetzt?«
Pietro wusste, dass der Senator sehr böse werden würde, wenn er erfuhr, dass ein wichtiger Bote aufgehalten worden war.
»Vielleicht kannst du den Mann mit deinem Floß übersetzen«, sagte er zu dem Fährmann, »und ich führe das Pferd dort drüben durch die Furt.« Er zeigte auf eine Flussbiegung, in der die Strömung nur sehr schwach war.
Ranilo grinste. »Manchmal vergesse ich, dass du nicht nur ziemlich viele Muskeln, sondern auch ein bisschen Hirn hast«, meinte er. »Wir machen es genau so, wie du gesagt hast.«
Schreiend teilte er dem Boten den neuen Plan mit und stieg auf sein Floß. Pietro band dem Ferkel die Beine zusammen und legte es ins hohe Gras, bevor er zu Ranilo auf das Floß sprang.
Ranilo setzte über und der Bote kam an Bord, während Pietro zu dem Pferd ging. Es schnaubte und Pietro strich ihm mit der Hand über die Nase. Behutsam führte er es zur Flussbiegung und das Ufer hinunter.
Als das Pferd das Wasser an seinen Beinen spürte, schrak es zurück, doch Pietro beruhigte es. Er zog seine Tunika aus und band sie sich um den Kopf, damit sie nicht nass wurde. Anschließend stieg er in das trübe, kühle Wasser und zog das Pferd am Zügel hinter sich her.
Seite an Seite schwammen sie ans andere Ufer. Dann trieb Pietro das Tier die Böschung hinauf und zog sich wieder an.
Der Bote wartete schon auf sie.
»Gut gemacht, Junge!«, lobte er ihn und warf ihm eine Münze zu, die dieser in der Luft auffing.
Eine richtige Münze, nur für ihn? Heute schien sein Glückstag zu sein.
»Ich muss zum Haus von Massimus Onoratus«, erklärte der Bote. »Kennst du ihn?«
Das war der Name des Senators von Ateste.
»Ich muss auch dorthin«, erklärte Pietro.
»Steig hinter mir auf und zeig mir den Weg.«
Pietro überlegte. »Darf ich mein Ferkel mitnehmen?«
»Wir haben jetzt keine Zeit für Ferkel! Die Barbaren sind im Anmarsch. Begreifst du denn nicht, wie wichtig diese Nachricht ist? Der Senator muss sofort verständigt werden.«
Natürlich hatte Pietro das begriffen, aber er musste unbedingt das Ferkel abliefern, sonst bekam er Schwierigkeiten.
Also kehrten sie zu Ranilo zurück, Pietro hob das Ferkel hoch, legte es quer über den Pferderücken und stieg selbst hinter dem Boten auf.
»Wo müssen wir hin?«, fragte der.
»Es gibt eine Abkürzung quer über die Felder.«
Der Bote drehte sich zu ihm um. »Werden wir uns auch nicht verirren?«
»Das ist mir noch nie passiert, Herr.«
Die Mutter sagte gerne, dass Pietro wie ein Storch war: Er fand stets zum Nest zurück.
»In Ordnung.« Der Bote trieb das Pferd energisch an und es galoppierte los.
Die Barbaren kommen, hatte der Bote gesagt. Er schien sehr besorgt zu sein.
Wer weiß, was passieren würde.
Aufgeregt folgen die Kinderdem Boten durch die Stadt.Hinter ihm auf dem Pferd sitztnicht nur ein Junge, sie habenauch ein Schwein dabei.
Das Haus war das größte der Welt, da war sich Pietro ganz sicher, auch wenn er sich in seinem bisherigen Leben nie weiter als zehn Meilen vom Schweinepferch entfernt hatte.
Sie befanden sich im Stadtviertel der Kurialen. Das Haus des Senators war von einer Mauer umschlossen. Es gab nur ein einziges Tor, das sehr hoch und aus Holz und Bronze war und von zwei Säulen eingerahmt wurde.
Als Pietro und der Bote es erreichten, lief schon ein ganzer Schwarm von Kindern hinter ihnen her. Ein berittener Bote, dessen Pferd auch noch ein Ferkel und einen Jungen trug, war ein seltener Anblick, den man auf keinen Fall verpassen wollte. Die Kinder zogen Pietro an den Füßen und wollten von ihm wissen, was passiert sei. Mit aller Kraft hielt er sich am Sattel fest, um nicht hinunterzufallen.
Der Bote dagegen schien sich über das Aufsehen zu freuen, das sie erregten, und rief immer wieder laut: »Platz da, macht Platz!«
Das Tor war hoch genug, dass sie hätten hindurchreiten können. Doch weil das sehr unhöflich gewesen wäre, stieg der Bote ab, und auch Pietro ließ sich hinuntergleiten und lud sich wieder das Ferkel auf.
Sofort kam der Pförtner aus dem Haus. »Was ist denn los?«, fragte er Pietro, den er gut kannte.
»Ich bringe ein Ferkel für die Küche«, antwortete dieser.
»Und der da?«
Der Bote trat vor. »Ich muss zum Senator«, verkündete er. »Ich bringe eine dringende Nachricht aus Patavium.«
Patavium war eine Stadt auf der anderen Seite der Hügel, etwa zwanzig Meilen von Ateste entfernt. Pietro hatte schon öfters davon gehört, war aber noch nie dort gewesen.
»Der Senator ist gerade beschäftigt«, erwiderte der Pförtner.
»Gehe zu ihm und sage ihm, dass es wichtig ist.«
»Gut, warte hier.«
Der Pförtner, der ein wenig hinkte, kehrte durch den Vorraum ins Haus zurück und öffnete eine Tür, hinter der ein Raum lag, dessen Fußboden und Wände mit dünnen schwarzen und weißen Streifen verziert waren. Dahinter kam das große Atrium, das nicht überdacht war und ein Becken hatte, um Regenwasser aufzufangen.
Alles war unglaublich prachtvoll. Jedes Mal, wenn Pietro zum Haus kam, war ihm, als betrete er einen Tempel oder eine Welt der Geister und Götter, in der Nymphen zu Flötenmusik tanzten und Satyre aus goldenen Kelchen tranken.
Während der Bote wartete, traten zwei junge Dienerinnen mit Krug und Becher an ihn heran und boten ihm Wasser an. Niemand hatte sie geschickt, sie waren einfach nur neugierig und wollten wissen, was für eine dringende Nachricht er denn überbringe. Der Mann entgegnete, dass sie geheim sei. Pietro wunderte sich ein bisschen, denn vorhin am Fluss hatte der Mann ihm und Ranilo doch alles erzählt.
Allerdings hatte Pietro keine Zeit, weiter darüber nachzugrübeln, er hatte schließlich etwas zu erledigen. Also betrat er das Haus, durchquerte das Atrium und gelangte in einen Innenhof mit Beeten voller blühender Blumen und einem Feigenbaum, an dessen Ästen unzählige grüne, noch unreife Früchte hingen.
Die Küchenräume gingen auf diesen Innenhof hinaus, und als die Köchin den Jungen erblickte, seufzte sie und meinte: »Gerade noch rechtzeitig. Hast du das Ferkel auch gut zusammengebunden? Nicht, dass es uns noch entwischt. Leg es da neben die Tür, ich gebe Marcus Bescheid, damit er sich darum kümmert. Du hast sicher Hunger. Ihr Jungs seid ja ständig hungrig. Und du, wo du so groß und stark bist, wahrscheinlich erst recht …«
Sie reichte ihm einen Korb voller ofenwarmer Brotfladen und Pietro nahm sich zwei davon. Einen aß er selbst, mit dem anderen fütterte er das Ferkel, das ihm aus der Hand fraß und sie ihm zwischendurch ableckte.
»Du gibst das Brot einem Schwein?«, schrie die Köchin empört. »Das wir sowieso gleich schlachten?«
»Genau«, erwiderte Pietro. »Darf es vorher nicht noch ein bisschen glücklich sein?«
Die Köchin starrte ihn an, als wäre er verrückt geworden. »Hat dir denn deine Mutter nichts beigebracht? Verschwinde, aber sofort!«
Pietro ließ sich das nicht zweimal sagen und rannte in den Hof hinaus. Dort sah er einen Jungen und ein Mädchen neben dem Feigenbaum stehen und miteinander tuscheln.
Sie mochten ungefähr so alt sein wie er und ähnelten einander sehr: Beide waren eher klein und hatten dunkles, stark gelocktes Haar. Sie trugen neue Sandalen und Tuniken aus teurem Stoff. Die des Mädchens war ärmellos und lang und reichte bis zu den Füßen hinunter. Ihre schlanken Arme waren ebenso blass wie ihr Hals.
»He, du!«, rief der Junge. »Ja, dich meine ich. Kannst du nicht reden? Hat dir das Schwein, das du hergetragen hast, vielleicht die Zunge abgebissen? Oder bist du schwachsinnig?«
»Constantinus, sei nicht so unhöflich«, ermahnte ihn das Mädchen.
»Lass mich in Ruhe, Justina, siehst du nicht, dass ich mich mit meinem neuen Freund unterhalte? Übrigens heißt er …«
»Pietro«, antwortete Pietro.
Die beiden jungen Leute waren Constantinus und Justina, die Kinder des Senators. Pietro hatte sie schon einige Male gesehen, aber noch nie zuvor mit ihnen gesprochen. Sie gehörten zu der Welt des Hauses, zu der er keinen Zugang hatte. Doch jetzt hatten sie ihn gerufen, und weil sie im Grunde seine Herren waren, musste er gehorchen und zu ihnen gehen.
»Gut, Pietro«, fuhr Constantinus fort. »Du bist doch vorhin mit dem Boten hergekommen, nicht wahr? Du saßt hinter ihm auf dem Pferd. Und wenn ihr zusammen gereist seid, wird er dir unterwegs etwas gesagt haben. Zum Beispiel, warum er gekommen ist, welche Nachricht er bringt. Also?«
Pietro war sich nicht sicher, ob er diese Frage beantworten sollte. Wahrscheinlich sollte die Nachricht geheim bleiben und der Bote hatte sie nur deshalb vorhin am Fluss verraten, damit Ranilo ihn mit dem Floß übersetzte.
»Nichts zu machen«, sagte Constantinus zu seiner Schwester. »Der Kerl ist tatsächlich schwachsinnig.«
»Hör auf damit …«
»Auf jeden Fall vergeuden wir mit ihm nur unsere Zeit. Verschwinde, Pietro …«
»Warte mal«, widersprach Justina. »Ich habe eine Idee.« Sie zeigte auf die Hauswand hinter dem Feigenbaum, in die hoch oben, knapp unter dem Dach, ein kleines Fenster eingelassen war. »Pietro ist ein leiser Junge«, sagte sie. »Aber er ist auch sehr groß und stark. Wenn ich auf seine Schultern steige, komme ich an das Fenster.«
»Er könnte mich auf seine Schultern steigen lassen«, entgegnete Constantinus.
»Du bist zu schwer«, erwiderte Justina. Sie wandte sich an Pietro. »Hilfst du mir?«
Eigentlich war das keine Bitte, sondern ein Befehl, und wie hätte sich ein Schweinehirte weigern können, seiner vornehmen Herrschaft zu gehorchen? Pietro kniete sich hin und Justina kletterte, von Constantinus gestützt, auf seine Schultern.
»Jetzt steh auf … ganz langsam … Oh!«, sagte das Mädchen leise, überrascht, wie hoch sie auf einmal war.
Justina war nicht sehr schwer, doch die Sohlen ihrer Sandalen drückten Pietro unangenehm auf die Schultern. Trotzdem beklagte er sich nicht und blieb reglos stehen, ein Ohr gegen die Wand gedrückt.
»… wird belagert«, konnte er hören.
Gesprochen hatte nicht Justina und auch nicht ihr Bruder, sondern jemand, der auf der anderen Seite der Wand stand. Ein erwachsener Mann. Pietro erkannte die Stimme des Boten wieder.
»Aquileia?«, fragte eine andere Männerstimme. »Die Stadt wird belagert?«
»Bedauerlicherweise ist dies der Fall, Herr. Die Hunnen lagern rings um die Mauern, es kommt niemand mehr rein und niemand mehr raus. Die Bewohner erbitten Hilfe … Sie halten nicht mehr lange durch.«
»Und was sagen sie in Patavium dazu?«
»Der Bischof wird alle Männer schicken, die er entbehren kann. In ein paar Tagen setzen sich die Truppen in Marsch.«
»Aha«, sagte die andere Stimme. Inzwischen hatte Pietro begriffen, dass sie dem Senator gehörte. »Alle Männer, die er entbehren kann. Das bedeutet, dass er die Schlechtesten schicken wird. Greise und Knaben … Und die Stärksten und Tüchtigsten wird er bei sich in Patavium behalten, damit sie die Stadt verteidigen. Aber wenn Aquileia fällt, kommen die Hunnen natürlich hierher zu uns, sie brauchen nur der Straße zu folgen, und dann …«
Der Bote hüstelte. »Der Bischof hat die Pflicht, seine eigene Stadt zu verteidigen …«
»Die habe ich ebenfalls.«
»Herr«, sagte der Bote nachdrücklich. »Vergebt mir. Aber wenn die Barbaren nicht aufgehalten werden, fallen sie in die Ebene ein, und dann ist alle Hoffnung zunichte. Noch nie hat eines Menschen Auge solche Reiter wie sie erblickt: Ihre Reitkunst kennt keine Grenzen, sie essen und schlafen im Sattel. Ohne abzusteigen schießen sie so viele Pfeile ab, dass die Pfeilwolken den Himmel verdunkeln. Es heißt, dass sie sehr grausam sind und das Blut der Toten trinken … Alle Römer müssen ihre Kräfte einen, um sie zu besiegen.«
»Sicher, sicher, alle Römer«, entgegnete der Senator. »Ich muss dem Kaiser in Ravenna sofort eine Nachricht schicken. Ihn in Kenntnis setzen, dass wir Krieg haben.«
»Krieg«, flüsterte Justina, die immer noch auf den Schultern von Pietro stand.
»Krieg«, wiederholte Constantinus, der ebenfalls ein Ohr gegen die Hauswand drückte, um mithören zu können. »Das ist doch nicht möglich …«
Justina beugte sich vor, um ihrem Bruder etwas zu sagen, und trat Pietro dabei mit einer Sandalensohle gegen die Nase. Es tat sehr weh.
»Aua«, sagte er.
»Vorsicht!«, zischte sie.
Pietro versuchte, sein Gleichgewicht zu halten, doch es gelang ihm nicht, er kippte nach hinten weg und …
Wenn ein Mädchenzu Boden stürzt,merkt ihr Vateres gewiss.
»Was ist da draußen los?«, rief der Senator. »Was habt ihr gemacht?«
Sein Gesicht war vor Zorn feuerrot. Er wandte sich zu Pietro um. »Und wer bist du?«
»Vater«, sagte Justina in beschwichtigendem Ton. »Wir haben nichts Böses getan.«
»Wage es nicht, mich anzulügen.«
»Ich …«
»Sprich.«
Justina sah ihren Bruder an, der im Gesicht so bleich wie saure Milch geworden war. Dann erklärte sie zögernd und leise, dass sie hatten herausfinden wollen, was im Haus geschah und wie die Nachricht des Boten lautete.
Der Senator schnitt ihr das Wort ab. »Zwei Spione in meinem eigenen Haus. Meine eigenen Kinder. Ihr entehrt mich.« Zufrieden stellte er fest, dass seine Worte sie schwer trafen. Dann fuhr er fort: »Geht in eure Zimmer. Dort denkt ihr über eure Verfehlungen nach, bis ich euch rufen lasse. Was dich betrifft …«, nun wandte er sich Pietro zu, »du verdienst mindestens fünf Stockhiebe, und du kannst dich glücklich schätzen, dass es nicht doppelt so viele sind. Ennius!«
Sogleich lief Ennius herbei, ein kräftiger Diener mit kahl geschorenem Kopf, bewaffnet mit einem kurzen Stock. Er hörte sich die Anweisung des Senators an, bevor er Pietro befahl, sich umzudrehen und mit den Händen an der Hauswand abzustützen.
»Ich muss dir ein paar Striemen schlagen«, flüsterte er dem Jungen zu. »Sonst wird der Herr nur noch zorniger. Ich verspreche dir, dass ich dir so wenig Schmerzen zufüge wie möglich.« Pietro schwieg. »Aber … dich einfach so mit den Kindern des Herrn zusammenzutun … Weißt du nicht, dass die vornehmen Leute gefährlich sind und dass unsereins sich nicht mit ihnen einlassen sollte? So was geht für uns immer schlecht aus.«
Ennius hatte ja recht, aber was hätte Pietro schon tun können? Mittlerweile war es für Reue ohnehin zu spät. Er zog seine Tunika über die Schultern nach unten und rollte sie im Gürtel ein, bevor er sich an die Wand stellte.
»Na, du bist aber ein kräftiger Bursche«, meinte der Diener, als er die Muskeln des Jungen sah. »Wie alt bist du noch mal?«
»Vierzehn.«
»Ich glaube, deine Mutter hat sich verrechnet, du musst mindestens sechzehn Jahre alt sein, wenn nicht sogar achtzehn … Rasierst du dich denn schon?«
Nein, das war bisher noch nicht nötig gewesen. Seit einiger Zeit aber wuchs ihm unter den Armen und zwischen den Beinen ein rötlicher Flaum. Doch das war nichts, das ihn im Moment beschäftigte. Würden fünf Stockhiebe wehtun? Sicher würden sie das. Er spürte, wie die Angst in ihm wuchs, sich vom Bauch aus bis hinauf in die Kehle ausbreitete, und er zwang sich, sie zurückzudrängen. Er musste stärker sein.
»Beuge dich ein wenig vor und versuche, entspannt zu bleiben«, riet Ennius. »Dann erträgst du den Schmerz besser. Bereit? Eins …«
Der erste Hieb traf Pietro auf der rechten Schulter. Ein roter Blitz schoss ihm durch den Kopf, und die Knochen in der Schulter knirschten, als würden sie gleich brechen. Doch Pietro gelang es, nicht aufzuschreien.
»Was machst du denn?«, schimpfte Ennius leise. »Mach ein bisschen Lärm, sonst denkt der Senator noch, ich schlage nicht fest genug zu, und er verdoppelt die Strafe. Zwei ...«
Dieses Mal schrie Pietro. Das war gar nicht schwer, tatsächlich hatte der Hieb ihm sehr wehgetan. Viel mehr als der erste.
»Jetzt musst du auf die Knie sinken. Drei …«
Pietro ließ sich auf die Knie fallen.
»Jetzt zerre ich dich hoch, aber du lässt dich wieder fallen. Vier …«
Pietro fiel abermals hin.
»Jetzt schlage ich zu, während du am Boden liegst, und du bewegst dich nicht mehr. So, als wärst du tot. Fünf.«
Pietro blieb wie tot liegen. Es war, als hätte sein Körper sich verflüssigt, als wirbelten seine Knochen in einer einzigen Spirale des Schmerzes im Kreis. Fünf Stockhiebe. Er hätte niemals gedacht, dass es derartig schlimm sein würde.
Ennio goss einen Eimer voll Wasser über ihm aus. Für Außenstehende mochte es wie eine verächtliche Geste wirken, tatsächlich aber linderte das kalte Wasser die Schmerzen.
»Bleib noch ein bisschen so liegen, das tut seine Wirkung. Danach schleichst du dich in die Küche, die Köchin kümmert sich um dich.«
Pietro gehorchte und blieb liegen, mit dem Gesicht im Gras. Das Atmen tat ihm weh und sein Rücken fühlte sich an, als sei er aus gesplittertem Holz.
Nach einer Weile wankte er in die Küche hinüber, wie Ennius es ihm geraten hatte.
Kopfschüttelnd schaute die Köchin ihn an. »Dreh dich um«, sagte sie und strich ihm eine fettige Salbe auf die Striemen.
Die Salbe roch frisch, nach Minze, und Pietro fühlte sich gleich ein bisschen besser.
»Weißt du, wer diese Salbe gemacht hat?«, fragte die Köchin. »Deine Mutter. Sie versteht wirklich etwas von Heilmitteln. Aber sie hätte einen vernünftigeren Sohn verdient. Du hättest dem Schwein nicht das Brot geben sollen.«
»Ich will nach Hause«, sagte Pietro leise.
»Klar. Kannst du aber nicht, das Tor ist geschlossen, es kommt keiner mehr rein oder raus. Der Senator will nicht, dass die Nachricht sich verbreitet. Der Krieg, die Barbaren, die Aquileia belagern … Sobald sich das herumspricht, bricht Chaos aus.« Als sie das verblüffte Gesicht des Jungen sah, musste die Köchin lachen. »Du fragst dich, woher ich das weiß? Hier im Haus gibt es viele Möglichkeiten, Geheimnisse zu erfahren, auch ohne dass man herumspioniert wie die Kinder des Senators. Jedenfalls darfst du jetzt nicht zum Schweinepferch zurück, also kannst du genauso gut hier in der Küche bleiben und mir helfen. Kannst du dich bewegen? Ich merke schon, dass Ennius ziemlich behutsam war …«
Pietro hoffte, niemals herausfinden zu müssen, wie es sich anfühlte, wenn Ennius nicht behutsam war. Jedenfalls konnte er sich jetzt schon besser bewegen, und die Vorstellung, in der Küche auszuhelfen, gefiel ihm.
Seine erste Aufgabe bestand darin, Brennholz zu holen. Dann schickte die Köchin ihn mit ein paar Amphoren zum Impluvium, dem großen Becken im Atrium, um Wasser zu holen. Von dort aus konnte er durch den Vorraum zum Eingangstor hinüberschauen. Es war verschlossen. Zwei Diener lehnten sich mit aller Kraft dagegen.
Einer der beiden rief ihm zu: »Komm her, Junge, und hilf uns!«
Pietro eilte zu ihnen, stemmte sich ebenfalls gegen das Tor und spürte, wie von der anderen Seite versucht wurde, es aufzudrücken. »Wer ist das?«, wollte er wissen.
»Leute aus dem Dorf«, antwortete der andere Diener. »Sie haben gehört, dass es Krieg gibt.«
»Wenn man bedenkt«, meinte der erste, »dass der Senator das Haus hat abschließen lassen, damit genau das nicht passiert …«
Pietro dachte, dass der Bote einen Fehler gemacht hatte, als er dem alten Ranilo sein Geheimnis anvertraut hatte: Der Fährmann liebte es, Geschichten zu erzählen – je aufregender sie waren, desto spannender erzählte er sie. Und die Geschichte mit den Hunnen war die aufregendste von allen.
Vor dem Haus schien sich eine Menschenmenge versammelt zu haben. Einige begannen laut zu protestieren.
»Macht auf, macht sofort auf! Ich bin mit den Kurialen hier, wir müssen mit dem Senator reden. Ich bin es, Ausonius!«
»Das ist der Priester«, flüsterte der Diener, der links von Pietro stand. »Was machen wir denn jetzt?«
»Wir lassen ihn rein«, meinte der andere Diener.
»Und wenn der Senator dann böse wird?«
»Er wird auch böse, wenn wir ihn draußen lassen.«
Pietro war derselben Meinung, und für diesen Tag hatte er ohnehin genügend Stockhiebe bekommen. Er gab an dem Tor so weit nach, dass die Leute, die von außen schoben, die Flügel nach innen drücken konnten. Die beiden Diener wurden weggeschleudert und die Menge ergoss sich in den Vorraum.
»Halt, halt!«, schrie der Pförtner. »Was wollt ihr hier?«
Der Priester, der die kleine Invasion angeführt hatte, trat vor. Er war ein dünner Mann mit grauen Haaren, der über seiner Tunika eine Toga trug. Er hatte zwei weitere vornehm gekleidete Männer mitgebracht, die Kurialen.
»Bring uns zum Senator«, sagte Ausonius.
»Hier entlang«, erwiderte der Pförtner. Zu Pietro sagte er: »Du beförderst jetzt schleunigst diese Tagediebe hinaus und machst sofort wieder das Tor zu oder es gibt Ärger!«
Pietro, der somit zum Torwächter befördert worden war, trieb mit ausgebreiteten Armen die Menge hinaus. Sobald alle wieder draußen waren, schloss er das Tor. Die beiden Diener, die ursprünglich das Tor bewacht hatten, trugen einen schweren Balken herbei, mit dem sie es verriegelten.
»Danke, Junge. Wie heißt du?«
»Pietro.«
»Ich bin Vedio, er hier heißt Sulpicius. Bleib bitte bei uns, Pietro. Du bist sehr stark. Wenn etwas passiert, brauchen wir jemanden, der seine Fäuste zu gebrauchen weiß.«
Vedio und Sulpicius holten sich zwei Hocker, hatten auf einmal Würfel in der Hand und fingen an zu spielen. Pietro setzte sich auf den Boden und schaute ihnen zu. Er hatte schon immer die Regeln der Würfelspiele kennenlernen wollen, doch seine Mutter hatte gesagt, dass Spielen das Leben zerstörte. Sie wäre sicher sehr böse, wenn er die vom Boten erhaltene Münze auf diese Weise wieder loswurde. Pietro überlegte, dass er mit dem Geld eigentlich ein Huhn kaufen könnte. Seine Mutter würde sich darüber freuen, denn dann könnten sie Eier essen, oder besser noch, auf dem Markt verkaufen und sich mit dem Erlös ein zweites Huhn besorgen …
Nach einer Weile kehrte der Pförtner zurück.
»Ich habe den Senator noch nie so wütend erlebt«, sagte er.
»Warum?«, fragte Sulpicius.
»Er hätte die Kurialen lieber nicht empfangen … Sie haben eine andere Vorstellung davon, was zu tun ist … Die einen sagen, dass man mit allen Soldaten nach Aquileia marschieren sollte. Die anderen wollen die Soldaten hier behalten, um Ateste zu verteidigen, denn wenn die Barbaren schon in der Ebene sind, werden sie früher oder später hierherkommen … Und der Priester will einen Boten zum Bischof in Patavium schicken.«
»Ich finde es richtig, Aquileia zu helfen«, meinte Vedio. »Wenn die Stadt in Gefahr ist …«
Sulpicius lachte. »Sicher, sicher, lasst uns ruhig losziehen, um ihnen zu helfen. Aber wer verteidigt dann unsere Stadt? Wenn die Barbaren kommen und wir keine Soldaten mehr haben, was ist dann?«
Der Pförtner, der als der Älteste der Anwesenden auch das höchste Ansehen genoss, verzog das Gesicht. »Ja, glaubt ihr denn, Kurialen zu sein und das Recht zu haben, über Krieg und Politik zu diskutieren?«
»Und du? Was würdest du denn tun?«
»Ich weiß es nicht, weil ich mich nämlich um meine Aufgabe kümmere, und die besteht darin, dieses Tor zu bewachen. Es sind die Herren, die entscheiden. Eines aber kann ich euch sagen …«
»Was denn?«, fragte Pietro, der allmählich neugierig wurde.
»Die Herren entscheiden über Krieg, und die Armen kommen dabei ums Leben. Was auch immer sie entscheiden, wir gehen dabei drauf, und wer nicht dabei draufgeht, wird auf andere Weise leiden.«
Pietro tat auf einmal sein Rücken wieder mehr weh. Der alte Pförtner hatte recht, fand er.
Der rieb sich das faltige Gesicht. »Ja, vor uns liegt eine schlimme Zeit, das könnt ihr mir glauben. Wenn das Unwetter hereinbricht, zerstört es die Ernte … Und dieses Mal sind die Ernte wir.«
Sie verbringenden Abend mit ihresgleichenbeim Würfelspiel.Und warten.
An diesem Abend fand in dem Haus kein Fest statt, das Tor blieb verriegelt.
Das von Pietro abgelieferte Ferkel wurde trotzdem gebraten und bei der Beratung gereicht, die hinter verschlossenen Türen stattfand und an der nur der Senator, der Priester und die Kurialen teilnahmen.
Da sich die vornehmen Herren natürlich nicht selbst bedienen konnten, erfuhr Pietro durch die Diener, die in dem Beratungsraum ein und aus gingen, was dort gerade besprochen wurde.
Alle im Haus redeten über den bevorstehenden Krieg, über Aquileia und Patavium und darüber, was wohl geschehen würde. Pietro konnte die Aufregung nicht nachvollziehen, denn diese Städte lagen weit weg, und in Ateste passierte sowieso niemals etwas Interessantes. Wirklich nie. Schließlich war er ja auch nur ein Schweinehirte und führte ein einfaches, ruhiges Leben. Es gab seine Arbeit, es gab die Mutter und Valdo, und außerdem natürlich noch Galla. Vor einiger Zeit hatte er entdeckt, dass das Mädchen frühmorgens in den Gräben entlang der Straße Kräuter sammelte. Er sah ihr gerne dabei zu, und manchmal geschah es, dass der Saum ihrer langen Tunika hochrutschte und zwei Waden zum Vorschein kamen, die so weiß und glatt wie hart gekochte Eier waren. Früher oder später, dachte Pietro, würde er den Mut finden, um sie anzusprechen, und dann …
»Woran denkst du gerade?«
Er hatte sich in seinen Tagträumen verloren und gar nicht gemerkt, dass Vedio und Sulpicius weggegangen waren und der alte Pförtner auf einem Hocker eingeschlafen war. Und dass dieses Mädchen gekommen war. Die Tochter des Senators. Justina.
»Ich denke an gar nichts«, antwortete Pietro.
»Das stimmt nicht«, widersprach sie. »Du wirkst ein bisschen schwerfällig, aber ich glaube, das täuscht. Habe ich recht?«
Pietro schwieg.
»Hast du gerade an deine Freundin gedacht?«
Pietro errötete und Justina musste lachen. »Da habe ich ja richtig geraten … Das können wir Mädchen besonders gut. Wohl auch, weil die Dienerinnen mit uns über nichts anderes reden. Wer ist sie, wie heißt sie? Hütet sie auch Schweine, so wie du?«
»Nein«, erwiderte Pietro.
Er strich sich mit einer Hand über den Rücken. Die Stockhiebe schmerzten immer noch und er hatte sich geschworen, nie wieder mit einer vornehmen Frau zu sprechen, denn diese Leute brachten einem nur Ärger ein. Aber jetzt? Jetzt stand die Tochter des Senators schon wieder vor ihm.
»Weißt du«, sagte er, »es wäre vielleicht besser, du gehst weiter.«
Das Mädchen stellte sich auf die Zehenspitzen. Auch so war sie nicht besonders groß.
»Darf ich dich daran erinnern, dass das hier mein Haus ist? Du hast mir nicht zu sagen, was ich tun und lassen soll. Warum gehst stattdessen nicht du weiter?«
Pietro zeigte hinter sich, auf das verriegelte Tor.
Das Mädchen hielt die Luft an, dann atmete sie geräuschvoll aus. Und lächelte. Aber warum? Pietro verstand es nicht. Offenbar war es schwer, Justina zu verstehen. Sie holte sich einen Hocker und setzte sich neben Pietro, mit dem Rücken zum Tor.
Pietro schaute zu dem Pförtner hinüber. Wenn er jetzt aufwachte und sie beide so sah … Das würde Ärger geben, schlimmen Ärger.
In dem Vorraum wurde es immer dunkler.
»Wie ist es, Schweine zu hüten?«
Pietro war verblüfft. Das hatte noch niemand von ihm wissen wollen.
»Normal«, antwortete er.
»Wie, normal? Was machst du denn den ganzen Tag? Hast du sie immer im Auge? Musst du aufpassen, dass keines wegläuft?«
Pietro kratzte sich an einem Ohr. »Nein, sie laufen nicht weg, bei uns geht es ihnen ja gut. Aber jemand könnte sie stehlen. Ich kümmere mich einfach um sie. Ich füttere sie, bringe ihnen Wasser, helfe den Sauen bei den Geburten, so was eben. Ich beobachte sie. Sie sind intelligent.«
Justina lachte. »Die Schweine?«
»Sie sind sehr intelligent«, erklärte Pietro. »Zum Beispiel wälzen sie sich nicht deshalb im Schlamm, weil sie gerne dreckig sind, sondern weil sie eine empfindliche Haut haben und der Schlamm sie vor der Sonne schützt. So etwas zu tun, ist intelligent.«
Justina dachte nach. »Dann sind sie also so wie du. Die Menschen halten sie für dumm, aber sie irren sich.«
»Mich halten sie nur deshalb für dumm, weil ich stark bin.«
Das war ihm immer wieder aufgefallen: Wenn jemand kräftig war, gingen die anderen davon aus, dass er nur Stroh im Kopf hatte. Zum Ausgleich, gewissermaßen.
»Ich würde gerne mal zu den Schweinen gehen«, sagte Justina. »Dürfte ich sie vielleicht auch streicheln?«
»Ja, klar, die Ferkel sind noch klein und tun einem nichts.« Pietro zögerte. »Und du kannst kommen, wann du willst … Du bist die Tochter des Senators … Es sind deine Schweine.«
Das Mädchen seufzte. »Es sind meine, wenn du sie mir bringst, aber ich kann nicht einfach dorthin gehen. Ohne Erlaubnis dürfen Frauen nicht das Haus verlassen. Leider bin ich kein Junge.«
Seine Mutter oder Galla waren auch keine Jungen oder Männer, und trotzdem verließen sie ständig ihre Häuser, auch weil dort nicht viel Platz war. Aber vielleicht meinte Justina, wenn sie »Frauen« sagte, Mädchen wie sie aus reichen und vornehmen Familien. Ihr Leben musste völlig anders sein als das der Mädchen, mit denen Pietro aufgewachsen war.
Plötzlich hörten sie im Atrium Schritte und sahen Feuerschein. Mit Fackeln in der Hand liefen Vedio und Sulpicius vor dem Senator her, der mit schnellen Schritten, gefolgt von dem Priester und den Kurialen, auf den Vorraum zuging.
Als Justina sie erblickte, versuchte sie davonzulaufen, um sich zu verstecken, doch ihr Vater entdeckte sie sofort.
»Ich hatte dir befohlen, in deinem Zimmer zu bleiben«, sagte er streng.
Justina senkte den Kopf. Als der Senator Pietro sah, verzog er das Gesicht und warf mit einem Fußtritt den Hocker um, auf dem der Pförtner eingenickt war.
»Wach auf, du Faulpelz. So also bewachst du mein Haus? Im Schlaf?«
»I… ich …«, stammelte der Pförtner. »Vergebt mir, Herr. Ich habe nur ein wenig meine Augen ausgeruht.«
»Öffne das Tor, unsere Gäste wollen gehen. Es ist schon sehr spät und morgen müssen sie früh aufstehen.«
»Warum denn?«, fragte Justina.
Ihr Vater antwortete ihr nicht, sondern schaute wieder Pietro an. »Geh nach Hause, Junge. Und morgen Mittag findest du dich auf dem Forum ein.«
»Ja, Herr«, antwortete Pietro.
»Warum?«, fragte Justina abermals.
»Aquileia wird belagert«, erklärte Ausonius, der Priester. »Man hat uns dort um Hilfe gebeten, aber die wenigen Soldaten, die wir in Ateste haben, müssen hierbleiben, um unsere Stadt zu verteidigen. Deshalb werden wir in den kommenden Tagen eine neue Armee zusammenstellen, um sie unseren Freunden in Aquileia als Verstärkung zu schicken.«
Ohne den Blick von Pietro abzuwenden, verzog der Senator seinen Mund zu einem eisigen Lächeln. »Meinen Glückwunsch, Junge. Du bist soeben auserwählt worden, Soldat zu werden. Morgen früh beginnt deine Ausbildung.«