Sommer im kleinen Buchcafé an der Isar - Emilia Thomas - E-Book

Sommer im kleinen Buchcafé an der Isar E-Book

Emilia Thomas

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Beschreibung

Nelly lebt in New York und arbeitet als Werbedesignerin. Aber nach einem Schicksalsschlag fühlt sie sich in der Metropole zunehmend fremd. Außerdem muss sie sich mit den schlechten Launen ihres Teenager-Sohns Benjamin herumschlagen. Da kommt der Vorschlag ihrer Mitbewohnerin aus Studienzeiten, den Sommer in München zu verbringen, gerade recht. Auch wenn Benjamin wenig begeistert von der geplanten Reise ist, freut Nelly sich darauf, ihm ihre alte Heimat zu zeigen. Sie hofft, ihm dadurch wieder näher zu kommen. Doch schnell muss sie feststellen, dass sich ihre Probleme nicht so leicht abschütteln lassen. Zum Glück gibt es das Buchcafé von Lotte Eigner. Zwischen den Regalen voller Geschichten und dem Duft von frisch gebrühtem Kaffee findet Nelly Trost und schöpft Hoffnung auf einen Neuanfang. Und dann steht sie plötzlich dem charmanten Sozialarbeiter Alex gegenüber, der ihr Herz höherschlagen lässt ...

Der zweite Band der Wohlfühl-Liebesroman-Reihe um das zauberhafte Münchner Buchcafé.

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Epilog

Nachwort

Über die Autorin

Impressum

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Über dieses Buch

Nelly lebt in New York und arbeitet als Werbedesignerin. Aber nach einem Schicksalsschlag fühlt sie sich in der Metropole zunehmend fremd. Außerdem muss sie sich mit den schlechten Launen ihres Teenager-Sohns Benjamin herumschlagen. Da kommt der Vorschlag ihrer Mitbewohnerin aus Studienzeiten, den Sommer in München zu verbringen, gerade recht. Auch wenn Benjamin wenig begeistert von der geplanten Reise ist, freut Nelly sich darauf, ihm ihre alte Heimat zu zeigen. Sie hofft, ihm dadurch wieder näher zu kommen. Doch schnell muss sie feststellen, dass sich ihre Probleme nicht so leicht abschütteln lassen. Zum Glück gibt es das Buchcafé von Lotte Eigner. Zwischen den Regalen voller Geschichten und dem Duft von frisch gebrühtem Kaffee findet Nelly Trost und schöpft Hoffnung auf einen Neuanfang. Und dann steht sie plötzlich dem charmanten Sozialarbeiter Alex gegenüber, der ihr Herz höherschlagen lässt ...

Emilia Thomas

Für Madeleine und Tanja, meine zwei längsten und besten Freundinnen.

Kapitel 1

     Müde blickte Nelly auf das leere Gepäckband. Die trockene Luft in der Ankunftshalle brannte ihr in den Augen. Schon seit fünf Minuten spuckte die Klappe, vor der sie und Benjamin sich postiert hatten, keine neuen Gepäckstücke mehr aus, und nun kam das Band mit einem lauten Quietschen zum Stehen. Resigniert seufzte sie und ließ den Kopf in den Nacken fallen. Natürlich musste es ausgerechnet das Gepäckstück ihres Sohnes sein, das irgendwo verloren gegangen war. Als ob Benjamins schlechte Laune seit ihrem Aufbruch nicht schon genügend Futter bekommen hätte. Obwohl sich Nelly am liebsten auf den Boden gelegt und gestreikt hätte, setzte sie eine fröhliche Miene auf und wandte sich an den fast eineinhalb Köpfe größeren Teenager.

»Komm, wir gehen mal nachfragen. Die finden deinen Koffer sicher im Nu wieder, wirst schon sehen. Und in der Zwischenzeit suchen wir uns etwas zu essen, bevor wir uns in die U-Bahn drücken.«

Nelly gab ihr Bestes, aufmunternd zu klingen, doch der Blick ihres siebzehnjährigen Ziehsohnes blieb unverändert eisig. Er gab lediglich ein tiefes Brummen von sich.

Schweigend schleiften sie den verbliebenen Koffer hinter sich her und trotteten zum Infoschalter der Airline, die sie von New York nach München gebracht hatte. Weil Benjamin es vorzog, auf sein Handy zu starren und so zu tun, als würde er kein Wort Deutsch verstehen, nannte Nelly dem älteren Herrn am Infoschalter die Details zum fehlenden Gepäck. Der begegnete ihr mit einem freundlichen Lächeln, das sie dringend gebrauchen konnte, und begann mit überraschend flinken Fingern Dinge in seinen Computer zu tippen. Benjamins Koffer konnte er jedoch auch nach diversen Telefonaten nicht ausfindig machen. Immerhin versicherte er jedoch glaubwürdig, ihn so schnell wie möglich an die hinterlassene Adresse zu schicken. Gut, dass Benjamins Asthma-Medikamente in Nellys Koffer und das Notfallspray in seinem Handgepäck waren. Eine Zahnbürste und das übrige Nötige, was er bis zum Wiederauftauchen des Koffers brauchte, konnten sie gleich hier am Flughafen in einem der Shops besorgen.

Frustriert zog Nelly ihr Handy heraus, um nachzusehen, mit welcher U-Bahn sie zum Kapuzinerviertel fahren konnten. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, in New York alles stehen und liegen zu lassen und nach München zu fliegen? Noch vor einer Woche, als sie mit ihrer früheren Mitbewohnerin Canan telefoniert hatte, war ihr der Vorschlag, den Sommer in ihrer alten Wahlheimat zu verbringen, wie die Lösung all ihrer Probleme erschienen. Doch in diesem Moment fragte sie sich, was sie geritten hatte, Canans Vorschlag zuzustimmen. Insbesondere, da ihr Sohn wenig begeistert war, als sie ihm von der geplanten Reise erzählt hatte. Seitdem hatte er höchstens zwanzig Worte mit ihr gewechselt und dabei ganz bewusst nicht Deutsch mit ihr gesprochen ...

Es half nichts. Auch wenn Nelly sich lieber in eine Ecke gesetzt und geweint hätte, so tippte sie die Daten in ihrer App ein und erhielt kurz darauf die Information, in welche U-Bahn sie steigen mussten. Tatsächlich war sie schon so lange nicht mehr hier gewesen, dass sie sich nicht daran erinnern konnte, welche Linie sie in ihr altes Viertel bringen würde.

In dem Moment, da Nelly ihr Telefon wieder wegstecken wollte, ploppte eine Nachricht auf ihrem Display auf.

Seid ihr schon gelandet? Drückt euch auf keinen Fall mit eurem Gepäck in die U-Bahn, Marlene und ich kommen euch abholen.

Zum ersten Mal an diesem Tag musste Nelly lächeln, und sofort wusste sie wieder, weshalb sie Canans Angebot angenommen hatte.

Hast du etwa extra ein Auto organisiert? Macht euch ja keine Umstände, wir kriegen das schon hin.

Umgehend kam Canans Antwort.

Ach was! Das machen wir gern. Ist eine Win-win-Situation. So können wir in der Nähe einen Ohrensessel für unsere Nachbarin abholen, den sie für ihr Buchcafé haben will.

Nelly kicherte. Ja, das klang nach Canan. Unvermittelt fragte sie sich, welches Buchcafé Canan meinte, und versuchte, sich an ihr altes Viertel zu erinnern. Das Kapuzinerviertel befand sich ein gutes Stück abseits des belebten Münchner Altstadt-Zentrums, östlich der Isar. Damals hatte es dort nur ein verstaubtes Krimskramsgeschäft gegeben, einen gewöhnungsbedürftigen Bio-Bäcker, eine ziemlich abgewrackte Bierkneipe und einen furchtbaren Imbiss, der kurz vor ihrem Wegzug dichtgemacht hatte.

»Was ist jetzt? Willst du hier übernachten?«, maulte Benjamin und erinnerte Nelly daran, dass sie nicht mehr dreiundzwanzig, sondern dreiunddreißig war.

»Canan wird uns hier abholen. Lass uns nach draußen zum Parkplatz gehen, damit sie uns gleich findet.«

Schweigend warteten sie, bis knapp fünfzehn Minuten später ein Familienbus mit Carsharing-Aufkleber hupend vorfuhr, ein wenig ruckelig zum Stehen kam und Canan strahlend vom Fahrersitz hüpfte.

»Nellyyy, da seid ihr ja!« Canan stürmte auf sie zu und drückte sie so fest an sich, dass sie im ersten Moment erstarrte.

Canans dickes schwarzes Haar, das sie heute offen trug, kitzelte Nelly im Gesicht. Sie war es nicht mehr gewohnt, von jemandem so innig umarmt zu werden. Überhaupt war das mehr Nähe, als sie im gesamten vergangenen Jahr gespürt hatte. Nelly löste sich von Canan und legte ihre Hand an Benjamins Rücken. »Das ist Benjamin.«

»Freut mich, dich kennenzulernen.« Canan umarmte ihn, und erleichtert stellte Nelly fest, dass er nicht wie erwartet zum Mini-Hulk wurde. Hätte sie hingegen versucht, ihren Sohn zu umarmen ...

Nun stieg auch Marlene aus dem Auto. Zumindest vermutete Nelly, dass sie es sein musste. Sie erkannte sie von den vielen Fotos, die Canan ihr geschickt oder auf Social Media gepostet hatte. Das Haar hatte Marlene zu einem lockeren Zopf geflochten, der ihr weich über die Schulter fiel, und sie trug eine Brille. In dem Moment begann hinter ihnen ein roter BMW ungeduldig zu hupen. Mit hochgezogener Augenbraue drehte sich Canan um und bedeutete dem Fahrer per Handzeichen, dass er sich gefälligst beruhigen sollte. Marlene und Nelly luden derweil das Gepäck ein.

»Canan freut sich tierisch, dass ihr diesen Sommer hier sein werdet. Und ich finde es schön, dich endlich kennenzulernen«, sagte Marlene, während sie versuchte, den Koffer neben dem Ohrensessel im Kofferraum unterzubringen.

»Und es macht dir wirklich nichts aus, dein Zimmer Benjamin zu überlassen?«

Marlene winkte ab. »Ich bin sowieso die meiste Zeit bei Johannes, meinem Freund, und so hat Canan wenigstens wieder eine Mitbewohnerin, die auch da ist. Ich hoffe nur, du kommst mit der durchgesessenen Couch klar.« Sofort verspürte Nelly Sympathie für Canans beste Freundin. Ja, sie strahlte eine Art Gutmütigkeit und Offenheit aus, die dazu führte, dass man sie direkt gernhaben wollte.

Nelly wollte noch etwas erwidern, doch ihre Antwort ging im Donnerwetter des BMW-Fahrers unter, der mittlerweile ausgestiegen war und wütend mit den Armen fuchtelte. Hinter ihm wartete bereits ein weiteres Fahrzeug. »Kennts ihr eich bitte moi beeiln? Mia meng do aa no auslon. Ihr hoits den ganzn Lodn auf!«

Unwillkürlich sahen sich Nelly und Benjamin an, weil der urbayrische Dialekt dem Wutausbruch etwas Komisches verlieh. Obwohl Benjamin zweisprachig aufgewachsen war, hatte er vermutlich kein Wort verstanden. Und für einen Augenblick glaubte Nelly, ihr Sohn würde gleich mit ihr in ein herzhaftes Lachen ausbrechen. So wie früher, wenn sie etwas Lustiges gesehen oder gehört hatten. Doch kaum hatte sie die Verbindung gespürt, wandte sich Benjamin auch schon ab, stieg ins Auto und knallte die Schiebetür des Busses zu.

»Uff«, machte Nelly und musste sich anstrengen, nicht den Kopf hängen zu lassen.

Canan, die in dem Moment neben sie trat, legte ihr tröstend die Hand auf den Rücken. »Komm, wir bringen euch jetzt erst mal in die WG. Ihr seid sicher fix und alle nach der Reise. Das wird schon wieder.«

Das wird schon wieder. Im Grunde war es ein Satz, den Nelly schon hunderte Male gehört hatte, seit sie und Benjamin allein im Leben standen. Von allen Seiten. Ein Satz, dem sie selten Glauben schenkte. Doch in diesem Moment und aus dem Mund ihrer Freundin fühlten sich die Worte tröstend an.

Die knappe Stunde Fahrt vom Flughafen zum Kapuzinerviertel verging schnell, weil Canan und Nelly die gesamte Zeit tratschten und der Verkehr sich glücklicherweise in Grenzen hielt. Benjamin jedoch schien es nicht schnell genug voranzugehen. Immer wieder blies er hörbar genervt die Luft durch die Lippen, obwohl Marlene sich alle Mühe gab, mit ihm ins Gespräch zu kommen.

»So ... Da wären wir!«, trällerte Canan, als sie in der Nähe des etwas heruntergekommenen Wohnkomplexes hielten, in dem auch Nelly früher gewohnt hatte. »Na, erkennst du's noch?«

Nelly stieg als Erste aus und sah sich um. Das Kapuzinerviertel versprühte nicht gerade glamouröses Großstadtflair, und nur mit viel gutem Willen konnte man von Münchner Charme sprechen. Aber im Vergleich zu so mancher Ecke in New York war es immer noch ein idyllisches Fleckchen Erde.

Über die Straße hinweg grüßte Marlene eine Obdachlose, die mit einem genuschelten »Servus« reagierte.

»Das ist Gerti«, erklärte Canan, als sie die Haustür aufsperrte. »Du kannst sie noch nicht kennen. Sie hat erst vor etwa drei, vier Jahren das Kapuzinerviertel als ihren Stammplatz auserkoren. Seitdem hat sie hier ein Auge auf alles.«

»Wow, und dafür sind wir jetzt nach München gekommen?«, ätzte Benjamin mit Blick auf den etwas heruntergekommenen Wohnkomplex, was Nelly bewusst überhörte.

Canan streckte ihr den Schlüsselbund entgegen. »Ihr könnt gern schon mal in unsere Gipfel-WG hochgehen. Wir bringen nur schnell den Sessel zu Lotte, damit ich den Wagen gleich zurückgeben kann und nicht noch eine weitere Stunde zahlen muss.«

»Wir helfen euch natürlich. Oder, Benjamin?«, erwiderte Nelly automatisch. »Dann kannst du den Wagen schneller wegbringen und wirst nicht abgeschleppt. Du parkst hier alles andere als günstig.« Sie sah ihren Sohn nicht direkt an, wusste aber auch so, dass er genervt war. Was soll's, dachte sie schließlich. Sie konnten ihren Gastgeberinnen ruhig ein bisschen zur Hand gehen, wenn sie schon die nächsten vier Wochen hier verbringen würden.

Nach kurzem Zögern nahm Canan das Angebot an, und die drei trugen den kleinen, aber massiven Ohrensessel die letzten Meter hinüber zum Buchcafé. Eine Kundin hielt ihnen die dunkelgrün lackierte Eingangstür auf.

Entzückt sah sich Nelly um, als sie den Sessel für eine Verschnaufpause abgestellt hatten. Eine große Glasfront erlaubte einen neugierigen Blick ins Ladeninnere. Im Buchcafé waren vier zusammengewürfelte Bistrotische verteilt, und allesamt waren sie belegt. Jung und Alt schien sich hier zu treffen. Kein Wunder, das Innere des Ladens sah aus wie aus einer anderen Zeit, aber versprühte eine Art modernen Retro-Charme, der auch die jüngere Generation ansprach. Nelly fragte sich nur, wie sie bei den vielen Gästen den Sessel irgendwohin kriegen sollten, ohne Unruhe zu stiften und alle zu stören.

»Puh, es ist gerade ziemlich viel los. So kommen wir mit dem Ding nicht nach hinten zu den Bücherregalen und Leseplätzen. Ich schätze, Lotte treibt sich im Lager rum. Ich gebe ihr kurz Bescheid, dass ich später mit Johannes noch mal wiederkomme und ihr dann helfe, den Sessel zu positionieren.«

Nelly sah Marlene hinterher. Die begrüßte ein Mädchen im Rollstuhl an einem der Tische und verschwand dann im hinteren Raum. Benjamin starrte schon wieder auf sein Handy. Also beschloss Nelly, sich ein wenig umzusehen. Neugierig ging sie in die Richtung, in der Marlene verschwunden war, und entdeckte einen so winzigen Raum, dass man achtgeben musste, nirgendwo anzustoßen. Sie schmunzelte. Einheitliche Bücherregale suchte man hier vergebens, aber genau das war irgendwie charmant. Alles Lesbare war in drei Kommoden und zwei fast antik aussehenden Regalen untergebracht. Und nicht nur in den Schränken drängten sich Bücher, auch auf dem Boden stapelten sie sich. Und zwischen all dem fand ein gemütliches kleines Zweiersofa Platz. Der Ohrensessel würde perfekt dazu passen, vorausgesetzt sie fanden einen Platz für ihn. Nelly stöberte ein wenig durch die Regale und linste mit einem Auge auf die neu eingetroffenen Bücher, die ein jung aussehender Mitarbeiter freudlos in einem auffällig in Rot lackierten Regal verstaute. Dass sich eine andere Kundin suchend umblickte, bekam er gar nicht mit.

»Entschuldigen Sie, könnten Sie mir helfen? Ich suche ein Buch für meinen Neffen. Er wird zwanzig und liest gerne Science-Fiction-Romane. Haben Sie eine Empfehlung für mich?«, wollte nun die Kundin von dem Mitarbeiter wissen, woraufhin dieser sie ratlos anglotzte.

»Lesen Sie doch einfach mal von ein paar Büchern den Klappentext. Ich steh nicht so auf Science Fiction«, hörte Nelly ihn antworten, und als sie ihn ziemlich entsetzt ansah, hatte er schon wieder seine Arbeit aufgenommen und der Kundin den Rücken zugewandt. Die stand ein wenig perplex vor ihm und schien sich zu überlegen, ob sie seinem Rat folgen oder das Buchcafé verlassen sollte.

Spontan ging Nelly auf die Kundin zu, denn sie sah einen Science-Fiction-Roman im Regal, von dem sie wusste, dass Benjamin ihn verschlungen hatte. Zielsicher angelte sie ihn heraus. »Hier, probieren Sie es mal damit. Das ist eine Dystopie und wohl sehr packend – so viel konnte ich von meinem Sohn erfahren. Vielleicht gefällt der ja auch Ihrem Neffen.«

Auf dem Gesicht der Kundin breitete sich ein Lächeln aus, und sie nahm das Buch entgegen. »Vielen Dank für den Tipp!«, sagte sie besonders laut, sodass der junge Verkäufer es eigentlich hören musste. Doch der schien sich davon nicht beirren zu lassen.

»Viel Spaß beim Verschenken und noch einen schönen Tag!«, gab Nelly der Kundin noch mit auf den Weg, als die bereits in Richtung Theke unterwegs war.

»Sagen Sie mal, was machen Sie da?«, herrschte plötzlich eine Stimme Nelly an.

Erschrocken fuhr sie herum und stand vor einer kleinen, drahtigen Frau mit weißen Haaren und skeptischem Blick. Ihre eisblauen Augen funkelten herausfordernd.

»Ich? Ich sehe mich nur um«, sagte Nelly unschuldig. Glaubte die alte Frau vielleicht, sie wollte etwas stehlen? Sie hatte noch nicht mal eine Tasche dabei, und ein Buch unter ihrem eng anliegenden Top zu verbergen, wäre wohl nicht gerade diskret.

»Wieso geben Sie einer meiner Kundinnen ungefragt Literaturtipps? Das ist mein Buchcafé, und damit obliegt diese Aufgabe entweder mir oder meinen Mitarbeitern.«

Nelly bekam große Augen und wusste nicht, ob sie lachen oder wütend sein sollte. Da sie aber ziemlich sicher war, dass es sich bei dieser Frau um Lotte Eigner, die Besitzerin des Buchcafés, handelte und Canan und Marlene gut mit ihr befreundet zu sein schienen, entschied sie sich dafür, sich zu erklären.

»Die Kundin hat Ihren Mitarbeiter nach einem Tipp gefragt, aber da dieser, Zitat Anfang: nicht so auf Science Fiction steht, Zitat Ende, wollte ich ihr gerne helfen.«

Nelly hatte nicht gedacht, dass der Blick der Alten noch sengender werden konnte, doch sie schaffte es tatsächlich, ihre Augen zu engeren Schlitzen zusammenzukneifen, sodass sie nun aussah, als würde sie ihr gleich ins Gesicht springen. Doch dann wurde ihr Blick weicher. Marlene war zu ihnen gestoßen.

»Ah, Nelly, du hast Lotte schon kennengelernt«, sagte sie und lächelte wieder auf diese liebenswerte Weise.

Nelly nickte schmunzelnd. »Ja, mehr oder weniger.«

Lotte sah skeptisch zwischen den beiden hin und her, woraufhin Marlene erklärte: »Das ist Nelly, die Freundin, die in diesen Sommer mit ihrem Sohn bei uns wohnen wird. Sie haben mir geholfen, deinen Stuhl herzubringen.«

»Aha, nun denn. Danke dafür.« Lotte Eigner hüstelte. »Und nichts für ungut wegen meiner Nachfrage. Aber ich muss eben achtgeben auf meinen Laden. Wenn hier irgendwelche Leute anfangen, schlechte Bücher zu empfehlen, dann vergrault das die Kundschaft.«

Wieder musste Nelly grinsen. Die Alte gefiel ihr irgendwie, sie nahm kein Blatt vor den Mund. So war sie früher eigentlich auch immer gewesen. Mutig und geradeheraus. Ehrlich und unverblümt. Heute war davon nicht mehr viel übrig, und gerade was Benjamin anging, bewegte sie sich wie auf Eierschalen und hatte bei jedem Wort Angst, ihn zu verärgern oder noch weiter von ihr fortzutreiben. Aber Lotte lockte auf irgendeine Weise genau diese frühere Eigenschaft an ihr hervor.

»Dann gibt es hier im Buchcafé also schlechte Bücher zu kaufen?«, entgegnete sie frech. »Das hätte ich nicht erwartet.«

Lottes Augen wurden groß, und um ihre Mundwinkel zuckte es. Ob aus Wut oder weil sie ihren Konter amüsant fand, vermochte Nelly nicht zu sagen.

»Ach, lassen wir das!«, wischte sie die Bemerkung schließlich beiseite.

»Also, dann bis später, Lotte. Und vergiss nicht, ich brauche noch deine Rezension für unseren wöchentlichen Instagram-Post!«, erinnerte Marlene sie. »Mir scheint, du und Lotte seid auf einer Wellenlänge«, sagte sie beim Verlassen des Ladens heiter.

Mit müden Gliedern stiegen Nelly und Benjamin Stufe für Stufe die fünf Stockwerke bis zur winzigen Dachgeschosswohnung nach oben. Mit jedem Stockwerk wurde es wärmer, und Nelly hatte sofort wieder die heißen Sommernächte in Erinnerung, in denen sie nicht schlafen konnte, weil in der kleinen Gipfel-WG unerträgliche Temperaturen herrschten. Aber als Studentin hatte sie nicht gerade ein üppiges Einkommen gehabt, und München war schon damals ein teures Pflaster gewesen. Das Treppenhaus sah noch aus wie früher, aber es roch besser. Nicht mehr nach Rauch. Vermutlich war der Kettenrauchernachbar von damals mittlerweile ausgezogen.

»Sag bloß, die klemmt immer noch?« Nelly musste schmunzeln, als Marlene auf eine bestimmte Weise an der Eingangstür rüttelte, um sie zu öffnen.

»Und ich schätze, das wird sie auch noch in zehn Jahren«, entgegnete Marlene lächelnd und ging voran. Sie richtete sich an Benjamin. »So, dann komm mal mit. Ich zeige dir dein Reich für die nächsten vier Wochen.«

Das Zimmer war genauso klein, wie Nelly es in Erinnerung hatte. Doch im Vergleich zu damals, als sie noch darin gewohnt hatte, standen mehr Möbel und Dinge herum, die es gemütlich wirken ließen. Unter dem nach Süden ausgerichteten Fenster, das das Zimmer den ganzen Tag mit ausreichend Licht versorgte, befand sich ein Leseplatz. Unter einem Wandregal, das bis zum letzten Zentimeter mit Büchern vollgepackt war, stand ein französisches Bett, daneben ein kleiner weißer Vintage-Kleiderschrank. Auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers, wo die Dachschräge sich breitmachte, war ein Schreibtisch aufgestellt. Auf ihm stapelten sich noch mehr Bücher.

Während Benjamin im Zimmer zurückblieb, gingen Marlene und Nelly in die Küche. Auch hier hatte sich einiges verändert. Der größte Blickfang war vermutlich der mit Magneten und Fotos übersäte Kühlschrank.

»Und hier kannst du schlafen.« Mit einer einladenden Handbewegung deutete Marlene auf das Sofa in der kleinen Fernsehecke. Gut, dass Nelly eine sehr schmale Frau war. Ansonsten wäre ein Sturz vom Sofa wohl schon vorprogrammiert. Trotz allem gefiel ihr, was sie sah. Canan oder Marlene hatten Decken und Kissen bereitgelegt und einen Paravent organisiert, sodass Nelly tagsüber ihr Bett mit all ihren Habseligkeiten hinter dem Sichtschutz verbergen konnte. »Canan meinte aber, du kannst jederzeit in ihrem Bett schlafen, wenn sie bei Dennis ist.«

»Ach, Quatsch! Das sieht total gemütlich aus. Abgesehen davon habe ich nicht wenige Schläfchen auf unbequemen Krankenhausstühlen gehalten. Ich bin nicht zimperlich.« Der Satz war Nelly schneller über die Lippen gekommen, als sie darüber nachdenken konnte. Und so wie Marlene sie ansah, wurde ihr bewusst, dass es weniger scherzhaft als bemitleidenswert geklungen hatte. Nelly hatte keine Ahnung, ob sie über die vergangenen zwei Jahre Bescheid wusste, doch Marlene tat ihr den Gefallen, nicht weiter nachzufragen, als ob sie spürte, dass Nelly selbst vor ihren Worten zurückgeschreckt war.

Kapitel 2

     Behäbig begann Nelly ein paar Dinge aus ihrem Koffer zu holen. Ihren BHs würde es sicher nicht gefallen, in den nächsten vier Wochen eingequetscht zwischen Jeans und Schuhen gelagert zu sein. Und auch ihren Kulturbeutel nahm sie heraus, stellte die wenigen Kosmetika und Pflegeprodukte ins Badezimmer und machte sich bei der Gelegenheit ein wenig frisch. Als sie in den Spiegel sah, bemerkte sie, wie gerötet ihre Augen waren. Sie brauchte dringend frische Luft, nachdem sie den halben Tag im stickigen Flugzeug verbracht hatte ...

In den zwei Jahren, in denen Nelly hier in München gelebt hatte, war sie oft im Englischen Garten spazieren gewesen, meistens allein, um Ruhe zu finden, Luft zu atmen, die nicht nach Abgasen roch oder von Menschengeplapper erfüllt war. Aufgewachsen als Landei im Hinterland von Oldenburg, war der Englische Garten ihre grüne Oase gewesen. Und als Nelly dann nach New York gezogen war, hatte sie ihr kleines Paradies im Central Park gefunden. Als Benjamin noch jünger gewesen war, hatten er und sein Vater Nelly immer begleitet. Dann hatten sie Picknicks gemacht und Federball gespielt und für einen Nachmittag ganz vergessen, wie schnell das Leben in New York an ihnen vorbeizog. Doch die Zeiten, da sie zu dritt gelacht und herumgealbert hatten, waren lange vorbei.

In einem Anflug von Wehmut klopfte Nelly an Benjamins angelehnte Zimmertür. »Darf ich reinkommen?« Vorsichtig schob sie die Tür etwas weiter auf, weil von ihrem Sohn keine Antwort kam. Er lag auf dem Bett, hörte Musik und drückte wie so oft auf seinem Smartphone herum. Als er seine Mutter bemerkte, schob er sich eine Seite des Kopfhörers ein Stückchen vom Ohr.

»Was ist?«, nuschelte er und sah Nelly mit diesem unerbittlich abschätzigen Teenagerblick an, den er sich im Laufe des letzten Jahres angeeignet hatte.

Nun. Mehr Aufmerksamkeit als ein halbes Ohr würde sie heute wohl nicht von ihm kriegen. »Ich brauche nach unserer Reise ein bisschen frische Luft. Ich wollte in den Englischen Garten gehen. Hast du Lust, mich zu begleiten?«

Eine Sekunde lang dachte Nelly, er würde das Angebot tatsächlich annehmen. Vielleicht erinnerte ja auch er sich an die vielen Sonntage im Central Park. Dann jedoch hob er eine Augenbraue, gab ein »Nope« von sich und setzte seine Kopfhörer wieder korrekt auf.

»Okay. Canan hat mir vorhin geschrieben, dass sie in etwa dreißig Minuten wieder hier ist. Und ich habe mein Handy dabei. Melde dich, wenn du was brauchst«, sagte Nelly, obwohl sie schon wieder die Bässe aus Benjamins Kopfhörern dröhnen hörte. Diesmal noch lauter als vorhin.

Nach etwa fünfzehn Minuten Fußmarsch erreichte Nelly die grüne Oase, nach der sie sich seit ihrer Abreise in New York so sehr gesehnt hatte. Das Gezwitscher der Vögel war bald das Einzige, was sie hören konnte. Gedankenversunken folgte sie dem breiten Schotterweg, der sich immer wieder teilte. Da es Nelly egal war, wo sie landete, nahm sie die Abzweigungen, wie es ihr gerade in den Sinn kam. Immer wieder mischte sich zu dem Vogelgezwitscher das leise Plätschern der Bachläufe oder das Knirschen von Kies, wenn Fahrräder darüberfuhren. Nelly zog ihr Handy aus der Tasche, um ein paar Fotos zu schießen. Nächstes Mal würde sie ihre richtige Kamera mitnehmen.

Nach einer Stunde wurden ihre Füße schwer, und sie setzte sich mit angezogenen Beinen auf eine Parkbank, die idyllisch am Wasser gelegen war. Müde stützte sie ihr Kinn auf den Knien ab. Wann war ihr Leben nur so schrecklich kompliziert geworden? Nelly überlegte, zu welchem Zeitpunkt sie wohl das letzte Mal so richtig gelacht hatte, herzhaft, so wie früher. Aber sie konnte sich nicht daran erinnern. Ihr Leben bestand derzeit nur noch daraus, sich mit Benjamin über die Schule oder seine Freizeiteskapaden zu streiten oder einander anzuschweigen und ihrem Job als freischaffende Webdesignerin nachzugehen. Würde ihr Leben von nun an so verlaufen? War es das? Nelly wollte das nicht glauben, aber sie hatte einfach keine Ahnung, wie sie aus dieser Situation jemals wieder herausfinden sollten. Ihr waren die Ideen ausgegangen, und auch von ihrer überquellenden Lebensenergie war nicht mehr viel übrig. Selbst die Arbeit, die sie ablieferte, entsprach nicht mehr ihrem eigentlichen Anspruch. Aber das Leben hatte sie nicht nur ihrer Schlagfertigkeit und Abenteuerlust, sondern auch ihrer Kreativität beraubt.

Nelly drehte an dem zarten, goldenen Kettchen an ihrem Arm. Den Ehering, den Tim vor der Hochzeit in einem Schmiedekurs für sie gemacht hatte, hatte sie einige Wochen nach der Beerdigung schweren Herzens abgelegt. Doch dieses kleine Schmuckstück, das Tim ihr in einem der gemeinsamen Familienurlaube gekauft hatte, behielt sie immer an. Nelly hatte sofort die Bilder von sich, Tim und Benjamin vor Augen, wie sie ins Meer hüpften und sich erschöpft am Strand sonnten. Jeden Sommer waren sie gemeinsam verreist. Eine Träne tropfte auf ihren Arm. Während der Ehering sie auf erdrückende Weise ununterbrochen daran erinnert hatte, dass sie ihren Mann für immer verloren hatte, war das Kettchen gerade dezent genug, ihr zwar Trost zu spenden, wenn sie Tim zu sehr vermisste, sie die restliche Zeit aber weiteratmen zu lassen.

Nelly reckte den Hals, um einen Sonnenstrahl einzufangen, der sich durch die dichte Baumkrone der Kastanienbäume drängte.

»Dürfen wir kurz?« Eine tiefe Stimme durchbrach die Stille und riss sie aus ihren trüben Gedanken. Etwa zwei Meter neben ihr stand ein Mann in Joggingkleidung. Sein längeres dunkelblondes Haar war ziemlich durcheinandergeraten, was ihn zusammen mit seinem Dreitagebart etwas verwegen wirken ließ. Insbesondere, weil seine Nase aussah, als wäre sie früher einmal gebrochen gewesen. Doch er hatte ein außergewöhnlich schönes Gesicht, etwas unsymmetrisch, die Züge kantig und so interessant, dass Nelly einen Moment zu lange hinsah. Dann erst fiel ihr der Dalmatiner auf, den er neben sich an einer Leine hielt.

Weil sie nicht reagierte, deutete der verstrubbelte Jogger auf das freie Stückchen Bank neben ihr.

Rasch rückte Nelly ganz nach links, sodass der Fremde Platz nehmen konnte, und nuschelte: »Klar, setz dich!« Gedankenversunken beobachtete sie, wie er den Dalmatiner von der Leine ließ und dieser ohne Eile zu dem kleinen plätschernden Ableger der Isar vortrat, um dort anmutig zu trinken. Als er fertig war, kam er zurück zu seinem Herrchen, der ihm eine ziemlich wilde, aber irgendwie liebevoll wirkende Krauleinheit schenkte. Die beiden machten den Anschein eines eingespielten Teams.

Der einzige Hund, den Nelly kannte, gehörte ihren Nachbarn in New York und war das genaue Gegenteil von diesem Dalmatiner: klein und dick und so schlecht erzogen, dass er sich einmal an Tims Geburtstag in ihr Haus geschlichen und das Buffet vom Küchentresen aufgefressen hatte. Anstatt sich aufzuregen hatte Tim einfach herzhaft darüber gelacht und für alle kurzerhand Pizza bestellt.

Nelly lächelte wehmütig. Das war nur wenige Monate, bevor sich alles geändert hatte ...

Gerade als sie ein Gefühl der Enge in ihrer Kehle spürte, setzte sich der gepunktete Hund vor sie, den Kopf ein wenig schief gelegt. Eine Geste, die seltsam menschlich anmutete. »Ist es okay, wenn ich ihn streichle?«, fragte Nelly, als der Dalmatiner nach einer Minute immer noch vor ihr saß und sie derart treu anblickte, dass sie das Gefühl hatte, ihm etwas entgegenbringen zu müssen.

Für einen Moment betrachtete der Jogger sie eingehend, und dabei fielen ihr seine ungewöhnlich türkisblauen Augen auf. Prüfte er gerade, ob sie vertrauenswürdig genug war, um seinen Hund zu streicheln?

»Schon gut«, setzte sie an, doch in dem Moment sagte der Jogger, der seinen Blick wieder auf den Hund gerichtet hatte: »Du kannst ihn gerne streicheln. Er ist ganz lieb.«

Zögerlich fuhr Nelly mit den Fingern über das kurze Fell des Tieres, und als sie merkte, dass es ihm zu gefallen schien, intensivierte sie ihre Streicheleinheiten. Dabei entwich ihr ein tiefer Seufzer.

»Schlechten Tag erwischt?«, fragte der Mann überraschenderweise und ließ einen leichten bayrischen Dialekt erkennen.

Nelly antwortete nicht und zuckte nur mit den Schultern. Der Jogger und sein Hund machten zwar einen netten Eindruck, aber deswegen hatte sie noch lange keine Lust, sich mit ihnen über ihre Probleme zu unterhalten. Den Dalmatiner aber streichelte sie weiter, bis Hund und Herrchen ein paar Minuten später elegant davonjoggten.

Nellys Blick fiel auf eine Inschrift auf der Parkbank:

Für Christina

Das Beste kommt oft noch

7. 3. 2010

Augenblicklich bildete sich in ihrer Kehle ein Kloß. War es wirklich so? Würde das Beste erst noch kommen? Mit einem Mal fühlte sie sich von diesem kleinen Sprüchlein, das in eine golden schimmernde Plakette eingraviert war, getröstet. Wieder nahm sie ihr Handy hervor und schoss ein Foto von der Bank für ihren eingeschlafenen Instagram-Account, den sie früher so gerne gepflegt und auf dem sie Schnappschüsse aus der Großstadt geteilt hatte.

Nelly wollte gerade ihr Telefon wieder in die Tasche stecken, da ploppte eine Nachricht von Canan auf:

Bin wieder zurück. Dein Sohnemann sagt, du bist spazieren, wo genau steckst du?

Nelly sah sich um, sie hatte keine Ahnung mehr, auf welcher Seite des Englischen Gartens sie sich befand. Daher schickte sie Canan einfach ihren Standort. Prompt kam die Antwort ihrer Freundin.

Ich komme zu dir. Treffen beim Aumeister?,

schlug sie vor, und gerade als Nelly nachfragen wollte, worum es sich beim Aumeister handelte, hatte Canan auch schon einen Link geschickt. Der Aumeister war ein Biergarten im nördlichen Teil des Englischen Gartens ganz in der Nähe. Nelly machte sich auf den Weg. Die umliegenden Wiesen und grünen Baumschätze, die vielen Isarauen vermittelten einem den Eindruck, es handele sich hier um ein Stück unberührte Natur. Doch schon fünf Minuten später tauchte vor Nellys Nase ein Biergarten auf, in dem sicherlich mehr als zweihundert Menschen saßen und durstig ihr Bier tranken. Es würde wohl noch dauern, bis Canan ankam, also suchte sich Nelly einen Platz. Zwar waren alle Tische belegt, aber an einem saß nur ein älteres Paar im Radlerdress, das sich ein isotonisches Weißbier gönnte. Sie hatten nichts dagegen, dass Nelly sich zu ihnen setzte. Das war eine der Gepflogenheiten, die sie an Bayern mochte. Es war ganz normal, einfach zusammenzurücken und Platz zu machen. Auch wenn man sich nicht kannte.

Während Nelly wartete, versuchte sie, Benjamin anzurufen, der jedoch nicht abnahm. Schade, sie war fast sicher, dass es ihm hier auch gefallen hätte. Mit wenig Hoffnung, dass er ihrer Einladung folgte, schickte sie ihm den Link, den sie kurz zuvor von Canan erhalten hatte, und schlug ihm vor, nachzukommen. Dann schrieb sie in einer E-Mail an seine Großeltern, dass sie gut in München gelandet waren. Es war unwahrscheinlich, dass sie sich Sorgen machten, aber Nelly wollte sich auf keinen Fall etwas vorwerfen lassen. Zwar war sie offiziell Benjamins Vormund, darum hatten sie sich schon früh gekümmert, als abzusehen war, wie es mit Tim weitergehen würde. Doch so wie sich die Dinge aktuell gestalteten, reichte vermutlich ein Wort von Benjamins Großeltern, um Nelly in Misskredit zu bringen. Sie waren noch nie begeistert davon gewesen, dass ihr einziger Sohn sich eine neun Jahre jüngere Deutsche zur Frau genommen hatte. Seit Tims Tod drängten sie jedoch immer wieder darauf, dass Benjamin mehr Zeit bei ihnen verbringen sollte, und machten deutlich, dass sie seine einzig verbliebene »richtige« Familie waren. Worte, die Nelly jedes Mal einen Stich versetzten. Ganz abgesehen davon, dass sie selbst langsam daran zu zweifeln begann, ob Benjamin bei ihr wirklich gut aufgehoben war. Er zumindest schien das nicht so zu sehen.

»Hallo! Hier!«, rief sie und winkte, als sie Canan herankommen sah.

»I brauch a Bier ...«, meinte Canan, als sie sich auf die Bank fallen ließ, und nickte dann in Richtung des Radlerpaars: »Servus mitanand!«

Nelly kicherte unvermittelt los. Canans Eltern waren zwar türkischer Abstammung, aber sie war eine waschechte Münchnerin, und ganz selten, wenn ihr danach war, zeigte sie das auch.

»Das ist nur, damit du merkst, dass du jetzt in München bist und nicht mehr in New York«, meinte Canan vergnügt.

Nelly schaute zu einem Tisch hinüber, an dem vier junge Männer saßen. Alle hatten sie Schweinshaxen oder Backhendl vor sich auf dem Teller und Bierkrüge in der Hand, mit denen sie nun scheppernd anstießen.

»Ja, das hätte mir sonst ja auch leicht entgehen können.« Canan und Nelly begannen herzhaft zu lachen, und Nelly genoss, wie sich dieses so fremd gewordene Gefühl in ihr ausbreitete. Canan war einer dieser besonderen Menschen, bei denen es sich immer anfühlte, als hätte man erst am Vorabend das letzte Mal gemeinsam ein Schwätzchen gehalten, auch wenn das letzte Treffen noch so lange her war. Zwischen ihnen herrschte einfach diese Verbindung, die sie mit keiner Bekannten in New York je hatte finden können. Nelly fühlte sich wunderbar und ungezwungen, und die Gespräche mit Canan waren so herrlich natürlich.

»Komm, Selfie-Zeit!«, sagte Canan nach einer Weile und hatte schon den Arm um Nelly geschlungen und das Handy auf sie gerichtet, noch ehe sie darauf hinweisen konnte, dass sie dank Jetlag ziemlich verwüstet aussah. Eine Grimasse ihrer Freundin brachte Nelly schließlich so zum Lachen, dass dabei ein Foto entstand, das sie einen Funken Hoffnung in sich spüren ließ, ihr altes Ich könnte doch noch irgendwo in ihr stecken.

Kapitel 3

     Canan und Nelly waren sicherlich zwei Stunden im Aumeister sitzen geblieben und hatten sich bei Bier und Brezn unterhalten. Doch irgendwann wurde Nelly nervös und wollte nach Benjamin sehen. Sie war sicher, dass er lieber seine Ruhe hätte, aber immerhin waren sie erst am Vormittag in München angekommen, und wenn er etwas brauchte oder eine Frage hatte, dann wollte sie für ihn da sein. Etwa um neunzehn Uhr waren sie daher wieder zurück in der WG. Von Benjamin gab es allerdings keine Spur.

»Vielleicht hat er Hunger bekommen oder ist auch losgegangen, um sich die Füße zu vertreten.«

»Hmpf ...«, machte Nelly und holte ihr Handy heraus. Keine Nachrichten, keine verpassten Anrufe, und nirgendwo lag ein Zettel von ihm. Noch vor zwei Jahren wäre das undenkbar gewesen. Er wäre niemals einfach so ausgerückt, ohne mit ihr oder seinem Vater zu sprechen. Genau genommen hatte er bis vor zwei Jahren seine Zeit nur mit Büchern und seinem besten Freund verbracht.

Nellys Herz begann schneller zu schlagen. Beruhige dich, sagte sie sich. Es heißt nicht, dass es läuft wie beim letzten Mal. Und es war noch hell draußen.