Sommerflucht - Katharina Conrad - E-Book

Sommerflucht E-Book

Katharina Conrad

4,8

Beschreibung

Auf der Flucht vor ihrer Vergangenheit und ihrem eifersüchtigen Exfreund landet Sabina mitten in der schwäbischen Provinz in der Nähe von Tübingen. Dort trifft sie auf die alte Bäuerin Emilia, die bis heute unter den Folgen einer Entscheidung aus Kriegstagen leidet, und auf Christian. Christian, das merkt Sabina bald, wird ihre guten Vorsätze ins Wanken bringen, so schnell keine Beziehung mehr einzugehen. Dass er ein Geheimnis verbirgt, ahnt sie nicht.

Ihre ungewöhnliche Freundschaft mit der alten Emilia und deren Lebensgeschichte zwischen der Schwäbischen Alb und dem Stuttgart der Nachkriegsjahre tauchen Sabinas Sorgen und Probleme zudem in ein unerwartetes neues Licht …

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Katharina Conrad

Sommerflucht

Sommerflucht

Für Marie und Paul – die Sterne an meinem Himmel

Katharina Conrad, 1976 in Tübingen geboren, legt nach vielen Kurzgeschichten nun ihren ersten Roman vor. Neben dem Schreiben und ihrer Arbeit als Physiotherapeutin widmet sie sich zurzeit ihrer Leidenschaft für vergangene Kulturen und studiert auf dem schönen Schloss Hohentübingen. Sie lebt mit Mann und zwei Kindern am Schönbuchrand.

1. Auflage 2016

© 2016 by Silberburg-Verlag GmbH,Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.Alle Rechte vorbehalten.Umschlaggestaltung: Christoph Wöhler, Tübingen.Coverfoto: © JODAFOTO – iStockphoto.

E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1738-7E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1739-4Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-1478-2

Besuchen Sie uns im Internetund entdecken Sie die Vielfaltunseres Verlagsprogramms:www.silberburg.de

Inhalt

Prolog

1 | Schwäbisches Outback

2 | Emilia

3 | Georg

4 | Pu der Bär

5 | Ein Telefonat

6 | Der Geruch von altem Stroh

7 | Georgs Kind

8 | Familientreffen mal zwei

9 | Fahrrad und Frischkäse

10 | Henri

11 | Hannes

12 | Im Nebel

13 | Klara

14 | Flucht

15 | Calamity Jane

16 | Gebündelte Jahre

17 | Marla

18 | Heimkehr

19 | Der Maulwurf

20 | Gegenwind

Epilog

Dank

Prolog

Emilia wirft den Kopf in den Nacken und lacht.

Sie weiß nicht, dass sie den vorlauten Blondschopf an ihrer Seite einmal heiraten wird. Auch nicht, dass das Glück sich manchmal benimmt wie eine Handvoll Sand im Regen und sich nicht festhalten lässt, was man auch tut.

Der Blondschopf heißt Georg und ist zwölf, nur zwei Jahre älter als Emilia – was ihn allerdings nicht davon abhält, sie vor den anderen Jungs wie ein Kleinkind zu behandeln.

Gerade sind aber keine anderen Jungs da. Nur sie und Georg.

Emilia genießt ihre nackten Füße im Mühlbach, Seite an Seite mit Georgs. Sie fühlt sich sicher mit ihm, gut versteckt unter den tief hängenden Zweigen der Weiden. Unauffindbar. Zumindest im Augenblick. Für die Arbeit, die sie den Eltern auf dem Hof heute schuldig bleiben, werden sie bezahlen, das ist sicher. In einer Währung, die ihnen noch lange auf der Haut brennen wird.

Emilia und Georg ist es gleich. Ihre Zehen finden sich im Wasser und rangeln miteinander. Im Nu sind ihre Kleider nass, doch sie kichern und lachen nur. Der Platz im Schatten der knorrigen Äste ist wie eine andere Welt, die nur ihnen gehört.

Es ist das Jahr 1936, und sie sind Bauernkinder. Doch keins von beiden verschwendet in diesem Moment auch nur einen Gedanken an Stall und Acker. Nein, Georg hat ganz anderes im Sinn. Ein Grinsen erscheint auf seinem Gesicht, macht sich breit von einem Ohr zum anderen. Emilia kann nicht anders, es steckt sie an wie ein Funke einen Heuhaufen.

Mit einem Ruck zieht er die Füße aus dem Wasser und legt den Finger auf die Lippen. Still sein, Emilia, ganz still. Komme, was da wolle.

Ehrensache. Emilia nickt. Sie schaut mit ihren großen hellen Augen zu ihm auf, voller Neugier und Bewunderung. Und ein kleines bisschen stolz, weil er auch mit ihr Streiche macht, nicht nur mit den anderen Jungs.

Georg schleicht geduckt im Schutz der Binsen am Bach entlang, bis er die Mühle erreicht und aus Emilias Blickfeld verschwindet. Sie bleibt allein zurück. Unruhig knabbert sie an den Zipfeln ihrer Zöpfe. Sie kennt Georg ganz genau, er wird sich in Teufels Küche bringen, wieder einmal. Darf sie das zulassen?

Aber was kann sie schon tun? Und sie hat ihm doch versprochen, den Mund zu halten!

Wenn sie auch nur einen Mucks von sich gibt, wird er sie nie wieder mitnehmen. Diese furchtbare Vorstellung gibt den Ausschlag. Emilia bleibt, wo sie ist, still wie ein Mäuschen, und späht aus ihrem Versteck.

Lange Zeit tut sich überhaupt nichts. Weiter plätschert das Wasser über das Rad, nur begleitet vom geschäftigen Klappern aus dem Inneren der Mühle und den gelegentlichen Rufen der Blässhühner auf dem Weiher.

Irgendwann ist es Emilia leid, die Mühle anzustarren. Sie betrachtet die Sonnenflecken auf den Wellen, die um ihre Knöchel spielen, und entdeckt einen Schwarm glitzernder Stichlinge. Wenn sie ganz, ganz still hält, trauen sie sich bis an ihre Füße heran.

Dann ist es auf einen Schlag mit der Ruhe vorbei: Ein schriller Schrei, der in anhaltendes Gezeter übergeht, Müllers Wachhund schlägt an und aus dem Schilf fliegen die Vögel auf.

Emilias Stichlinge verschwinden in winzigen Schlammwolken, als sie mit einem Satz aus dem Bach hopst. Unschlüssig tritt sie von einem tropfenden Bein aufs andere. Wohin?

Da schießt Georg um die Ecke, schnell wie ein Kugelblitz, die nackten Füße trommeln über die Erde. Sein Lachen fliegt Emilia entgegen, die zu kaltem Stein erstarrt angesichts des wütenden Schäferhundes an seinen Fersen.

»Lauf ! Jetzt lauf schon! Ich komme gleich, muss nur noch diese Bestie loswerden!«

Doch Emilia steht wie festgenagelt. Sie sieht, wie die dralle Müllerin dem Hund hinterherstolpert und dabei kaum Luft bekommt; dann bleibt die Alte mit geblähten Backen stehen, stemmt eine Hand in die Seite und fuchtelt mit der anderen dem Hund hinterher: »Fass, Wolf, fass!«

Georg denkt aber gar nicht daran, sich fassen zu lassen.

Nur: Ans Weglaufen denkt er offenbar auch nicht. Stattdessen zieht er weite Kreise um einen Apfelbaum, den geifernden Hund noch immer dicht hinter sich.

Emilia merkt nicht, wie sie vergisst zu atmen. Jeden Moment wird das Untier ihn packen …

Doch da hängt der Hund mitten im Sprung in der Luft, von einer unsichtbaren Hand gehalten, und stürzt ins stoppelige Gras. Kurz zappelt er verstört, dann bleckt er die Zähne und kläfft weiter, kommt aber keine Handbreit mehr von der Stelle.

Georg rennt auf Emilia zu, packt sie am Arm und zieht sie mit sich. »Was für ein blödes Vieh! Lässt sich mit der eigenen Kette um den Baum wickeln!«

Er lacht fröhlich, und Emilia fällt mit ein, unendlich erleichtert, denn sie ist fast umgekommen vor Angst. Wie immer, wenn Georg solche Sachen anstellt.

Sie rennen und lachen, bis sie nicht mehr können und gekrümmt vor Seitenstechen im Schatten des schiefen Nailinger Kirchturms eine Pause einlegen müssen.

Mit letzter Kraft schleppen sie sich in Brändles Heuschober und hoffen, Emilias Vater nicht in die Arme zu laufen. Ihre kleine Schwester Agnes spielt im Hof, als die beiden sich in die Scheune stehlen, aber ihre Blicke treffen sich, und Emilia weiß, dass Agnes sie nicht verpfeifen wird.

Sie klettert die Leiter hinauf, wo Georg schon rücklings im Heu liegt, kriecht an seine Seite und stupst ihn in den Bauch.

»Warum war die Müllerin so sauer auf dich? Was hast du gemacht?«

»Ich dachte schon, du fragst nie.«

Georg stützt sich auf die Ellbogen und gräbt in den Tiefen seiner Hosentasche. Stolz fördert er eine Handvoll Haferkekse zutage. Sie sind zerbrochen, doch sie duften, wie nur gestohlene Kekse duften können.

Georg reicht Emilia die großen Stücke und schiebt sich selbst eine Ladung Krümel in den Mund.

»Wusstest du, dass sie heute Backtag hat? Ich finde, sie ist selber schuld, wenn sie den Teller auf dem Fensterbrett stehen lässt. Du nicht?«

Und während Emilia zufrieden kaut und nickt, greift Georg hinter sich und schiebt ihr genüsslich eine Portion Heu in den Nacken.

Emilia schüttelt sich, unschlüssig, ob sie böse auf ihn sein soll oder nicht, wo er doch gerade noch so nett zu ihr war.

Am schlimmsten, erkennt sie, trifft es einen, wenn man am wenigsten damit rechnet …

1 | Schwäbisches Outback

»Nailingen sieben Kilometer. Von wegen.«

Dass Straßenschilder so dreist lügen konnten, war Sabina Kleefeld neu. Ob sie falsch abgebogen war?

Ein wenig im Grünen. Etwas außerhalb. Fort von allem, wovon sie für eine Weile genug hatte. Aber das hier?

Seit einer Ewigkeit war sie keinem anderen Fahrzeug begegnet. Die zwei oder drei Traktoren, die sie unterwegs überholt hatte, zählten nicht. Keine Frage, entweder log das Schild – oder aber, sie hatte sich gründlich verfahren.

Typisch Sabina. Herzlichen Glückwunsch.

Es sah ganz so aus, als würde ihre Freundin Anne am Ende doch Recht behalten. Die hatte Sabinas Einfall einen schnellen Untergang prophezeit und sich dabei lachend auf die Schenkel geklopft.

Ja, es war eine Schnapsidee, sich hier draußen ein Zimmer suchen zu wollen. Landluft hin, günstige Mieten her.

Sabina schielte auf ihr Handy in der Mittelkonsole. Noch immer kein Netz. Existierten wirklich noch kilometerlange Funklöcher im Herzen der Bundesrepublik? Sie beschloss, bei der nächsten Gelegenheit zu wenden und diesem Ausflug ein Ende zu machen.

Dann – ein kleines Wunder: Hundert Meter weiter erschien ein einzelner, doch tröstlicher Netzbalken auf dem Display. Also doch nicht das Ende der Zivilisation! Kontakt zur Außenwelt war möglich, zum Pizzaservice und auch zum Rettungsdienst, falls sie mal einen brauchen sollte.

Unbewusst wackelte sie mit den Zehen und zuckte zusammen – sie waren noch da, stellte Sabina fest, der kleine Verband und ebenso der gar nicht so kleine Schmerz.

Obwohl der Vorfall schon eine Woche zurücklag, pulsierten ihre angeknacksten Knochen, als wäre es erst gestern gewesen. Im Supermarkt hatte sie ein Kleinkind dabei beobachtet, wie es aus dem Klappsitz des Einkaufswagens kletterte, um an die Süßigkeiten zu kommen. Während die Mutter konzentriert in ihrer Handtasche nach ihrem Geldbeutel oder Gottweißwas grub, stand es mit einem Mal auf der Sitzfläche und schickte sich an, einen Fuß in das Regal zu setzen.

Sabina legte einen olympiareifen Dreisprung hin. Nur die Landung hätte Punkte gekostet – sie glitt aus, schlitterte an den Fruchtgummitieren entlang und blieb am Ende mit den Zehen an einer Kante hängen.

Ihren Zweck erfüllte die Aktion trotzdem. Fasziniert von Sabina, die sich fluchend am Boden krümmte und ihren Fuß umklammerte, vergaß der kleine Ausreißer seinen ursprünglichen Plan und sank mit großen Augen in den Sitz zurück.

Die Mutter gab sich zu Tode erschrocken und gar nicht amüsiert, was allerdings mit dem Fluchtversuch ihres Sprösslings nichts zu tun hatte – den hatte sie vollständig verpasst –, sondern vielmehr mit Sabinas Kraftausdrücken.

Außer zwei lädierten Zehen waren Sabina großflächige Blutergüsse an Ellbogen und Unterarmen geblieben, die sie heute allerdings unter langen Ärmeln verbarg, um nicht wie ein Prügelopfer vor ihrer potentiellen neuen Vermieterin zu stehen. Dabei war es Juni und im Grunde bereits zu heiß für lange Ärmel. Eigentlich ein Frühsommer, wie man ihn sich wünschte – wenn man eben nicht gerade in allen Grün- und Blautönen schillerte.

Sabina schob die Ärmel über die Ellbogen und fuhr die Fensterscheiben herunter, um die Hitze aus dem Auto zu lassen. Der Fahrtwind wirbelte herein, und die Straße verschwand hinter einem flatternden Vorhang aus nussbraunem Haar. Sie zog ihre Handtasche auf den Schoß und wühlte mit einer Hand darin nach einem Haarband, aber wenn man eines brauchte, war natürlich keines drin, also flog die Tasche in den Fußraum und Sabina bannte ihr Haar, so gut es ging, hinter die Ohren.

Der Wind um die Nase tat ihr gut. Er wehte die Erinnerung an die Supermarkt-Affäre fort, ebenso wie den Frust über die Frage, ob sie sich nun verfahren hatte oder nicht. Die Frage selbst allerdings blieb.

Genug, beschloss Sabina. Zurück in die Stadt.

Dann, unvermittelt, öffnete sich das Tal. Eine Allee aus Platanen warf ein Wechselspiel aus Licht und Schatten auf den Asphalt, und ein glitzernder Bach gesellte sich zur Straße. Am Ende der langen Reihe aus Bäumen erkannte Sabina Häuser – doch, das musste Nailingen sein!

Ihre Stirn entspannte sich. Eingebettet in ein Tal zwischen Streuobstwiesen und Äckern lag die kleine Ortschaft in der Sonne, und ein merkwürdig schiefstehender Kirchturm neigte sich über die Höfe, als leihe er ihnen sein Ohr. Dahinter, etwas bläulich im Dunst, bildeten die Züge der Schwäbischen Alb einen nicht allzu fernen Horizont.

Am Ende der Allee fiel Sabina ein Schild ins Auge, das auf den örtlichen Mühleladen hinwies. Jenseits einer steinernen Brücke lag ein Hofkomplex, dessen Fachwerkhäuschen im Efeu friedlich dösten, und Sabina erhaschte im Vorbeifahren einen Blick auf eine bunte Obst- und Gemüseauslage.

Sofort bekam sie Appetit auf etwas Knackiges, Frisches. Nicht nur Pizzadienst, freute sie sich. Sie könnte Lebensmittel direkt vom Erzeuger kaufen.

Immer langsam mit den jungen Ackergäulen … Noch wohnte sie nicht hier. Bisher wusste sie nicht einmal, ob sie das wirklich wollte.

Wenn sie ehrlich war, dann hatte sie vor allem die lächerlich geringe Miete gelockt. Ein Traum im Vergleich zu den Preisen einer Universitätsstadt wie Tübingen, in der nie ein Zimmer zu bekommen wa r, schon gar kein bezahlbares, und erst recht nicht dann, wenn man wie Sabina dringend eins brauchte.

Sie war im Tagblatt über dieses Angebot gestolpert – es klang geradezu perfekt: ein traumhafter Preis, dazu die Hoffnung auf Abstand zu den Gespenstern ihrer jüngsten Vergangenheit … dem Gespenst, um genau zu sein.

Wenn sie allerdings gewusst hätte, wie tief Nailingen tatsächlich in der Wildnis lag … Sei’s drum. Nun war sie hier, also würde sie das Zimmer wenigstens anschauen. Falls sie es denn fand.

Die ausgerissene Zeitungsannonce lag im ungenutzten Aschenbecher. »Zimmer in älterem Bauernhaus«, las Sabina laut, hob zweifelnd die Brauen und spähte durch die Windschutzscheibe. »Das könnte quasi jedes hier sein.«

Die Vermieterin hatte sich am Telefon sympathisch angehört – allerdings war schnell klar gewesen, dass nicht nur das Haus bereits älter war.

Leider stand Sabina gelinde gesagt tatsächlich ein wenig unter Druck. Während ihr Wagen durch die Nailinger Gässchen rollte und sie nach der richtigen Adresse Ausschau hielt, knetete sie ihre Unterlippe und dachte an die Zwischenmiete im Wohnheim, die Ende des Monats auslief. Ihr Vater war mit ihrem jüngeren Bruder nach München gezogen, darum fiel auch die Familie als Notlösung aus. Eine neue Bleibe musste her, und das am besten sofort. Aber – ob sie es wirklich hier aushalten würde, in diesem verschlafenen Nest? Sie würde das Wohnheim vermissen, das wusste sie jetzt schon. Die hellhörigen Gänge und die Partys, die gefühlt jeden Tag, zu jeder Stunde auf irgendeinem Stockwerk stattfanden. Gleichzeitig war sie sich bewusst, dass sie ihre Magisterarbeit so niemals in trockene Tücher bekommen würde, und der Abgabetermin kroch näher und näher. Dabei fehlte nur noch die Reinschrift, das Material war längst vollständig, und an der Uni musste sie sich auch nur noch sporadisch sehen lassen …

Die Uni. Auf Sabinas Stirn brauten sich neue Wolken zusammen. Genau da lag das Gespenst auf der Lauer, vor dem sie nur zu gerne hinter die sieben Berge fliehen würde, wenn es denn helfen würde: Hannes, ihr Ex. Je weiter sie von ihm fortkam, umso besser.

Von der Uni abgesehen, band sie nur noch das Monty an die Stadt, das Lokal, in dem sie kellnerte. Doch hier biss sich die Katze in den Schwanz: Sie brauchte den Job, um ihr Auto behalten zu können, und das Auto würde sie brauchen, um ihren Job behalten zu können, wenn sie so weit ins Umland zog. Rechnete sich die günstigere Miete dann überhaupt noch? Sabina schwirrte der Kopf.

Egal. Nur weg von Hannes. Günstig wohnen. Keine Ablenkung mehr vom Magister. Welcher Ort eignete sich da besser als das Ende der Welt? Also genau das hier: Im Fuchsrain. Bei ihrem Glück war sie wohl schon dreimal daran vorbeigefahren.

Schließlich erklärte ihr eine junge Frau mit Kinderwagen den Weg, und in der Tat befand sie sich fast direkt vor ihrem Ziel.

Am säuberlich gekehrten Straßenrand parkte sie ihr Auto. Das schmiedeeiserne Tor hatte schon bessere Tage gesehen und wohl auch seit längerem kein Schmieröl, denn es wehrte sich quietschend, als Sabina es bewegte. Unter ihren Turnschuhen knirschte der Kies. Als sie ein vorgelagertes Gebäude umrundet hatte, fand sie sich im weitläufigen Hof eines uralten Bauernhauses.

Es nahm ihr den Atem. Da sollte sie wohnen? Was zum …

Ein bemoostes Dach hing tief über Fenstern, deren Läden so schief in den Angeln hingen wie die Regenrinne an der Traufe darüber. Die Fensterkreuze mochten einmal weiß gewesen sein und die Läden vielleicht grün, doch jetzt blätterte überall die Farbe ab. An vielen Stellen schimmerte dunkel das Fachwerk durch den Putz, und auf dem Sandsteinsockel siedelten Moos und Flechten. Sogar das riesige Scheunentor wirkte windschief und haltlos. Unwillkürlich seufzte Sabina.

Besonders trostlos erschienen ihr die leeren Halterungen an den Fenstersimsen, die eigentlich dafür gemacht waren, blühende Blumenkästen zu tragen – stattdessen rosteten sie untätig vor sich hin.

Hätte der Hof vor dem traurigen Haus nicht ein völlig anderes Bild geboten, Sabina wäre auf der Stelle davongelaufen. Dort aber stand unter den Ästen eines riesigen Kastanienbaumes eine hölzerne Gartenbank, die trotz oder gerade wegen ihres abblätternden Charmes einladend wirkte. Überall standen Töpfe, Zinkwannen und sogar ein altes Weinfass, aus denen Blumen in allen Farben quollen – Geranien, Fuchsien und eine Menge anderer, die Sabina nicht benennen konnte. Offenbar pflegte sie jemand – und das mit Hingabe.

Von den Gegensätzen verwirrt, zögerte Sabina. Das Haus löste einen ernsthaften Fluchtreflex bei ihr aus. Die Idylle im Hof dagegen nährte die Hoffnung, dass drinnen vielleicht doch alles anders war, als die Fassade glauben machte. Sie straffte die Schultern, atmete tief ein und trat an die Tür.

E. Lindauer stand auf einem ovalen Emaille-Schild. Eine Klingel suchte Sabina vergebens, darum klopfte sie zaghaft. Als sich nichts rührte, klopfte sie noch einmal, diesmal lauter. Beim dritten Versuch öffnete sich die Tür abrupt unter ihrer Faust, und sie wäre fast sprichwörtlich mit selbiger ins Haus gefallen.

»Guten Tag, junge Dame. Es gibt keinen Grund, mir die Türe einzuschlagen, ich bin nicht schwerhörig.« Eine zierliche Frau griff Sabinas Hand aus der Luft und schüttelte sie. »Nur bin ich leider nicht mehr die Schnellste.«

»Entschuldigung«, murmelte Sabina und schalt sich in Gedanken einen Trampel, weil es ihr einmal mehr gelungen war, auf Anhieb einen miesen Eindruck zu machen.

Verstohlen musterte sie Frau Lindauer. Ende siebzig mindestens, schätzte sie. Ihr Haar trug sie zu einem lockeren Knoten aufgesteckt, doch einige Strähnen waren den Nadeln entwischt und flossen als silbrige Rinnsale über ihre Schultern. Hinter runden Brillengläsern funkelten wache, helle Augen, denen so schnell bestimmt nichts entging, und Sabina war sich vollauf bewusst, dass sie ebenfalls einem Schnell-Check unterzogen wurde. Nichts in Frau Lindauers Miene verriet, zu welchem Schluss sie dabei kam, doch ihr tadelnder Ausdruck von eben war verschwunden.

»Ich nehme an, Sie sind wegen des Zimmers hier. Wollen Sie nicht hereinkommen?«

Die alte Frau trat zur Seite, gab den Weg in einen geräumigen Flur frei und bedeutete Sabina einzutreten.

Sabina tat einen steifen Schritt über die Schwelle.

»Ich wollte nicht unhöflich sein. Aber ich konnte die Klingel nicht finden, darum …«

»Tun Sie mir einen Gefallen?«, fiel die alte Frau ihr ins Wort. »Sagen Sie keinem, dass ich nicht schwerhörig bin.«

Rings um ihre Augen vertieften sich die Lachfältchen.

Sabinas Anspannung löste sich unter der Wärme, die davon ausging. Wie Sonnenstrahlen über einem Bergsee, schoss ihr durch den Kopf. »Geht klar.«

»Wie wär’s mit einem Tässchen Kaffee?«

Sabina holte Luft, um dankend abzulehnen, aber sie brachte es nicht übers Herz. »Gerne.«

Unwillkürlich zog sie den Kopf unter dem Türrahmen ein, als Frau Lindauer sie in ihre Stube schob, wo der Kaffeetisch schon gedeckt war. Goldranddekor auf Platzdeckchen.

»Setzen Sie sich.«

Gehorsam versank Sabina in einem der Polstersessel und nahm eine dampfende Tasse entgegen. Sie spähte hinein und erwartete, durch eine koffeinlose Brühe auf den Boden der Tasse zu sehen, doch dann stieg ihr der Duft in die Nase, würzig und stark – genau so duftete auch der Kaffee im Monty. Richtiger Kaffee.

»Riecht gut, was?« Frau Lindauer zwinkerte. »Geheimrezept.«

Sabina nickte bewundernd. »Verraten Sie mir … aber nein, natürlich. Dann wäre es ja kein Geheimnis mehr.«

Frau Lindauer ließ ein leises Schulmädchenkichern hören. »Wissen Sie was? Ich glaube, ich kann Sie gut leiden.« Sie beugte sich vor und sprach leise weiter, als besäßen die Wände Ohren. »Ist keine große Sache – ich mahle die Bohnen frisch mit der Handmühle. Voilà!« Sie lehnte sich mit ihrer Tasse in ihrem Sessel zurück. »Sie suchen also ein Zimmer? Was zieht Sie denn zu uns aufs Land?«

Das Vorgeplänkel war vorbei. Um Zeit zu gewinnen, nahm Sabina noch ein Zuckerstück. Was wollte die alte Frau wohl wissen? Ob sie solvent und stubenrein war? Oder gleich ihre ganze Lebensgeschichte?

»Also«, begann sie, »ich studiere. Das heißt, ich bin fast fertig damit. Meine Abschlussarbeit fehlt noch, aber ich kann mich im Wohnheim nicht konzentrieren. Ständig ist irgendwo Ablenkung.«

Frau Lindauer nickte. »Jaja, der Trubel in der Stadt, das war zu meiner Zeit nicht anders. Und trotzdem wollten alle dorthin! Heute ist es genau umgekehrt, jetzt ziehen die Menschen raus aufs Land, wo die Uhren langsamer gehen. Was studieren Sie denn?«

»Germanistik.«

»Ah, Deutsch! Wollen Sie Lehrerin werden?«

Sabina dachte an ihren Vater, der an einem Münchner Gymnasium unterrichtete.

»Nicht unbedingt«, antwortete sie. »Vielleicht mache ich auch irgendwas mit Büchern.«

Frau Lindauer zupfte ein Sofakissen zurecht. »Ich mag Bücher. Lebt Ihre Familie in der Stadt?«

Dieses Thema umschiffte Sabina sonst gerne weiträumig, doch nun stieß diese Frau Lindauer sie innerhalb einer einzigen Minute schon zum zweiten Mal darauf.

Sie schloss kurz die Augen, während Erinnerungsfetzen in ihrem Kopf aufblitzten wie Dias. Jonas, ihr Bruder, quer über ihrem Schoß hängend. Ihre Hausaufgaben voller Marmeladeflecken. Eine verärgerte Erzieherin, weil Sabina wieder mal zu spät von der Schule kam und der Kindergarten eigentlich längst geschlossen hatte. Ihr Vater, bis spät in die Nacht über Korrekturen gebeugt, unansprechbar. Wieder ihr Bruder, an sie gekuschelt, sie selbst nichts als ein lebender Zaun an der Bettkante. Ohne Schlaf, die ganze Nacht.

Sabina zwang sich mit Gewalt zurück in die Gegenwart. »Meine Familie ist nach Bayern gezogen.«

»Wie schade, das ist aber weit! Familie ist so wichtig.«

Die alte Frau stellte die Tasse auf den Tisch und blickte gedankenverloren auf einen Punkt hinter Sabina. »Ich wünschte, ich hätte früher begriffen, wie wichtig.«

Etwas in Frau Lindauers Stimme ließ Sabina aufhorchen. Was war das, Trauer?

Sie folgte ihrem Blick zu einer hölzernen Anrichte, wo neben einem Tonkrug mit bunten Sommerblumen ein Bilderrahmen stand. Die Nachmittagssonne fiel darauf, und Sabina bemerkte, dass kein Staubkörnchen auf dem Bild zu sehen war, obwohl der Rest der Anrichte durchaus ein feuchtes Tuch vertragen hätte.

Das Foto zeigte einen jungen Mann, der unter gekämmtem blondem Haar ernst in die Kamera blickte. Er trug etwas, das Sabina für eine Wehrmachtsuniform hielt, doch irgendwas an dem Bild war merkwürdig. Sabina kam nicht sofort darauf, was es war, aber dann erschien es ihr, als ändere er vor ihren Augen seine Haltung, so, als wäre sie ihm eben unbequem geworden. Auch die Frisur war nicht ganz so ordentlich, wie es auf den ersten Blick den Anschein gehabt hatte, offenbar ließ sich sein Haar nur schwer bändigen. Der künstlichen Steifheit zum Trotz lachten die Augen des jungen Soldaten, und die gekräuselten Mundwinkel überführten jeden Ernst endgültig der Lüge. Sabina wusste plötzlich, dass ihm genau in diesem Moment ein lustiger Kommentar auf der Zunge gelegen hatte.

Ihr Blick glitt von der Fotografie zurück zu Frau Lindauer, die in dem Bild fast körperlich versunken war.

Mit einem Mal fühlte sich Sabina fehl am Platz, ein störender Dritter in einem intimen Moment. Sie räusperte sich und rührte konzentriert in ihrer Kaffeetasse.

Das Klimpern des Löffels holte auch Frau Lindauer zurück in die Gegenwart. »Wie auch immer. Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen.«

Sabina konnte sie in Sekunden vom jungen Mädchen wieder zur betagten Bäuerin altern sehen, während sie sich mit sichtbarer Anstrengung von dem jungen Soldaten losriss.

Dann stemmte sich die alte Frau aus dem Sessel. »Vielleicht zeige ich Ihnen jetzt das Zimmer. Es ist oben.«

Sabina folgte ihr zurück in den Flur. Dabei entging ihr nicht, dass Frau Lindauer beim Gehen an den Möbeln Halt suchte. Auf der schmalen, steilen Treppe zog sie sich am Geländer hinauf. Oben angekommen, hielt sie sich fest und schnaufte.

Sabina wartete, bis die alte Frau wieder Luft bekam.

»Früher habe ich hier oben gelebt«, erklärte sie schließlich. »Mein Sohn wollte meine Möbel nicht nach unten tragen, darum steht mein Aussteuerschrank noch in dem Raum. Sie dürfen ihn gerne benutzen.«

Vor Sabinas geistigem Auge erschien ein wurmstichiges, mottenkugeliges Ungetüm, das sie ganz bestimmt nicht benutzen würde, aber vorerst schluckte sie jede Anmerkung hinunter.

»Meine Schwester Agnes bewohnte die unteren Räume, bis zu ihrem Schlaganfall im letzten Jahr.« Sie hielt inne. »So lange soll das schon her sein … Nach ihrem Tod jedenfalls bin ich nach unten umgezogen. Diese Stiege bringt mich einfach um, wissen Sie, und das untere Bad hat eine ebene Dusche. Das hier oben ist auch in Ordnung, nur kleiner – es teilt sich den Raum mit der Küche, wie man es früher oft hatte. Das stört sie doch nicht?«

Sabina war nicht sicher, ob sie richtig verstanden hatte. Frau Lindauer stieß eine niedrige Tür auf, und Sabina bestaunte mit der Unterlippe zwischen den Zähnen den Raum dahinter, wo sich tatsächlich ein Herd, ein Waschbecken und eine Duschkabine auf etwa zwei Quadratmetern zusammendrängten. Über dem Becken hing ein runder Badspiegel, aus dem Sabina sich selbst entgegengrinste, hin- und hergerissen zwischen Faszination und Unglaube.

Am Ende siegte die Vernunft und sie gestand sich ein, dass sie ungewöhnliche Lösungen aus diversen WGs zur Genüge kannte. Zum Teil sogar noch abenteuerlichere. Wirkliche Schmerzen verursachte nur die fehlende Badewanne, aber die hatte es im Wohnheim auch nicht gegeben.

»Praktisch«, kommentierte sie, weil sie spürte, dass Frau Lindauer auf eine Rückmeldung wartete.

»Das WC ist natürlich separat. Hier.«

Na, immerhin. Nicht auszudenken, wenn sich das nun im Schlafzimmer befunden hätte.

Zwei Türen ließ die alte Frau links liegen, bevor sie die Hand auf die Klinke der letzten legte. Sie zögerte.

»Hier war einmal die Schlafstube meiner Eltern. Dann war es meine. Jetzt steht das Zimmer leer. Bitteschön!«

Sie gab der Tür einen Schubs und bedeutete Sabina einzutreten.

Sabina vergaß alles, was sie befürchtet hatte, als sie den Raum betrat und mit einem Mal im warmen Sonnenlicht stand, das durch zwei Gauben auf die Bodendielen fiel.

Das Zimmer lag nach hinten zum Garten, und einem Impuls folgend öffnete Sabina die Fensterflügel und ließ die Geräusche und Gerüche von Nailingen herein.

Vögel zwitscherten, und etwas weiter entfernt rauschte Wasser. Ganz weit weg hörte Sabina einen Traktor tuckern. Und da war noch etwas, gleich unterhalb der Fenster …

»Man hört hier natürlich die Hühner, wenn sie im Garten sind. Ich hoffe, sie stören Sie nicht. Wirklich Krach machen sie nur, wenn sie gefüttert werden.«

Sabina winkte ab. »Hört sich an, als hätten sie einen gemütlichen Kaffeeklatsch. Kein Vergleich zu Wohnheimpartys!«

Frau Lindauer lachte, es klang erleichtert. Dann klopfte sie auf das riesige Möbel, an dem sie sich anlehnte. Sie tätschelte das bemalte Holz wie einen treuen alten Hund.

»Mein Schrank. Ich hätte ihn so gerne mit nach unten genommen, aber mein Sohn … nun ja.«

»Aber der ist ja … schön!«

Überhaupt musste Sabina feststellen, dass sie das Zimmer mochte. Es besaß einen ganz eigenen Charme – die gewienerten Holzdielen, die zu jedem Schritt einen Kommentar abgaben, die Schrägen, die Geborgenheit versprachen; dann die Gauben mit ihrem weitläufigen Blick über Garten, Wiesen und Felder, das Glucksen des Federviehs …

Bei allen äußerlichen Alterserscheinungen strahlte das Haus doch Wärme aus. Es hatte eine Seele.

»Warum möchten Sie eigentlich vermieten?«, hörte Sabina sich fragen.

Die alte Frau trat an ein Fenster und schaute hinaus. »Das Haus ist für mich allein zu groß geworden«, sagte sie. »Ich vermisse das Gefühl, dass außer mir noch jemand hier ist. Vielleicht brauche ich auch eine Rechtfertigung, damit mein Sohn endlich aufhört, mich zum Verkauf zu drängen. Er hat schon nach Agnes’ Tod versucht mir weiszumachen, ich gehöre in ein Altersheim.« Sie senkte die Stimme. »Man würde es abreißen. Eine Sanierung wäre viel zu aufwändig, und außerdem viel zu teuer. Aber so ist das mit uns Alten … Irgendwann ist unsere Zeit eben vorbei.« Sie schaute zu Sabina auf, die neben sie getreten war. »Und, was denken Sie? Können Sie sich vorstellen, hier zu wohnen?«

Ja, das konnte sie, entdeckte Sabina. Trotzdem beschloss sie, die Eindrücke erst einmal sacken zu lassen.

»Glauben Sie mir, ich hab schon schlimmer gelebt«, sagte sie und ärgerte sich im selben Moment über den gedankenlosen Spruch, doch Frau Lindauer lächelte nachsichtig. »Nein, im Ernst, ich mag das Zimmer«, erklärte Sabina trotzdem. »Muss ich mich jetzt gleich entscheiden? Ich würde gerne darüber schlafen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

»Es kommen sowieso keine weiteren Interessenten. Ich habe außer Ihnen niemanden eingeladen.« Sie blickte Sabina mit ihren klaren blauen Augen an. »Das muss Sie nicht unter Druck setzen. Ich hatte einfach keine Lust auf einen Haufen fremder Leute in meinem Haus. Schlafen Sie ruhig darüber.«

Als Sabina das eiserne Tor hinter sich schloss, sah ihr die alte Frau nach und winkte. Sabina winkte zurück, eine seltsam vertraute Geste.

Das merkwürdige Gefühl wirkte noch nach, während sie unter der schattigen Allee aus dem Tal fuhr, und verschwand erst viel später, als sie die ersten Häuser der Tübinger Südstadt und das Sudhaus erreichte.

Auf der Fahrt zurück überlegte Sabina, was sie tun sollte. Ländliche Idylle, die Ruhe und Abgeschiedenheit, die sie brauchte und dort garantiert finden würde, auf der einen Seite – und auf der anderen die große Entfernung zur Stadt.

Dabei hatte sie im Grunde längst beschlossen, die Entfernung ebenfalls als Vorteil zu werten, allein schon wegen Hannes. In Nailingen würde sie ihm kaum zufällig über den Weg laufen, und das war gut so.

Wie stand es mit Frau Lindauer? Sie war ein nettes altes Mädchen, zweifellos, aber konnte Sabina sich wirklich vorstellen, mit ihr unter einem Dach zu leben? Wie weit war es her mit ihrer Menschenkenntnis? Hätte sie gemerkt, wenn da was im Busch wäre?

Womöglich war die alte Dame gebrechlicher, als es den Anschein gehabt hatte. Sie hatte sich sehr bemüht, ihre Schmerzen beim Gehen und auf der Treppe nicht zu zeigen. War es ihr nur unangenehm vor Sabina, oder spekulierte sie auf ihre Unterstützung, wenn sie sie erst einmal im Haus hatte? Was verbarg sie noch? Vielleicht war sie senil oder alzheimerkrank und handelte auf eigene Faust, hinter dem Rücken ihres Sohnes?

Am Ende suchte sie gar keine Untermieterin, sondern eine Pflegekraft?

Sabina schüttelte energisch den Kopf. Nein. Bei aller gesunden Vorsicht, diese Frau hatte ihre Sinne beisammen. Sie schien weder unzurechnungsfähig noch hilfsbedürftig, und außerdem wollte sie ja gerade ihre Selbstständigkeit behalten und sich nicht von ihrem Sohn ins Heim stecken lassen.

Sabina knetete ihre Lippe.

Und das Zimmer? Rustikal, zugegeben. Aber voller Licht und so gemütlich mit seinem Dielenboden und den Dachschrägen … Das Küchenbad! Würde sie sich damit arrangieren können? Wenn alles andere kein Problem war, scheiterte dann trotzdem alles am Fehlen einer Wand und einer zweiten Tür?

Blieb die Frage nach möglichen Alternativen, aber die war schnell beantwortet: Es gab keine.

Sabina wusste, wen sie jetzt brauchte. Anne. Anne wusste immer Rat. Genau genommen war Sabina ohnehin schon auf dem Weg zu ihr.

Anne war nicht nur ihre beste Freundin, sondern außerdem ihre Kollegin im Monty. Sie arbeiteten zwei gemeinsame Schichten jede Woche, Montag und Samstag. Montags war meist tote Hose, da waren sie nur zu zweit, so wie heute, nur Anne am Tresen und Sabina im Service, da fand sich immer Zeit zum Quatschen. Samstags war wesentlich mehr los, viele Gäste, viel Arbeit und viel Trinkgeld. Samstag war gut fürs Konto. Montag war gut für die Seele. Anne war gut für Sabinas Seele.

Pünktlich um fünf kam Sabina im Monty an. Wie üblich hatte Anne schon aufgemacht und erwartete sie mit zwei milchschaumgekrönten Latte-Macchiato-Gläsern.

»Sabina, na endlich! Erzähl schon, wie war die Zimmerbesichtigung? Mutierst du nun zum Landei oder nicht?«

In aller Seelenruhe sortierte Sabina ihr Wechselgeld in ihren Geldbeutel und legte den Kellnergürtel um. Sollte Anne ruhig ein bisschen zappeln, nachdem sie so sicher gewesen war, Nailingen würde sich als Schnapsidee entpuppen. Während Anne ihr ungeduldig das Latte-Glas entgegenschob, kletterte Sabina umständlich auf einen Barhocker.

»Mensch, jetzt mach es doch nicht so spannend!« Anne trommelte vor Sabina mit den Fingern auf den Tresen.

Kaum zu glauben, dass diese quirlige Person so viel älter sein sollte als sie, zehn Jahre. Siebenunddreißig! Wer sie nur oberflächlich kannte, tat sich überhaupt schwer damit, Annes Alter richtig einzuschätzen. Sie konnte sich unschuldig wie ein Kind geben, durchtrieben wie ein Teenager oder altklug wie eine Erbtante. Und das, wenn die Umstände es verlangten, in minütlichem Wechsel.

Für Sabina war sie einer der wichtigsten Menschen.

»Keine Badewanne«, eröffnete sie ihren Bericht und nickte bedeutsam, als Anne scharf die Luft einsog. »Dafür ist die Dusche in der Küche. Oder der Herd im Bad, ganz wie du willst.«

»Du willst mich veräppeln! Ist das Haus so alt oder so winzig?«

»Mindestens hundert Jahre. Und die Vermieterin auch. Okay, fast«, setzte Sabina hinzu. »Von außen leider eine Bruchbude. Das Haus, meine ich. Aber innen echt gemütlich. Das Dorf ist kleiner, als ich dachte, und mitten im Nirgendwo, aber dafür friedlich, alles grün, richtig idyllisch … Genau so habe ich es mir gewünscht.« Nachdenklich rührte sie in ihrem Glas.

Anne runzelte die Stirn. »Ich glaube immer noch, du spinnst. Willst du das wirklich? Zu Kühen und Hühnern und Misthaufen in die Gülle-Idylle?« Sabina piekste mit ihrem Latte-Löffel nach Anne, doch die krümmte sich zur Seite weg und zeigte nun ihrerseits mit dem Löffel auf Sabina. »Streite es nicht ab! Ich sehe doch, dass du dich längst entschieden hast, auch wenn du es vielleicht selbst noch nicht weißt.« Mit der Fingerspitze strich sie sich den Milchschaum von der Oberlippe. »Und womöglich ist das nicht mal die dümmste Idee. Musst ja nicht gleich Wurzeln schlagen im Acker der Provinz. Mach in Ruhe deinen Magister zu Ende, und vielleicht kommt bis dahin auch Hannes endlich zur Vernunft. In dein Hinterpfuikuckuck verirrt der sich jedenfalls bestimmt nicht.«

»Genau. Und bitte, erinnere mich nicht ständig an ihn. Es ist mir schleierhaft, wie das überhaupt passieren konnte.«

Anne drehte stumm die Handflächen nach oben.

Sabina seufzte. »Ich weiß. Hätte ich auf dich gehört, wäre es nie so weit gekommen.«

»Na ja«, schwächte Anne ab, »Keiner konnte voraussehen, dass er sich zum Psychopathen entwickelt. Ich hätte mir nur gewünscht, du wärst nicht gleich bei ihm eingezogen.«

Sabina nickte, und für eine Weile war nur das rhythmische Klappern der Kaffeelöffel zu hören.

Es war Montag und der Abend verlief erwartungsgemäß ruhig. Immer wieder fanden Anne und Sabina Zeit, am Tresen das eine oder andere Thema zu bereden. Stolz präsentierte Anne ihr neuestes Tattoo, das noch mit Folie und Pflaster beklebt und in seiner ganzen Pracht bisher nur zu erahnen war.

Sabina bewunderte Anne. Nicht direkt wegen ihrer Tattoos, sondern eher für den Mut, etwas so Unwiderrufliches, Endgültiges zu tun. Dabei war Annes Charakter sonst mit gar nichts vereinbar, was von längerer Dauer war.

Den Kopf auf eine Hand gestützt, saß Sabina am Tresen und beobachtete ihre Freundin, die unbeschwert mit einem Gast flirtete. Seit Sabina sie kannte, war Anne sechs Mal umgezogen, hatte ungefähr achtzehn Beziehungen gehabt, die diese Bezeichnung verdienten – mindestens zwei davon gleichzeitig – und ihre Haarfarbe wechselte sie zeitweise täglich. Das Dauerhafteste, vielleicht die einzige Konstante in Annes Leben, war ihr Job im Monty.

Dennoch war sie für Sabina ein Fixstern am Firmament. Wenn Anne in der Nähe war, so wie jetzt, dann fühlte sie sich geerdet. Und wenn Anne ihr bei einer Entscheidung half, hatte das, was am Ende herauskam, meistens Hand und Fuß.

Warum konnte Anne kein Kerl sein? Wenn sie einer gewesen wäre – und ein bisschen weniger sprunghaft vielleicht –, sie wären das perfekte Paar gewesen. Und das mit Hannes wäre niemals passiert.

Wieder fragte sich Sabina, warum ihr Bauchgefühl sie so im Stich gelassen hatte. Wieso hatte sie dieses eine Mal Annes Ratschläge in den Wind geschlagen? War sie wirklich so schwach gewesen, als sie ihn traf ?

Die Antwort war eindeutig: Sie hatte am Boden gelegen wie ein Wurm. In einem Trennungsloch. Einem besonders tiefen und dunklen, denn das Aus war ganz alleine auf ihre Kappe gegangen. Ausgerechnet als sie in einer wichtigen Prüfungsphase steckte, hatte ihr Vater wieder geheiratet. Das Verdrängen der neuen Frau und der Kampf mit dem Lernstoff hatten Sabinas ganze Kraft gekostet. Ihren Freund hatte sie so lange mies behandelt, bis er es leid war, für seine Aufmunterungsversuche eine Abfuhr nach der anderen zu kassieren. Er ließ sie sitzen mit nichts als einem schwarzen Gewissen und dem Gefühl, jemanden weggeekelt zu haben, der ihr ehrlich helfen wollte.

Hannes war zur Stelle gewesen, um die Lücke zu füllen. Er war aufgetaucht, als sie jemanden brauchte, dem sie beweisen konnte, dass sie sich öffnen und Hilfe annehmen konnte. Hannes hatte die Arme ausgebreitet und sie aufgefangen – und ihr dann gründlich die Luft zum Atmen abgedrückt … Nur eine Schlampe würde auf die Idee kommen, ohne ihren Freund auszugehen. Wozu überhaupt andere Leute, war er ihr etwa nicht genug?Allein ihr Wunsch, einen Abend ohne ihn zu verbringen, war ihm schon Beweis, dass sie ihn hinterging. Wenn sie einen Versuch startete, mit ihm zu reden, dann verschränkte er nur die Arme und knurrte: »Okay. Dann rede.« Es war nie richtig, was sie tat, wie sehr sie sich auch verbog.

Und es wurde immer schlimmer. Von einem angehenden Mediziner hätte man mehr Harmoniegefühl und vielleicht auch einen Tick mehr Nächstenliebe erwarten können – Eigenschaften wie diese besaß Hannes nur leider nicht.

Ihren Auszug musste Sabina wie eine Flucht planen, denn es war sonnenklar: Einen Abschied im Guten würde es nicht geben. Ihr blieb nur, ihn vor vollendete Tatsachen zu stellen. Wenn sie sich vorstellte, er würde sie beim Packen erwischen … Doch der Auszug glückte, und er war eine echte Befreiung gewesen. Sabina genoss es auszugehen, ohne auf die Uhr zu schauen, alte Freunde wiederzutreffen und ihr Leben endlich wieder selbst in der Hand zu haben.

Dumm nur, dass Hannes die Trennung nicht akzeptierte, egal welche Sprache die Fakten sprachen. Er benahm sich wie ein Kettenhund, dem man den Knochen weggenommen hatte, wütend und rachsüchtig.

Anne hatte Sabina durch die ganze Zeit begleitet, obwohl sie Hannes von Anfang an ein Dorn im Auge gewesen war und er immer versucht hatte, Sabina von ihr fernzuhalten. Das Monty hatte sie nie aufgegeben, Gott sei Dank. Und Anne hatte wahrlich mit Engelszungen auf sie eingeredet, um ihr die Augen zu öffnen. Letzten Endes mit Erfolg.

Nun kippte Sabina den Inhalt eines Aschenbechers in den Müll und stellte sich vor, es wären die Erinnerungen an Hannes. Dann blätterte sie im Reservierungsbuch.

»Was ist das denn, kein Sozpäd-Stammtisch heute?«

»Doch, schau weiter unten, die sind nur später heute. Zweiundzwanzig Uhr.«

Die wenigen Montagsgäste waren traditionell entweder Pärchen oder Stammgäste. Zu Letzteren gehörte eine Clique, die Sabina und Anne besonders mochten. Die vier waren immer gut drauf und wussten, was ein anständiges Trinkgeld war. Und sie gaben einiges her für Annes und Sabinas heimliches Hobby – Spitznamen für Stammgäste.

Wenig später trudelte die Truppe ein. Kleiner Heiner hielt den beiden Damen die Türe auf. Sabina erkannte ihn von hinten an seiner drahtigen Statur und dem gelockten Pferdeschwanz. Sie gab Anne ein Zeichen. Die begann automatisch, die üblichen Getränke für die vier vorzubereiten.

Auf eine Rothaarige in weiten Gewändern, die sie wegen ihres holländischen Akzents Frau Antje getauft hatten, folgte die Flotte Lotte, perfekt gestylt wie immer. Den Abschluss machte Kleiner Heiners Gegenstück, ein großer blonder Kerl, der gerade herzhaft über etwas lachte, das die Flotte Lotte von sich gegeben hatte. Sein Markenzeichen war ein Halstuch. Sabina und Anne hatten schon Wetten abgeschlossen, aber er trug es immer, darum hatten sie es wieder aufgegeben. Das war Pu der Bär. Er hatte den Arm um die schlanke Taille der Flotten Lotte gelegt und führte sie zu ihrem angestammten Tisch.

Kaum hatten sie sich hingesetzt, lieferte Sabina die telepathisch bestellten Getränke, beteiligte sich einige Minuten am Smalltalk und lachte fröhlich. Anne beobachtete sie vom Tresen aus und machte im Geiste drei Kreuze, weil sie Sabina endlich wieder so unbeschwert und lebenslustig sah. Wegen ihr hätte der Abend auch gerne weiter so friedlich und lustig vor sich hinplätschern dürfen.

Er plätscherte weiter, aber nur bis kurz nach halb eins. Die meisten Gäste waren schon gegangen, auch die fröhlichen Sozpäds. Sabina saß am Tresen und machte ihre Abrechnung, Anne putzte die Kaffeemaschine. Alles steuerte auf einen frühen Feierabend zu. Sabina würde als Erste Schluss machen, um dann Anne trotzdem noch bis zum Ende Gesellschaft zu leisten.

Dann stand urplötzlich Hannes im Raum.

Zielstrebig stapfte er auf Sabina zu und beugte sich über sie, als wollte er sie küssen. Anne war vorübergehend zur Salzsäule erstarrt, doch Sabina gelang es, Hannes auszuweichen und eine Barhockerbreite Abstand zwischen sich und ihn zu bringen.

»Was denn, darf ich mein Mädchen nicht von der Arbeit abholen? Ich dachte, wir begraben endlich unseren dämlichen Streit, trinken noch ein gemütliches Gläschen mit Anne, und dann fahren wir nach Hause. Okay?«

Seinem Atem nach wäre das für ihn nicht das erste Gläschen an diesem Abend. Er breitete die Arme aus und schien allen Ernstes zu erwarten, dass sie darauf einging.

Sabina blinzelte stumm, doch dafür war Anne wieder aufgetaut. »Hannes, ihr hattet keinen dämlichen Streit, ihr seid auseinander! Komm drüber weg. Wenn du bereit bist, dich wie ein normaler Gast zu benehmen und friedlich etwas zu trinken, hat keiner was dagegen. Ansonsten bitte ich dich höflichst zu verschwinden!«

Oh Mann, dachte Sabina. Wie naiv bin ich gewesen. Ich dachte echt, es wäre vorbei!

Hannes schob den Barhocker zur Seite, mit mehr Schwung als nötig, aber doch nicht so hart, dass er gekippt wäre – eine unterschwellige Drohung.

Inzwischen durchschaute Sabina diese Strategie, und es nervte sie nur noch. »Hannes, kapier’s doch endlich. Es hat keinen Zweck. Ich bin glücklich alleine. Lass mich in Ruhe und such dir eine andere.« Am besten eine gute Therapeutin, fügte sie in Gedanken hinzu.

Etwas in Hannes Gesicht fiel in sich zusammen. Wahrscheinlich war es nur das zwanghafte Grinsen gewesen.

»Also gut. Wenn du es so brauchst, dann zier dich eben noch eine Weile. Aber irgendwann wird dir einfallen, wer für dich da war, als es dir dreckig ging – wir sind noch nicht fertig miteinander!«

Er ballte die Hände, als wollte er etwas zu Brei drücken, und rauschte dann mit einem letzten zornigen Blick auf Sabina davon. Nur seine Worte blieben drohend über ihren Köpfen hängen.

Anne öffnete den Kühlschrank, schenkte zwei braune Tequila ein und schnitt eine frische Orange an.

»Anne, weißt du was?« Sabina war ein Licht aufgegangen. »Was ich eben gesagt habe, ist wahr! Zum ersten Mal bin ich nach einer Beziehung nicht in einem Loch gelandet. Ich brauche keinen Neuen, der mein Ego wieder aufrichtet. Ich muss nur noch diesen Vollidioten loswerden, dann ist alles gut.«

Anne zuckte die Schultern. »Meine Rede. Vielleicht solltest du doch vorübergehend auswandern.«

Nachdenklich nahm Sabina das Glas entgegen.

2 | Emilia

Mit einem warmen Gefühl der Erleichterung hängte Emilia den Hörer ein. Am Ende hatte die junge Frau doch nur einen Tag gebraucht, um sich zu entscheiden.

Jetzt musste Karl sie mit seiner fixen Idee vom Altersheim endlich in Ruhe lassen, denn sein wichtigstes Argument – dass sie alleine nicht zurechtkäme – hatte sich in Luft aufgelöst: Sie war nicht länger allein im Haus.

Leider besaß ihr Sohn auch zum Thema Vermietung eine unselige, festgefahrene Meinung. Als wäre Fräulein Kleefeld einer dieser Menschen, die sich das Vertrauen älterer Leute erschlichen, um sie zu berauben oder umzubringen! Ein bisschen könnte Karl ihr schon vertrauen, und wenn es ihm noch so schwerfiel.

Die junge Frau würde ihr Leben bereichern. Und sie, Emilia, würde es genießen, dass jemand da war, der sie brauchte. Amüsiert von diesem Gedanken, lachte sie auf. Brauchte, wie albern! Wozu denn? Als Vermieterin wurde man doch nicht gebraucht. Man war nur vorhanden.

Und trotzdem.

In der Stube sank sie mit der Schwere ihrer fast achtzig Jahre in den Ohrensessel und rieb sich die Schläfen. Es gab ein paar Dinge, über die sie schleunigst nachdenken musste. Jetzt, wo es tatsächlich so weit war. Zum Beispiel über die Tatsache, dass es zwischen den Stockwerken keine Tür gab. Sollte sie sich nachts im Schlafzimmer einschließen? Ach was, das kam überhaupt nicht in Frage. Selten in ihrem Leben hatte sie vor etwas Angst gehabt, und jetzt war es zu spät, um noch damit anzufangen.

Obwohl der Sessel unendlich bequem war, fand Emilia nicht zur Ruhe. Sie war wie elektrisiert. Ihre Fingerspitzen kribbelten, doch sie wusste genau, dass es diesmal mit mangelnder Durchblutung nichts zu tun hatte. Es war die reine Vorfreude.

Die Einsamkeit hatte ein Ende, endlich! Jemand würde die Stille vertreiben und das alte Gebälk zum Ächzen bringen, genau wie früher …

Plötzlich sickerte ihr ein weiteres Detail ins Bewusstsein, das sie bisher nicht bedacht hatte: Ein Teil des Hauses würde einem fremden Menschen vorbehalten sein. Sie konnte kaum hineinspazieren und Fräulein Kleefeld erklären, dass sie sich nach dem Geruch des Zimmers gesehnt hatte, oder? Nein, unmöglich.

Mit Mühe stemmte sich Emilia aus dem niedrigen Sessel. Sie hielt einen Augenblick inne und wartete, bis der Schmerz in ihren Hüftgelenken abgeklungen war, dann nahm sie die Expedition über die Stiege ins obere Stockwerk in Angriff.

An der Tür zu ihrem alten Schlafzimmer blieb sie stehen. Sie tastete über den von unzähligen Berührungen glatt polierten Rahmen und dachte verwundert darüber nach, wie es sein konnte, dass auf der einen Seite Glätte und Glanz, auf der anderen Runzeln und Flecken ein Merkmal des Alters waren.

Sie schüttelte den Gedanken ab, drückte die Klinke und ließ die Tür nach innen aufschwingen. Die tief stehende Sonne blendete sie. Trotzdem sog sie es in sich auf, dieses besondere Licht, das es so nur in diesem einen Raum des Hauses gab. In die Sonnenwärme mischte sich der vertraute Geruch von altem Holz und dem Stroh unter den Dielen, und sie fühlte sich fast wieder wie damals, als sie mit ihrer kleinen Schwester Agnes im Schlepp am Sonntagmorgen ins Bett ihrer Eltern geklettert war.

Nun würde jemand Fremdes hier einziehen. Was hätten ihre Eltern, Gustav und Klara Brändle, wohl dazu gesagt?

Emilia trat an ein Fenster, lehnte sich gegen das Sims und schloss die Augen. Die Wärme und das leise Gackern der Hühner unten im Garten umgaben sie wie ein Kokon.

Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da teilte man, was man hatte. Wohnraum, Lebensmittel, Arbeitskraft. Niemals wäre ein solches Haus nur von einer Person bewohnt worden. Damals, als es noch vor Leben brummte, lebten zeitweise vier Generationen gleichzeitig unter seinem Dach. Dazu das Vieh in den Ställen, Vaters Pferde, die Hunde und all die Katzen … Emilia lächelte in sich hinein und genoss die Sonne auf ihren Lidern. Fast meinte sie, Mutter und Vater wieder leise flüstern und lachen zu hören.

Ihr Vater. Dieser Bär von einem Mann, dessen Gelächter das Geschirr in der Anrichte zum Klirren bringen konnte. Der immer offene Arme und offene Ohren für seine Töchter gehabt hatte, und der im Winter, wenn die Kälte durch die Ritzen gekrochen kam, immer selbst als Letzter in den längst von Eiszapfen umkränzten Waschzuber gestiegen war.

Agnes war genau wie er gewesen, hochgewachsen, mit roten Backen und großen, zupackenden Händen und einem Herzen von der Größe eines Heuschobers. Ach, Agnes … Eine einzelne Träne rann über Emilias Wange und fing sich in den Fältchen um ihren Mund, der immer noch lächelte. Was hatte sich der Allmächtige nur dabei gedacht, Agnes als Erste zu sich zu holen? Ihre Schwester mit dem krausen, dunklen Brändle-Schopf, die nie lange überlegte, sondern tat, was eben getan werden musste.