Sommergefühle - Fünf Reisen ins Paradies - Annette Broadrick - E-Book
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Sommergefühle - Fünf Reisen ins Paradies E-Book

Annette Broadrick

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Beschreibung

DAS FEUER ANDALUSIENS

Eine Ehe auf dem Papier! Der Konzernbesitzer Javier Masters hat die bezaubernde Erbin Zoe Rothwell nur geheiratet, um sie vor zudringlichen Männern, die auf ihr Vermögen aus sind, zu schützen. Dass die junge Frau ihn schon lange liebt, scheint Javier nicht ...

KOMM ZURÜCK NACH ITALIEN

Unbeschreiblich glücklich ist der kleine Santo, als er die luxuriöse Villa über der Bucht von Neapel betritt. Endlich ist er wieder zu Hause bei seinem Vater Vito. Die zierliche Catherine, Santos Mutter, teilt seine Begeisterung nicht. Nur ihrem Sohn zuliebe ist sie hierher zurückgekehrt, denn nie verzeiht sie dem rassigen Vito, dass er sie mit der intriganten Marietta betrogen hat und sicher weiter betrügt. Doch der charmante Italiener kennt Catherines sinnliche Sehnsüchte und weiß, wie er sie erneut in einen Taumel der Lust versetzen kann. Ja, sie ist ihm immer noch verfallen. Aber nun zwingt sie ihn zur Entscheidung: Will er sie oder Marietta? Wie wird Vito reagieren?

TAGE UND NÄCHTE IM PARADIES

Einen Moment lang glaubt Zach, eine Waldfee zu sehen: zierlich, in den langen dunklen Locken duftende Wiesenblumen und Efeu. Hinreißend - bis er erfährt, dass Catherine auf dem Grundstück lebt, das er kürzlich geerbt hat. Das riecht nach Ärger - und leidenschaftlichen Begegnungen ...

VERFÜHRUNG UNTER GOLDENER SONNE

Wie verzaubert fühlt sich Francesca von dem Fremden, als sich ihre Blicke zufällig treffen. Aber hat sich der charmante Milliardär Carlo Carlucci wirklich gleich in sie verliebt? Francesca spürt, es gibt einen anderen Grund für den Heiratsantrag, den er ihr spontan macht …

VIER NÄCHTE IM PARADIES

Von drei Macho-Brüdern eifersüchtig bewacht, ist Robin mit 21 Jahren noch eine süße Unschuld - aber zu allem bereit, als die Gelegenheit sich bietet! Denn mit einem Mann wie Steve allein auf einer einsamen Insel, ist sie wie Eva mit Adam im Paradies! Sinnliche Spiele in tropischer Sonne, ekstatische Nächte am Strand - Robin kennt an Steve jeden Millimeter seiner Haut, als das Beiboot des Kreuzfahrtschiffs, dessen Abfahrt sie vor fünf Tagen verpasste, auf San Saba Island anlandet und Robin zurück in die Realität bringt. Den Geschmack der Liebe noch auf den Lippen, ahnt Robin nicht, welch dramatische Folgen ihr Abenteuer hat ...

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Seitenzahl: 1012

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Diana Hamilton, Michelle Reid, Sara Wood, Annette Broadrick

Sommergefühle - Fünf Reisen ins Paradies

IMPRESSUM

Das Feuer Andalusiens erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Ralf MarkmeierRedaktionsleitung:Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)Produktion:Jennifer GalkaGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© 2004 by Diana Hamilton Originaltitel: „A Spanish Marriage“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIABand 1645 - 2005 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Übersetzung: Sabine Reinemuth

Umschlagsmotive: GettyImages_javi_indy, JLHidalgo

Veröffentlicht im ePub Format in 10/2018 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733759544

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

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PROLOG

„Warum willst du denn morgen schon wieder abreisen, Javier? Wir sehen uns so selten! Dein Vater und ich sind nur noch eine Woche hier, dann brechen wir nach Almeria auf, um den Winter wie gewöhnlich an der Küste zu verbringen. Bleib doch bitte auch so lange. Was machen die paar Tage schon für einen Unterschied?“

„Es tut mir leid, Mama, aber es geht wirklich nicht.“ In Javier Masters rauchgrauen Augen lag ein Ausdruck des Bedauerns.

Isabella Maria seufzte ungeduldig. Mit ihrem noch immer tiefschwarzen Haar und den ebenmäßigen, stolzen Gesichtszügen konnte man sie trotz ihrer gut fünfzig Jahre als Schönheit bezeichnen. Kein Wunder, dass Lionel Masters sich vor dreißig Jahren Hals über Kopf in die glutäugige Spanierin verliebt hatte, obwohl er gut zwanzig Jahre älter war als sie! Stets betonte er, dass er zu jenem Zeitpunkt schon längst alle Hoffnung aufgegeben hatte, jemals die Frau finden, mit der er den Rest seines Lebens verbringen wollte.

„Und warum geht es nicht? Ich weiß doch, wie sehr du an diesem Haus hängst!“ Gerade und ohne die Lehne zu berühren, saß Isabella Maria in dem Brokatsessel.

Knisternd fiel in dem großen Kamin ein Scheit zur Seite, und Funken sprühten. Javier stand auf, griff zum Feuerhaken und schob es wieder in die Glut. Nun, da die kalten Winde von den schneebedeckten Hügeln der Sierra Nevada den nahen Winter ankündigten, konnte man die wohlige Wärme eines offenen Feuers durchaus vertragen.

„Lass doch den Jungen zufrieden, Izzy.“ Um nicht vorwurfsvoll zu klingen, nannte Lionel seine Frau bei ihrem Kosenamen und tätschelte ihr besänftigend die Hand.

Javier lächelte versonnen. Ja, seine Mutter hatte recht, er liebte dieses Anwesen, seit er es mit sieben Jahren das erste Mal gesehen hatte. Seine Eltern hatten es ursprünglich als Feriendomizil erworben, denn es lag in dem abgelegenen andalusischen Dorf Isleta del Moro und war eine kleine Welt für sich. Als ehemalige Karawanserei war es von einer dicken Schutzmauer umgeben und nur durch ein mit Eisen bewehrtes Tor zu erreichen. Das flache Gebäude im maurischen Stil hatte einen Innenhof, in dem es im Sommer betäubend nach Rosen, Lilien und Myrte duftete.

Als er volljährig wurde, hatte er es zu seinem Hauptwohnsitz gemacht. Nachdem Lionel sich zur Ruhe gesetzt hatte, waren auch Isabella Maria und er von England nach Spanien übergesiedelt, weil das Klima ihnen besser bekam. Hatten sie bis dahin den alten Familiensitz Wakeham Lodge in Gloucestershire bewohnt, verbrachten sie jetzt den Sommer in Isleta del Moro und den Winter in ihrer Villa in Almeria.

„Ich würde nur zu gern bleiben“, versicherte Javier seiner Mutter und setzte sich im Schneidersitz auf den Teppich vor dem Kamin. „Aber ich habe ein Problem.“

„In der Firma?“, erkundigte Lionel sich scharf. Obwohl er ihm die Leitung des Baukonzerns schon vor drei Jahren übertragen hatte, interessierte er sich immer noch für das Unternehmen, das er mit seinem einstigen Partner Martin Rothwell gegründet hatte. War Lionel schon ein erfolgreicher Geschäftsmann gewesen, hatte Javier der Firma zum Durchbruch auf dem Weltmarkt verholfen.

„Leider nicht.“ Javier lächelte ironisch. „Ein solches Problem hätte ich längst gelöst. Es geht um Zoe Rothwell.“

„Ach so!“, sagten Lionel und Isabella Maria gleichzeitig und nickten verständnisvoll.

Verstohlen blickte Javier zur Uhr. Es blieb ihm noch eine knappe Viertelstunde, bis Solita, die Haushälterin, die Familie an den Tisch bitten würde. Am besten brachte er die Sache möglichst schnell hinter sich.

„Als ich gestern von meiner Besprechung in Madrid hierher zurückfuhr, rief mich Alice Rothwell auf dem Handy an. Sie war völlig aufgelöst und wusste sich keinen Rat mehr. Um es kurz zu machen: Sie bat mich darum, die Vormundschaft für Zoe zu übernehmen, weil sie sich damit überfordert fühlt und am Ende ihrer Kräfte ist.“

„Und wie stellt sie sich das vor?“ Isabella Maria zog die sorgfältig gezupften Brauen hoch. „Ich habe Alice schon immer für eine seltsame Frau gehalten! Gefühle sind ein Fremdwort für sie, und ihre Moralvorstellungen stammen aus dem letzten Jahrhundert. Jetzt scheint sie allerdings den Verstand verloren zu haben! Wie sollst ausgerechnet du ihrer Enkelin ein Zuhause bieten? Du bist doch gar nicht verheiratet!“

Ihr Tonfall ließ keinerlei Zweifel aufkommen, wie sehr sie diese Tatsache missbilligte, und Lionel und er zwinkerten sich heimlich zu. Er, Javier, war inzwischen achtundzwanzig, und seit drei Jahren lag ihm seine Mutter ständig in den Ohren, dass er endlich heiraten sollte. Sie sehnte sich nach Enkeln, und da er zu ihrem großen Bedauern Einzelkind geblieben war, machte sie sich Sorgen um den Fortbestand der Familie.

Doch er hatte nicht die Absicht, sich zu binden, und genoss seine Unabhängigkeit. Seine äußerst knapp bemessene Freizeit verbrachte er mit schönen und kultivierten Frauen, die seine Ansicht teilten. Je weniger von Liebe und Treue die Rede war, desto befriedigender und unkomplizierter war eine Beziehung.

„Zoe ist kein kleines Mädchen mehr, das eine Mutter braucht“, widersprach er Isabella Maria, ohne auf ihren Seitenhieb wegen seines Junggesellendaseins einzugehen. „Sie ist sechzehn und, wenn man ihrer Großmutter glauben darf, ein mehr als selbstbewusster und kaum zu bändigender Teenager. Sie weigert sich, ins Internat zurückzukehren, macht die Nacht zum Tag und hört Musik in einer Lautstärke, dass die Wände wackeln. Alice ist mit den Nerven völlig am Ende und möchte die Verantwortung loswerden.“

„Und warum will sie sie ausgerechnet dir übertragen?“, erkundigte sich Lionel. „Einerseits verstehe ich Alice, denn wenn sich jemand durchsetzen kann, dann du.“ Unverhohlener Stolz sprach aus seiner Stimme. „Andererseits sind wir mit den Rothwells nicht verwandt, und ihr Ansinnen ist eine Zumutung für dich.“

Javier presste die Lippen zusammen. „Ich fühle mich moralisch verpflichtet. Du weißt genau, dass Zoes Eltern beim Brand ihres Hauses ums Leben gekommen sind, und zwar keine sechs Wochen nachdem Martin dir seine Anteile an der Firma verkauft hatte. Es muss schrecklich für ein achtjähriges Mädchen gewesen sein, von einem Wochenende bei seiner Schulfreundin zurückzukehren und nur noch die Grundmauern seines Zuhauses vorzufinden, in dem seine Eltern verbrannt sind.“

Er sah seinen Vater an. „Alice Rothwell ist eine schwierige Frau, das Leben hat sie hart gemacht. Erst stirbt ihr Mann, ein Jahr später kommen Sohn und Schwiegertochter auf grausame Art ums Leben, und sie muss sich um eine Enkeltochter kümmern, mit der sie nicht fertig wird. Alice ist von Natur aus keine warmherzige Frau und war mit der Aufgabe überfordert, ein verschrecktes Waisenkind zu trösten und ihm eine Ersatzmutter zu sein. Das wussten wir alle, und deshalb habe ich den Kontakt zu Zoe all die Jahre nicht abbrechen lassen. Aus diesem Grund ist Alice wohl auf mich gekommen.“

Isabella Maria entging der versteckte Vorwurf ihres Sohnes, dass sie sich nicht um die verwaiste Tochter eines ehemaligen Freundes gekümmert hatte. Ihre Gedanken gingen in eine völlig andere Richtung.

„Als Mädchen war Zoe Rothwell sehr niedlich! Könnt ihr euch noch an das Weihnachtsfest erinnern, das sie mit ihren Eltern bei uns in Wakeham Lodge verbracht hat? Du hast mit Martin die letzten Einzelheiten des Ablösungsvertrags besprochen, weißt du noch, Lionel? Einige Wochen später waren Martin und Grace schon tot. So aufsässig Zoe auch sein mag, sie muss ein beträchtliches Vermögen besitzen, stimmt’s, Javier?“

Irritiert sah er sie an. „Mit einundzwanzig wird Zoe über sehr viel Geld verfügen. Bis dahin wird es allerdings von Treuhändern verwaltet, und sie bekommt lediglich ein Taschengeld. Aber darum geht es gar nicht.“

Isabella Maria ließ sich nicht beirren. „Ist sie immer noch so hübsch? Sie hatte so wundervolles goldblondes Haar und so sanfte braune Augen.“

Nur mit Mühe konnte Javier sein Temperament zügeln. Was hatte Zoes Aussehen mit dem Problem zu tun, vor das er sich gestellt sah? Statt ihm Tipps zu geben, wie man einen aufsässigen Teenager behandelte, schweifte seine Mutter vom Thema ab!

„Ich kann dir nicht sagen, ob Zoe hübsch ist oder nicht“, antwortete er ungehalten. „Die paar Male im Jahr, die ich Alice und sie besuche, geht es um wichtigere Dinge: Erzieherinnen, die sich die Türklinke in die Hand geben, Wutausbrüche und Trotzreaktionen, die bei Zoe anscheinend auf der Tagesordnung stehen.“

Zu Studentenzeiten waren ihm diese Besuche eine willkommene Abwechslung gewesen. Er hatte seinen Spaß daran gehabt, Zoe zu verwöhnen und ihr jene Art kindlicher Vergnügen zu erlauben, die Alice nie gestattet hätte. Sie vertrat nämlich den Standpunkt, dass man Kinder nur sehen, nicht aber hören durfte.

Als Zoe dann alt genug war, um auf ein Internat zu gehen, waren seine Besuche weniger amüsant gewesen, denn von da an hatte er sie nur schweigsam und mit missmutig verzogenem Mund erlebt.

Es lag schon fast ein Jahr zurück, dass er Zoe das letzte Mal gesehen hatte, weil er in den letzten Monaten nicht mehr in England gewesen war und ständig im Ausland zu tun gehabt hatte. Diesen Besuch würde er nie vergessen. Sie hatte ihn zwei Stunden lang angeblickt, ohne auch nur mit einer einzigen Silbe auf seine Fragen zu antworten, und es war ihm ausgesprochen unangenehm gewesen.

„Heirate Zoe doch einfach. Sie ist so reich, dass sie auf dein Geld nicht angewiesen ist. Und das ist ein großer Vorteil, denn so wird ihre größte Sorge dir und nicht deinem Bankkonto gelten.“ Isabella Maria lächelte zufrieden.

„Warte noch zwei Jahre, bis sie achtzehn ist“, redete sie weiter. „Wenn sie gesund ist und ein gebärfreudiges Becken hat, ist sie die ideale Frau für dich, glaub mir. Du bist nicht nur ein willensstarker, sondern auch ein sehr attraktiver Mann und wirst ihr ihre Launen und Wutanfälle schon austreiben, da bin ich mir ganz sicher.“

„Oh Mama, träum weiter!“ Javier lachte und schüttelte den Kopf. Sosehr er sich auch über sie ärgerte, weil sie ständig Heiratspläne für ihn schmiedete, er konnte ihr einfach nicht böse sein.

Daran, ob Zoes Becken gebärfreudig war oder ob sie knabenhaft schlanke Hüften besaß, konnte er sich beim besten Willen nicht erinnern.

Ihr Herz klopfte unregelmäßig, und Zoe war richtiggehend übel vor Aufregung. Javier würde kommen – und das allein ihretwegen! Ihr schwirrte der Kopf, und ihre Hände zitterten.

Angespannt saß sie in dem Sessel am Fenster ihres Zimmers und blickte in den novemberlich tristen Garten. Von hier aus würde sie sein Auto schon sehen können, bevor Javier auf das Grundstück fuhr. Die Augen brannten ihr schon, so konzentriert blickte sie auf die Lücke in der Hecke, durch die sie ein kleines Stück der Landstraße überblicken konnte.

Sie war jetzt sechzehneinhalb, und zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, so etwas wie einen Schutzengel zu haben. Wem sonst hätte sie die plötzliche Eingebung verdanken sollen, aus dem Internat zu fliehen, per Anhalter nach Hause zu fahren und zu verkünden, sie würde nie wieder in die Schule zurückkehren?

Mit elf war sie in das Internat gekommen und hatte es von Anfang an gehasst. Mit den gut sechzig anderen Mädchen hatte sie nichts gemeinsam, denn im Gegensatz zu ihnen ließ sie sich durch Strafen weder einschüchtern noch den Mund verbieten. Dazu hatte sie schon zu viel erlebt. Was konnte einen auch noch erschrecken, wenn man in einer Nacht beide Eltern und sein Zuhause verloren hatte?

Als einzige Erinnerung an ihre glückliche Vergangenheit war ihr Misty, ihr geliebtes Pony, geblieben, da der Brand das Stallgebäude verschont hatte. Doch ihre Großmutter hatte ihr verboten, es zu behalten, und Misty war verkauft worden.

Deshalb hatte sie ihre Großmutter auch vom ersten Tag an nicht gemocht. Außerdem hatte sie Angst vor dieser Frau, die sie zuvor nur einige Male in ihrem Leben gesehen hatte, denn Alice stieß sie stets zurück, wenn sie versuchte, auf ihren Schoß zu klettern, um sich an sie zu schmiegen. Von ihren Eltern hatte Zoe stets nur Liebe erfahren, und der Schmerz über die Zurückweisung durch ihre Großmutter schlug bald in Trotz um. Sie hatte es sich zur Regel gemacht, nie das zu tun, was man von ihr verlangte.

Vor einer Woche war sie dann eines Morgens mit dem Gedanken aufgewacht, das Internat sofort zu verlassen. Weder hatte sie einen bestimmten Plan gehabt, noch hatte sie sich vorstellen können, wie ihre Großmutter auf die Flucht reagieren würde. Das wusste sie erst seit einigen Stunden, denn am vergangenen Abend hatte Alice sie zu sich gerufen.

„Javier Masters hat sich bereit erklärt, für die Zeit bis zu deiner Volljährigkeit dein Vormund zu werden“, hatte sie ihr eröffnet, und ihre blutleeren Lippen hatten noch verkniffener als gewöhnlich. „Bisher habe ich meine Pflicht getan, ohne zu murren, aber jetzt bin ich am Ende meiner Kräfte. Mir bleibt nur die Hoffnung, dass es Javier gelingen wird, dir wenigstens etwas Verstand und gutes Benehmen einzubläuen. Er holt dich morgen Nachmittag ab, bis dahin musst du deine Sachen gepackt haben.“

Seit dieser Unterredung schwebte Zoe im siebten Himmel. Von jeher hatte sie für Javier geschwärmt, und sie konnte ihr Glück kaum fassen.

Als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, hatte sie seinen Besuchen regelrecht entgegengefiebert, denn er bot ihr all das, was für andere Kinder selbstverständlich war, ihre Großmutter ihr jedoch strikt untersagte: Besuche im Zoo, im Kino, in der Eisdiele und in der Pizzeria. Einmal nahm er sie sogar für einen Tag mit ans Meer und baute mit ihr die tollste Sandburg, die man sich nur vorstellen konnte. Am dankbarsten war sie ihm jedoch für die ungeteilte Aufmerksamkeit, die er ihr schenkte, wenn sie zusammen waren.

All das fand ein Ende, als sie aufs Internat kam. Javier besuchte sie zwar weiterhin zweimal im Jahr, aber Alice erlaubte wegen der schlechten Zeugnisse keinen einzigen Ausflug.

Und die Stunden mit Javier, die bisher die einzige Freude in ihrem Leben gewesen waren, wurden so zur Qual. Alice trank mit ihnen Tee, der von Miss Pilkington, ihrer griesgrämigen Haushälterin und Gesellschafterin, serviert wurde. Ständig musste sich Zoe die Ermahnungen ihrer Großmutter anhören: „Setz dich gerade hin! Spiel nicht mit deinem Essen! Antworte, wenn du gefragt wirst!“

Vorsichtig und verständnisvoll erkundigte sich Javier nach dem Leben im Internat, nach ihren Hobbys und ihren Freundinnen. Doch darüber wollte sie nicht reden, denn dann hätte sie zugeben müssen, wie einsam und traurig sie war. Er hätte sie für wehleidig gehalten, was nicht stimmte. Sie war stolz, dass sie ihr Schicksal ertrug, ohne zu jammern!

Trotz ihrer Aufsässigkeit verlor Javier nie die Geduld, lächelte ihr aufmunternd zu und nahm sie zum Abschied in den Arm. Das waren die Momente, in denen sie sich mit aller Macht beherrschen musste, um nicht in Tränen auszubrechen. Er schien der einzige Mensch auf der Welt zu sein, der sie mochte, und sie hatte ihn so selten gesehen.

Dann, vor ungefähr einem Jahr, war etwas Seltsames geschehen. Sie hatte sich unsterblich in ihn verliebt, und das nicht nur wegen seines dichten schwarzen Haars, der grauen Augen mit den langen Wimpern, der hohen Wangenknochen, des energischen Kinns und der sinnlichen Lippen. Sein Aussehen spielte eine untergeordnete Rolle, viel wichtiger waren sein Wesen, seine Herzenswärme und sein unerschütterliches Selbstvertrauen. Javier war ein Mann, der sich mit Leib und Seele sowohl für seine Ideale einsetzte als auch für die Menschen, die ihm etwas bedeuteten.

Das Wunder der ersten Liebe machte sie gegen die ständigen Nörgeleien ihrer Großmutter immun, und bereitwillig kehrte sie nach den Ferien ins Internat zurück. Sie übertraf sich sogar selbst, indem sie eifrig lernte und versuchte, nicht unangenehm aufzufallen. Wenn sie ein gutes Zeugnis nach Hause brachte, würde Alice keinen Grund haben, ihr die Ausflüge mit Javier zu verbieten.

Sie schwebte wie auf Wolken und zählte die Tage, bis sie ihn wieder sehen würde. Vielleicht schon in den Osterferien, bestimmt aber im Sommer. Sie wusste genau, dass er ihre Gefühle niemals erwidern würde – das zu hoffen wäre vermessen. Trotz dieser Einsicht erging sie sich jedoch in Tagträumen, baute die herrlichsten Luftschlösser und fieberte seinem nächsten Besuch entgegen.

Dieser Besuch hatte allerdings nie stattgefunden – über ein Jahr hatte sie umsonst gewartet und dennoch Entschuldigungen für ihn gefunden. Javier hatte wahrscheinlich Besseres zu tun gehabt. Warum hätte er ihr auch seine Zeit opfern sollen? Sie war kein kleines Kind mehr, um das man sich zu kümmern hatte, sie war fast erwachsen und musste lernen, auf eigenen Füßen zu stehen.

Bis zum Vortag war sie überzeugt gewesen, dass ihn das letzte Mal gesehen hatte, und hatte sich eingeredet, dass es ihr egal war. Wenn niemand sie mochte, brauchte sie wenigstens auf niemanden Rücksicht zu nehmen und konnte tun und lassen, was sie wollte.

Doch die Eröffnung ihrer Großmutter hatte ihre Gleichgültigkeit als das enttarnt, was sie war: als Schutzwall, den sie errichtet hatte, um nicht noch tiefer verletzt zu werden.

Wann würde Javier endlich kommen?

Ungeduldig stand Zoe auf. Den knappen Bemerkungen ihrer Großmutter hatte sie entnommen, dass er am Vortag aus Spanien eingetroffen war und die Nacht in seinem Apartment in London verbracht hatte. Weshalb war er unpünktlich, wenn er nur einen so kurzen Weg hatte? Sie konnte es kaum erwarten, ihm endlich wieder zu begegnen, und bei der Vorstellung, ihn die nächsten zwei Jahre ständig zu sehen, bekam sie weiche Knie.

Ihr Herz klopfte wie verrückt, und sie lehnte die Stirn gegen die Fensterscheibe, um ihr erhitztes Gesicht zu kühlen. In diesem Moment öffnete sich die Tür, und ihre Großmutter betrat das Zimmer. Sie war klein und hager, wie üblich ganz in Schwarz gekleidet, und der harte Zug um ihren Mund verriet, dass sie sich vom Leben bitter enttäuscht fühlte.

„Wenn du es schon ablehnst, dich wie ein vernünftiger Mensch zu kleiden, dann zieh wenigstens deinen Wintermantel über, und setz dir eine Mütze auf“, bemerkte sie säuerlich. „Andernfalls wird Javier Masters auf der Stelle kehrtmachen und nie wieder einen Fuß über diese Schwelle setzen.“

Empört über diese Kritik, verließ Zoe das Zimmer, ohne ihre Großmutter auch nur eines Blickes zu würdigen. Laut knallte sie die Zimmertür hinter sich zu, durchquerte die Halle und ging nach draußen.

Als sie aus dem Internat geflüchtet war, hatte sie sich geschworen, nie wieder eine Schuluniform zu tragen und nie wieder die konservativen Röcke und biederen Twinsets in gedeckten Farben, die ihre Großmutter für sie aussuchte.

Das Taschengeld, das die Treuhänder ihr bewilligten, war ziemlich großzügig bemessen, und sie hatte bisher kaum Gelegenheit gehabt, etwas davon auszugeben. So war eine beträchtliche Summe zusammengekommen. Die hatte sie sich vergangene Woche eingesteckt und war mit dem Bus in die Stadt gefahren. Sie ging zum Friseur und kaufte sich eine rote Schaumtönung und ein ganzes Sortiment Make-up. Anschließend erstand sie in einem von Jugendlichen bevorzugten Geschäft eine komplette neue Garderobe, alles modische, preiswerte und vor allem bunte Sachen.

Als sie die Sachen in der Umkleidekabine anprobierte, fühlte sie sich zum ersten Mal dazugehörig. Sie war ein junges, hübsches Mädchen und drückte ihre Lebensfreude wie ihre Altersgenossinnen durch farbenfrohe Kleidung aus. Es war ein erhebender Moment gewesen.

Zufrieden mit sich und der Welt, setzte Zoe sich trotz der Kälte auf die Stufen vor dem Portal, um auf Javier zu warten. Ihre Großmutter konnte ihr egal sein, sie gehörte der Vergangenheit an.

Javier blickte auf die Uhr. Es war später als geplant. Die Vorbereitungen, die er für Zoes unmittelbare Zukunft hatte treffen müssen, waren doch zeitraubender gewesen, als er gedacht hatte.

Alice’ gepflegte viktorianische Villa, vor der die Zeit Halt gemacht zu haben schien, lag etwas von der Straße zurück. Als er in die Auffahrt einbog, trat er unwillkürlich auf die Bremse, denn eine schrill gekleidete Gestalt erhob sich von der obersten Treppenstufe.

Zoe?

Ungläubig betrachtete er sie. Krasser hätte eine Verwandlung kaum sein können. Keine schweren Tweedröcke und braven Strickjacken mehr, sondern schwarze Stiefel mit hohen Plateausohlen, ein Minirock mit einem wilden Muster und asymmetrischem Saum, ein knappes orangefarbenes Top – aber was hatte sie nur mit ihrer Frisur gemacht? Ihr Haar war tizianrot, sah aus, als wäre es mit der Gartenschere geschnitten worden, und stand durch den großzügigen Gebrauch von Gel ab.

Vorsichtig parkte Javier den Jaguar, öffnete den Gurt und zog den Zündschlüssel ab. Zoes Äußeres hatte Alice bestimmt zur Verzweiflung gebracht, was er durchaus nachvollziehen konnte. Lag hier der Grund, weshalb sie ihn um Hilfe gebeten hatte?

Zoe sprang von einem Fuß auf den anderen und hatte die Arme um ihre unbedeckte Taille gelegt. Sie schien völlig durchgefroren zu sein – kein Wunder bei diesen Temperaturen!

Javier stieg aus und zog den Reißverschluss seiner dunkelbraunen Lammfelljacke hoch. Er hatte versprochen, sich die nächsten zwei Jahre um Zoe zu kümmern, und genau das würde er auch tun, denn er hatte noch nie sein Wort gebrochen.

Langsam ging er ihr auf dem geharkten Kiesweg entgegen, auf dem überhaupt kein Unkraut zu sehen war. Aus ihren wunderschönen, jedoch viel zu stark geschminkten Augen sah sie ihn erwartungsvoll an. Sie ist nur ein verstörtes Kind, das noch lernen muss, sich in der Welt der Erwachsenen zurechtzufinden, dachte er und lächelte mitfühlend.

Wie jeder andere Teenager musste auch sie erst ihre Grenzen austesten und ihren Platz im Leben finden. Er konnte froh sein, dass sie nur mit ihrem Aussehen experimentierte und nicht mit Alkohol oder Drogen. Wie er Alice kannte, hatte diese bereits einen vernichtenden Kommentar zu Zoes Aufmachung abgegeben, deshalb versagte er sich jede kritische Bemerkung. Er würde das Thema Garderobe erst später und in aller Ruhe anschneiden.

Seine guten Vorsätze gerieten allerdings ins Wanken, als er nahe genug gekommen war, um Einzelheiten zu erkennen. Auf ihrer linken Wange entdeckte er ein buntes Tattoo! Er runzelte die Stirn und zog mit dem Finger die Konturen des kleinen Schmetterlings nach.

„Musstest du dich unbedingt derart entstellen?“, fragte er schroff.

Ihm fiel zum ersten Mal auf, was für ein ebenmäßiges, schönes Gesicht sie hatte, obwohl es momentan mit einer dicken Schicht dilettantisch aufgetragener Schminke bedeckt war. Der strahlende Blick ihrer ungewöhnlichen rehbraunen Augen brachte ihn aus dem Gleichgewicht, und Javier musste einen Schritt zurücktreten, weil er plötzlich das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen.

„Das ist doch nur ein Aufkleber! Hast du denn gar keine Ahnung?“ Ihr Lachen klang leicht atemlos, denn Zoe spürte seine Berührung nicht nur auf der Wange, sondern am ganzen Körper.

Javier war der Mann ihrer Träume, und das Leben mit ihm würde einfach wunderbar werden! Gegen ihren neuen Stil schien er auch keine Einwände zu haben, und von nun an würde sie immer das tragen können, was ihr gefiel, ohne sich auf lästige Diskussionen einlassen zu müssen.

Er war einfach großartig, das hatte sie schon als kleines Mädchen gewusst! Und nun, da er gekommen war, um sie zu befreien, liebte sie ihn mehr denn je.

Alice’ Abschied von ihr dauerte nur wenige Minuten, und kurz darauf befanden sich Javier und Zoe bereits auf dem Weg nach Wakeham Lodge. Javier hielt das Lenkrad unnötig fest umklammert und blickte grimmig auf die Landstraße. Wie Alice ihre Enkelin behandelt hatte, war einfach empörend. Sie hätte nicht deutlicher zeigen können, wie froh sie war, dass sie Zoe endlich loswurde.

Er öffnete die Fenster, so unerträglich war der Duft von Zoes billigem Parfüm. Als er jedoch sah, wie sehr sie fror, ließ er die Scheiben wieder hoch. Den alten grauen Wintermantel, den ihr Miss Pilkington gereicht hatte, hatte sie demonstrativ auf den Boden geworfen. Mit erhobenem Kopf und so schnell es ihre lächerlich hohen Absätze erlaubten, war sie aus dem Haus gegangen, ohne auch nur einen Gedanken an die eisigen Temperaturen zu verschwenden.

Der überschwängliche Dank, mit dem Zoe ihn die letzte halbe Stunde regelrecht überschüttet hatte, war ihm ausgesprochen unangenehm. Sie schien ernsthaft davon überzeugt, dass sie von nun an tun und lassen konnte, was sie wollte, und niemand ihr mehr Vorschriften machen würde. Sie anzublicken, verbot er sich. Das Oberteil, das sie trug, bestand aus fast transparentem Material, und auf Unterwäsche hatte sie verzichtet, wie man unschwer feststellen konnte.

Javier schwankte zwischen Mitleid und Wut. Er verstand ihre Rebellion gegen die triste Schuluniform und die hausbackene Garderobe, auf der Alice bestanden hatte. Doch Zoe war zu weit gegangen. Sie mochte sich einbilden, schick und attraktiv auszusehen, doch sie wirkte einfach nur ordinär. Ob es ihm gefiel oder nicht, er würde einige Dinge offen ansprechen müssen, wenn er sich von ihr nicht auf der Nase herumtanzen lassen wollte.

„Wir müssen uns über deine Zukunft unterhalten, Zoe“, begann er vorsichtig. „Es gibt bestimmte Spielregeln, die auch für dich gelten. Natürlich habe ich den Treuhändern mitgeteilt, dass ich für die letzten beiden Jahre bis zu deiner Mündigkeit das Sorgerecht übernehme. Dabei habe ich erfahren, dass du in letzter Zeit wiederholt um größere Beträge gebeten hast. Das hat ab sofort ein Ende. Wenn du meinst, dein Taschengeld wäre zu knapp bemessen, wende dich von nun an bitte an mich. Sind deine Ansprüche berechtigt, werde ich mich an die Treuhänder wenden. Ist das klar?“

Zoe errötete und blickte ihn empört von der Seite an. „Ich wollte keinen Penny davon für mich! Ich wollte das Geld vernünftig anlegen, aber sie haben mich behandelt wie ein dummes Kind!“

Javier lockerte ein wenig seinen Griff ums Lenkrad. Zoe klang wie eine beleidigte Zehnjährige. „Wenn es sich um wirklich vernünftige Investitionen handelt, bin ich der Letzte, der dich nicht unterstützen würde. Du brauchst daher keine Hemmungen zu haben, dich an mich zu wenden.“ Er lächelte gewinnend.

Misstrauisch sah sie Javier an. Wollte auch er sie bevormunden? Würde auch er ihre Vorstellungen als unrealistisch abtun? Wahrscheinlich. Doch er war der einzige Mensch auf der Welt, dessen Kritik sie akzeptieren konnte.

„Ich habe einen Haufen Geld, der nur herumliegt“, erklärte sie. „Und es gibt eine Menge Menschen, die noch nicht einmal eine Wohnung besitzen und auf der Parkbank schlafen müssen. Ich bin nicht besser oder schlechter als sie, aber im Gegensatz zu ihnen habe ich ein Bett und ein dickes Bankkonto. Warum soll ich ihnen nicht helfen? Ich wollte nichts für mich, ich wollte etwas Gutes tun!“ Trotzig hob sie das Kinn, denn wahrscheinlich würde er sie jetzt als unreif hinstellen und ihr eine Moralpredigt halten.

Javier verstand sie allerdings und machte ihr keine Vorwürfe. „Es gibt noch einen Unterschied zwischen dir und den Obdachlosen, Zoe. Du hast Menschen, denen dein Wohl am Herzen liegt. Deine Großmutter zum Beispiel. Sie mag ihre Liebe zu dir nicht zeigen können, aber wenn du ihr gleichgültig wärst, hätte sie dich in ein Waisenhaus gegeben, anstatt dich großzuziehen. Sie hat ihr Möglichstes getan, um dich zu ihrem Idealbild einer jungen Frau zu machen. Das Tragische ist nur, dass ihre Vorstellungen hoffnungslos überholt sind.“

Er überhörte ihr verächtliches Schniefen und wechselte die Spur. „Und schließlich bin ich auch noch da“, redete er weiter. „Wenn dein Schicksal mir nicht am Herzen liegen würde, wenn ich dich nicht mögen würde, hätte ich einfach aufgelegt, als Alice bei mir anrief und mich um Hilfe bat. Aber zurück zu unserem eigentlichen Thema. Es gibt bessere Mittel und Wege, Obdachlosen eine Chance zu geben, als unüberlegt Geld zu verteilen. Wenn du dein Erbe antrittst und immer noch den Wunsch hast, ihnen zu helfen, werden wir ein vernünftiges Konzept entwickeln. Abgemacht?“

Zoe nickte nur, zu sprechen traute sie sich nicht. Ihr brannten die Augen, und die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Javier hatte gesagt, dass er sie mochte!

Ihr nahezu unbeschreibliches Glücksgefühl verflog allerdings sofort wieder, denn seine nächsten Worte trafen sie wie eine kalte Dusche. „Und da mir deine Zukunft wichtig ist, bestehe ich darauf, dass du das Abitur machst.“

„Ich bin ausgerissen, ich darf gar nicht wieder auf das Internat zurückkehren“, stellte sie voller Genugtuung fest.

„Das brauchst du auch nicht. Ich habe dich auf dem Gymnasium in Gloucester angemeldet. Mr. Ramsay wird dich jeden Tag fahren – du kannst dich doch noch an die Ramsays erinnern, oder? Die beiden werden für dich da sein, wenn ich nicht in Wakeham Lodge bin.“

Wie hätte sie Ethel Ramsay je vergessen können? Ganz eng war diese mit den Erinnerungen an das letzte glückliche Weihnachtsfest ihres Lebens verbunden, weil sie ihr erlaubt hatte, in der Küche beim Backen zu helfen. Sie dachte jedoch nicht oft an diese Tage zurück, es machte sie zu traurig.

„Und noch etwas.“ Javier bereitete sich innerlich darauf vor, dass Zoe seinen nächsten Hinweis wahrscheinlich als Kritik eines unverbesserlichen Spießers abtun würde. „Die Art, wie du dich kleidest, passt nicht zu dir, Zoe. Sie wird deiner natürlichen Schönheit nicht gerecht. Warum zeigst du nicht, was für wundervolles Haar du hast?“

Javier hielt sie für schön! Verzückt sah sie ihn an. „Und?“, fragte sie, gespannt, ob er ihr weitere Komplimente machen würde.

„Du wäschst die schreckliche Farbe aus deinem Haar und lässt es wieder wachsen. Und wir beide machen einen Einkaufsbummel und stellen dir eine Garderobe zusammen, in der dich jeder bewundern wird. Abgemacht?“

Insgeheim hatte sie zwar gehofft, dass er ihren neuen Stil bewundern würde, wusste aber, wie vermessen es war. Daher war sie nicht allzu enttäuscht. Es war immer noch besser, von Javier abhängig zu sein als von ihrer Großmutter. Und wer konnte sagen, was die Zukunft für sie bereithielt? Wenn sie bei ihm blieb, bis sie einundzwanzig war, würde es ihm Zeit geben, sie als Frau und nicht nur als lästiges Schulmädchen zu sehen.

Außerdem würde sie sowieso alles tun, was er von ihr verlangte – das brauchte er nur nicht zu wissen. Zoe legte den Kopf zurück und blickte ihn aus halb geschlossenen Augen an. „Ich muss also weiter zur Schule gehen, und statt meiner Großmutter bestimmst du jetzt, was ich anziehen soll. Wo liegt da für mich die Verbesserung?“

Javier musste lächeln. Die Kleine argumentierte durchaus geschickt. „Du ärgerst mich nicht, und dafür darfst du deine Ferien wie eine Erwachsene verbringen: Skiurlaub in der Schweiz, Baden am Mittelmeer, Paris … Was du möchtest! Abgemacht?“

Zoe hätte am liebsten gejubelt, so glücklich war sie. Und das alles mit ihm! Es war das Paradies auf Erden.

„Abgemacht“, erwiderte sie gespielt gleichgültig.

1. KAPITEL

Zweieinhalb Jahre später …

„Es ist mir so unangenehm, dass wir Sie belästigen mussten, Mr. Masters.“ Mit bedrückter Miene öffnete Ethel Ramsay ihrem Chef die Tür. Seinem Gesicht und seiner angespannten Haltung nach zu urteilen, war er nicht gerade bester Laune.

Er schien sogar ausgesprochen wütend zu sein, und das konnte sie ihm nicht verübeln. Was er leistete, um sein Unternehmen an der Weltspitze zu halten, war beinah unmenschlich, und er hatte bestimmt Wichtigeres zu tun, als sich um häusliche Angelegenheiten zu kümmern. Doch Zoes Verhalten in letzter Zeit hatte Joe und ihr schlaflose Nächte bereitet.

„Sie haben genau richtig gehandelt, Ethel.“ Javier rang sich ein Lächeln ab, um die tiefe Besorgnis, die aus ihrem Blick sprach, nicht noch zu vergrößern. „Wenn sich jemand entschuldigen muss, dann bin ich es. Ich hätte öfter selbst nach dem Rechten sehen sollen.“

Dass sich die Lage derart zugespitzt hatte, war allein sein Fehler, denn in den vergangen vierzehn Monaten hatte er jeden persönlichen Kontakt mit Zoe vermieden. Die Episode am Swimmingpool seiner Eltern in Almeria hatte ihn dazu veranlasst. Er hatte es für die beste Taktik gehalten. Das war eine Fehleinschätzung gewesen, die er sich nicht verzeihen konnte.

„Wo ist sie?“, fragte er ungeduldig, als ein helles Etwas, das einem Wischmopp auf vier zerbrechlichen Stelzen glich, an ihm vorbei ins Freie schoss, sich hechelnd vor die Treppe setzte, die Ohren spitzte und ihn erwartungsvoll ansah. „Was in aller Welt ist das denn für ein Geschöpf?“ Er war entsetzt.

„Das ist Boysie.“ Ethel war erleichtert. Anscheinend war ihr Boss doch nicht so schlecht gelaunt, wie sie befürchtet hatte, und darüber war sie froh. Javier Masters verlor zwar selten die Beherrschung, aber wenn, kannte er keine Gnade. Lächelnd betrachtete sie den zotteligen Welpen.

„Miss Zoes neuester Schützling. Sie hat ihn herrenlos im Dorf aufgegriffen, und aus Dankbarkeit dafür hängt er wie eine Klette an ihr. Leider haart er ganz schrecklich, aber den Kampf gegen die Flöhe haben wir gewonnen.“

Javier seufzte. Zu den drei Katzen aus dem Tierheim war also noch ein hässlicher Hund gekommen. Auch einen von der Mutter verstoßenen kleinen Fuchs hatte Zoe schon aufgenommen, doch der war glücklicherweise schon wieder gesund und kräftig in die Freiheit entlassen worden.

Nach all den lieblosen und einsamen Jahren bei ihrer Tante brauchte Zoe verständlicherweise jemanden, dem sie ihre Zuneigung schenken konnte. Daher musste er sich eigentlich über den neuen Familienzuwachs freuen, weil dieser ihre Aufmerksamkeit hoffentlich von seiner eigenen Person ablenken würde.

„Wo ist sie jetzt?“, wiederholte er seine Frage und trat aus der sengenden Junihitze in die kühle Halle.

„Sie ist unterwegs, sie lässt sich das Autofahren beibringen“, antwortete Ethel mit einer Dramatik, die er nicht nachvollziehen konnte.

Vor einigen Wochen hatte Zoe ihn angerufen und mit vernünftigen Argumenten darum gebeten, ein eigenes Auto haben zu dürfen – immerhin wurde sie bald neunzehn. Er hatte ihren Wunsch an die Treuhänder weitergeleitet, die das Geld für einen Wagen auch anstandslos bewilligt hatten.

Wo lag also das Problem? Er war auf einer Baustelle in Nordfrankreich gewesen, als seine Sekretärin ihm Ethels Hilferuf übermittelte. Zoe wäre in schlechte Gesellschaft geraten und Joe und sie fühlten sich mit der Situation überfordert.

Javier hakte Ethel ein. „Dann haben wir ja Zeit, und Sie können mir alles genau berichten.“ Er führte sie in den Salon und bat sie, sich zu setzen, was sie jedoch ablehnte. Nervös trat sie von einem Fuß auf den anderen.

„Miss Zoe wollte unbedingt einen schnellen Sportwagen haben. Joes Hinweis, dass ein Roadster kein Anfängerauto wäre, hat sie einfach abgetan – sie hat lieber auf Oliver Sherman gehört. Und wissen Sie was? Er hat sie überredet, ihm das Auto zu überlassen! Er holt sie lediglich nachmittags für zwei Stunden ab, um ihr das Fahren beizubringen. Soweit ich weiß, hat er schon zwei Autos zu Schrott gefahren. Und das ist noch nicht alles!“

Ethels Wangen hatten sich stark gerötet. „Sie ist in eine Clique geraten, die es nur darauf abgesehen hat, sich von ihr freihalten zu lassen – wenigstens glauben Joe und ich das. Sie wissen ja, seit sie achtzehn ist, bekommt sie ein Taschengeld, von dem andere nur träumen können. Wir haben sie gewarnt, aber es hat nichts gefruchtet. Wie oft habe ich sie dabei erwischt, wenn sie erst in der Morgendämmerung nach Hause gekommen ist! Und noch etwas …“

Man hörte, wie ein Auto so scharf in der Auffahrt bremste, dass der Kies aufstob. „Das wird sie sein“, meinte Ethel matt.

Javier presste die Lippen zusammen und verließ das Haus mit großen Schritten. Neben seinem Jaguar stand ein leuchtend gelber Lotus. Zoe saß auf dem Beifahrersitz, und selbst durch die Windschutzscheibe konnte er erkennen, wie entsetzt sie über sein unerwartetes Erscheinen war.

Doch um Zoe würde er sich später kümmern. Zuerst war der Fahrer an der Reihe. Javier öffnete die Tür, zog den Zündschlüssel ab und steckte ihn in die Tasche. „Raus!“, herrschte er ihn an.

Oliver Sherman, der ein jungenhaft hübsches Gesicht hatte, wirkte schockiert, doch er fasste sich erstaunlich schnell. Feindselig betrachtete er ihn. „Und was ist, wenn ich es nicht tue?“, fragte er frech.

„Das würde ich Ihnen in Ihrem eigenen Interesse nicht empfehlen“, antwortete Javier ruhig. Was er über Oliver Sherman gehört hatte, war nicht das Beste. Er war das einzige, verwöhnte Kind eines Immobilienhändlers von zweifelhaftem Ruf, hatte noch nie im Leben gearbeitet und ständig Geldsorgen. Keinesfalls war er ein geeigneter Umgang für Zoe. „Sie haben zwei Sekunden Zeit, freiwillig auszusteigen.“

Das klang so drohend, dass Oliver, der kleiner und jünger war, es für geraten hielt, der Aufforderung nachzukommen.

„Verschwinden Sie!“, befahl Javier.

„Aber …“ Eine ungesunde Röte stieg ihm ins Gesicht, und Oliver blickte sich zu Zoe um. Sie stand einige Meter entfernt und hielt Boysie auf dem Arm, der vor Freude völlig außer sich war und ihr hingebungsvoll die Hände leckte. Der Blickkontakt mit ihr schien Oliver neuen Mut zu geben.

„Zoe hat mir erlaubt, ihren Wagen zu benutzen. Sie haben überhaupt kein Recht, sich einzumischen.“

„So?“ Javiers graue Augen wirkten stahlhart. Oliver Sherman trat schnell einen Schritt zurück, drehte sich um und ging.

Im ersten Augenblick war Zoe erleichtert. Oliver hatte sie heute nicht ein einziges Mal fahren lassen. Er wäre sich zu schade, Zeit neben einer Anfängerin zu vergeuden, die den Schaltknüppel nicht vom Hebel für den Scheibenwischer unterscheiden könnte, hatte er argumentiert.

Stattdessen war er mit ihr auf einen einsamen Waldparkplatz gefahren und hatte sie bedrängt. Doch sie war seine Annäherungsversuche, seine Liebesschwüre und Heiratsanträge schon gewohnt und konnte gut damit fertig werden. Selbst als er ihr den Arm auf den Rücken drehte, verlor sie nicht die Nerven.

Dennoch war es nicht einfach für sie, ihn in die Schranken zu weisen, denn er wurde richtiggehend zudringlich. Auf dem Rückweg war er dann wie ein Verrückter gefahren, was auch nicht sehr erheiternd gewesen war.

Sie war froh, dass sie ihren rabiaten Verehrer auf solch elegante Art losgeworden war. Eigentlich hatte sie sich für den Abend mit ihm und seinen Freunden verabredet, aber da Javier jetzt hier war, würde sie natürlich absagen. Voller Freude drehte sie sich zu ihm um. Er blickte Oliver immer noch nach.

Ihr Herz machte einen Sprung. Sie hatte ihn so lange nicht gesehen und ihn schrecklich vermisst. Noch einmal drückte sie Boysie an sich, dann setzte sie ihn ab und ging auf Javier zu.

Strahlend lächelte sie ihn an. „Du bist also doch gekommen! Du hast es nicht vergessen!“ Ihre Stimme klang atemlos.

Nachdenklich blickte er sie an. „Vergessen?“, wiederholte er schließlich abwesend.

Er war also nicht gekommen, weil sie am nächsten Tag neunzehn wurde! Langsam verschwand ihr Lächeln, aber die Enttäuschung währte nicht lange. Javier war hier, das war die Hauptsache.

Am liebsten hätte Zoe ihn umarmt und gedrückt, doch das durfte sie nicht. Nach dem Vorfall in Spanien würde er nur annehmen, sie wolle sich ihm schon wieder an den Hals werfen. Die Erinnerung daran, wie plump und indiskret sie sich benommen hatte, trieb ihr die Röte in die Wangen.

Ihr fiel ein, dass sie ihm noch eine Antwort schuldig war. „Vergiss es, es spielt keine Rolle.“ Zoe lächelte unverbindlich und nahm sich fest vor, ihr Herz in Zukunft nicht mehr auf der Zunge zu tragen. „Dein Besuch ist wirklich eine nette Überraschung. Wie lange bleibst du?“

Ausdruckslos sah er sie an. Er hätte wirklich besser auf sie aufpassen müssen! Wieder musste er an die Szene denken, die sich in ihrem einzigen gemeinsamen Urlaub abgespielt hatte. Zoe im Swimmingpool der Villa seiner Eltern in Almeria … In einem sehr knappen Bikini stieg sie aus dem Wasser, legte ihm die Arme um den Nacken und küsste ihn. „Ich liebe dich“, gestand sie atemlos. „Ich liebe dich und habe dich schon immer geliebt.“

Nachdrücklich, aber freundlich hatte er sie zurückgewiesen – jedenfalls hoffte er, dass er freundlich gewesen war. Auf alle Fälle hatte ihn das Erlebnis so aus dem Gleichgewicht gebracht, dass er zum ersten Mal in seinem Leben eine Pflicht vernachlässigt hatte. Nach dem Urlaub hatte er jedes Treffen mit ihr vermieden, um ihrer Schwärmerei für ihn keine neue Nahrung zu geben.

Javier seufzte ungeduldig. Das war falsch gewesen, aber was geschehen war, ließ sich nicht mehr rückgängig machen. Jetzt galt es, Zoes Leben wieder in geordnete Bahnen zu lenken.

„Ich werde so lange bleiben, bis wir deine Angelegenheiten geregelt haben“, antwortete er. „Lass uns ins Haus gehen.“

Zoe schluckte und versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Mit erhobenem Kopf, Boysie dicht auf den Fersen, ging sie die Stufen der Freitreppe hoch und folgte Javier in den Salon. Obwohl er die Form gewahrt hatte, spürte sie, wie wütend er auf sie war. Nahm er ihr immer noch übel, dass sie nicht studieren wollte, wie er und die Treuhänder es vorgeschlagen hatten?

Hatte er die Geduld verloren und war ihrer überdrüssig? Bedauerte er das Versprechen, das er ihrer Großmutter gegeben hatte? Es sah ganz so aus.

Er wies sie zurück, trotzdem liebte sie ihn immer noch. Sie war fest davon überzeugt, dass sie hart im Nehmen war. Würde sie jedoch seine verächtliche Behandlung weiterhin ertragen können? Jedes Mal, wenn sie in letzter Zeit angerufen hatte, schien er selbst das kurze Telefongespräch als Zumutung empfunden zu haben. Anscheinend hatte sie ihm die Zeit gestohlen, die er lieber an seinem Computer oder bei der Frau, mit der er gerade sein Bett teilte, verbracht hätte.

Zoe verschmähte den Sessel, den er ihr anbot, und setzte sich auf die gepolsterte Sitzbank im Erker. Boysie auf dem Schoß, blickte sie Javier gespielt kühl an.

Javier hingegen blieb stehen, denn er konnte sich nicht entspannen. Sein Mündel hatte in den vergangenen vierzehn Monaten eine beeindruckende Veränderung durchgemacht. Ihr weizenblondes Haar war wieder gewachsen, perfekt geschnitten und fiel ihr glatt und seidig auf die Schultern. Ihr Teint war makellos rein und von der Sonne leicht gebräunt, und ihr hübsches Gesicht wirkte nicht mehr kindlich naiv, sondern willensstark und ausdrucksvoll. Auch ihre schlanke Figur war jetzt die einer Frau, woran ihre schmal geschnittene Leinenhose und die ärmellose Sommerbluse keinen Zweifel ließen.

Er verstand sehr gut, was Oliver Sherman an Zoe reizte – von ihrem zu erwartenden Vermögen ganz abgesehen. Prompt erinnerte er sich daran, wie sich ihr nahezu unbekleideter Körper in seinen Armen angefühlt hatte. Er hatte sich trotz der Versuchung wie ein Ehrenmann verhalten, was von einem Typen wie diesem Sherman kaum zu erwarten war. Der würde gnadenlos jede sich bietende Gelegenheit zu seinem Vorteil ausnutzen.

Um sich abzureagieren, ballte Javier die Hände zu Fäusten. Er musste jetzt unbedingt Ruhe bewahren und durfte sich von seinen Gefühlen nichts anmerken lassen. Es hatte keinen Zweck, Zoe zur Rede zu stellen, bevor er genau wusste, wie sie wirklich zu Sherman stand. Als Erstes würde er daher mit Ethel sprechen.

Verzweifelt suchte er nach den richtigen Worten, um Zoe nicht von vornherein gegen sich aufzubringen. Unwillkürlich runzelte er die Stirn, denn das Bild, das sie bot, machte es ihm schwer, sich zu konzentrieren. Das Sonnenlicht ließ ihr helles Haar wie gesponnene Seide glänzen, und er fragte sich, wie es sich wohl anfühlen würde.

Zoe sah nur seinen finsteren Blick und die drohend zusammengezogenen Brauen – bestimmt wünschte Javier, er wäre ihr nie begegnet. Die Lage war hoffnungslos, und sie fühlte sich innerlich ganz leer.

Vor vier Jahren hatte sie sich in ihn verliebt, und seither drehte sich ihr Leben nur um ihn. Ihr Alltag schien nur aus Warten zu bestehen: auf seinen Anruf oder auf einen Brief – auf einen Besuch hatte sie die letzten Monate schon gar nicht mehr zu hoffen gewagt. Doch sie hatte die Zeit genutzt und sich alle Mühe gegeben, zu einer Frau zu werden, die seinem Ideal entsprach: elegant, klug und sexy.

Und was hatte es ihr gebracht? Nichts, sie war Luft für ihn!

Sie hatte sich wie eine liebestolle Idiotin benommen. Das konnte nicht mehr so weitergehen! Javier reagierte lediglich mit Gereiztheit auf sie, daran zweifelte sie jetzt nicht mehr. Sie durfte sich nicht länger Illusionen machen, sondern musste sich den Tatsachen stellen. Von nun an würde sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen.

Wahrscheinlich wollte er ihr jetzt Vorwürfe wegen des Roadsters machen. Das galt es zu verhindern, damit es nicht zu einem Streit kam, bei dem sie ihre guten Vorsätze nur wieder vergessen würde. Wenn sie so tun wollte, als würde sie über den Dingen stehen, musste sie eine emotionale Auseinandersetzung mit ihm unbedingt verhindern.

„Du hast gesagt, dass du mit mir über meine Zukunft sprechen wolltest“, begann sie vorsichtig.

„Ja.“ Irgendwie störte es ihn, dass Zoe so zärtlich mit den Schlappohren dieser hässlichen Promenadenmischung spielte. Im Gegensatz zu ihm schien Boysie im siebten Himmel zu schweben.

Zoe hob den Kopf und blickte ihm unerschrocken in die Augen. „Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass sich unsere Wege trennen sollten. Schließlich bin ich volljährig, auch wenn ich mein Erbe erst in zwei Jahren antreten darf. Ich habe mich voll und ganz an unsere Abmachungen gehalten, du dagegen nur der Form nach. Daher …“

„Wie bitte?“ Ihre selbstbewussten Worte und die versteckte Kritik ließen Javier aufhorchen. „Willst du mir etwa vorwerfen, ich hätte meine Versprechen nicht gehalten?“

„Nein, so weit möchte ich nicht gehen.“ Zoe senkte die Lider. Javier war einfach unwiderstehlich attraktiv. Wenn sie ihm gegenüber hart bleiben wollte, durfte sie ihn nicht so intensiv ansehen.

Sie schluckte. „Ich habe die Schule beendet, weil du mir dafür die schönsten Ferien versprochen hattest. Und was hast du getan? Du hast mich an deine jeweilige Geliebte weitergereicht! Mit Glenda war ich zum Skilaufen in der Schweiz. Musstest du sie wirklich dafür bezahlen, wie sie mir erzählt hat? In Paris bin ich auch gewesen, mit Sophie – und in Italien, wieder mit Sophie, und …“

„Das reicht!“ Er hob die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. Und dafür war sie ihm dankbar, denn sie hatte einen Fehler gemacht. Javier war kein Dummkopf. Hätte sie weiter in diesem Ton geredet, wäre er noch hinter ihr Geheimnis gekommen: dass sie enttäuscht und verletzt war, weil er sie nicht begleitet hatte.

Nur ein einziges Mal, Ostern vor einem Jahr, waren sie zusammen verreist und hatten seine Eltern in Almeria besucht. An diese Reise wollte sie jedoch nie wieder denken, denn wie sie sich damals am Swimmingpool benommen hatte, war ihr heute noch peinlich.

„Ich wollte etwas Abwechslung in dein Leben bringen. Ich wollte, dass du dich amüsierst“, rechtfertigte er sich. „Du hast mir wirklich etwas bedeutet, aber als Kindermädchen bin ich wirklich nicht geeignet.“

Er hatte die Vergangenheitsform benutzt! Zoe, das kleine Mädchen, hatte er gemocht, Zoe, die junge Frau, war ihm gleichgültig. Obwohl sie es längst vermutet hatte, bereitete es ihr einen fast unerträglichen Schmerz, diese Worte aus seinem Mund zu hören. Tapfer schluckte sie ihre Tränen hinunter. Sie war eine erwachsene Frau, sie musste ihre unglückliche Liebe vergessen und ein neues Leben beginnen.

„Genau das ist der Punkt.“ Sie wunderte sich selbst darüber, dass ihre Stimme so fest klang. „Ich brauche jetzt nämlich kein Kindermädchen mehr, und damit hast du mir gegenüber keine Verpflichtungen mehr. Ich werde die Treuhänder darum bitten, dass ich mir eine eigene Wohnung nehmen darf, denn ich möchte unabhängig sein.“

Javier lächelte grimmig. „Damit du dir mit Sherman und Konsorten die Nächte um die Ohren schlagen kannst? Damit du mit einem viel zu schnellen Sportwagen, für den du nicht die erforderliche Fahrpraxis besitzt, durch die Gegend brausen kannst?“

Nie im Leben würde er das dulden!

Zoes Augen blitzten zornig. Ethel hatte also gepetzt! Und Javier war gekommen, um ihr die Leviten zu lesen, und nicht etwa, weil er Sehnsucht nach ihr gehabt hatte!

„Ich bin jung und möchte meinen Spaß haben. Ist das so schwer zu verstehen?“ Herausfordernd sah sie ihn an. Sie hatte sich einsam gefühlt und etwas dagegen unternommen. Sie war in den Tennisklub eingetreten und hatte Freundschaften geschlossen. Sie hatte sich schicke Sachen gekauft und ihre neue Clique in exklusiven Restaurants und teuren Bars freigehalten.

Dass sie ausgenutzt wurde, wusste sie ganz genau, doch es machte ihr nichts aus. Dafür hatte sie Gesellschaft und konnte sich einreden, ihr Leben wäre ausgefüllt. Oliver behauptete zwar, er würde sie lieben, aber das war gelogen. Die Einzigen, die sie wirklich liebten, waren Boysie und ihre drei Katzen.

Als wollte er das bestätigen, sprang genau in diesem Moment der pechschwarze Kater durch das offene Fenster und machte es sich schnurrend auf ihrer Schulter bequem, was Boysie mit einem verärgerten Knurren registrierte.

Für Javier war es offensichtlich. Zoe wollte keinen Spaß haben, sie sehnte sich nach Liebe – und das schon seit ihrem neunten Lebensjahr. Sie hungerte nach Zuneigung, was sie zu einer leichten Beute für einen gewissenlosen Schmarotzer wie Oliver Sherman machte. Er musste sie beschützen, denn es gab niemanden sonst, der diese Aufgabe hätte erfüllen können.

Seufzend setzte er sich neben sie auf die Bank, nahm ihr Boysie ab und behielt das haarige kleine Ungeheuer auf seinem Schoß. Der Kater nutzte die Gelegenheit sofort und machte es sich auf Zoes Knien bequem. Sie beugte sich über ihn, um ihn zu streicheln, und dabei fiel ihr das Haar ins Gesicht. Wie gebannt betrachtete Javier ihre langen, schlanken Finger, und es fiel ihm schwer, sich auf das Gespräch zu konzentrieren.

„Unter keinen Umständen werde ich dir jetzt schon erlauben, dir eine eigene Wohnung zu nehmen. Das hättest du dir eigentlich denken können. Deshalb müssen wir uns allerdings noch lange nicht streiten.“

Zoe schwieg. Lediglich ihre angespannte Haltung verriet, dass sie seine Worte gehört hatte. Er widerstand dem Verlangen, den Arm um sie zu legen und sie an sich zu drücken, denn er fürchtete, sie würde seine Art, sie zu trösten, falsch verstehen. Nach der Episode in Spanien war er vorsichtig geworden.

„Ich mache dir folgenden Vorschlag“, redete er ruhig weiter. „Du nimmst Unterricht bei einem professionellen Fahrlehrer, und der Lotus bleibt in der Garage, bis du mehr Praxis hast. Außerdem werden wir gemeinsam überlegen, wie du deine Zukunft sinnvoll gestalten kannst. Ich verspreche dir, deine Wünsche ernst zu nehmen. Du hast einmal behauptet, du würdest dich für karitative Zwecke interessieren – das wäre immerhin ein Ansatzpunkt.“

Sie reagierte immer noch nicht. Trotzdem gab er sich weiterhin Mühe, den wohlmeinenden Onkel zu spielen. „Natürlich könntest du auch studieren oder eine Ausbildung beginnen, die deinen Neigungen entspricht.“

Mit einer schwungvollen Bewegung setzte Zoe die Katze auf den Boden und stand auf. Schweigend und mit erhobenem Kopf verließ sie das Zimmer, für Boysie das Signal, ihr auf den Fersen zu folgen.

Schuldbewusst blickte Javier den beiden nach. Er machte sich heftige Vorwürfe, denn hätte er sich mehr um sie gekümmert, wäre es nicht zu dieser Situation gekommen, unter der Zoe so offensichtlich litt. Als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, hatte er gewusst, wie er mit ihr umgehen musste. Nun, da sie eine junge Frau war, war er mit seiner Weisheit am Ende.

Zoe weinte nicht. Das wäre unter ihrer Würde gewesen. Aber der Schmerz saß tief. Javier war mit seinem Vorschlag zu spät gekommen. Hätte er gleich bei seiner Ankunft angeboten, ihr Leben in die Hand zu nehmen, hätte sie ihm begeistert zugestimmt. Sein Verhalten unmittelbar nach seinem Eintreffen in Wakeham Lodge hatte ihr jedoch die Augen geöffnet. Sie hatte die letzten vier Jahre nur einer Wunschvorstellung nachgehangen. Sie bedeutete Javier nichts, sie hatte es sich lediglich eingebildet.

Im Schneidersitz saß sie auf dem Boden und blickte leer vor sich hin, als ihr Handy klingelte. Oliver Sherman hatte sich durch Javier anscheinend doch nicht einschüchtern lassen.

„Dein Vormund ist ein knickriger alter Spießer, aber er kann uns nicht den Spaß verderben. Ich habe schon alles organisiert. Guy und Jenny nehmen mich mit, und zusammen werden wir dich um sieben abholen. Für halb acht habe ich uns dann einen Tisch bei Tonio reservieren lassen. Was wir nach dem Essen machen, können wir ja noch besprechen. Und vergiss bitte deine Autoschlüssel nicht. Wenn wir dich zurückbringen und der alte Griesgram längst im Bett ist, hole ich den Lotus aus der Garage und nehme ihn mit. Ich hasse es, ohne fahrbaren Untersatz zu sein. Allerdings kann ich mir erst wieder ein Auto leisten, wenn ich das Geld für meinen letzten Unfall von der Versicherung habe. Bist du noch dran, Zoe?“

Zoe atmete tief durch. Ursprünglich hatte sie die Verabredung wegen Javiers unerwarteten Besuchs absagen wollen. Doch die Dinge hatten sich geändert, denn sie hatte sich fest vorgenommen, Javier nicht mehr zu lieben. Da sie diesen Vorsatz aber immer wieder zu vergessen drohte, war es besser, möglichst wenig Kontakt mit ihm zu haben.

Ein Abend mit ihrer Clique würde sie von ihrem Kummer ablenken, selbst wenn sie wusste, dass sie nur ausgenutzt wurde. Außerdem gab es ihr die Gelegenheit, ein ernstes Wörtchen mit Oliver zu reden. Wenn er den Lotus in Zukunft weiterhin fahren wollte, durfte er nicht noch einmal so zudringlich werden wie an diesem Nachmittag.

„Also gut, sieben Uhr“, sagte sie kurz angebunden und schaltete das Handy aus.

Fünf Minuten vor sieben stand Zoe erwartungsvoll auf der obersten Treppenstufe vor der Tür.

Mit ihrem Aussehen hatte sie sich an diesem Abend besondere Mühe gegeben. Das Haar trug sie offen, und hinter dem linken Ohr hatte sie es zurückgesteckt. Die goldene Spange und der ebenfalls goldene breite Armreif waren ihr einziger Schmuck. Das ärmellose nugatfarbene Etuikleid aus schwerer Wildseide war schlicht und dennoch raffiniert geschnitten: von vorn wirkte es ausgesprochen brav, der Rückenausschnitt jedoch reichte bis zur Taille. Hochhackige, mit Perlen bestickte Sandaletten im selben Farbton vervollständigten ihr Outfit.

Sie sah sexy aus – sexy und dennoch ausgesprochen kühl und elegant, das hatte der Spiegel ihr bestätigt. Es war ihr gelungen, den Stil der Glendas und Sophies in Javiers Leben nachzuahmen, wenn nicht gar zu übertreffen. Sie wirkte wie eine Frau aus den besten Kreisen: kultiviert, geistreich und souverän. Nichts würde sie aus dem Gleichgewicht bringen können, selbst ein Javier Masters nicht.

Auch Ethel, die ihr in der Halle begegnet war, hatte gestaunt. „Du wirst also nicht zum Abendessen hier sein?“, fragte sie verwundert.

Zoe nickte nur kurz, denn obwohl sie an Ethel hing, nahm sie ihr die Einmischung übel. Zu ihrer Verblüffung hatte Ethel keine weitere Bemerkung gemacht, sondern war schweigend in Richtung Bibliothek verschwunden.

Was sie dort gewollt hatte, wurde Zoe klar, als sie plötzlich Javiers Stimme direkt hinter sich hörte.

„Du willst ausgehen?“, erkundigte er sich und musterte sie von Kopf bis Fuß. In diesem Kleid sah sie einfach atemberaubend aus!

„Ja, mit meinen Freunden.“

„Oliver Sherman zum Beispiel?“

„Du hast es erraten.“ Sie blickte an ihm vorbei ins Leere, denn sie traute sich nicht, ihm ins Gesicht zu sehen. Seine Nähe erregte sie, und sie sehnte sich nach ihm, nach seiner Umarmung, seinen Zärtlichkeiten, seinem Kuss …

Ärgerlich biss sie sich auf die Lippe. Wenn sie dem Vorsatz, Javier aus ihrem Leben zu streichen, treu bleiben wollte, musste sie sich diese erotischen Fantasien strikt verbieten! Angestrengt lauschte sie. Wenn doch nur Guys Auto endlich zu hören wäre!

„Geh in die Bibliothek, und zwar sofort!“, befahl er leise, aber bestimmt.

Ihre Reaktion, die abrupte Kopfbewegung und ein ungläubiger Blick, bewiesen ihm, dass seine Worte sie völlig unvorbereitet getroffen haben mussten. Zoe tat ihm leid, doch er war fest entschlossen, ihren Widerstand im Keim zu ersticken. „Wenn du nicht freiwillig gehst, werde ich dich tragen – entscheide dich. Auf alle Fälle werde ich jetzt diesen Sherman anrufen und dich für heute Abend entschuldigen.“

Sollte sie seiner Aufforderung nachkommen oder sich weigern, ins Haus zu gehen? Natürlich war sie wütend auf Javier, andererseits verspürte sie eine verräterische Erregung. Javier machte keine leeren Drohungen, er stand zu seinem Wort. Wenn sie nicht gehorchte, würde er sie hochheben und in die Bibliothek tragen – allein die Vorstellung ließ sie vor Wonne erschauern.

Daher war es klüger, freiwillig zu gehen. Sie drehte sich um und hörte gerade noch Guys Auto. Zu spät, ihre Hoffnung auf einen lustigen Abend, um sich von ihrem Kummer abzulenken, konnte sie begraben.

Javier aus dem Gedächtnis zu streichen, würde noch schwerer werden, als sie ohnehin schon befürchtet hatte. Sie riss sich zusammen und ging, so lässig es die ungewohnt hohen Absätze erlaubten, mit erhobenem Kopf in die Bibliothek.

Javier folgte Zoe. Sie stand mit dem Rücken zu ihm am Fenster und blickte in den Garten. Unwillkürlich stockte ihm der Atem, als sie sich langsam zu ihm umdrehte. Sie sah einfach bezaubernd aus, so anmutig und schön! Am Morgen hatte er in London noch schnell ein Paar Ohrringe aus Topas zum Geburtstag für sie gekauft – der warme goldene Ton der Steine hatte ihn an ihre Augen erinnert. Zoe mochte hochmütig wirken, ihr weicher, sensibler Mund verriet ihm jedoch, wie gekränkt sie war, und er empfand tiefes Mitgefühl mit ihr.

Er runzelte die Stirn und ging zum Barschrank. Es dauerte eine ganze Weile, bis er sich für eine Flasche entschieden hatte. Dann öffnete er den Rotwein und schenkte zwei Gläser ein. Hart durchzugreifen und Zoe mit Sanktionen zu drohen, war sinnlos, das hatte die Vergangenheit gezeigt. Statt nachzugeben, würde Zoe nur umso heftiger rebellieren.

Sein größtes Problem bestand darin, dass sie kein Kind mehr war. Das wurde ihm deutlich klar, als er ihr das Glas brachte. Sie hatte sich inzwischen in einen Sessel gesetzt, wobei sich ihr enges Kleid hochgeschoben hatte und den Blick auf ihre langen, schlanken Beine freigab.

Sie weiß gar nicht, wie aufreizend und verführerisch sie wirkt, schoss es ihm durch den Kopf.

Zoe hob das Glas und prostete ihm zu. „Wein! Was für eine Überraschung! Ich hatte mit Limonade oder Milch gerechnet.“

Ihren bissigen Kommentar quittierte Javier mit einem leichten Lächeln, denn die Kritik war gerechtfertigt. Viel zu lange hatte er Zoe wie ein kleines Kind behandelt. Das musste sich schnellstens ändern.

Über den Rand seines Glases hinweg betrachtete er sie. Ihre Haarfarbe erinnerte ihn an reifes Korn, und ihr Teint war trotz der sommerlichen Bräune durchscheinend zart. Ihr Kleid saß perfekt, und jeder konnte sehen, dass die kleinen, runden Brüste ihre Form der Natur zu verdanken hatten und nicht einer Korsage.

Die Kehle war ihm plötzlich wie zugeschnürt. Abrupt drehte er sich um, ging zum Tisch und setzte sich, um sie aus sicherem Abstand weiter zu beobachten. Mit ihrem Aussehen und ihrem Hunger nach Liebe und Anerkennung war sie das ideale Opfer für einen Mitgiftjäger – für einen Typen wie Oliver Sherman. Und seine Aufgabe war es, sie vor diesem Schicksal zu bewahren. Am sichersten wäre es … Nein, die Idee war zu verrückt, und er verwarf sie sofort wieder. Es wurde Zeit, endlich ernsthaft mit ihr zu reden.

„Lass uns zum Thema kommen, und erzähl mir, wie du dir deine Zukunft vorstellst.“ Wie rau seine Stimme klang! Javier schüttelte über sich selbst den Kopf.

Um Zeit zu gewinnen, trank Zoe erst einmal langsam einen Schluck Wein. Sie hatte es natürlich nicht lassen können, Javier die ganze Zeit heimlich zu betrachten, was nicht gut für ihren inneren Frieden gewesen war. Allein sein Anblick genügte, um sie in Aufregung zu versetzen. Ihr Herz pochte unregelmäßig, und sie spürte heißes Verlangen. Wo sollte das nur enden? Wie sollte sie sich ihm gegenüber gleichgültig verhalten können, wenn er sie so unwiderstehlich in seinen Bann zog?

Es schien ihr das Klügste, die Überlegene zu spielen und nichts von ihren wahren Gedanken und Gefühlen preiszugeben. Daher würde sie ihm verschweigen, dass sie ihre Pläne, obdachlosen Menschen zu helfen, nicht aufgegeben hatte, sondern nur nicht wusste, wie sie sie verwirklichen sollte.

Wenn sie ihn ins Vertrauen zog, würde er ihr nur helfen wollen, was ihr die Trennung von ihm nur noch schwerer machen würde. Bestimmt würde er seinen Einfluss bei karitativen Organisationen geltend machen, einen Job für sie finden und die Treuhänder dazu bewegen, ihr eine Wohnung in der Nähe ihrer Arbeitsstelle zu finanzieren. Er würde sich also weiterhin um sie kümmern und sie bestimmt auch besuchen …

„Mach dir keine unnötigen Gedanken!“ Ohne ihn anzusehen, stellte sie ihr Glas auf einen kleinen Tisch. „Seit einem Jahr bin ich volljährig, und nach dem Gesetz bist du nicht mehr verantwortlich für mich. Außerdem habe ich noch keine konkreten Berufspläne, denn vielleicht heirate ich ja auch.“

Das war zwar eine glatte Lüge, würde Javier jedoch die Gelegenheit geben, sich aus der Affäre zu ziehen. „Oliver hat mir schon mehrere Heiratsanträge gemacht“, redete sie weiter. „Zur Hochzeit lade ich dich ganz bestimmt ein, das verspreche ich dir.“

Ohnmächtige Wut stieg in ihm auf, und er konnte nicht mehr klar denken. Also war Zoes Beziehung zu diesem Windhund ernster, als er befürchtet hatte! Sollte er, Javier Masters, etwa tatenlos zusehen, wenn sich sein Mündel an einen Mann wegwarf, der keinen guten Ruf genoss und noch keinen Tag lang ehrlich gearbeitet hatte? Seine Idee schien ihm jetzt nicht mehr abwegig, denn nur so konnte er Zoe wirkungsvoll vor Mitgiftjägern schützen.