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Ein einsamer Junge auf einer Bank, seine Hand ruht auf einem Kleiderbündel - auf dem Grund eines Schwimmbads liegt ein Mädchen mit offenen Augen: Woher kommen plötzlich diese Erinnerungen? Die vierzigjährige Wissenschaftlerin Ragna fürchtet, verrückt zu werden. Denn die Bilder, die plötzlich in ihrem Kopf auftauchen, kann sie keiner Erinnerung zuordnen. Das Gedächtnis ist keine Bibliothek, man kann dort nicht stöbern wie nach einem verlegten Buch. Ganz langsam setzt sie Puzzleteil für Puzzleteil zusammen und macht sich auf die Suche nach dem - heute erwachsenen - Jungen auf der Bank und seiner Schwester, die nach dem Schwimmunfall zum Sommerkind wurde.
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Seitenzahl: 323
Ein einsamer Junge auf einer Bank, seine Hand ruht auf einem Kleiderbündel – auf dem Grund eines Schwimmbads liegt ein Mädchen mit offenen Augen: Woher kommen plötzlich diese Erinnerungen? Die vierzigjährige Wissenschaftlerin Ragna fürchtet, verrückt zu werden. Denn die Bilder, die plötzlich in ihrem Kopf auftauchen, kann sie keiner Erinnerung zuordnen. Das Gedächtnis ist keine Bibliothek, man kann dort nicht stöbern wie nach einem verlegten Buch. Ganz langsam setzt sie Puzzleteil für Puzzleteil zusammen und macht sich auf die Suche nach dem – heute erwachsenen – Jungen auf der Bank und seiner Schwester, die nach dem Schwimmunfall zum Sommerkind wurde.
Monika Held: Aufgewachsen in Hamburg und Cuxhaven. Lehre als Verlagskauffrau, Volontariat bei der Hannoverschen Presse. Arbeit fürs Radio, Autorin der Zeitschrift Brigitte. Für ihre publizistische Arbeit über das Kriegsrecht in Polen und die Hilfstransporte zu den Überlebenden von Auschwitz wurde sie mit der polnischen Solidarnosc-Medaille ausgezeichnet. »Der Schrecken verliert sich vor Ort« ist ihr dritter Roman. Bei Eichborn erschienen »Augenbilder« und »Melodie für einen schönen Mann«. Monika Held lebt in Frankfurt am Main.
Monika Held
Sommerkind
Roman
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Eichborn Verlag in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Doris Engelke, Frankfurt a. M.
Umschlaggestaltung: Massimo Peter
Einband-/Umschlagmotiv: getty-images/Francesco Carta fotografo; © shutterstock/Maxx-Studio; © shutterstock/p_ponomareva; © shutterstock/sumroeng chinnapan
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7325-4031-0
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Der Satz, mit dem sie ihn fortschickte, verschmolz mit dem Geräusch der Tür, die sie leise hinter ihm ins Schloss drückte.
Jetzt geh und schau, was du angerichtet hast.
Sie hatte den Weg auf einem Zettel skizziert. Linien und Pfeile vom Haus zum Ortsausgang, über den Berg ins Tal. Er drehte sich nicht um. Er wusste, dass sie wie eine Statue hinter der Gardine stand, ihm mit den Augen folgen, aber nicht winken würde. Er ging schnell. Als sie ihn nicht mehr sehen konnte, warf er die Wegbeschreibung in den Straßengraben. Als ob er sich verlaufen könnte – er kannte hier mehr Straßen und Pfade als sie. Er spürte den Wind im Haar. So zart war sein Kopf lange nicht mehr berührt worden. Ihr Spiel zu zweit – sein Gesicht in ihren Händen, ihr Gesicht in seinen Händen, Stirn an Stirn, vier Augen im Dunkeln, zwei Eulen in der Nacht – hatte sie abgeschafft.
Er hielt sein Gesicht der Sonne entgegen und schloss die Augen. Der Tag war zu schön für den Weg, auf den sie ihn geschickt hatte. Er machte zwei kleine Schritte vorwärts und drei große Schritte zurück. Nicht so schnell dort ankommen. Am besten nie. Vor ihm lag das Tal mit den weißen Quadern aus Glas und Beton.
Jetzt geh und schau, was du angerichtet hast!
Bisher hatte er immer nur etwas angestellt – das Wort ›angerichtet‹ gehörte in die Küche und zur Mutter. Zum Garnieren, Servieren, Dekorieren. Zu einer schönen Ordnung auf dem Teller.
Wasch die Hände, es ist angerichtet.
Schularbeiten kannst du später machen, es ist angerichtet.
Nun war er es, der etwas angerichtet und eine schöne Ordnung zerstört hatte. Alle wussten Bescheid, sogar die Vögel kannten seinen Namen. Sie riefen: Kolja. Vier Schritte vor und drei zurück.
Er konnte sich auf dem Weg zur Klinik nicht verlaufen, an jeder Straßenecke standen Schilder. Er war fünfzehn und wusste schon, dass im Leben Dinge geschehen, die durch nichts wiedergutzu machen sind, die man aushalten muss, solange man lebt. Und dass es Strafen gibt, die nicht Strafen heißen und trotzdem Strafen sind. Wie das Schweigen. Seine Mutter schwieg morgens, sie schwieg, wenn er aus der Schule kam. Manchmal wandte sie sich ab, wenn sie ihn sah, hielt sich beide Hände vor den Mund, um nicht laut zu schreien. Ihre Trauer war seine Strafe, ihr Schmerz, ihr Gesicht mit den rotgeweinten Augen, die Tränen, die sie vor ihm verbarg und die er dennoch sah. Die langen Nächte. Er hielt sich die Ohren zu, aber ihr Schluchzen saß in seinem Kopf, auch der Name, den sie flüsterte: Malu. Er hörte die tröstende Stimme des Vaters, in dessen Arme er sich gerne geflüchtet hätte, aber dort war kein Platz, er brauchte beide Arme für die Mutter. Der Vater ging ihm nicht aus dem Weg, auch wenn es sich so anfühlte. Auch schwieg er nicht ganz so beharrlich. Er fragte: Möchtest du wieder einen Hund haben? Hast du schon Freunde gefunden in der neuen Schule? Seine Stimme klang dumpf, wie aus einer Höhle. Nein, er wollte keinen neuen Hund, auch keine neuen Freunde, er wollte seine Eltern wiederhaben, bei ihnen sein, dazugehören, ganz nah, aber sie ließen ihn nicht, weil er keine Tränen hatte. Damals, sagte der Vater, als der Hund starb, hast du Rotz und Wasser geheult, warum keine Träne für Malu? Er wäre gerne windelweich geschlagen worden, aber ohne Schläge, dachte er, dürfe er nicht weinen, weil es für einen, der ein so großes Unglück angerichtet hatte, kein Recht auf Tränen gibt.
Fünf Schritte vor und zwei zurück. Er näherte sich der Klinik. Der Pförtner, dem er seinen Namen nannte, sagte:
Ach, duuu bist der Bruder der kleinen … wie heißt sie?
Malu.
Den Satz mit dem ›Ach‹ und dem gedehnten ›du‹ musste ihm niemand erklären. Der Pförtner wusste Bescheid, klagte ihn mit seinem Blick aber nicht an, sah eher aus, als sei er auf seiner Seite, wobei Kolja nicht wusste, was seine Seite war.
Ich lass dich abholen, sagte der Pförtner, setz dich vor das Aquarium. Er telefonierte, ein paar Minuten später gab der Junge einer Frau die Hand, die Dr. Linn hieß, ihn zur Station 1 brachte und ihm vor dem Zimmer 1.7 B erklärte, was mit der Schwester geschehen war – er wusste, dass Malu in diesem Zimmer lag, nicht tot, auch nicht richtig lebendig. Die Ärztin öffnete die Tür und sagte: Bleib so lange du willst, du kannst nichts mehr falsch machen. Auch diesen Satz musste ihm niemand erklären. Er hatte ja schon alles falsch gemacht, was man falsch machen konnte. Dennoch steckte auch ein bisschen Trost in diesem Satz. Wenn nichts mehr falsch zu machen war, war vielleicht etwas wiedergutzu machen. Er spürte ihre Hand auf der Schulter, dann ließ sie ihn allein.
Er betrat das Zimmer zögerlich, als wäre der Boden unter ihm aus dünnem Eis. Die Sonne schien durch die Gardinen auf zwei Betten, die sich gegenüberstanden. Er warf einen vorsichtigen Blick nach links auf das Mädchen mit den blonden Haaren, dann nahm er einen Jungen in seinem Alter wahr, der etwas Merkwürdiges tat. Er saß auf der Kante des zweiten Bettes und hielt dem Kind, das dort lag, eine braune Papiertüte ans Ohr.
Was machst du?
Der Junge grinste und sagte, als wäre es das Natürlichste von der Welt: Geräusche. Das Kläuschen wimmert nicht, wenn ich Geräusche mache.
Mit der Tüte?
Der Junge lachte: Horch! Da sind zwei fette Fliegen drin.
Er schüttelte die Tüte, die Fliegen brummten, knallten bei der Suche nach dem Ausgang immer wieder gegen das Papier. Er mag das Geräusch, sagte der Junge. Er ist doch still jetzt – oder hörst du ihn wimmern?
Dein Bruder?
Nee, Cousin. Und du?
Auf Zehenspitzen näherte sich Kolja dem Bett seiner Schwester. Ihre Augen waren geschlossen, der Mund leicht geöffnet. Irgendjemand hatte die langen Haare um ihren Kopf drapiert, als wären es Sonnenstrahlen.
Schläft sie?
Kann man nicht wissen, sagte der Junge und schüttelte die Tüte.
Malu, flüsterte Kolja, hörst du mich?
Das Mädchen lag still wie in tiefem Schlaf.
Sie ist weg, sagte der Junge, wie das Kläuschen. Vielleicht hört sie dich, vielleicht nicht. Weiß keiner so genau. Und wenn sie dich hört, kann sie es nicht sagen.
Warum nicht?
Was weiß ich! Zu weit weg.
Wo denn?
Der Junge lachte: Koma heißt das. Ist sie auch ertrunken?
Kolja nickte.
Ententeich?
Nee. Schwimmbad. Wieso Ententeich?
Da ist das Kläuschen im Eis eingebrochen. Im Winter vor zwei Jahren. Hier liegen viele Kinder aus Gartenteichen.
Der Junge zog sich die Schirmmütze in die Stirn. Keiner weiß, wann die aufwachen, sagte er. Manche nie. Willst du’s mit der Fliegentüte versuchen? Kolja schüttelte den Kopf. Der Junge ließ die Fliegen frei, faltete die Tüte und legte sie in die Nachttischschublade seines Cousins. Er gab Kolja die Hand.
Ich bin Max und du?
Kolja.
Man sieht sich, sagte Max, tippte lässig mit dem Zeigefinger gegen den Mützenschirm und ließ Kolja allein.
Ab jetzt würde er seine Schwester zweimal in der Woche besuchen, das war so beschlossen worden. Keine Strafe, nur sein Anteil an dem, was in ihr Familienleben eingebrochen war. Er kannte den Anteil sehr genau, er hatte keine Zeit gehabt, irgendetwas zu vergessen. Wann? Wie? Wo? Warum? Immer wieder. Die Eltern verlangten Rechenschaft über jede Minute, als ließe sich die Uhr zurückdrehen und mit ihr das Geschehen. Er musste es dem Arzt erzählen, den Rettungssanitätern, der Polizei. Er wird es auch Max erzählen, weil es guttat, immer wieder zu sagen, dass er nicht wissen konnte, was mit Malu passieren würde.
Er sah sie an. Es war wie ein Blick in den Spiegel. Die gleichen, weißblonden Haare. Beide hatten runde Gesichter und neben dem linken Mundwinkel einen kleinen Leberfleck. Sie war die Prinzessin und er, seitdem sie auf der Welt war, nicht länger der Prinz – was ihm sehr recht war. Die Prinzen, die er aus Büchern kannte, trugen alberne Klamotten und waren Trottel.
Drei Monate nach dem, was er angerichtet hatte, waren sie aus dem Norden in den Süden gezogen, in die Nähe dieser speziellen Klinik, vorher war ihr Zuhause die Stadt am Meer gewesen. Kolja und Malu – beide hatten früh schwimmen gelernt und im Sommer gingen sie am liebsten noch einmal ins Wasser, bevor die Sonne unterging. Und immer – nicht nur an diesem Abend – der alte Streit: schwimmen im Meer oder über den Zaun klettern und im leeren Freibad schwimmen? Malu war für das Freibad mit den blauen Kacheln und dem klaren Wasser, in dem sie sich wie ein Zierfisch im Aquarium fühlte – Kolja wollte ins Meer, ›toter Mann‹ spielen. Er liebte es, sich von den dunklen, glitzernden Wellen tragen und treiben zu lassen. Malu war an diesem Abend bockiger gewesen als sonst, warf ihm Rock und T-Shirt vor die Füße, kletterte über den Zaun und dieses Mal folgte er ihr nicht, gab ihrem Trotz nicht nach, setzte sich auf die Bank am Strand, legte ihre Kleider neben sich und wartete. Sie würde nachgeben, da war er sicher. Statt ins Wasser zu springen, sah er dem Schauspiel am Himmel zu. Wie sich das zarte Gelb in ein leuchtendes Orange verwandelte, wie daraus ein tiefes Rot entstand und dann ein grelles Lila.
Wie lange er so gesessen hatte, wollten sie wissen: der Vater, die Mutter, die Polizei, der Arzt, die Sanitäter. Der Vater schüttelte ihn. Herrgott, wo war deine Schwester? Wo soll sie gewesen sein? Im Freibad. Junge, so rede doch! Wie lange hast du dort gesessen? Er wusste es nicht. Wer den Himmel beobachtet, verliert das Gefühl für die Zeit. Irgendwann war Ragna gekommen, das Mädchen mit dem komischen Namen aus der Klasse über ihm, hatte ihm ihr Kleid auf den Schoß gelegt, mit den Händen seine Knie berührt und gelacht. Dann war sie kopfüber ins Meer gesprungen. Sie schoss mit ihren blauen Flossen durch die Wellen wie ein Delphin, blieb, extra für ihn, lange unter Wasser und tauchte prustend wieder auf. Dann ließ sie sich, nass und kalt und außer Atem, neben ihn auf die Bank fallen. Sie roch nach Salz und nassen Haaren und lehnte, wie schon mehrmals in den letzten Wochen, ihr kaltes Bein gegen sein Bein, ihre nasse Hüfte gegen seine. Er bewegte sich nicht, weil ihm schwindlig wurde vor Hitze und Glück. Das Gefühl behielt er für sich, sagte aber den Eltern, dem Arzt und allen, die es wissen wollten, dass er glaubte, nicht nur Ragna, sondern auch seine Schwester in der Bucht gesehen zu haben.
Ja und dann? Junge, so rede doch, schrien die Eltern, fragte der Arzt und die Polizei. Und dann? Mach den Mund auf, Junge. Und dann?
Er schwieg.
Irgendwann, als vor ihm in der Bucht niemand mehr schwamm und Malu ihren Rock und ihr T-Shirt nicht holte, war Ragna aufgesprungen, zum Schwimmbad gerannt, über den Zaun geklettert und mit einem Kopfsprung ins Becken getaucht.
Und du, was hast du getan?
Er war auf der Bank sitzen geblieben, wie angeklebt, mit dem warmen Gefühl ihrer Nähe und einer unheimlichen Angst, die im Bauch begann, durch die Beine in die Füße kroch, wieder hoch durch den Körper in die Brust, sein Herz hämmern ließ und ihn schließlich ganz und gar ausfüllte.
Junge, wie konnte das passieren? Sie kann doch schwimmen!
Er schwieg.
Die fetten Fliegen schossen mit einer Wucht gegen die Fensterscheibe, dass er dachte, ihre Körper würden platzen. Ihr Brummen klang böse. Können Fliegen wütend sein? Ob Max sie immer wieder einfing und in die Tüte sperrte, oder ob er neue Fliegen besorgte? Wie lange leben Fliegen? Er wusste es nicht.
Malu! Verdammt! Mach die Augen auf!
Sie lag im Bett wie eine Puppe. Aus dünnen Schläuchen tröpfelte eine durchsichtige Flüssigkeit in ihren Arm. Sie hatte einen Schlauch in der Nase. Man hatte ihr die Nägel kurz geschnitten und in die Handteller kleine weiße Kissen gelegt, die verhindern sollten, dass sich die Nägel ins Fleisch bohren.
Kolja klatschte in die Hände. Sie zuckte nicht einmal mit den Wimpern. Was für ein unheimliches Krankenzimmer. Zwei Kinder in zwei Betten, nicht tot und nicht lebendig. Scheu näherte er sich dem Bett vom Kläuschen. Dort lag ein Knirps, keine vier Jahre alt, die Hände krumm wie Vogelkrallen, die offenen Augen groß und leer. Ein leise wimmerndes Wesen, steif wie ein Stock. Max kommt bald wieder, sagte Kolja, dann macht er für dich Fliegenmusik. Er streichelte dem Jungen die Hände und flüsterte: Mensch, sind die kalt. Dann stellte er sich noch einmal an das Bett seiner Schwester. Aus der Prinzessin war ein Dornröschen geworden. Wach auf, du, sagte er und kniff ihr in die Backe, was hast du angerichtet! Er ging zur Tür und sagte im Tonfall von Max: Man sieht sich!
Bevor er das Zimmer verließ, sah er sich um. Auf dem Fensterbrett stand eine Vase mit künstlichen Tulpen. Rot, gelb und orange, ihre Blütenstempel waren kleine Glühbirnen. Ihr Licht würde in der Nacht die Sonne ersetzen.
Sollte Malu eines Tages mit offenen Augen im Bett sitzen können, würde ihr Blick auf ein Bild fallen, das an der Wand über dem Bett vom Kläuschen hing. Es gab auf diesem Bild alles, was ihr helfen würde, sich zu erinnern. Einen blauen Himmel, ein blaues Meer, weißen Strand. Austernfischer, die mit langen Schnäbeln Muschelschalen knacken. In einem Priel tummeln sich braune Schollen, die aussehen, als kämen sie direkt aus der Pfanne. Auf der Sandbank sonnen sich dicke Robben. Keinen Steinwurf von der Küste entfernt liegt eine Hallig mit zwei Häusern auf zwei Warften. Großvater und Enkel beobachten Schweinswale, Möwen, Enten und Gänse. Es gibt ein Schwimmbad mit Rutschbahn und Sprungbrett und planschenden Kindern. Alle sind fröhlich. Niemand auf diesem Bild hat Angst, und nie wird hier Böses geschehen.
Und sollte sich das Kläuschen eines Tages aufrichten können und seine Augen gelernt haben, nicht mehr das Ende der Welt zu suchen, sondern auf die Wand über Malus Bett zu schauen, würde er ein lustiges Zuhause entdecken. Einen Bauernhof mit lachenden Schweinen. Küken, die auf Bäumen sitzen. Er würde einen grinsenden Bullen auf der Weide sehen. Kein Kind auf diesem Bild hat Langeweile. Sie reiten auf den Schweinen, trinken aus den Eutern der Kühe. Der Bauer auf dem Traktor lacht, und der dunkel gekleidete Mann, der mit der Kutsche das Dorf verlässt, treibt das Pferd zu fröhlichen Sprüngen an. Auf dem Dorfteich tanzen die Enten. Vielleicht erinnert sich das Kläuschen, wenn es eines Tages aufwacht, an einen Teich im Winter, dessen Eisschicht es vertraut hatte.
Leise schloss Kolja die Tür. Beim Pförtner kehrte er noch einmal um. Er hatte die Geschenke nicht ausgepackt, die ihm die Mutter in den Rucksack gesteckt hatte. Er schob die grünäugige Samtmaus unter Malus Hände, ihr liebstes Schmusetier aus der Kuscheltierkiste. Den kleinen Kaktus, der allen, die sie besuchen, sagen sollte: Geduld, stellte er neben die leuchtenden Tulpen.
Als der Pförtner ihn nicht mehr sehen konnte, setzte er die Füße so dicht voreinander, dass die Hacke die Schuhspitze berührte. Das machte aus der kurzen Strecke einen sehr langen Heimweg.
Schließen Sie die Augen.
Hatte Ihre Kindheit eine Farbe?
Einen Geruch?
Erzählen Sie von der Landschaft, in der Sie aufgewachsen sind.
Ich hätte wissen müssen, dass es den Fragen, die ich mir ausgedacht hatte, nicht gefällt, in fremden Wohnstuben, Küchen, Cafés oder Büros zurückgelassen zu werden.
Horchen Sie in sich hinein.
Erinnern Sie Geräusche, die zu den ersten Jahren Ihres Lebens gehören?
Mehr als hundert Türen haben sich im letzten Jahr vor mir geöffnet und nach langen Gesprächen hinter mir geschlossen. Ich habe nicht bemerkt, dass mir die Fragen folgen. Erst leise, unauffällig, später dann, als ich nicht reagiere, wie eine Bande übermütiger Trolle. Sie springen mir auf die Schulter, ziehen an meinen Haaren, schubsen und treten mich, flüstern mir ins Ohr:
Hatte Ihre Kindheit eine Farbe?
Haut ab! Um mich geht es nicht.
Um wen denn?
Die Trolle geben keine Ruhe.
Ragna! Hatte deine Kindheit eine Farbe?
Herrgott: Ja. Grün. Blau. Grau. Und weiß. Blau der Himmel, oft auch grau. Grau das Wasser, manchmal blau. Grün die Weiden. Die Schafe: weiß. Die Möwen: weiß. Noch eine Farbe: gelb. Der Sand. Der Strand. Der Boden des Meeres bei Ebbe.
Die Kerle purzeln mir vor die Füße, geben keine Ruhe.
Horch in dich hinein! Mit welcher Landschaft verbindest du deine erste Liebe?
Verschwindet. Es geht um Wissenschaft, nicht um mich.
Erinnerst du Geräusche aus den ersten Jahren deines Lebens?
Ja doch! Natürlich! Wind. Immerzu Wind. Er pfeift. Er kann heulen wie ein Rudel Wölfe und hecheln wie eine Hyäne. Er schleicht ums Haus. Er rast durch die Straßen wie tausend Lastwagen, reißt Bäume aus der Erde und Dächer von den Häusern. Er ist immer da. Ich höre ihn auch, wenn er schläft. In meinen Ohren sitzen die Schreie der Möwen. Grell vor Gier, vor Freude, vor Hunger oder haben sie nur diesen einen Schrei für alles, was sie bewegt? Es gibt auch leise Töne. Hauchzart ist das Schaben der Krebsscheren unter den Steinen im Watt. Ich höre ein Geräusch, für das ich keine Worte finde. Nicht die richtigen. Es ist trocken und ein wenig dumpf und manchmal quietscht es. Ein Sommergeräusch. Es gehört zum Aufwachen und Einschlafen. Es sind die Lippen der Schafe, die Grashalme rupfen.
Die Trolle kichern. Höhnen. Scheinen mich mit den Fragen, die ich so vielen Menschen gestellt hatte, ärgern und quälen zu wollen.
Hatte deine Kindheit einen Geruch?
Haut ab!
Sag doch! Hatte deine Kindheit einen Geruch?
Das Salz im Meer. Der Gammel. Der Gestank der Fabrik, die Fischmehl herstellt.
Lieblingsessen?
Königsberger Klopse, Kapernsoße, Kartoffelpüree. Weißer Heilbutt, Meerrettichsoße. Ich kann einen frisch geräucherten Aal ganz allein verdrücken.
Gefühle, die mich beschleichen, wenn ich an den Ort meiner Kindheit denke? Ekel beim Anblick dicker, borstiger Wattwürmer. Schleimige, blutende Kreaturen, zerschnitten aus Neugier. Wachsen die wieder zusammen? Wirklich?
Wo hast du gespielt?
Am Meer. Wo sonst?
Was wir gespielt haben? Quallen essen als Mutprobe. Lebendiger Pudding. Wer ihn nicht schluckt, ist ein Feigling. Glücksgefühl beim Schwimmen im Meer. Und Angst. Wer das Meer nicht achtet, den holt es sich. Wie achtet man das Meer?
Die Trolle hatten sich längst verzogen, als ich begann, mir die Fragen selbst zu stellen.
Ereignisse, die ich nie vergessen würde?
Ein Hund und ein Mädchen. Zwei Namen. Sacco, mein Colli, und Karina. Sacco: Vom Förster beim Jagen erwischt, erschossen, in einen Sack gesteckt und vor meine Tür gelegt. Karina war neun, als sich ihre Spur auf dem Spielplatz verlor. Suchtrupps die ganze Nacht. Tage, Wochen, Monate, dann fand man ihre Rollschuhe im Müllcontainer und den Schal in dem Wäldchen an der Küste. Karina, meine liebste Freundin, wurde nach drei Jahren von Wildschweinen ausgegraben.
Wenn ich an den Ort meiner Kindheit denke, empfinde ich Glück. Warum Glück? Vielleicht, weil ich aus all dem zusammengesetzt bin, was diese Landschaft ausmacht: Meer. Wind. Sacco und Karina. Wattwürmer, Quallen, Meerrettichsoße. Auch Möwen und Schafe können ein Kind prägen – wie Eltern und Großeltern, Tanten und Onkel.
Unser Team besteht aus Architekten, Geografen, Psychologen, die nach den Zusammenhängen zwischen der Topografie der Kindheit, dem Verlauf des Lebens und dem Wohnort der letzten Lebensjahre suchen und der Frage nachgehen, warum mehr als die Hälfte der Menschen, die jahrzehntelang weit entfernt von ihren Geburtsorten gelebt und gearbeitet haben, im Alter in die Landschaften ihrer Kindheit zurückkehren oder sich danach sehnen. Wir haben herausgefunden, dass sie schroffe Felswände vermissen, die Farbe des Himmels vor dem Schneesturm, den Geruch des Flusses, der sich seinen Weg durch die Weinberge bahnt. Zur Sehnsucht gehören Schönheit und Gefahr. Sturmfluten am Meer, Lawinen in den Bergen. Ist es ein Unterschied, ob ein Kind mit Geschichten über Fischer, Piraten und Deichgrafen aufwächst oder solchen mit Jägern, Förstern und Wilddieben? Das Herz der Studie, mein Anteil, sind Biografien. Erzählte und protokollierte erste Jahre in den Bergen, am Meer, in Dörfern und Städten. Am Rande großer Wälder und stiller Seen. Ich frage nach Kindheiten mit Tieren und Pflanzen, Kindheiten in Beton. Ich frage nach Kinderjahren zwischen guten und bösen Menschen, behütet oder vernachlässigt, geprägt von Lehrern, an die man sich gerne erinnert und Lehrern, die man vergessen möchte und nie vergessen wird. Mich interessieren Kindheiten mit Büchern, Kunst und Musik, in Reichtum und Armut, zwischen Liebe und Kälte. Kaum eine Kindheit ohne Drama und Verlust. Dorthin zurück im Alter – warum?
Ganz einfach, hatte ich behauptet: Wir machen es den Aalen nach. Geboren in der Sargassosee, verlassen sie als Larven die Heimat, das Salzwasser des Atlantiks, treiben sich an den Süßwassermündungen Europas herum, bevölkern Flüsse und Meere und sollten sie den Köchern und Netzen der Menschen entkommen, kehren sie tausende von Kilometer zurück in die Heimat. Paaren sich, laichen. Sterben am Ort ihrer Geburt. So haben es ihre Eltern gemacht, so wird es die eigene Brut wiederholen. Warum? Für Aalforscher noch immer ein Geheimnis. Vielleicht werden wir am Ende unserer Forschung wissen, warum sich die Menschen, wie die Aale, nach ihren Wurzeln sehnen. Heim-Weh ist ein schönes Wort.
Als ich begann, den Menschen Fragen zu stellen, konnte ich nicht ahnen, dass ein Landstrich vor meinen Augen die Farbe verliert, verblasst wie eine alte Fotografie. Dass sich eine Landschaft in meinem Beisein verändert wie ein Bühnenbild im Theater. Erinnerung ist mein Thema: Ich hätte darauf gefasst sein müssen, dass Ereignisse auftauchen, denen es gelungen war, sich viele Jahre perfekt vor mir zu verbergen.
Der Schaffner ruft vertraute Stationen aus. Hammah. Himmelpforten. Hechthausen. Hemmoor. Ich kenne jeden Bahnhof mit seinen verwitterten Schriftzeichen und bleichen Fassaden. Ich kenne die Häuser entlang der Schienen, die Apfelbäume in den Gärten, die Kuhställe und die Hütten der Kettenhunde. Das Haus der Lehrerin Frieda Johannsen – Musik und Sport – ist abgerissen worden. Die meisten Schüler hätten es gerne angezündet, jetzt scharren dort Hühner im Sand. Noch immer weckt dieser Ort Gefühle von Ohnmacht und Hass, Erinnerungen an vernichtende Sätze für falsche Töne und ungelenke Glieder. Noch eine kurze Strecke, dann verkündet der Schaffner die Endstation. Heimat. Ich stehe auf dem Bahnsteig und hole tief Luft. Hatte Ihre Kindheit einen Geruch? Oh, ja. Gammel. Die Fischmehlfabrik hat alle Bürgerwut überstanden.
Ich habe eine Wohnung mit zwei großen Zimmern gemietet, Blick auf Strand und Meer, eine Schlafkammer mit Ehebett und Wandschränken bis zur Decke. Ankommen heißt auspacken, sich ausbreiten, Räume besetzen, sie anpassen, mich anpassen. Wenn ich es aushalte, bleibe ich ein Vierteljahr. Ich schaue mir alles, was auf Tischen und Fensterbänken steht und an den Wänden hängt, genau an. Viel trauriger Heimatkitsch auf fünfzig Quadratmetern Wohnfläche und keine Chance für die Augen, ihm auszuweichen. Ich nehme die Stoffhexen und Strohtrolle von der Wand, entferne das grobmaschige Fischernetz, das im Flur von der Decke hängt, verstaue die Häkeldecken im Küchenschrank, ziehe die Piratenflagge aus der Vase. Gegen die Klobürste, die im Rücken eines Porzellandelphins steckt, kann ich nichts unternehmen. Ich entdecke auf der Fensterbank eine Keramikschale, auf dem Boden einen Spruch aus dem Poesiealbum: Nutze die Talente, die Du hast. Die Wälder wären still, wenn nur die begabtesten Vögel sängen. Ist das eine Aufforderung, im großen Chor der mäßig Begabten zu zwitschern? Deprimierender kann eine Begrüßung nicht sein. Ich werde die verschnörkelten Buchstaben unter Kartoffeln und Zwiebeln begraben. Ich ziehe die Kunstblumen aus der Vase und sperre sie in den Kleiderschrank. Was noch? Ich werde neues Geschirr kaufen oder üben, aus Tassen zu trinken, auf denen Leuchttürme, einäugige Piratenfratzen, Muscheln und Seesterne prangen, von Tellern zu essen, auf deren Boden unter Kartoffeln und Gemüse Seesterne, Muscheln, Leuchttürme und Piratenfratzen auf mich warten. Aus dem wuchtigen Esstisch mache ich einen Schreibtisch und schiebe ihn ans Fenster. Eine Wand vor den Augen ist wie ein Brett vor dem Kopf.
Ich verteile die Arbeitsunterlagen auf Stühlen, Kommoden und den Teppichen im Wohnzimmer, stelle die Bücher in das Regal zu fünf zerfledderten Nordseekrimis und einem dicken Fischkochbuch. Den ersten Kaffee im neuen Heim trinke ich in dem Strandkorb, der die Hälfte des Balkons einnimmt. Ich habe Zeit. Ich kann dorthin gucken, wo der Himmel das Meer berührt und werde das so lange tun, bis sich meine Augen von den steinernen Grenzen erholt haben, die die Stadt ihnen setzt, bis Sonne und Wind in meinem Kopf für ein gutes Arbeitsklima sorgen. Lange Spaziergänge sollen mir die Hektik aus dem Körper treiben, auch das schlechte Gewissen, dieses ewige Karussell: du sollst, du musst, du hättest längst. Ich werde das Handy nicht ständig in der Hosentasche tragen. Ich kenne hier viele Menschen und werde niemanden anrufen. Ich will nicht, dass mir eigene Erinnerungen in die Quere kommen. Es geht nicht um mich und meine Eltern denken nicht daran, sich im Alter hier wieder anzusiedeln. Sie haben ihre Pension ›Strandperle‹ verkauft und machen nun Betten und Frühstück in einer spanischen ›Perla de la Playa‹ für deutsche Urlauber auf Mallorca.
Erst einmal ankommen. Die Tage laufen lassen. Einen Rhythmus finden zwischen Tag und Nacht, einschlafen und aufwachen, essen gehen und selber kochen. Die Qual beginnt morgens. Aufstehen oder liegen bleiben? Soll die Lust den Tag bestimmen – aber auch die ist wankelmütig. Sagt: Tu, was du willst. Ich zwinge mich zu Spaziergängen und kehre vor der Haustür wieder um. Ich zwinge mich an den Schreibtisch und bin auch dort am falschen Ort. Der Platz, an dem ich es gut aushalte, ist der Strandkorb. Er schützt vor Sonne, Wind und Regen. Ich warte, bis sich ein Rhythmus herstellt zwischen Freizeit und Arbeit wie zwischen Ebbe und Flut. Ich frühstücke auf dem Balkon, döse, lese, schlafe. Am Abend hole ich frische Krabben vom Kutter und esse dazu warmes Brot. Der Strandkorb ist eine Erfindung für Faule, Unentschiedene, ein Möbel für Müde und Träumer.
Hier sitze ich auch nachts, eingehüllt in warme Decken und belausche Wind und Meer, verliere mich in der Weite des Sternenhimmels, fühle mich kleiner als das kleinste Sandkorn am Strand, eine Vorstellung, die tröstet und lähmt. Was immer ich tue – arbeiten, dösen, lieben, weinen –, dem Weltall ist das egal. In dieser Stimmung könnte ich bis zur Fahrrinne schwimmen, so weit, dass die Kraft für den Rückweg nicht reicht und die Strömung mich – wie die Aale – mitnimmt in die Sargassosee. Nachts sind die Möwen stumm. Sie stehen mit geschlossenen Augen im Watt oder lassen sich von den Wellen des Meeres schaukeln und träumen von dicken Fischen.
Das Wasser kommt, das Wasser geht – wie oft man mir Ebbe und Flut erklärt hat! Einfache Physik. Die Ursache der Gezeiten ist eine astronomische, die Reaktion der Meere darauf eine geografische. Kann das jemand wiederholen? Natürlich. Auch erklären? Du, Ragna? Na ja. Erde, Mond und Sonne. Schwerkraft. Anziehungskraft. Fliehkraft. Gravitationskraft. Der Mond ist der Herr der Gezeiten. Und wo bleibt das Wasser, wenn der Herr der Gezeiten es mit sich nimmt? Schon in der Schule war mir Liliencron als Antwort die liebste.
Mitten im Ozean schläft bis zur Stunde ein Ungeheuer, tief auf dem Grunde/ Sein Haupt ruht dicht vor Englands Strand, die Schwanzflosse spielt bei Brasiliens Sand/ Es zieht, sechs Stunden, den Atem nach innen und treibt ihn, sechs Stunden, wieder von hinnen.
Ich habe das Gedicht auswendig gelernt, unter dem Tannenbaum statt der Weihnachtsgeschichte aufgesagt und mich immer wieder neu auf die Verse gefreut, die beschreiben, was passiert, wenn der Mensch das Meer verspottet, verhöhnt, seine Macht unterschätzt, es beleidigt und verächtlich ›Nordseeteich‹ nennt.
Und wie sie drohend die Fäuste ballen/ zieht leis aus dem Schlamm der Krake die Krallen.
Langsam, mit großen Pausen mussten diese Zeilen gesprochen werden, um zu fühlen, wie das Untier erwacht. Ich finde das vollständige Gedicht nicht mehr in meinem Gedächtnis. Es scheint nur die besonders dramatischen Zeilen aufgehoben zu haben:
Die Wasser ebben, die Vögel ruhen/ der liebe Gott geht auf leisesten Schuhen.
Ein Krimi als Gedicht, vielleicht haben sich deshalb die Reime in meinem Kopf gehalten. Ein Stern wandert eilig über den Himmel.
Und überall Friede, im Meer, in den Landen/ Plötzlich, wie Ruf eines Raubtiers in Banden/ Das Scheusal wälzte sich, atmete tief und schloss die Augen wieder und schlief.
Und während sich die Menschen, stolz, die schwarze Gewalt besiegt zu haben, grölend betrinken, nähern sich die gewaltigen Wogen und ein Dichter kann eine Geschichte erzählen:
Heute bin ich über Rungholt gefahren/ die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren.
Ich blättere im Fischkochbuch. Woran erkennt man, ob der tote Fisch ein frischer Fisch ist? Ein frischer Fisch riecht leicht nach Algen. Seine Haut glänzt. Seine Schuppen stecken fest in der Haut und die ist straff gespannt, die Farbe intensiv. Die Augen sind klar, frisch, glänzend, leicht hervorstehend und durchsichtig. Die Kiemen feucht, das Fleisch fest mit perlmuttartigen Reflexen.
Auf dem Balkon werde ich zur Beobachterin des Urlaubs fremder Menschen. Da zieht am frühen Morgen ein Heer von Männern, Frauen und Kindern zum Strand. Sie kommen, wie sie am Vortag gegangen sind. Eine Invasion aus Shorts, Sonnenhüten und Badelatschen. Sie tragen Taschen über den Schultern, in den Händen halten sie Bälle, Schwimmflossen, Schaufeln. Die Landschaft riecht nach Sonnencreme und Bratfisch. Ferientage am Meer haben ihre eigenen Gezeiten. Die nächsten zehn Stunden pendeln die Urlauber zwischen Wasser, Wattenmeer, Imbissbude und Strandkorb, dem perfekten Schutzraum, einer Mischung aus Umkleidekabine, Liegestuhl, Bett und Höhle. Sie machen genau den Urlaub, von dem sie geträumt haben. Sie wollen bräunen, aber nicht verbrennen. Sie wollen lesen, schlafen, Sandburgen bauen. Sie geben ihren Burgen Namen mit Buchstaben aus Muscheln: Seerose. Seehund. Seestern. Seejungfrau. Neptun. Nixe. Auf den Dächern der Strandkörbe trocknen nasse Badeanzüge. Salzwasser zehrt, heißt es, darum liegen – wie in meiner Kindheit und wie in jedem Sommer – immer ein paar sehr dicke Menschen sehr lange im Wasser.
Ich schließe die Augen, stoppe den Trubel, halte alles an, was sich bewegt, verwandle das Strandleben in ein Gemälde. Nun steht der Ball in der Luft. Das Mädchen springt nicht mehr durch das Seil und der Junge, der von seiner Schwester im Sand vergraben wurde bis zum Kopf, bleibt eingegraben.
Wie kann man vor einem Bruegel weinen?
Ich hatte ihn nicht kommen hören. Der Mann war leise hinter mich getreten. Er hatte mir ein Päckchen Papiertaschentücher gegeben, als gehöre es zu den Aufgaben eines Museumswärters, Besucher zu trösten. Er sah, dass ich durch meine Tränen nichts erkennen konnte und begann über das Bild zu sprechen, vor das ich mich geflüchtet hatte an diesem grässlichen Morgen in Wien. Wimmelbild hatte er die Komposition – 1,18 mal 1,61 – aus Farben und Bewegungen genannt, vor der ich nur saß, weil eine sitzende Frau, die heult, weniger Menschen auffällt, als eine, die schluchzend durch die Hallen des Kunsthistorischen Museums irrt.
Mit leiser Stimme begann er, über das Bild zu sprechen. ›Kinderspiele‹ hieß es und zeige, wie er sagte, 168 Jungen und 78 Mädchen und – er lachte – wenn die Experten recht haben: nur zwei Erwachsene. Die Frau dort hinten im Bild, die einen Eimer Wasser über zwei balgende Buben kippt und die Frau im Brautzug vorne in der Mitte. Schauen Sie, sagte er, vor Ihren Augen spielen 246 Kinder über achtzig verschiedene Spiele auf einem niederländischen Platz des 16. Jahrhunderts. Ich warf einen flüchtigen Blick auf das Gemälde, konnte nichts erkennen, nur Farbkleckse, begann aber, zuzuhören.
Seine Stimme war rau und ein wenig brüchig. Ein Rentner als Museumswärter? Er sprach mit viel Freude über das Bild und so melodisch, dass er ebenso gut ein junger Mann hätte sein können. Ich hielt den Kopf gesenkt, ich wusste, dass mein Gesicht rot war und meine Augen klein und verquollen waren. Ich hörte zu, versuchte, die Schublade mit den Socken, die mich hierhergetrieben hatte, zu vergessen, mir das Gewimmel der Motive auf dem unteren, linken Bildrand vorzustellen, über den er sprach: Das Mädchen, das mit der Puppe spielt. Die beiden Kinder, die mit blanken Tierknochen würfeln. Eine Gruppe spielt ›Blindekuh‹, aus dem Fenster guckt ein Kind mit einer Maske, und auf die dunkle Eule dort richtet ein Junge sein Gewehr. Schauen Sie, sagte die Stimme, die Kinder treiben Reifen vor sich her, reiten auf Fässern, hüpfen, klettern, tanzen, spielen zu zweit, zu dritt, in großen und in kleinen Gruppen und alle haben diese runden Bruegel-Köpfe mit den schwarzen Knopfaugen, die die Kinder ein wenig starr und fassungslos und trotz der Spiele wenig glücklich aussehen lassen. Manch eines wirkt gar drangsaliert. Man muss das Bild lieben wie den Marktplatz vor der eigenen Haustür, um den kleinen Pisser zu entdecken, der dort an der Friedhofsmauer hockt und sich selbst beim Pinkeln zuschaut. Wenn Sie genau hinsehen, erkennen Sie den Strahl und ahnen den winzigen Pimmel, der ihn zu faszinieren scheint.
Ich spürte, wie mir neue, warme Tränen über das Gesicht liefen. Vielleicht könnte ich eines Tages darüber lachen, dass ein Bruegel in Halle X des Kunsthistorischen Museums in Wien das Ende meiner Flucht aus der Wohnung des Mannes war, der mir so nah gestanden hatte wie niemand zuvor. Seit drei Jahren sah ich ihn jedes Wochenende, mal in meiner Stadt, mal in seiner. Die Frau meines Lebens hatte er mich genannt und ich zweifelte keine Sekunde, dass ich mit diesem Mann mein Leben teilen würde. In meiner Stadt oder in seiner oder irgendwo dazwischen, egal, ich würde ihm in die Wüste folgen und er mir zum Nordpol. Oft konnte ich in der ersten Nacht des Wiedersehens nicht schlafen. Ich lag neben ihm, lauschte seinen Atemzügen, verglich seinen Atem mit meinem. Er atmete schneller als ich. Auf einen meiner Atemzüge kamen drei von ihm. Ich mochte sein leises Schnarchen und wie er sich, als wären wir ein Körper, mit mir von einer Seite auf die andere drehte in warmer Geborgenheit. In der ersten Nacht nach einer Woche der Trennung raubte mir das Glück den Schlaf. Das Glück und die Angst. Mit dem Glück, diesen Mann gefunden zu haben, war auch die Angst gekommen. Nicht vor dem Ende der Beziehung, die konnte es nicht geben, es war die Angst vor dem Ende seines Lebens oder meines. Die Angst vor dem Ende des Glücks.
Und dann kam dieser Morgen, an dem der Zufall ein Teufel war. Tom war vor mir aufgestanden, hatte eine große Tasse süßen Milchkaffee auf den Nachttisch gestellt und sich mit einem Kuss verabschiedet: Bleib liegen, Ragna, ich hole Eier und Baguette und das Buch von den Hartliebs. Ich nickte. Ich kannte seine Lieblingsbuchhandlung, man liest sich dort fest, er würde vor einer Stunde nicht zurück sein. Wäre ich im Bett geblieben, säße ich jetzt nicht im Saal X zwischen einem Bruegel und einer Stimme, die sagte: Schauen Sie, die Buben gehen auf Stelzen. Die Kinder spielen: Fang mich, trag mich, reit auf mir. Und der Kleine dort, der will die Hauswand erklimmen. Und was sich im Garten abspielt! Da sitzt ein Junge, die Beine verknotet wie ein Jogi und lächelt mit geschlossenen Augen bis in alle Ewigkeit. Und neben ihm steht einer auf dem Kopf und der dritte im Bunde – das soll wohl, wenn es fertig ist, ein Handstand werden.
Ich war nicht im Bett geblieben. Ich war aufgestanden, hatte den Tisch gedeckt, geduscht und festgestellt, dass ich vergessen hatte, Socken einzupacken. Ich war in dieser Wohnung zuhause wie in meiner, also zog ich die Schublade auf, in der er seine Strümpfe aufbewahrte, suchte zwischen den blauen und den schwarzen nach einem Paar weißer Socken und stieß mit den Fingerspitzen an etwas Hartes, dachte an ein Stück Pappe, das neue Strümpfe zusammenhält, zog daran und hatte eine Postkarte in der Hand. Ich hätte sie nicht betrachten müssen, aber da stand der Teufel schon neben mir.