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"Es war in doppelter Hinsicht ein mörderischer Sommer." Während eine extreme Hitze den Norden der USA fest im Griff hat, wird Barry Monroe im Zuge seines Praktikums bei der Polizei zu einem mysteriösen Mordfall gerufen. Im bekannten Nobelhotel am Fuße der Oakhill Mountains wurde die Leiche einer jungen Frau gefunden. Sie ist kaum älter als er selbst und starb unter geheimnisvollen Umständen. Barry und seine neuen Kollegen von der Polizei machen sich auf die Suche nach dem Mörder der jungen Frau, aber sie stoßen dabei immer wieder an ihre Grenzen. Und während zur gleichen Zeit die Bewohner von Haywood Grove um den Erhalt ihres geliebten Oakhill Forest kämpfen müssen, dringen Barry und seine Freunde immer tiefer in den Mordfall ein und stoßen dabei auf einen Skandal, der die ganzen Vereinigten Staaten erschüttern könnte... Der 2. Fall für Barry Monroe: noch spannender, noch komplexer und noch geheimnisvoller!
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Seitenzahl: 482
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Dominic Spinner
Sommersturm
Das Geheimnis von Haywood Grove
Ein Fall für Barry Monroe
Dominic Spinner
Sommersturm
Das Geheimnis von Haywood Grove
Ein Fall für Barry Monroe
Sommersturm – Das Geheimnis von Haywood Grove
© 2022 Dominic Spinner
Umschlag, Illustration: Dominic Spinner
Lektorat: Sonja Paulus
Korrektorat: Susanne Spinner, Alisa Spinner, Nicolas
Spinner, Martin Spinner
ISBN Softcover:
978-3-347-72260-6
ISBN Hardcover:
978-3-347-72261-3
ISBN E-Book:
978-3-347-72262-0
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 4044, 22359 Hamburg, Deutschland.
Für Oma.Die durch Barry die späte Liebe zum Lesen gefunden hat.
1
Ihr Name war Johanna Myles.
Sie hatte langes, rotbraunes Haar und war 1,70 m groß. Das Polaroid-Foto von ihr in meiner Hand zeigt sie auf dem Abschlussball der High School in einem olivgrünen Abendkleid. Sie hatte ihre Haare zu einer pompösen Frisur hochgesteckt. Ihre katzenartigen grünen Augen stellten eine nahezu perfekte Symbiose mit ihrem Kleid dar, als hätte sie in den Online-Shops und Shopping Malls dieser Welt genau nach diesem einen Farbton gesucht.
Sie lächelte in die Kamera, wie es diesem Anlass nur gerecht werden konnte. Ihr Strahlen hatte eine ansteckende Wirkung und ich stellte mir vor, wie etliche Menschen um den Fotografen herum in ihrer Nähe standen und ebenfalls mitlachten; wie ihre Eltern und ihre Freunde nur darauf warteten, endlich ein Foto mit ihr aufnehmen zu können. Der Star des Abends, die Tochter, die Freundin, die Partnerin, die den High School Abschluss gemacht hatte. Und dafür zurecht gefeiert wurde.
Für mich selbst war dieser Moment gar nicht so lange her. Ja, schon gut, mein eigener Abschluss würde noch ein gutes Jahr auf sich warten lassen. Aber erst vor wenigen Wochen hatte meine Schwester Kelly ebenso strahlend in die Kamera geblickt, während wir Arm in Arm in der feierlich dekorierten Halle der Haywood High gestanden hatten.
Wir waren so glücklich gewesen. So stolz auf Kelly. Und genauso musste es auch Johannas Familie gegangen sein.
Johanna Myles liebte es zu tanzen. Als Kind hatte sie bereits damit angefangen. Hiphop, Streetdance. Nicht umsonst trat sie sofort den Cheerleadern bei, als sie noch kaum einen Schritt durch die Eingangstür der Haywood High gesetzt hatte. Und obwohl sie zu den erfolgreichen, beliebten Schülerinnen gehörte, war sie stets eine, die das Auge für die Kleineren hatte. Sie war hilfsbereit, gab jüngeren Schülern Nachhilfe und brachte den Mädchen das Tanzen bei. Sie war eine Gute. Ein ganz normales Mädchen eben.
Ich lege das Foto auf den Schreibtisch zurück. Im matten Licht meiner Schreibtischlampe glänzt es leicht. Vier Jahre ist dieses Foto alt. Was danach folgte, war nahezu der klassische Weg eines amerikanischen Mädchens. Johannas Eltern waren weder arm noch sonderlich reich. Klassische Mittelschicht. Dennoch ermöglichten sie ihrer Tochter nicht nur ein Studium an der School of Law der University of Washington in Seattle, nein, zuvor war Johanna ein paar Monate auf Reisen gewesen. Europa, wie ihre Eltern erzählten. Barcelona, Paris, London, Stockholm. Quer über den Kontinent, ihre Freundin Emma Davis und das Gefühl unendlicher Freiheit immer an ihrer Seite.
Glücklich und voller neuer Erfahrungen kehrte sie zurück in den Nordwesten der USA, zog nach Seattle, um dort Jura zu studieren. Sie lernte neue Leute kennen, schrieb gute Noten und war glücklich – und fand immer wieder den Weg zurück nach Hause. Sie vergaß nie, wo sie herkam.
Warum ich euch das alles erzähle? Nun, weil Johanna eine wichtige Rolle in dieser Geschichte spielen wird. Aber ich bin mir sicher, sie hätte liebend gerne darauf verzichtet.
Denn unsere Geschichte beginnt mit einem tragischen Ereignis. Plötzlich war Johanna Myles in aller Munde, stadtbekannt und Auslöser eines Gefühls, auf das die meisten Bürger in Haywood Grove gerne verzichtet hätten.
Sie war 22 Jahre alt, als ihre Leiche an einem 17. Juni gefunden wurde.
Ich bin Barry Monroe und hier beginnt die Suche nach dem Geheimnis von Haywood Grove.
2
Ich glaube, jeder in Haywood Grove weiß, was er an diesem Tag gemacht hat. Es war so eines dieser Ereignisse, von dem die Leute sich noch in vielen Jahren erzählen würden. Wie sie gerade die Koffer für den lang ersehnten Urlaub gepackt, mit den Kindern gespielt oder die Strandtasche für einen Tag am Kawanga Lake über die Schultern geworfen hatten, als die Nachricht eintraf.
Es gab eine Tote in Haywood Grove.
Und nicht wenige behaupteten, dass unser kleines, friedvolles Städtchen einem Fluch unterliegen würde, denn es könne doch nicht sein, dass so etwas schon wieder passierte. Aber es war so. Keine neun Monate, nachdem in Haywood Grove ein Mörder sein Unwesen getrieben hatte, ging alles wieder von vorne los.
Der 17. Juni war ein heißer Tag. Der Sommer hatte uns mit voller Wucht im Griff. Die Luft stand auf den Straßen und wer konnte, suchte den Weg ins Wasser. Ich glaube, ich meckere jedes Jahr über die Hitze – und vielleicht ist das ein Satz, den ich jedes Jahr wieder zum Besten gebe: Aber gottverdammt, so heiß war es im Nordwesten der USA doch noch nie?!
Die Sommerferien kamen gerade zur richtigen Zeit. Die letzten zwei Wochen in der Schule waren eine Qual gewesen. Mit zwanzig anderen jungen Menschen eng aneinander gepfercht in unserem Klassenzimmer zu sitzen, nachdem die Noten gemacht waren und es nur noch darum ging, das lang ersehnte Datum des letzten Schultags zu erreichen, war das eine. Aber dass es in dieser Zeit in unserem Klassenzimmer schon locker die dreißig Grad überstieg, das war selbst für mich disziplinierten Schüler zu viel.
Wobei die Sommerferien nur bedingt Besserung brachten. Was tut man auch, wenn jeder Schritt einen ins Schwitzen bringt und es das Beste ist, den ganzen Tag im Haus zu verbringen? Nun ja, ich sage es euch: Barry Monroe weiß es ja besser. Ein Hoch auf diesen so super engagierten jungen Mann. Aber dazu gleich mehr.
Denn wir waren ja beim 17. Juni stehen geblieben, dem Tag, an dem die Leiche von Johanna Myles gefunden wurde. Um 8:49 Uhr ging der erste Anruf bei der Polizei ein, dass die Leiche einer jungen Frau in einem Zimmer des Royal Espen Hotel gefunden worden war. Um 9:17 Uhr waren die ersten Beamten vor Ort, hielten schaulustige Hotelgäste vom Tatort fern und verschafften sich einen ersten Überblick. Um 9:38 Uhr wurde der erste Tweet auf Twitter veröffentlicht, kurze Zeit später kursierten Fotos der Polizei aus dem Hotel auf WhatsApp. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ganz Haywood Grove im Bilde war. Die Spurensicherung sammelte jeden noch so kleinen Beweis, den es im Hotelzimmer zu finden gab, während deren Kollegen sich sofort an die Befragung der Mitarbeiter des noblen Hotels am Fuße der Oakhill Mountains machten.
Ihr fragt euch sicherlich, warum ich darüber so genau im Bilde war. Nun, dazu muss ich erst noch etwas ausholen.
Nach der Mordserie aus dem vergangenen Herbst, die sogar überregional für Schlagzeilen gesorgt hatte, hatte man es für nötig empfunden, die Polizeiwache in Haywood Grove ein bisschen aufzupimpen. Sprich: Neben Travis Prescott, dem Bruder eines meiner besten Freunde, und Chester Holfield, der unerklärlicher Weise immer noch das Sagen hatte, hatten drei weitere Kolleginnen und Kollegen ihre Zelte in der Avondale Road Nummer 3 aufgeschlagen.
Martha Barnes, 43, Pathologin und zugleich Kriminaltechnikerin. Man hatte sie aus Kennewick hierher versetzt, worüber sie ihre Freude tagtäglich an ihren Kollegen ausließ. Glaubt mir: Hört dieser Frau eine halbe Stunde zu und Haywood Grove sieht aus wie Mordor aus Der Herr der Ringe.
Stanley Peterson, 58, der neue Techniker im Revier. Zuständig für alles, was IT angeht - aber auch der Mann für die Recherche im Hintergrund. Wenn ihr mich fragt: Stan zählt die Tage herunter, bis er in Rente kann - es fehlen nur die Striche an den Wänden wie in einer Gefängniszelle. Eigentlich ein herzensguter Mensch, aber Motivation und Geschwindigkeit kann man von ihm nicht erwarten.
Ach ja, und Nummer drei solltet ihr vielleicht kennen: Barry Monroe, frische 18, Schüler an der Haywood High, der die Sommerferien über sein Praktikum bei der Polizei macht. Und das nur, weil Job Nummer eins - Journalist bei der Haywood Daily - schon vergeben war (ich glaube ja, dass sie mir immer noch krummnehmen, dass die Haywood Post, meine Schülerzeitung, ihnen mehr als einmal die Show gestohlen hat).
Tja, und weil es in Haywood Grove so war, dass dort lediglich alle Schaltjahre etwas passierte, verbrachten wir unsere Zeit damit, ungelöste Fälle von anderen Revieren der Umgebung zu durchforsten, um die eine Haarnadel zu finden, die zur Lösung eines der Fälle beitragen könnte.
Und dann kam der 17. Juni und Peng! - jetzt konnten wir alle zeigen, was in uns steckte.
Selbst für meine eingefleischten Kollegen war eine Leiche hier nichts Alltägliches. Einzig Martha hatte sich Tag für Tag beschwert, dass „in diesem Kaff nie etwas passiert“ und dass es eine einzige Geldverschwendung sei, „diesen Haufen Möchtegernuniformierte hier am Ende der Welt in ein Büro zu sperren“. Ist sie nicht liebenswert?
Und so kam es, dass Travis und ich früh an diesem Morgen durch den Oakhill Forest in Richtung Berge fuhren, um im Urlaubsdomizil gut betuchter Wanderer eine tote junge Frau zu begutachten.
Am Rande der Landstraße, inmitten der saftig grünen Bäume unseres schönen Waldes, thronte das Royal Espen Hotel. Im Hintergrund stiegen die Berge auf. Das Gebäude gab mit seinem prächtigen Haupteingang und dem mit Säulen verzierten Vorbau ein beeindruckendes Bild ab. Ich war vorher noch nie hier gewesen, hatte das Hotel lediglich von der Straße aus betrachten können.
Auch das Innere ließ definitiv nichts zu wünschen übrig. Die Lobby mit der Rezeption war mit allerlei Sitzmöbeln ausgestattet, die keinesfalls altmodisch aussahen, sondern von einem gewissen modernen Chic zeugten. Ich fühlte mich wie in eine andere Welt versetzt. Viele Hotelgäste kamen uns auf unserem Weg entgegen, mit Wanderstöcken und Rucksäcken bewaffnet, um diesen Sommertag in der schattigen Kühle des Oakhill Forest zu verbringen.
„Ich konnte ja nicht ahnen, was … naja, was sich dahinter verbirgt“, stammelte Amanda Wandrove, die Frau vom Zimmerservice, kurz darauf in einem der ruhigen Nebengänge des Hotels. Sie war diejenige gewesen, die die Leiche gefunden hatte. Jetzt hielt sie sich zitternd mit einer Hand an ihrem Putzwägelchen fest. Ihr Blick schwang aufgeregt zwischen Travis und mir hin und her.
Ich kam mir doof vor, in Zivilkleidung hier aufzutauchen, während Travis natürlich seine Uniform trug. Fühlte sich so an, als wäre ich genau der Praktikant, der ich nun mal war. Aber das musste ich Amanda Wandrove zugutehalten: meine Kleidung war ihr völlig egal. Sie stand so unter Schock, dass sie einfach nur froh war, die Polizei hier zu wissen. Im Hintergrund standen ein paar Senioren tuschelnd beieinander. Sicherlich würde es nicht mehr lange dauern, bis die Frage käme, was die Polizei hier zu suchen habe. Möglicherweise hatte der Fund aber schon die Runde gemacht. Wäre dies eine High School, hätte die Zeit bis wir eintrafen jedenfalls längst gereicht, um ein Gerücht in alle Ecken zu verstreuen.
„Ich … ich habe das Mädchen noch nie gesehen, müssen Sie wissen. Aber wir kennen ja unsere Gäste nicht wirklich. Nur deren … naja, deren Zimmer … wir treffen selten jemanden an. Zum Glück, ich meine, man will ja auch nicht zwischen den Leuten putzen, während die sonst was zu erledigen haben. Nein, nein … die Ruhe ist ja eigentlich schon ganz angenehm auf diesen Zimmern … Wobei ich ja schon so einiges erlebt habe, das können Sie mir glauben.“ Sie lachte trocken.
„Sie haben die Frau also noch nie gesehen? Wissen Sie, wie sie heißt?“
Amanda Wandrove schüttelte den Kopf. „Nein, weiß ich nie. Wir orientieren uns an den Zimmernummern, mehr nicht.“ Nun kam doch ein kleines Lächeln zustande. „Ich wüsste schon gerne manchmal, wer so hinter dem Chaos in so einem Hotelzimmer steckt. Hier ins Royal Espen kommen ja auch ganz berühmte Leute … Da ist es schon schade, nicht zu wissen, wer … aber naja, so ist es nun mal …“
Travis nickte. „Ist Ihnen sonst etwas Ungewöhnliches aufgefallen?“
„Reicht das nicht?“, fragte Wandrove und deutete zur geschlossenen Tür.
„Sagen Sie es mir.“
„Nein, nichts Ungewöhnliches“, gab sie nach kurzem Überlegen zu Protokoll. „Gar nichts. Alles eigentlich wie immer.“ Sie machte eine kurze Pause. „Es hing das ‚Nicht stören‘-Schild. Gestern habe ich im Zimmer gar nicht geputzt, weil es den ganzen Tag hing. Ich habe mich noch aufgeregt und meiner Kollegin kurz vor Feierabend davon erzählt. Sie müssen wissen … wenn nicht alle Zimmer abgehakt sind … mein Chef ist da pingelig … Qualität und erstklassiger Service und dieses bla bla …“
„Und heute?“, fragte Travis und fügte als Reaktion auf Amanda Wandroves fragenden Blick hinzu: „Ich meine, hing das Schild heute noch?“
„Ja, sicher.“
„Und Sie sind dennoch reingegangen?“
Amanda Wandrove zierte sich. „Ich… wie gesagt, mein Chef …, wenn … naja, zwei Tage nacheinander, das wäre … und da dachte ich, ich versuche es einfach mal …“
Wieder nickte Travis und bat sie, uns die Tür zu öffnen. Ein Kollege von der Spurensicherung kam uns gleich entgegen und reichte uns Plastiküberzieher für unsere Schuhe, damit wir keine Spuren verwischten.
Ungeachtet unserer Mordfälle vom vergangenen Jahr war dies meine erste Leiche. Wo hätte ich auch sonst bislang eine sehen sollen?
Bevor ihr jetzt meine neuen Kollegen – und meine reizende Kollegin – verurteilt: Ich war selbst schuld daran, dass ich die Leiche von Johanna Myles sehen durfte. Musste. Konnte. Ich bin mir immer noch nicht sicher, welches Verb ich dafür nehmen sollte. Denn der Leichenfund-Barry war in dem Moment ziemlich sauer auf den Vergangenheits-Barry, der sich auf eigene Faust zuerst gegen Travis, dann gegen Stan und schließlich mit seiner ständigen Fragerei sogar gegen Holfield durchgesetzt hatte, der mich mit einem lässigen Schulterzucken und dem Satz „Wir mussten alle irgendwann mal anfangen“ nach draußen entließ. Ironie des Schicksals war, dass Holfields “Anfang“ vor einem dreiviertel Jahr die Leiche von Ronda Watkins war.
Als ich Johanna Myles da liegen sah … Ich weiß nicht mehr so richtig, was mir durch den Kopf ging. Jedenfalls spürte ich, wie mein Herz zu pochen anfing und wie sich eine leichte Gänsehaut auf meinem linken Arm breit machte. Diese junge Frau … sie war nur wenige Jahre älter als ich … Sie könnte meine große Schwester sein. Mir fiel es umso schwerer, sie zu betrachten, als ich plötzlich an Kelly denken musste und alles in mir sich weigerte, den Gedanken zu verfolgen, dass dies genauso gut sie sein könnte. Mitten im Leben aus eben jenem entrissen, all der Erlebnisse und Freuden beraubt, die noch vor ihr gelegen hätten. Ich musste mir eingestehen, dass es verdammt schwer war, mich aufrecht zu halten. Es lag nicht am Geruch oder ihrem starren Blick – nein, es lag einzig und allein daran, dass für mich in diesem Moment der Tod so real war, wie nie zu vor. Mir wurde schlagartig klar, wie endlich das Leben und wie fragil doch alles um uns herum. Selbst die um uns wuselnden Leute von der Spurensicherung, die aus dieser traurigen Situation eine Art sterile, einstudierte Szene machten, konnten mir nicht den Kloß im Hals nehmen, den ich beim Anblick von Johanna Myles Leiche spürte.
Niemand hatte ihre Leiche bislang angerührt. Sie lag rücklings auf dem weißen Laken des Boxspringbetts, das nahezu wie frisch gemacht aussah. Ihr Kopf lag nahe am Fußende, sodass die langen, rotbraunen Haare außen am Bett herunterhingen. Niemand hatte ihre Augen geschlossen. Ihr Blick ging starr zur Decke. Der Mund war leicht geöffnet, so als würde sie noch ein letztes Mal etwas sagen wollen. Doch das war verlorene Liebesmühe.
Wie sich wohl ihre Stimme angehört hatte?
Sie trug ein leichtes Sommerkleid, ein buntes Blumenmuster auf einem schwarzen Untergrund. Die weißen Sneaker an ihren Füßen schienen neu zu sein – vielleicht waren sie aber auch erst vor kurzem frisch gewaschen worden.
Ich beobachtete Martha Barnes, unsere Pathologin, die, gemeinsam mit Kollegen der Spurensicherung aus dem benachbarten Sainsville, jedes noch so kleine Haar in Plastiktütchen steckte. Sie reichte Travis eine kleine Handtasche. „Die Tote heißt Johanna Myles, 22. Geldbeutel inklusive Ausweis sind drin. Das Smartphone fehlt allerdings.“
Travis zog eine Augenbraue in die Höhe, ging aber nicht weiter darauf ein. „Danke.“
„Kanntest du sie?“ fragte Martha.
Er seufzte. „Vom Sehen, ja. Sie war mit mir auf der Haywood High.“
„Dachte ich mir.“ Martha nickte und setzte ihren Rundgang fort. Sie deutete auf das Kleid der Toten. „Es war keine Vergewaltigung. Sie trägt ihre Unterwäsche noch. Das wäre ansonsten arg makaber vom Mörder gewesen.“
„Das wäre es sowieso“, meinte Travis kurz angebunden.
„Du bist dir sicher, dass sie ermordet wurde?“, fragte ich.
„Definitiv. Sie wurde erstickt. Ich schätze, dass es ein Mann war. Große Hände, Mund und Nase zugehalten. Sie hat sonst keine äußeren Verletzungen. Ein, zwei blaue Flecken an den Unterarmen. Ich schätze, da hat er sie gepackt. Aber mehr kann ich euch erst nach der Obduktion sagen.“
Travis sah sich die Leiche der jungen Frau genauer an. Martha lief mit einer Spiegelreflexkamera um das Bett herum und schoss Fotos. Das Geräusch des Auslösers der Kamera drängte sich in die unangenehme Stille. Ich verzichtete darauf, mich näher mit der Leiche zu befassen, sondern spazierte langsam durch den Raum. Die beiden Kriminaltechniker aus Sainsville in ihren weißen Overalls nahmen kaum Kenntnis von mir, während sie mit Wattestäbchen und Plastiktütchen hantierten.
Irgendetwas in diesem Hotelzimmer kam mir komisch vor. Ich hatte es schon beim ersten Eintreten verspürt, war aber so vom Anblick der Leiche getroffen worden, dass ich diesen Eindruck erst einmal bei Seite geschoben hatte. Jetzt, da ich einmal durch das Zimmer lief und einen Blick in das üppige Badezimmer mit teuerstem Interieur warf, wurde mir klar, was mich schon von Anfang an stutzig gemacht hatte.
„Travis, kannst du mal kurz kommen?“
„Hast du was gefunden?“, fragte er. Wir standen beide im Türrahmen und bestaunten das Badezimmer.
„Das wäre zu viel gesagt“, gab ich zu. „Nichts gefunden träfe es eher.“
„Ich liebe es, wenn du in Rätseln sprichst“, murrte Travis. „Spuck’s schon aus. Ich kenne deinen Detektivblick.“
„Findest du es nicht seltsam, dass dieses Hotelzimmer vollkommen unbewohnt aussieht? Kein Koffer, keine Klamotten, nicht einmal eine Zahnbürste am Waschbecken.“
„Verdammt, dass mir das nicht gleich aufgefallen ist.“ Travis drehte sich zu Martha um. „Habt ihr schon irgendwelche Habseligkeiten hier rausgetragen?“
„Sehen wir aus wie Amateure? Die Handtasche war das Einzige, was wir hier gefunden haben.“
„Also gibt es nur zwei Möglichkeiten“, schlussfolgerte Travis. „Nummer eins: Der Mörder hat alles mitgenommen.“
„Und die Handtasche dagelassen“, warf ich ein.
„… weswegen ich Nummer eins auch ausschließe. Tja, dann bleibt nur Nummer zwei. Johanna Myles hat nicht in diesem Zimmer gewohnt.“
3
Erleben Sie eine unbeschwerte Zeit inmitten der idyllischen Landschaft im Norden des Evergreen State. Das Royal Espen Hotel bietet seinen Gästen in 192Zimmern eine Wohlfühlatmosphäre vom Allerfeinsten. Unser Serviceversprechen und unsere Drei-Sterne-Küche sind über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Wir freuen uns, Ihnen die beste Zeit Ihres Lebens bescheren zu können.“
Mit einem schmallippigen Grinsen legte ich den Flyer wieder auf die Theke der Rezeption. Bei manchen ist es die letzte Zeit ihres Lebens, dachte ich mir, Johanna Myles traurigen Blick vor Augen. Das geschäftige Treiben in der Lobby war mittlerweile abgeebbt. Ich war mir nicht sicher, ob der Leichenfund so schnell die Runde gemacht hatte, oder ob alle Gäste einfach auf ihren Tagesausflügen waren.
Mir blieb aber auch keine Zeit mehr, mir über solche Banalitäten Gedanken zu machen. Eine schlanke Frau Mitte Vierzig im Anzug mit schulterlangen Haaren lief geradewegs auf uns zu und schüttelte uns die Hände. „Amber Gready“, stellte sie sich vor. „Ich bin die Managerin des Hotels. Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie habe warten lassen.“
„Kein Problem“, sagte Travis lächelnd. „Ich bin Travis Prescott und das ist mein Kollege Barry Monroe.“ Okay, Leute, das fühlte sich schon cool an, von ihm als „Kollege“ bezeichnet zu werden. Amber Gready sah mich kurz an, nickte mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, fixierte dann aber Travis. Ich war ihr wohl zu jung und vielleicht ohne Uniform zu wenig offiziell. Aber damit konnte – oder musste – ich leben.
„Lassen Sie uns da drüben einen Moment Platz nehmen“, schlug Gready vor. Wir setzten uns in eine Sitznische am Rande der Lobby, wo wir ungestört miteinander reden konnten. „Ich … ich bin immer noch geschockt, was in meinem Hotel geschehen sein soll. Ich bin untröstlich. Ich hoffe, Sie können schnell Licht in das Dunkel bringen.“
„Das hoffen wir auch“, meinte Travis. „Ms Gready, wir würden Ihnen und Ihren Mitarbeitern gerne ein paar Fragen stellen.“
„Fühlen Sie sich frei, Mr Prescott. Mein gesamtes Team steht Ihnen zur Verfügung.“
„Danke. Können Sie mir sagen, ob die Tote – sie hieß Johanna Myles – in diesem Zimmer gewohnt hat?“
Gready öffnete eine kleine Mappe und blätterte durch Papier, das nach frischer Druckertinte roch. „Hm, nein … Zimmer 247 richtig? Nein, ich … ich habe da keine Johanna Myles. Ein gewisser T. Barron, allerdings … das ist komisch. Ich habe keine sonstigen Daten über diesen Mr Barron. Sie müssen nachher mal mit Rudy Hammond reden, das ist unser Rezeptionist, der aktuell Schicht hat. Vielleicht kann er mehr dazu sagen.“
„Keine weiteren Daten über diesen Mr Barron, sagen Sie?“
„Nein … das ist äußerst seltsam.“
„Welche Daten sammeln Sie denn sonst noch?“, fragte ich dazwischen.
„Adresse, Wohnort, Alter, Kreditkartennummer … das volle Programm. Sie müssen wissen, wir sind ein exklusives Hotel … wir sind nicht die billigsten, möchte ich sagen. Aber alles hat nun mal seinen Preis. Jedenfalls … es ist unsere Absicherung, dass sich niemand eine teure Nacht in unseren Zimmern erschleicht und am nächsten Tag vom Erdboden verschluckt ist.“
„Verstehe. Danke.“ Ich machte mir ein paar Notizen in meinem neuen Notizbuch, das heute zum ersten Mal zum Einsatz kam.
„Wie lange hat dieser Barron das Zimmer gemietet?“
Nach einem kurzen Blick auf ihre Mappe antwortete Gready: „Noch drei Tage. Er ist seit sieben Tagen hier.“
„Haben Sie die junge Frau schon im Hotel gesehen?“ fragte Travis.
Gready schüttelte den Kopf. „Nein, aber das ist nichts Ungewöhnliches. Ich arbeite mehr im Hintergrund, organisiere, plane … Ich bin nicht oft direkt hier am Ort des Geschehens. Hotelmanagerin hört sich so besonders an, aber ich bin fast den ganzen Tag an den Schreibtisch gefesselt …“
Ich sah mich unauffällig in der Lobby um, während sie sprach. Sie blickte sowieso oft zu Boden oder zu Travis. Da fiel mir etwas in der Nähe der Rezeption auf.
„Ms Gready“, ich deutete an die Decke seitlich der Rezeption, „ist das eine Überwachungskamera?“
Sie nickte. „Sicher. Wir erfüllen die höchsten Sicherheitsstandards zum Schutz unserer Gäste.“ Sie stockte, als ihr einfiel, dass eben diese Sicherheitsstandards vor kurzem völlig versagt hatten.
Travis nickte mir anerkennend zu. „Wir hätten gerne sämtliche Überwachungsbänder.“
„Ich werde Richard, unseren Sicherheitschef, damit beauftragen“, versprach Gready. „Allerdings … die Bänder werden nach 5 Tagen überschrieben, das sei nur schon mal gesagt.“
Travis runzelte die Stirn.
Gready rechtfertigte sich gleich: „Speichermangel. 24 Stunden Videoaufnahme fressen so einiges. Es sind in diesen modernen Zeiten ja keine richtigen Bänder mehr; das liegt jetzt alles auf einer Festplatte. Aber … wir hatten die auch noch nie gebraucht …“
„Schon gut, wir nehmen, was wir kriegen können. Aber das heißt, dass wir diesen Mr Barron nicht auf den Aufnahmen haben werden.“
„Außer er ist seit dem Check-In nochmal an der Rezeption gewesen“, wandte ich ein.
„Hoffen wir es. Ms Gready, wir müssen auf jeden Fall mit Ihrem Rezeptionisten sprechen. Wissen Sie, ob er Schicht hatte, als dieser Mr Barron eingecheckt hat?“
Gready atmete einmal tief durch. „Puh, gute Frage. Ich müsste den Schichtplan anschauen. Hier ist keine Uhrzeit vermerkt, zu der der Mann eingecheckt hat. Also, mit Sicherheit kann ich Ihnen da leider gar nichts sagen.“
Travis nickte. „Okay, danke.“ Er reichte ihr seine Visitenkarte. „Wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt, rufen Sie mich an.“
Wir wollten uns gerade wegdrehen, da hielt Gready uns auf. „Hören Sie, Mr Prescott.“ Sie kam näher und sprach im Flüsterton weiter. „Diese … Sache hier … das bleibt ja unter Verschluss, nehme ich an. Also, Sie verstehen schon … der Name des Hotels muss ja nicht unbedingt in den Medien auftauchen …“
Travis verzog keine Miene. „Ich glaube, dafür ist es schon zu spät. Wie sagten Sie vorhin? ‚Moderne Zeiten‘? Loggen Sie sich mal bei Twitter ein – auch wenn Ihre Kundschaft … etwas betagter ist … naja, passiert ist es wohl schon, wie ich gehört habe.“
Ihre Gesichtszüge entgleisten. „Das …“ Sie blieb starr stehen, während wir uns umdrehten und Travis sich ein leichtes Grinsen nicht verwehren konnte. Im Hintergrund hörten wir sie hastig nach einer anderen Frau rufen. „Jeanette, hör zu, du musst sofort eine Pressemitteilung aufsetzen … ja … ja, genau … Schreib so etwas in der Art, dass das Royal Espen weiterhin ein sicherer Ort ist und … oh genau, das ist eine gute Idee! …, dass es unserem überaus umsichtigen Personal gelungen ist, Schlimmeres zu verhindern … Ja, das ist gut …“
Ich rollte mit den Augen. Hauptsache der Ruf des Hotels litt nicht. Dass da oben eine junge Frau lag, interessierte die Managerin schon jetzt nicht mehr. Es schien, als wäre der Tod von Johanna Myles nur eines für sie: überaus lästig.
Wir widmeten uns dem Rezeptionisten, Rudy Hammond. Er war ein älterer Herr mit kantigem, eingefallenem Gesicht und einem Schnauzbart. Trotz der Hitze sah er aus wie aus dem Ei gepellt – kein Tröpfchen Schweiß. Und das, obwohl die Klimaanlage in der Lobby äußerst sanft eingestellt war. Seine rechte Hand haftete auf der Computer-Maus, als wäre sie mit Sekundenkleber befestigt. Mit der anderen Hand gestikulierte er beim Reden, was ein bisschen roboterartig anmutete. Mir fiel zudem auf, wie er immer wieder unauffällig zu Gready hinüberblickte, während er unsere Aufmerksamkeit nicht ganz auf sich wähnte.
„Eine Leiche“, brummte er mit rauer Stimme, „das habe ich in fast vierzig Jahren noch nicht erlebt. Und glauben Sie mir: Ich habe einiges gesehen. Chicago, Richmond, Casablanca, Madrid … wie … wie sieht es da oben aus?“
„Mr Hammond, wir wollten uns nach einem bestimmten Gast erkundigen.“ Travis ging nicht auf Hammonds Frage ein. „Ein gewisser T. Barron soll vor sieben Tagen hier eingecheckt haben.“
Hammond machte ein paar Klicks am Computer. „Sie müssen wissen, ich habe ein gutes Gedächtnis. Aber T. Barron sagen Sie? Wissen wir keinen Vornamen?“ Wieder linste er an Travis vorbei. Ich drehte mich kurz danach um. Gready lief aufgeregt durch die Lobby und telefonierte. Hatte Hammond solche Angst vor ihr? Sie war mir nicht wie ein Monster vorgekommen.
„Sagen Sie es uns“, gab Travis zurück. „Laut Ms Gready ist lediglich das T in Ihrem System vermerkt.“ Bei der Erwähnung von Greadys Namen huschte wieder ein Blick seitlich an uns vorbei.
Hammond tippte auf der Tastatur, dann nickte er bestätigend. „T. Barron, mehr nicht. Keinerlei weitere Daten. Hm, sehr komisch.“ Er sah auf. „Meine Herren, ich kann leider nicht mehr dazu sagen. Der Mann hat für zehn Tage das Zimmer 247 gebucht. Eigentlich müsste er noch da sein …“
Travis lächelte. „Der kommt nicht mehr. Und Sie haben den Herrn nicht bedient, als er ankam?“
Hammond zuckte mit den Schultern. „Es könnten auch meine Kollegen gewesen sein. Je nachdem, wann er kam … und je nach Tageszeit haben wir mehr als eine Person hier unten. Unsere Gäste erwarten einen guten Service.“
„Wir bräuchten die Namen aller Kollegen, die sonst hier arbeiten. Und am besten den Schichtplan gleich mit“, meinte ich. Hammond nickte und sah erleichtert aus, als Gready an uns vorbei in Richtung der Aufzüge eilte, immer noch ihr Smartphone am Ohr.
„S-sicher, ich stelle Ihnen alles zusammen. Sonst noch etwas?“
„Ist Ihnen eine junge Frau aufgefallen, die hier durch die Lobby ging? Oder gibt es noch andere Zugänge ins Hotel?“
„Wir haben aktuell einige junge Frauen unter unseren Gästen. Es sind nun Mal Ferien, es ist Sommer. Da kommt der bunte Strauß aus Gottes großem Zoo, wie meine Mutter sagen würde.“
„Sie hatte rotbraune Haare, etwa so lang“, zeigte Travis. „Ist Ihnen etwas aufgefallen? Gestern, schätze ich.“
Er schüttelte den Kopf. „Aber das muss ja nichts heißen, ich … vielleicht war ich in ein Gespräch vertieft oder in den Bildschirm. Mein Job ist es, unseren Gästen zu helfen und nicht, sie zu beschatten.“
„Und die anderen Zugänge?“ wiederholte ich meine Frage von vorher.
„Lediglich der Angestellteneingang und der Lieferanteneingang auf der Rückseite. Das hier ist der offizielle Eingang für alle Gäste.“
Da fiel mir etwas ein. „Gibt es noch weitere Kameras außer der hier?“
„Da vorne in Richtung Eingang und da hinten mit Blick in die Lobby. Haben wir noch nie gebraucht. Ich frage mich, ob die überhaupt funktionieren. Ganz ehrlich: ich achte da gar nicht drauf, die gehören halt zum Inventar.“
„Sagen Sie Ms Gready, dass wir gerne sämtliche Aufnahmen hätten.“ Travis nickte mir dankend zu. „Nicht nur die von der Rezeption.“
„Selbstverständlich.“
Wir sprachen noch mit weiteren Angestellten des Hotels: dem Personal in der Küche und im Restaurant, einem Pagen, der uns über den Weg lief, und einem Mann Mitte Dreißig, der an der Bar wenig zu tun hatte. Wir machten es uns am Tresen der Bar gemütlich, nachdem wir auch von letzterem keine zufriedenstellenden Antworten erhalten hatten. Außer ein paar Senioren, die einen Kaffee schlürften und Karten spielten, war nichts los. Sie saßen in einer Ecke am Fenster auf Ledersofas, die der Bar einen gewissen Retro-Chic verliehen.
An einen T. Barron, oder wie auch immer der Mann hieß, konnte sich keiner der Angestellten erinnern – aber woher auch, war der Tenor gewesen. Niemand fragte die Gäste nach ihren Namen; es gab ja keinen Grund dazu. Auch an Johanna Myles konnte sich niemand erinnern. Eine Kellnerin hatte überlegt, ob sie sich möglicherweise an sie erinnern konnte, aber es war mehr als vage und Travis und ich waren uns sicher, dass wir das nicht weiter zu verfolgen brauchten.
Der Barista stellte uns beiden je ein Glas Wasser hin. Leise unterhielten wir uns. Es war das erste Mal, dass wir ein bisschen runterkommen konnten, seit wir ins Hotel aufgebrochen waren. „Okay, was meinst du zu der Sache?“, fragte Travis und nahm einen Schluck vom Wasser.
Ich trank ebenfalls und dankte jedem Gott dieser Welt dafür, denn die Hitze machte mir echt zu schaffen. Ich fürchtete schon, dass man die Schweißperlen auf meinem Rücken durch mein T-Shirt sehen könne, aber bislang hatte mich zumindest niemand komisch angestarrt. Könnte aber auch an dem uniformierten Typen neben mir liegen. „Die Liste meiner Fragen ist verdammt lang.“
Travis nickte und fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht. „Ich weiß gar nicht, wo wir anfangen sollen. Erst einmal brauchen wir Marthas Obduktionsbericht und den Bericht der Spurensicherung. Aber das wird ein Weilchen dauern. Puh, Barry, da liegt einiges vor uns.“
Travis‘ Smartphone klingelte. Er zog es gleich aus seiner Jackentasche und prüfte auf dem Display, wer der Anrufer war. „Holfield“, murmelte er knapp, dann ging er ran. Das Gespräch ging nicht lange, überwiegend waren nur zustimmende Laute aus Travis‘ Mund zu hören. „Holfield fährt jetzt zu den Eltern der jungen Frau, um die Nachricht zu überbringen“, erklärte er. „Was das angeht, bin ich ja gottfroh, dass der alte Aufschneider sich da nicht aus der Affäre zieht.“
„Auf den Job kann ich gerne verzichten“, gab ich zu.
„Mir graut es vor dem Tag, an dem ich das übernehmen muss.“ Er schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben. „Also, fangen wir mal mit der Fragenliste an. Leg los.“
Ich beugte mich nach vorne. „Es geht ja schon los mit der Frage, was Johanna Myles hier im Hotel zu suchen hatte. Denn mit hoher Wahrscheinlichkeit hat sie hier nicht gewohnt. Mit sehr hoher, um genau zu sein, denn ihr Name taucht im System nicht auf. Wobei das auch seine Löcher hat. T. Barron – nie im Leben heißt der Gast von Zimmer 247 so. Aber wer ist er dann und wie konnte er überhaupt an eine Zimmerkarte gelangen, ohne seine Daten anzugeben?“
„Ich hoffe, die Überwachungskameras können uns da etwas Aufschluss geben. Wir müssen auf jeden Fall herausfinden, wer dieser Barron ist. Das scheint mir auf den ersten Blick der Schlüssel zum Fall zu sein.“
„Zumindest ein wichtiger Schritt“, stimmte ich ihm zu. „Der Kerl muss ja etwas zu verbergen haben, sonst hätte er nicht so mit seinen Daten gegeizt.“ Ich überlegte kurz und sah Travis grinsend an. „Und was, wenn Johanna Myles T. Barron ist?“
Travis zuckte mit den Schultern. „Schon möglich. Aber bringt uns das weiter? Wer hat sie denn dann umgebracht?“
Da war was dran. „Okay, müßig zu spekulieren. Wir müssen uns auf jeden Fall auf die Suche nach diesem T. Barron machen. Was mich stutzig macht, ist der Tatort an sich. Warum genau dieses Hotel? Da gibt es anonymere Orte. Und warum hat der Täter Johannas Handtasche zurückgelassen? Das Zimmer war komplett leer, kein Indiz, dass darin jemand gewohnt hätte … Warum blieb die Handtasche zurück?“
Travis grinste. „Du bist wieder voll im Sherlock-Modus, hm?“
„Ein Grund, bei der Polizei ein Praktikum zu machen, oder nicht?“
„Muss ich mir eigentlich Sorgen machen, dass dein Praktikum und der zweite Mordfall seit Menschengedenken in Haywood Grove auf ein und denselben Zeitraum fallen? Bisschen viel Zufall, oder? Hast du da was eingefädelt?“
Ich lachte. „Guter Versuch, aber das wäre ja langweilig. Wo bliebe da der ganze Ratespaß?“
Travis wurde wieder ernst. „Naja, ein Spaß wird das hier auf jeden Fall nicht.“ Wieder klingelte sein Smartphone, diesmal war es Stan. Es dauerte länger als das Gespräch mit Holfield und Travis schilderte ihm kurz den Stand der Dinge. Dann legte er auf, trank sein Wasser leer und stand auf. „Stan hat schon einige Hintergrundrecherchen angestellt und hatte dabei eine erstaunlich gute Idee. Mal abgesehen davon, dass er jetzt so einiges an Material über die gute Johanna zusammengestellt hat, wissen wir jetzt, dass sie tatsächlich die letzten Tage in einem Hotel verbracht hat. Aber nicht im Royal Espen, sondern im Rural Inn mitten in der City. Los, wir fahren da mal hin.“
4
Wir verließen das Hotel, besichtigten zunächst aber noch die beiden weiteren Eingänge. Sowohl der Personaleingang auf der Rückseite als auch der Lieferanteneingang nicht weit davon entfernt, gaben wenig Aufschluss. Sicher, für beide benötigte man eine separate Chipkarte, aber wer wusste in diesem Moment schon, ob nicht eine geklaut worden war oder ob sich jemand heimlich hinter einem unaufmerksamen Mitarbeiter ins Hotel geschlichen hatte. Das galt im Übrigen für Johanna Myles wie auch für den Täter. Solange wir nicht wussten, was sich in Zimmer 247 zugetragen hatte, mussten wir alle Eventualitäten im Blick behalten.
Mein Kopf arbeitete auf Hochtouren, versuchte irgendein Puzzlestück zu finden, das wir aktuell noch nicht aus der Schachtel gezogen hatten. Aber es war einfach viel zu früh. Ich musste mich in Geduld üben, was ja ohnehin zu einer meiner absoluten Stärken gehörte.
„Was sie wohl im Rural Inn getrieben hat …?“, murmelte Travis, als wir über den Parkplatz des Hotels zum Auto liefen.
„Was meinst du?“
Er schüttelte den Kopf. „Also, nicht das was du jetzt denkst … ich meine … nicht, was sie dort getrieben hat, … sondern, wieso sie dort gewohnt hat.“ Travis blieb stehen. Sein Blick schweifte gedankenverloren über die prachtvolle Außenfassade des Royal Espen Hotels. „Zwei Hotels. In einem wird sie ermordet. Dabei leben ihre Eltern in Haywood Grove. Zumindest gehe ich davon aus, dass sich daran nichts geändert hat, seit sie die Haywood High verlassen hat.“
Daran hatte ich nicht gedacht. Ich verfluchte mich innerlich, dass Travis diese Frage aufgeworfen hatte und nicht ich. Aber es war ja kein Wettbewerb. „Gute Frage. Vielleicht hatte sie Streit mit ihren Eltern?“
„Alles möglich, klar. Aber das wirft gleich die nächste Frage auf: wenn sie nicht ihre Eltern besucht hat, warum war sie dann in Haywood Grove? Ich weiß zwar nicht, was sie aktuell macht … gemacht hat. Aber wenn sie im Hotel gewohnt hat, scheint sie ja nicht mehr in Haywood Grove zu leben.“
„Vielleicht finden wir im Rural Inn Antworten“, mutmaßte ich. Wir gingen weiter. Travis wollte gerade das Auto aufschließen, da kam aus einem Busch direkt neben dem Parkplatz ein „Pst“. Die Überraschung war groß, als wir das Gesicht Rudy Hammonds entdeckten. Er duckte sich zwischen einem Baum und einem Busch des angrenzenden Oakhill Forest. Wieder glitt sein Blick aufmerksam an uns vorbei über den Parkplatz. Offensichtlich wollte er nicht gesehen werden.
„Was machen Sie da?“, fragte Travis.
Hammond winkte uns zu sich herüber. „Kommen Sie.“
Wir blickten uns irritiert an. Dann folgten wir ihm ins Gebüsch. Erst, als wir in der scheinbaren Sicherheit des Buschs neben ihm standen, stellte er sich aufrecht hin und vergaß für einen Moment, den Parkplatz zu fixieren.
„Was soll das, Mr Hammond?“, fragte Travis erneut.
„Ich … ich konnte vorhin nicht die ganze Wahrheit erzählen.“ Unsere fragenden Gesichter nötigten ihn zum Weiterreden. „Ms Gready, sie … sie darf nichts davon erfahren. Hören Sie … können Sie das gewährleisten?“
Travis nickte nur, sagte aber nichts weiter.
„Also … dieser Mann, dieser Mr Barron, er … er wollte seinen richtigen Namen nicht angeben. Er meinte, ich solle einfach etwas erfinden und fragte, was es kosten würde. Ich war etwas perplex, denn er machte eigentlich einen ziemlich seriösen Eindruck auf mich … schicker Anzug, gepflegtes Äußeres und so … nichts Ungewöhnliches in unserem Hotel …“
„Und Sie haben …?“, bohrte ich weiter.
Hammond blickte schuldbewusst zu Boden. „Er hat mir dreihundert Dollar angeboten … hat mir die bar auf den Tresen gelegt und das Zimmer ebenfalls bar im Voraus bezahlt … eigentlich dürfen wir nicht … naja, wir müssen alle Daten aufnehmen und am besten die Bezahlung per Kreditkarte … wegen der vielen Blüten, die immer wieder in Umlauf sind. Und wegen des Bargelds, das ist ja auch ein Sicherheitsrisiko … aber ich …“ Er atmete einmal tief durch. „Sie müssen wissen, meine Tochter … Sie hat vor kurzem Nachwuchs bekommen … Und ihr Mann, der hat seinen Job verloren … Wegen des Unfalls … Na, jedenfalls … Wir klauben alles Geld zusammen, was wir kriegen können, um der kleinen … Judy heißt sie, ein schöner Name, finden Sie nicht? … Naja, um ihr ein gutes Leben ermöglichen zu können … Bitte … Ms Gready darf davon nichts erfahren, sonst bin ich meinen Job los … Und in meinem Alter … Naja, die Hotelbranche ist hart … Und …“
Travis brachte ihn mit einer beschwichtigenden Handbewegung zum Schweigen. „Wir werden ihr nichts davon erzählen. Mr Hammond, das heißt, Sie können uns den Mann beschreiben?“
„Naja, mehr oder weniger …“
„Was heißt hier mehr oder weniger? Eine junge Frau wurde in diesem Hotel ermordet und sie haben möglicherweise den Täter reingelassen? Können sie ihn beschreiben oder nicht?!“
Hammond war sichtlich eingeschüchtert durch Travis‘ Wortwahl. Mir war schon seit längerem aufgefallen, dass der Tod von Johanna Myles nicht unberührt an meinem Partner (man darf ja mal übertreiben, wenn man ein Praktikum bei der Polizei macht) vorbeigegangen ist. Aber das war nur verständlich: Sie war in seinem Alter. Sie waren zusammen auf der High School gewesen.
„Ja, wissen Sie, mein Gedächtnis … die ganzen Gesichter, die jeden Tag im Hotel ein und aus gehen … ich … naja, er war Mitte Dreißig, würde ich sagen. Vielleicht auch schon vierzig. Wobei ich das auch nicht mit Sicherheit sagen könnte … Sie wissen schon … Er hatte einen Dreitagebart und … Naja, im Anzug sehen die doch alle so erwachsen aus … Vielleicht war er auch jünger … Aber … Nein, ich würde Mitte Dreißig sagen … Kann die jungen Leute echt nicht mehr so gut einschätzen. Auf jeden Fall älter als meine Tochter, die ist jetzt dreißig.“
Als ob es ein Ratespiel im Fernsehen wäre, dachte ich mir. „Also war er Mitte Dreißig und hatte einen Bart. Wie groß war er ungefähr?“
„Etwa so wie Sie.“ Er deutete auf Travis. „Schien recht sportlich unter seinem Anzug auszusehen … einen Bauch hatte er jedenfalls keinen … naja … Aber mehr kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen …“ Er spähte auf die Uhr. „Ach du meine Güte. Ich muss dringend wieder zurück! Wenn Ms Gready … die Rezeption so verwaist … Sie entschuldigen mich? Mehr weiß ich nicht.“
Er ließ uns wortwörtlich im Wald stehen. Mir fiel auf, dass er leicht humpelte, als er über den Parkplatz hastete und vor lauter rechts und links schauen beinahe in ein Auto gelaufen wäre. Erst jetzt registrierte ich, wie warm es hier draußen war. Nach der – wenn auch viel zu lasch eingestellten – Klimaanlage im Hotel fühlte sich die Hitze hier draußen noch unerträglicher an. Wir traten aus dem Schatten des Waldes auf den glühenden Asphalt des Parkplatzes.
„Erinnere mich bitte daran, den nächsten Leichenfund in den Winter zu verlegen“, grummelte er. „Und sei froh, dass du keine gottverdammte Uniform hast. Das Ding bringt mich noch um.“
„Glaub mir, selbst im T-Shirt fühlt man sich heute, als würde man gegrillt werden.“
Wir fuhren schweigend durch den Oakhill Forest zurück nach Haywood Grove. Baum an Baum rauschte an uns vorüber, während die Musik von Rita Ora aus dem Radio des Polizeiwagens erklang. Die Klimaanlage lief auf Hochtouren. Es dauerte aber bis kurz vor der Stadt, bis sie endlich mit der Hitze des Autos aufgeräumt hatte und langsam anfing, Kühlung in den Laden zu bringen. Mein T-Shirt klebte mir am Rücken und ich ahnte schon, dass ein schöner Fleck darauf zu sehen sein würde, wenn ich mich das nächste Mal aus dem Auto schälen würde.
„Was hältst du von unserem Mr Barron?“, fragte Travis. Wir passierten gerade das Ortsschild von Haywood Grove.
„Es scheint auf den ersten Blick, als wäre er unser Mann und hätte alles genau geplant. Wieso sonst hätte er unter falschem Namen im Royal Espen einchecken sollen?“
„Verdächtig ist das auf jeden Fall. Fakt ist: Es war sein Zimmer, in dem Johanna ermordet wurde. Fakt ist auch: Er hat dieses Zimmer unter falschen Namen bewohnt und dafür den Rezeptionisten bestochen. Und der dritte Fakt ist, dass wir aktuell noch wenig über den mysteriösen Mann wissen, außer, dass er wohl Mitte Dreißig ist, einen Dreitagebart hat und Designeranzüge trägt.“
„Das mit dem Designer wissen wir nicht“, entgegnete ich mit einem leichten Grinsen.
„So stelle ich ihn mir vor“, gab Travis zurück.
„Na gut, an dem soll es nicht scheitern. Ich hätte übrigens noch ein paar Fragen für unsere Liste. Nummer eins: Warum das Royal Espen? Wenn alles geplant gewesen war, hätte es bessere Orte für einen Mord gegeben. Vor allem: warum das Royal Espen, wo er die Leiche nicht verschwinden lassen konnte? Wenn ich genau darüber nachdenke, hätte er sie vielleicht sogar nachts unauffällig verschwinden lassen können, aber das steht auf einem anderen Blatt. Jedenfalls … Nummer zwei: Warum lebt er sieben Tage in diesem Hotel, ehe er diesen Mord begeht? Leuchtet dir das ein?“
„Es ist ja nicht gesagt, dass sie erst nach diesen sieben Tagen ermordet wurde. Wir haben sie am siebten Tag gefunden.“
„Ich bin noch nicht unter die Pathologen gegangen, aber mein Bauchgefühl sagt mir, dass sie keine sieben Tage tot ist.“
Travis grinste. „Glaub mir, mein Freund, das hättest du definitiv gerochen. Ein oder zwei Tage halte ich aber durchaus im Bereich des Möglichen.“
Er machte sich nicht die Mühe, einen Parkplatz vor dem Rural Inn zu suchen. Das älteste Hotel der Stadt lag an der Hauptstraße von Haywood Grove und war schon etwas in die Jahre gekommen. Es konnte sowohl preislich als auch vom Luxus her bei weitem nicht mit dem Royal Espen vor den Toren der Oakhill Mountains mithalten. Aber für einen Besuch mit etwas weniger Budget reichte es meinem Vernehmen nach vollkommen aus.
Anders als im Royal Espen liefen wir hier erst einmal gegen eine Wand aus kalter Luft. Die Klimaanlage fuhr auf Volllast. Ich wähnte schon eine klassische Sommergrippe im Anflug, als die Kälte des Raumes mein verschwitztes T-Shirt traf.
In der kleinen Lobby, die wie ein Kinderzimmer gegen die pompöse Eingangshalle des Royal Espen aussah, herrschte erstaunlich viel Verkehr. Eine Horde Schüler hatte sich auf den Sofas in einer Ecke breit gemacht und füllte die Lobby dementsprechend mit genügend Dezibel. Auch hier kamen uns einige Wanderer entgegen, die wohl erst ein gemütliches Frühstück zu sich nehmen wollten, bevor sie in die Hitze des Tages entschwanden.
Auch wenn Stan ansonsten ein recht gemütlicher Kollege war, hatte er in diesem Fall alle Hebel in Bewegung gesetzt und geistesgegenwärtig die wenigen Hotels der Stadt abtelefoniert. Sicherlich, in Haywood Grove artete das jetzt nicht in schweißtreibende Arbeit aus, dennoch brachte es uns einen wichtigen Schritt weiter. Ein kleiner, korpulenter Mann mit Halbglatze führte uns über eine alte mit Teppich bedeckte Treppe ins oberste Stockwerk. Im Treppenhaus schien die Luft zu stehen, dementsprechend schnaufte nicht nur der Chef des Hotels wie ein Walross – auch uns lief der Schweiß erneut von der Stirn. Selbst dem durchtrainierten Travis entriss das Treppenhaus ein leichtes Stöhnen.
„… tut mir leid … Aufzug … wird gerade repariert, aber … Sie sind ja jung und …“ Anscheinend hatte der Hotelmanager, der sich als Gary Fonseca vorgestellt hatte, noch genügend Luft, um sich in einer Tour für das Treppenlaufen zu entschuldigen. Doch auch das hatte ein Ende und er schloss uns mit einem altmodischen Schlüssel die Tür zu Zimmer 34 auf, in dem Johanna Myles unter ihrem echten Namen bis zu ihrem Tod genächtigt hatte.
„Es ist … nichts verändert worden … Die Putzfrau war da … aber immerhin ist es sauber, nicht?“
Das Zimmer war wahrlich keine Augenweide und ich schätzte, dass die Hälfte der Gäste des Royal Espen nicht einmal ihre Angestellten in einer solchen Kammer würden schlafen lassen. Das Bett in der Mitte sah durchgelegen aus. Der Teppichboden hatte schon bessere Zeiten hinter sich und strotzte nur so vor Flecken, deren Herkunft ich lieber nicht näher hinterfragte. Die Fliesen im Badezimmer waren in einem Braunton gehalten, der mich an sämtlichen Innenarchitekten der Siebziger- oder Achtzigerjahre zweifeln ließ. Immerhin: es war alles sauber. Und – gutmütig wie ich war – mutmaßte ich, dass Johanna einfach das billigste Zimmer genommen hatte und der Rest des Hotels etwas besser aussah.
Johanna war eine der Personen gewesen, die ihre Kleidung einfach im Koffer ließ. Der Kleiderschrank war nicht befüllt worden. In der Ecke neben dem Bett lag ihr Koffer offen auf dem Boden, ein paar frische Kleider auf der einen Seite, ein paar gebrauchte in einer Plastiktüte auf der anderen. Auch im Badezimmer hatte sie es sich nur so weit gemütlich gemacht, wie es nötig gewesen war. Zahnbürste und Zahnpaste auf der kleinen Ablage, Shampoo hinter dem unappetitlichen Duschvorhang.
„Wenig wäre übertrieben, hm?“, fragte Travis, während er mit Handschuhen das Innere des Koffers inspizierte.
„Die Laptoptasche, von der Fonseca gesprochen hat, siehst du hier aber nirgends?“ Der Hotelmanager hatte uns immerhin ein paar Auskünfte geben können: laut der Rezeptionistin, einer jungen Afroamerikanerin mit Dreadlocks und einem Nasenring, hatte Johanna neben ihrem Koffer eine Laptoptasche dabeigehabt und „eigentlich ziemlich fröhlich ausgesehen – nein, ich würde sagen, motiviert“. Johanna habe vor vier Tagen hier eingecheckt und das Zimmer für eine Woche gebucht. Sie habe sich erkundigt, ob sie möglicherweise auch verlängern könne, sie wisse noch nicht, wie viel Zeit ihr Aufenthalt benötigen würde. Aber das war es dann auch an Infos. Die Rezeption war nur von acht bis achtzehn Uhr besetzt – „Mehr können wir uns nicht leisten“ – und auch dann schien das Hotel eher anonymer Natur zu sein.
„Keine Spur“, murmelte Travis. „Was hast du nur hier zu schaffen gehabt, Johanna Myles? Wieso hast du nicht einfach deine Eltern besucht? Wieso ein Hotel?“
„Entweder sie hatte Stress mit ihren Eltern oder etwas zu verheimlichen.“
„Absolut. Das mit dem Stress erfahren wir vielleicht später, falls Holfield nochmal ins Revier kommt. Aber was für die These mit dem Verheimlichen spricht: Wo ist ihr Smartphone? Wo ist ihr Laptop? Geldbeutel, Koffer – alles haben wir entweder hier oder am Tatort im Royal Espen gefunden. Aber die elektrischen Geräte nicht … was könnte da drauf gewesen sein?“
Ich dachte nach. „Noch dazu … zwei Hotels. Sie hat hier gewohnt, wurde aber im Royal Espen ermordet. Wieso ist sie überhaupt ins Royal Espen gegangen? War sie dort freiwillig, wurde sie dorthin verschleppt? Hatte sie sich dort mit ihrem Mörder getroffen? Wieso dann nicht hier oder ganz woanders?“ Mir schwirrten die Fragen nur so durch den Kopf und ich versuchte sie eine nach der anderen zu packen. Es war dieser Moment einer Ermittlung, der einen mit seiner schieren Menge an dicken Fragezeichen zu erschlagen versuchte.
Wir brauchten nicht lange im Rural Inn. Travis rief Martha an, sie solle sich das Zimmer 34 mal genauer anschauen und uns einen Bericht zukommen lassen, woraufhin er eine nicht besonders freundliche Bestätigung erhielt. Wir sprachen kurz mit der jungen Rezeptionistin – Tori Carver -, aber die hatte keine weiteren Infos für uns parat, außer, dass sie Johanna erstaunlich gut beschreiben konnte. Travis ließ ihr seine Visitenkarte da, dann verabschiedeten wir uns.
Und traten raus in die Mittagshitze. Wir beide atmeten einmal tief durch. In Gedanken versunken stiegen wir widerwillig zurück ins glühende Auto. Ich blickte an der Fassade des Rural Inn auf und ab. Was um alles in der Welt hatte Johanna Myles hier zu suchen gehabt? Ich hoffte, dass wir bald Antworten finden würden. Irgendwie ging mir ihr Tod sehr nahe, da ich immer wieder Kelly vor mir sah. Ich versuchte, diese Dämonen aus meinem Kopf zu vertreiben und klar über den Fall nachzudenken.
Das waren wir Johanna Myles doch schuldig, oder nicht?
5
Freunde, ich schwör’s euch, wenn ich noch einen Stich abkriege, war’s das für heute!“ Matt sprang auf und lief ein paar Meter durch den Sand vom Lagerfeuer weg.
Wir anderen lachten. „Anscheinend schmeckt dein Sportlerblut besser als unseres“, mutmaßte Nick. „Bei mir hat sich noch kein Moskito ausgetobt.“
„Stimmt, ich habe gelesen, dass das saftiger sein soll“, neckte Dakota Matt. Sie lag an meinen Bauch gelehnt auf einer Decke. Ich strich durch ihre rosafarbenen Haare. So da zu sitzen fühlte sich mehr als perfekt an – aber das nur am Rande; wir mussten Matt erst mal wieder zur Ruhe bringen.
„Wo soll das stehen? In Twilight?“, knurrte Matt und setzte sich wieder hin. „Ich hasse den Sommer.“
„Ach Matt“, beruhigte Dakota ihn. „Schau doch, wie schön der Sommer ist. Sonnenuntergang am Kawanga Lake, ein Lagerfeuer, die besten Freunde um einen herum. Ich hatte schon schlechtere Abende.“
„Vielleicht solltest du mal anfangen, Summer zurückzugewinnen, dann würde der Sommer auch besser werden“, sagte Nick mit einem Grinsen über beide Ohren. Auch wenn er Matt die Beziehung zu Summer natürlich gegönnt hatte, so war er auch nicht böse darüber, nicht der einzige Single in unserer kleinen Gruppe zu sein. Mit Matt und Summer war es vor ein paar Wochen auseinander gegangen, was aber nichts zu bedeuten hatte. Eine ähnliche Phase hatten wir schon zu Beginn des Jahres. Die hatte ganze neun Tage gehalten, ehe sie wieder knutschend in einer weniger bevölkerten Ecke der Haywood High gesichtet worden waren. Das zweite Liebes-Aus der beiden hatte mir zehn Dollar eingebracht, denn Nick hatte gewettet, dass es dieses Mal sogar noch kürzer gehen würde. Aber bei allem Necken unter besten Freunden: Ich hoffte, dass die beiden sich wieder finden würden, denn sie hatten schon ein großartiges Paar abgegeben.
„Wenn ich noch ein Wortspiel in der Art höre …“, drohte Matt. Er lehnte sich auf beide Hände gestützt zurück und legte den Kopf in den Nacken. „Wieso bin ich mit all dem gestraft, du da oben? Von den Moskitos geliebt, von meiner Liebe aber nicht … Danke für gar nichts.“
Wieder lachten wir und dieses Mal musste sogar Matt mit einstimmen.
Die Sonne ging langsam hinter den Gipfeln der Oakhill Mountains unter. Der Kawanga Lake lag ruhig da. Es wehte kaum ein Lüftchen. Zum Glück war es ausreichend abgekühlt. Sonst hätte ich mich geweigert, ein Lagerfeuer hier am Strand anzumachen – aber die Würstchen grillten sich ja nicht von allein. Ich war froh, dass die Jungs sofort auf Dakotas Idee angesprungen waren, heute Abend hierher zu gehen. Es brachte mich nach diesem doch sehr anstrengenden Tag auf andere Gedanken. Viel schlimmer war zudem noch diese zermürbende Gedankenachterbahn, die einfach nicht aufhören wollte, zu fahren.
Immer wieder tauchte Johanna Myles‘ Leiche vor meinem inneren Auge auf.
Dakota hatte übrigens einfach nur Sommerferien – mal abgesehen vom Job im Kino -, genau wie Matt. Nick hingegen hatte sich wie ich um ein Praktikum gekümmert. Er ging seiner Leidenschaft nach und fotografierte für ein Outdoor-Magazin, das sein Büro hier in Haywood Grove hatte. Das bedeutete für uns beide am nächsten Morgen früh aufstehen. Aber das war aktuell erst einmal Nebensache. Ich wollte den Abend genießen und das funktionierte bislang recht gut.
„Barry, erzähl mal, was heute so abging.“ Nick stupste mich an. „Wie viel Zufall kann es eigentlich auf der Welt geben, dass ausgerechnet dann eine Leiche gefunden wird, wenn du ein Praktikum bei der Polizei machst? Ich meine: Schau mal, in wie vielen Jahrzehnten nie etwas passiert war, bis letzten Herbst. Und jetzt schon wieder … krasse Nummer, oder?“
Ich brauchte nicht nachzufragen, woher er von der Leiche wusste. Zum einen war Travis bekanntlich sein großer Bruder, zum anderen war schon heute Morgen über die sozialen Netzwerke und Messenger-Dienste halb Haywood Grove informiert gewesen. Ich spielte mit der einen Hand im Sand, während ich redete: „Ich darf nichts erzählen, bin ja jetzt auf der anderen Seite“, erklärte ich mit einem leichten Grinsen. „Aber die Leiche zu sehen … so ganz in echt – das war echt nicht leicht.“
„Jetzt weißt du, wie es mir letztes Jahr gegangen ist!“
„Alter, du hast erst Mal nur daran gedacht, Fotos von der Toten zu machen“, echauffierte sich Matt. „Das war alles, an was du gedacht hast.“
Dakota setzte sich auf, drehte sich zu mir und fuhr mit ihrer Hand über meine Wange. „Kommst du klar?“
Ich nickte. „Passt schon. Es … es ist nur komisch. Die Tote ist nur wenige Jahre älter als Kelly, ich musste da gleich …“
Dakota lächelte. „Oh, du bist einfach ein guter Bruder.“ Dann drückte sie mir einen Kuss auf die Lippen.
„Dak, lass ihn mal in Ruhe, er muss erzählen“, sagte Nick.
Dakota und ich sahen uns an. Sie rollte mit den Augen und wir lachten. „Schon gut“, meinte ich. „Nick, ich darf nicht viel erzählen. Und: Es gibt auch nicht viel zu erzählen.“ Um Nick glücklich zu machen, redeten wir eine Weile über den Fall. Ich ließ nur die Informationen heraus, die auch sonst bereits in der Öffentlichkeit kursierten. Darüber hatte ich mich vorher schlau gemacht. Die Haywood Post hatte auf ihrer Internetseite einen kurzen Bericht veröffentlicht, hinzu kamen ein paar kleinere Schlagzeilen auf überregionalen Medienseiten – und nicht zu vergessen das, was auf Twitter, Facebook und Instagram so herumging. Das Netz war mittlerweile so groß und vielfältig, dass ich gar nicht alles hatte lesen oder finden können. Der erste True Crime Podcast und ein großes Diskussionsforum mit allerhand Möchtegern-Detektiven auf Reddit würden nicht lange auf sich warten lassen.
„Ich habe vorhin gleich mal ein bisschen recherchiert“, warf Nick ein und zückte stolz sein Smartphone.
„Ist das dein Ernst?“, brummte ich.
Nick zuckte mit den Schultern. „Hab‘ irgendwo gelesen, wie die Tote heißt. Dann hab‘ ich mich mal schlau gemacht. Ihr Instagram-Profil ist übrigens nicht auf privat gestellt!“
„Echt jetzt? Zeig mal her!“ Schon saß Matt direkt neben Nick und sah dessen Fingern dabei zu, wie sie in Windeseile auf dem Smartphone navigierten. „Krass! Die habe ich schon mal gesehen!“, rief er schließlich aus.
Da war es auch um Dakotas und meine Neugier geschehen. Wir standen auf und platzierten uns hinter den beiden, um Nick über die Schulter schauen zu können. Das Profil wies keinerlei Spuren von Privatsphäre auf. Über zweitausend Follower zeugten davon, dass sie entweder sehr viele Freunde hatte oder – was wahrscheinlicher war – es darauf angelegt hatte, möglichst viele Follower zu gewinnen und irgendwann möglicherweise Influencerin zu werden.
„Hier, das muss wohl ihr Freund sein.“ Nick öffnete ein Foto von Johanna mit einem Mann, der ein paar Jahre älter als sie aussah. Er hatte schulterlange Haare, die nach hinten gegelt waren, und ein attraktives, gepflegtes Gesicht. Sie trug ein Bikini-Oberteil und ein Strandtuch um die Hüfte, während sie sich an den oberkörperfreien Mann lehnte. „Sieht nach Urlaub auf Hawaii aus. Schicker Strand. Der Typ ist markiert. Er heißt Adrien Cunningham, falls dir das was hilft.“ Die letzte Aussage ging direkt an mich. Dass ich selbst noch keine tiefschürfende Recherche angestellt hatte, lag einerseits an der Zeit, die ich heute nicht dafür gehabt hatte und andererseits daran, dass wir mit Stan auf dem Revier den richtigen Mann dafür hatten. Ob der allerdings so weit war, ihre Social Media Kanäle auf Herz und Nieren zu überprüfen, wusste ich nicht.
Eine Weile recherchierten die beiden weiter. Matt und Nick stellten schon Mutmaßungen über den möglichen Tathergang an. Ich hielt mich aber zurück. Insbesondere da Travis Nicks großer Bruder war, war die Gefahr groß, dass ich nachher als der Maulwurf dastehen würde, der Nick zu viel erzählt hatte. Denn wenn Nick eines nicht konnte, war es, den Mund zu halten. Also tat ich dies an seiner Stelle. Stattdessen setzte ich mich wieder Seite an Seite mit Dakota vor unser Lagerfeuer, einen Arm um ihre Schultern gelegt. Es kühlte zusehends ab, als die Sonne hinter dem Horizont verschwand. Endlich war dieser Tag auch temperaturtechnisch auszuhalten.
Wir waren nicht allein am Kawanga Lake an diesem Abend. Der See war gerade in den Sommerferien ein beliebtes Ziel für viele Menschen aus der Umgebung, vor allem natürlich aus Haywood Grove. Am gesamten Strand verteilt saßen immer wieder kleine Grüppchen, die den Sonnenuntergang genossen und lachten. Nicht weit entfernt saß Walter Fitzgerald, der ehemalige Polizist, auf der Veranda seiner kleinen Hütte und genoss den Blick auf den See. Dahinter kam eine kleine Gruppe mit Matten in der Hand zum Strand. Schon von weitem erkannte ich Kelly, meine große Schwester. Ihre Freundinnen Chelsea, Hanna und Samantha begleiteten sie.