Song for Annie - Annika Lundgren - E-Book

Song for Annie E-Book

Annika Lundgren

0,0

Beschreibung

Was haben eine Kneipenschlägerei, eine Entführung und ein Song gemeinsam? - Sie führen alle zu Joseph Silver, dem erfolgreichen Sänger der Band Midnight Sun. Die Ärztin Annie wird jede Nacht von Albträumen geplagt. Dennoch versucht sie, ein möglichst normales Leben zu führen und ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen. Als eines Nachts Joseph in die Notaufnahme eingeliefert wird, gerät ihre mühsam aufrecht erhaltene Selbstbeherrschung ins Wanken. Langsam entwickelt sich eine Freundschaft zwischen den beiden, doch als ihr Sohn entführt wird, führt eine unbedachte Bemerkung Josephs zum Bruch zwischen ihnen. Was hat er mit der Entführung zu tun? Hat ihre Freundschaft überhaupt noch eine Chance? Und welche Rolle spielt ein Song?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 238

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Was haben eine Kneipenschlägerei, eine Entführung und ein Song gemeinsam? – Sie führen alle zu Joseph Silver, dem erfolgreichen Sänger der Band Midnight Sun.

Die Ärztin Annie wird jede Nacht von Albträumen geplagt. Dennoch versucht sie, ein möglichst normales Leben zu führen und ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen.

Als eines Nachts Joseph in die Notaufnahme eingeliefert wird, gerät ihre mühsam aufrecht erhaltene Selbstbeherrschung ins Wanken.

Langsam entwickelt sich eine Freundschaft zwischen den beiden, doch als ihr Sohn entführt wird, führt eine unbedachte Bemerkung Josephs zum Bruch zwischen ihnen.

Was hat er mit der Entführung zu tun? Hat ihre Freundschaft überhaupt noch eine Chance? Und welche Rolle spielt ein Song?

Über die Autorin

Annika Lundgren ist das Pseudonym einer deutschen Autorin. Sie war schon immer eine Leseratte und hat selbst abends unter der Bettdecke noch gelesen. Sie hat jedes Buch verschlungen, das sie in die Finger bekam, und das hat sich bis heute nicht geändert.

Neben vielen anderen Hobbys schreibt sie auch gern Bücher und hat dafür 5 Jahre lang ein Fernstudium absolviert, um sich die Grundlagen dafür anzueignen.

2018 hat sie mit „Annie und Joseph“ ihren Debütroman veröffentlicht, den sie 2022 mit einer befreundeten Autorin komplett überarbeitet hat. Sie halten das Buch gerade in Ihren Händen: „Song for Annie“.

Derzeit arbeitet sie an einem fantastischen Roman, der von Mythen und Artefakten handelt, und dessen Hauptfiguren immerhin nicht weniger als 8 Planeten retten sollen.

Auch ein Kinderbuch ist in Arbeit und wartet darauf, überarbeitet und veröffentlicht zu werden.

Mit Mann, Kind und 2 Katzen wohnt Annika in einem kleinen Städtchen bei Leipzig und genießt im Sommer das Schreiben im Garten. Sie schreibt, um Ihnen, lieber Leser, eine Freude zu machen. Wenn Ihnen ihre Bücher gefallen, dann hat sie ihr Ziel erreicht.

Song for Annie

Für Nathalie, die mir offen und ehrlich bei der Überarbeitung dieses Buches geholfen hat. Danke für Deine Freundschaft, meine Liebe.

Inhaltsverzeichnis

Der neue Patient

Chief Inspector Blunt

Geister der Vergangenheit

Phoebe

In freiem Fall

Donna Caban

Ozeane an Möglichkeiten

Ein Aasgeier namens Presse

Rückschlag

Sammy

Vorfreude

Ein Date

Hastings

Die Katastrophe

Joseph

Annie

Song for Annie

Danksagung

Der neue Patient

Ich hatte die Nachtschicht in der Notaufnahme übernommen, weil einer der Ärzte krank geworden war. Es kursierte wieder einmal ein Magen-Darm-Virus, und ich konnte nur hoffen, dass nicht noch mehr Personal ausfiel.

Nachtschichten an Wochenenden in der Notaufnahme des Holy-Trinity-Hospitals waren sehr anstrengend. Das war auch den unzähligen ausländischen Gästen geschuldet, die sich zu jeder Jahreszeit in London tummelten.

Bis jetzt war es aber noch verhältnismäßig ruhig, nur ein gebrochener Arm, den ich eingegipst hatte, und eine Alkoholvergiftung – nicht schön, aber harmlos.

Es war kurz nach Mitternacht, als die Ambulanz eintraf und mir einen neuen Patienten brachte. Es war ein junger Mann, vielleicht Ende zwanzig, Anfang dreißig.

„Dr. Jonasson?“

Das war Mark, einer der Ambulanzfahrer. Ich kannte ihn schon seit einiger Zeit.

„Ja? Was hast du für mich?“ Ich eilte ihm entgegen.

„Eine Kneipenschlägerei. Soweit wir festgestellt haben nichts Lebensgefährliches. Platzwunden am Kopf, ausgerenktes Schultergelenk und möglicherweise ein paar gebrochene Rippen. Er ist bewusstlos. Die Zeugen sagten, dass ein riesiger Kerl mit Glatze grundlos auf ihn losgegangen ist und ihn niedergeschlagen hat. Dann hat er noch auf ihn eingetreten, als er schon am Boden lag. Die Polizei war schon da und hat ihn mitgenommen. Einer der Zeugen konnte ihn ausschalten …“

„Danke Mark …“ Ich war es gewohnt, dass er mir immer alles erzählte, was er wusste oder am Rande mitbekam. Manchmal war das sehr hilfreich, aber ich musste seinen Redeschwall unterbrechen, damit ich meine Arbeit tun konnte. Er wurde rot und lächelte mich entschuldigend an.

„Sorry Doc.“

Rachel, eine kleine bärbeißige Frau in den Fünfzigern mit dunkler Haut und pechschwarzen Locken, schob ein Bett heran. Zu dritt hoben wir den jungen Mann von der Liege. Sein Gesicht war blutüberströmt. Eine riesige Platzwunde klaffte über seinem linken Ohr. Auch im Gesicht hatte er etliche Blessuren.

Als sie seine Kleidung aufschnitt, kamen weitere Blutergüsse und Schrammen zum Vorschein.

Wahrscheinlich hatte Mark mit den gebrochenen Rippen Recht. Der Brustkorb verfärbte sich bereits dunkel. Und auch an der Hüfte hatte er einen riesigen Bluterguss. Nach den ersten Untersuchungen konnte ich Marks Vermutung bestätigen. Mein Patient war tatsächlich nicht lebensgefährlich verletzt, aber schlimm genug, um für einige Zeit bei uns bleiben zu müssen.

Nachdem er vom Röntgen und MRT wieder zurück war, nahm ich mir seinen Bauch vor und prüfte mit einem Ultraschall-Gerät, ob es noch innere Verletzungen gab, die auf Röntgenbildern und beim MRT nicht zu sehen sind, die aber durch die brutalen Tritte durchaus möglich waren. Ich stöhnte auf, Rachel schaute mich fragend an.

„Ein Kapselriss der Milz … aber er scheint sehr klein zu sein.“

Sie wusste, was zu tun war und nahm ihm mit routinierten Bewegungen Blut ab.

„Die sollen gleich eine komplette Blutuntersuchung mit allem Drum und Dran machen.“

Sie nickte und verschwand ins Labor.

Ich klebte seine Platzwunden über dem Ohr und an der Augenbraue mit Gewebekleber. Es würden nur sehr feine Narben an diese Verletzungen erinnern, viel feiner, als wenn ich es genäht hätte.

Die aufgeplatzte Lippe sowie die Abschürfungen an den Wangenknochen und der Nase desinfizierte ich nur. Das Schultergelenk renkte ich mit vorsichtigen Zugbewegungen wieder ein. Ich erinnerte mich dabei an meine Ausbildung und war sehr froh, dass er nicht bei Bewusstsein war. Es ersparte ihm unerträgliche Schmerzen. Mit einem leisen Knacken glitt der Oberarm wieder in die Gelenkpfanne.

Seine Rippen tapte ich. Sie würden von allein heilen, das Tape diente als Unterstützung. Dann fixierte ich seine Schulter, indem ich den Arm in eine spezielle Schlinge steckte. Seine Hüfte musste auch einen kräftigen Schlag abbekommen haben, wahrscheinlich als er gefallen war. Ich konnte auf den Röntgenbildern eine feine Linie ausmachen, ein Haarriss im Beckenknochen.

Zum Schluss versorgte ich ihn mit einem Schmerzmittel, das über einen Tropf direkt in die Blutbahn gelangte.

Rachel kümmerte sich bereits um den unvermeidlichen Papierkram und hatte in seinem Rucksack, den mir Mark überreicht hatte, nach Papieren gesucht, die ihn identifizieren konnten. Plötzlich schnappte sie nach Luft. Ich sah zu ihr, sie wirkte überrascht und schaute mich mit weit aufgerissenen Augen schockiert an.

„Was ist?“, fragte ich.

Wortlos hielt sie mir seinen Ausweis hin, und ich sah, was sie so aus der Fassung gebracht hatte. Der junge Mann war niemand anderes als Joseph Silver, Sänger der erfolgreichen Band Midnight Sun.

Rachel war fassungslos und stotterte: „Wer … wieso … das ist … warum er?“ Sie war völlig aufgelöst. Ich legte ihr die Hand auf die Schulter.

„Darum wird sich die Polizei kümmern. Die haben den Schläger verhaftet. Das hat Mark mir vorhin erzählt.“

Jetzt war ich froh, dass er immer so mitteilsam war.

„Komm, wir bringen ihn auf meine Station.“

Sie nickte und wischte sich eine Träne weg.

„Der arme Junge …“

„Er wird wieder, das verspreche ich dir. Er wird sehr starke Schmerzmittel brauchen. Kannst du prüfen, ob wir genügend vorrätig haben?“

„Ja, das mache ich“, versprach sie.

Gemeinsam rollten wir sein Bett zum Lift und fuhren in die oberste Etage der Klinik. Dort angekommen, brachten wir Joseph in ein Krankenzimmer. Rachel rollte einen Überwachungswagen in sein Zimmer und schloss ihn an alle Messinstrumente an.

Er war immer noch bewusstlos und lag still und bleich im Bett. Nachdem ich alles noch einmal überprüft hatte, kehrte ich in die Notaufnahme zurück, während Rachel auf meiner Station blieb. Der Rest der Nacht verstrich mit einigen leichteren Notfällen, keiner so schwer wie Joseph.

Gegen sechs am Morgen rief mich Rachel in der Notaufnahme an und bat mich, nach oben zu kommen.

Als ich ankam, prüfte sie gerade die Werte der Überwachungsgeräte. Joseph war aufgewacht und völlig orientierungslos. Ich trat an sein Bett, während Rachel den Raum verließ.

„Hallo Joseph. Ich bin Dr. Jonasson. Wissen Sie, wo Sie sind?“

Er brauchte ein paar Sekunden, bis sein Blick mich fand.

„Nein …“, flüsterte er schließlich mit heiserer Stimme.

„Sie sind im Holy-Trinity-Hospital. Können Sie sich an die letzten Stunden erinnern?“

„Nein … nicht so richtig … ich war mit Freunden was trinken …“ Seine Stimme erstarb. „Was ist passiert?“, fragte er nach einer kurzen Pause.

„Sie wurden zusammengeschlagen. Ihre Freunde haben dafür gesorgt, dass Sie hierher gebracht wurden. Wie fühlen Sie sich?“

Er versuchte, sich zu erinnern. Sein Mund zuckte, dann schloss er kurz die Augen und murmelte: „Wie von einem Panzer überrollt.“

„Ja, das kann ich mir vorstellen“, sagte ich.

„Sie wurden übel zugerichtet, aber machen Sie sich keine Sorgen, es wird alles heilen. In ein paar Wochen sind Sie wieder ganz der Alte.“

Er atmete tief ein und zuckte leicht zusammen. Seiner Kehle entrang sich ein Ächzen, als er wieder ausatmete.

Ich prüfte den Tropf und erhöhte etwas die Dosis.

„Das ist Flüssigkeit mit einem Schmerzmittel, es sollte bald besser werden. Sie haben einen Knopf neben Ihrer Hand liegen. Klingeln Sie, wenn Sie etwas brauchen oder die Schmerzen wieder stärker werden. Wir überwachen zusätzlich Ihre Vitalfunktionen.“

Die verschiedenen Apparate neben seinem Bett blinkten und piepten.

Ich informierte ihn über das, was sich an dem Abend zugetragen hatte.

„Wissen meine Freunde, wo ich bin?“, fragte er mit schwacher Stimme.

„Ja, der Fahrer des Krankenwagens hat es ihnen gesagt.“

„… meine Eltern anrufen … krank vor Sorge …“, nuschelte er, schon etwas benommen.

„Mach ich. Aber ruhen Sie sich jetzt erst mal aus. Das Schmerzmittel macht müde. Wenn Sie aufwachen, sieht die Welt schon wieder anders aus.“

Ich lächelte ihn beruhigend an.

„’key …“, murmelte er noch, dann schlief er ein und seine Atmung wurde ruhiger und gleichmäßig.

Ich verließ das Zimmer und begab mich wieder in die Notaufnahme, wo es für einen Samstagmorgen erstaunlich ruhig war. Ich sagte dem leitenden Arzt, dass er mich in meiner Praxis erreichen würde, sofern ein neuer Notfall meine Anwesenheit erforderte.

Ich hatte das große Glück, meine eigene chirurgische Praxis in einem der obersten Flure der Klinik zu haben. Dort behandelte ich meine eigenen Patienten, konnte aber immer auf die Technik der Klinik zurückgreifen, wenn es notwendig war. Ich hatte mein eigenes Personal, Rachel war eine von ihnen. In hellen und freundlichen Krankenzimmern konnte ich meine Patienten fernab vom hektischen Klinikalltag individuell betreuen. Sie wussten diesen Komfort sehr zu schätzen und waren bereit, den Preis dafür zu zahlen.

Ich hatte keine Sekunde gezögert, Joseph Silver hierher zu bringen. Ich wollte ihn nicht in einem der vielen anonymen Zimmer wissen. Ich kannte den Hype um ihn. Hier war er sicher und konnte sich in Ruhe von seinen Verletzungen erholen.

Am Eingang unserer Praxis hatten wir immer einen Wachmann stehen, der für unsere und die Sicherheit unserer Patienten sorgte.

Nachdem mehrere Besucher, vor allem Reporter und Fotografen sich unerlaubt Zutritt verschafft hatten, hatte ich Jeff und Daniel engagiert. Sie standen immer mit mir in Verbindung und haben schon so manchen Störenfried von seinem Vorhaben abgehalten.

Ich schaute noch mal nach Joseph, er schlief tief und fest. Dann besprach ich mit Rachel und meinem Pfleger Dean, der gerade angekommen war, die vergangene Nacht und plante den kommenden Tag. Wir verabschiedeten uns, und ich fuhr mit dem Lift in das Dachgeschoss, wo ich meine Wohnung hatte.

Heute war Sonnabend, und meine Praxis hatte geschlossen. Ich konnte mich also ein paar Stunden hinlegen und später wieder nach Joseph schauen.

Aber zuerst musste ich noch jemandem guten Morgen sagen. Schwungvoll öffnete ich meine Wohnungstür.

Er saß im Wohnzimmer auf dem Boden. Als er mich hörte, sprang er auf und rannte auf mich zu. Er trug noch den Winnie-Pooh-Schlafanzug und hatte seine Schmusemaus in der Hand. Sie war schon ganz abgegriffen, aber sie musste ihn überall begleiten. Ich konnte ihn nur mit einem Eis bestechen, sie mir zum Waschen zu geben. Danach knuddelte er sie immer mit einer Hingabe, als hätte er sie Monate nicht gesehen. Es war zum Dahinschmelzen, aber es trieb mir auch jedes Mal die Tränen in die Augen, da es mich schmerzhaft an unseren Verlust erinnerte.

„Guten Morgen, mein Großer.“ Ich hockte mich hin und begrüßte ihn. Er strahlte mich an und legte seine kleinen Arme um meinen Hals. Dann drückte er mir ein Küsschen auf die Wange, und wir rieben unsere Nasen aneinander.

„Ja, ich hab dich auch ganz doll lieb“, erwiderte ich seine Liebesbekundung.

Er drückte mich noch einmal ganz fest, dann lief er schnell in die Küche.

„Guten Morgen, Annie.“

„Das wünsche ich dir auch, Clare.“

Clare war Sammys Kindermädchen. Sie war ein wenig schräg und verrückt, aber sie liebte Kinder und vergötterte Sammy. Er wickelte sie regelmäßig um den Finger, und sie gab ihm alles, was er wollte, na ja … fast alles. Ein paar Regeln hatten beide schon zu befolgen, aber sie verstanden sich prächtig.

„Wie war die Nacht? Gab es ein paar hübsche Mädels für mich?“, scherzte Clare.

„Nein, heute Nacht war nicht viel los. Und auch keine Mädels – leider …“, erwiderte ich ihre Neckerei. Sie hatte mit Männern nichts am Hut und war lieber mit Mädchen zusammen. Aber das war völlig ok für mich. Hauptsache, Sammy war glücklich.

„Hat Sammy gut geschlafen?“, fragte ich sie leise.

„Nein, es war wieder der übliche Albtraum. Aber ich konnte ihn trösten, und er hat weiter geschlafen.“

Ihr Ton war traurig. Clare war sehr sensibel. Sie wusste, warum Sammy Albträume hatte, und litt jedes Mal mit, wenn er weinend aufwachte.

„Möchtest du Kaffee und ein Croissant?“, fragte sie etwas heiterer.

„Ja, das habe ich mir jetzt wirklich verdient. Danach hole ich ein wenig Schlaf nach.“

„Das werde ich nie verstehen, wie du trotz Kaffee schlafen kannst“, meinte sie kopfschüttelnd.

„Kaffee ist für mich das beste Schlafmittel.“ Ich lachte. Sie zog eine Augenbraue hoch, sagte aber nichts, sondern goss mir den frisch gebrühten Kaffee in meine blaue Lieblingstasse mit Sonnenblumenmotiv ein.

Ich nahm einen großen Schluck, biss von dem frischen Croissant ab und beobachtete Sammy, der seine Maus auf den Tisch gesetzt hatte, und sich vergnügt Cornflakes in den Mund schaufelte. Von seinen Albträumen war Gott sei Dank morgens nichts mehr übrig. Das tröstete mich etwas.

Später kuschelte ich mich in mein Bett, konnte aber nicht einschlafen. Ich musste an Joseph denken. Er hatte so verletzlich ausgesehen, als er schlafend in dem großen Krankenhausbett lag. Wie konnten Menschen einander nur so wehtun? Ich würde es nie verstehen. Ich hoffte nur, dass er so schnell wie möglich wieder auf die Beine kam.

Meine Gedanken wanderten weiter zu Sammy, meinem kleinen vierjährigen Sohn, der versuchte, den Verlust seines Vaters zu verarbeiten. Fast jede Nacht hatte er diese Albträume, aus denen er weinend aufwachte. Das war für ihn oft so schlimm, dass ich ihn ins Wohnzimmer tragen musste, alle Lichter anschaltete und ihm eine warme Milch machte. Um ihm wenigstens für den Rest der Nacht einen einigermaßen ruhigen Schlaf zu ermöglichen, nahm ich ihn dann meistens mit in mein Bett. Am Morgen war alles vergessen.

Als mein Wecker klingelte, streckte ich mich genüsslich. Mir war angenehm warm, da die Sonne direkt auf mein Bett schien. Tatsächlich fühlte mich etwas erholt. Das lag wahrscheinlich an der einschläfernden Wirkung des Kaffees, dachte ich und musste grinsen.

Schnell zog ich mir ein paar bequeme Sachen an und lief ins Wohnzimmer. Clare saß auf der Couch und summte vor sich hin, während sie auf ihrem Skizzenblock ein paar Figuren hinkritzelte.

„Ein neuer Comic?“

„Ja, zumindest habe ich schon ein paar Ideen für die Figuren und was sie so anstellen könnten.“

Sie beugte sich über ihren Block und arbeitete konzentriert weiter.

„Aber ich schau mal, was Sammy in der nächsten Zeit so anstellt, dann wird mir schon noch mehr einfallen.“

„Also ist Sammy deine Muse?“

„Mmh … ja, das trifft’s ganz gut.“ Sie grinste schelmisch.

Ich musste ebenfalls lachen.

„Da ist noch was vom Mittagessen übrig. Magst du?“

Sie legte den Block beiseite und wandte sich mir zu.

„Was gab‘s denn?“

„Heute durfte Sammy sich was wünschen …“

„Also Spaghetti mit Tomatensoße?“

„Genau.“

„Ja, das klingt gut.“

Sie war schon aufgesprungen und klapperte in der Küche mit dem Geschirr. Ein paar Minuten später reichte sie mir einen Teller mit dem dampfenden Essen und Besteck dazu.

„Danke.“

Sie ließ sich auf der Couch nieder und nahm wieder ihren Skizzenblock zur Hand. Eine Weile saßen wir schweigend beisammen, sie malte, ich aß. Als ich fertig war, schaffte ich meinen leeren Teller in die Küche. Auf dem Weg fragte ich sie über die Schulter: „Ich mach mir einen Kaffee, willst du auch einen?“

„Ja, gerne.“

Mit dem Kaffeebecher in der Hand genoss ich die Ruhe und den Sonnenschein, der mein Wohnzimmer in goldenes Licht tauchte. Sammy würde bald wieder aufwachen, dann würden wir auf den Spielplatz gehen, das hatte ich ihm versprochen.

Mein Telefon klingelte. Dean war dran.

„Annie?“

„Ja?“

„Könntest du bitte mal kommen? Ich habe hier die Eltern von Joseph, sie wollen ihn sehen und mit einem Arzt sprechen.“

„Gib mir fünf Minuten, ich bin gleich da.“

„In Ordnung, bis gleich.“

„Ich muss kurz runter auf meine Station, sollte aber nicht zu lange dauern. Bis Sammy aufwacht, bin ich hoffentlich wieder da“, rief ich Clare zu.

Ich zog mich rasch in meinem Büro um, dann suchte ich Dean. Als er mich kommen sah, lächelte er.

„Sie sind im Wartebereich und wirken ziemlich aufgelöst.“

„Das kann ich mir gut vorstellen. Ich geh gleich zu ihnen. Was machen Josephs Werte?“

„Der Tropf ist bald leer, und er wird langsam wieder wach.“

„Alles klar, bereitest du eine neue Infusion vor?“

Im Wartebereich saßen Josephs Eltern. Seine Mutter hatte ihren Kopf an die Schulter ihres Mannes gelehnt und wischte sich mit einem Taschentuch eine Träne weg. Sein Vater hatte seinen Arm liebevoll um sie gelegt und tröstete sie mit leisen Worten. Als ich eintrat, sahen beide auf.

„Guten Tag, ich bin Dr. Jonasson. Sie sind die Eltern von Joseph Silver?“

„Wie geht es unserem Sohn?“, fragte sie erstickt.

„Es geht ihm den Umständen entsprechend. Er bekommt momentan sehr starke Schmerzmittel. Aber ich kann Sie beruhigen, er ist nicht lebensgefährlich verletzt. Er wird wieder vollständig gesund werden.“

Sie wischte sich erneut eine Träne weg.

„Können wir ihn sehen?“, fragte sein Vater.

„Selbstverständlich, kommen Sie bitte mit.“

Ich begleitete sie zu Josephs Zimmer. Vor der Tür blieb ich stehen und drehte mich zu den beiden um.

„Bitte erschrecken Sie nicht, sein Gesicht hat einiges abbekommen, aber es sieht schlimmer aus, als es ist.“

Ich öffnete die Tür, und wir traten ein. Hinter mir hörte ich einen erstickten Schrei. Als ich mich umsah, hatte Josephs Mutter ihr Gesicht an der Brust ihres Mannes vergraben, ihre Schultern bebten. Er strich ihr beruhigend darüber, auch in seinen Augen glitzerten Tränen.

Ich wandte mich Joseph zu, der merklich unruhiger war als noch vor ein paar Stunden. Ich konnte seine Eltern sehr gut verstehen. Es ist ein schreckliches Gefühl, einen geliebten Menschen in so einem Zustand zu sehen. Auch wenn ihr Sohn wieder vollständig gesund werden und alle seine Wunden heilen würden, so war es doch dieser Moment, der sich in das Herz und in die Erinnerung eingräbt und einem unsere Verletzlichkeit umso deutlicher vor Augen führt. Für die meisten gibt es Hoffnung, aber ich hatte in meinem Alltag auch hoffnungslose Fälle erlebt. Es ist furchtbar, wenn man für einen Patienten nichts mehr tun kann. Aber es ist noch tausendmal schlimmer, es seinen Nächsten mitzuteilen, die Trauer und den Schmerz in ihren Augen zu sehen und zu wissen, dass man diese Wunden auch mit modernster Medizin nicht heilen kann.

Josephs Mutter hatte sich etwas beruhigt und kam nun vorsichtig näher. Ihr Mann hielt sie umschlungen und stützte sie.

Sie schauten beide zu ihrem Sohn. Josephs Gesicht zuckte, er bewegte sich unruhig.

Ich berührte seine Schulter.

„Joseph?“

Er blinzelte in das helle Licht.

„Mmh?“

„Ihre Eltern sind hier.“

Nun öffnete er die Augen ganz.

„Joseph!“ Seine Mutter eilte zu ihm ans Bett, blickte ihn liebevoll an und strich ihm vorsichtig über die Haare.

„Mom … Dad!“, flüsterte Joseph heiser.

Sein Vater nickte ihm zu.

„Wie geht es dir?“, wollte seine Mutter wissen.

Er blickte verlegen zu Seite und wurde rot.

„Ich … ähm … ich muss mal …“

„Ich erledige das“, sagte Dean, der gerade mit einem neuen Infusionsbeutel das Zimmer betrat.

„Dann lassen wir die beiden kurz allein“, schlug ich vor und ließ ihnen den Vortritt. „Am besten kommen Sie kurz in mein Büro.“

Sie folgten mir.

„Wie schwer ist er verletzt?“, wollte sein Vater wissen, als wir uns gesetzt hatten.

Ich erklärte ihnen, wie es um ihn stand. Sie nickten beide und schienen den ersten Schock überwunden zu haben.

„Aber wie gesagt, er befindet sich nicht in Lebensgefahr. Er wird wieder ganz gesund werden“, beendete ich meinen Bericht. Beide schauten mich erleichtert an.

„Können wir ihn nochmal sehen?“, fragte seine Mutter.

„Selbstverständlich.“

In diesem Moment steckte Dean seinen Kopf zur Tür herein und nickte mir zu.

Als wir wieder im Krankenzimmer waren, setzten sich Josephs Eltern auf die Stühle, die Dean ihnen neben das Bett gestellt hatte.

„Haben Sie Schmerzen?“, fragte ich Joseph.

„Im Moment geht es noch.“

„Gut, dann lasse ich Sie kurz mit Ihren Eltern allein. Wenn es nicht mehr geht, klingeln Sie, ja?“

Er nickte, und ich verließ das Zimmer.

Mit Dean schaute ich mir Josephs Vitalwerte an. Die Anzeigen waren alle unauffällig.

„Sind eigentlich die Blutwerte von Joseph da?“

„Ja, das Labor hat sie vorhin übermittelt.“

„Ich sehe sie mir gleich hier an. Kannst Du derweil den Ultraschall in sein Zimmer bringen?“

Er nickte, stand auf und überließ mir seinen Stuhl. Zufrieden stellte ich fest, dass seine Blutwerte in Ordnung waren.

In diesem Moment leuchtete das Rufsignal von seinem Zimmer auf, und ein leises Piepen ertönte. Eilig lief ich in Josephs Zimmer und trat an sein Bett. „Ich muss Joseph noch einmal untersuchen. Wenn Sie morgen um diese Zeit wiederkommen wollen, dann wird er sich schon ein wenig besser fühlen.“

Seine Eltern verabschiedeten sich von ihrem Sohn und verließen das Zimmer.

Ich wandte mich an Joseph. „Ich muss mir Ihren Bauch im Ultraschall ansehen. Das würde ich sehr gern machen, wenn Sie noch nicht schlafen. Halten Sie es noch fünf Minuten aus?“

„Ja … geht schon …“

„Gut, dann los.“

Ich beeilte mich und freute mich, dass sich der Zustand der Milz nicht verschlimmert hatte. Joseph lächelte schwach, als ich ihm das erzählte.

„Mich haut so schnell nichts um“, sagte er mit einem schiefen Grinsen im Gesicht. Dann kniff er die Augen zusammen und verzog das Gesicht. „Na ja … fast nichts …“, setzte er gepresst hinzu, als er sich wieder entspannt hatte.

„Alles klar … verstehe. Wollen Sie jetzt trotzdem Ihre Schmerzmittel haben?“

„Ausnahmsweise …“, murmelte er erschöpft, während ich die neue Infusion anschloss.

Ich lächelte ihn an, und er entspannte sich, als die Wirkung einsetzte.

„Danke“, flüsterte er noch, dann war er schon eingeschlafen.

Ich verließ das Zimmer und gab Dean Bescheid, dass er mich wie immer in dringenden Fällen auf meinem Handy erreichen konnte.

Als ich die Wohnungstür hinter mir schloss, hörte ich Clare mit Sammy sprechen. Sie erzählte ihm alles Mögliche, aber er sagte wie immer nichts. Ich konnte den beiden stundenlang bei ihrer einseitigen Konversation zuhören. Auch wenn er nicht antwortete, so merkte ich doch, dass Sammy es mochte, wie unbeschwert und liebevoll sie sich um ihn kümmerte.

Ich betrat leise sein Zimmer und sah zu, wie er sich geduldig von ihr anziehen ließ. Ab und zu wuschelte er ihr in den wilden Locken herum. Sie lachte ein helles Glockenlachen und zwickte ihn in die Nase. Er kicherte.

Dann war er fertig und drehte sich zu mir um. Er holte tief Luft, als er mich sah, und stürmte auf mich zu. Ich fing ihn auf und wirbelte ihn einmal im Kreis. Ich nahm ihn auf meinen Arm und fragte: „Wollen wir jetzt auf den Spielplatz gehen?“

Er nickte begeistert und zappelte, damit ich ihn runterließ. Dann lief er in den Flur, um sich seine Schuhe anzuziehen.

Clare hatte uns schon eine kleine Tasche mit einem Nachmittagspicknick und Getränken fertig gemacht. Sie war so eine gute Seele und sehr aufmerksam.

Mit seinem Sandspielzeug bewaffnet, erwartete mich Sammy.

„Bis nachher“, verabschiedete ich mich von Clare. Dann zog mich Sammy aus der Tür.

Der Spielplatz lag in einem riesigen Innenhof. Darum gruppierten sich die Gebäude des Holy-Trinity-Hospitals, des dazugehörigen Kindergartens und einer Schule. Sie gehörten alle zu einem christlichen Orden, dessen Kirche sich ebenfalls in unmittelbarer Nähe befand. An den Wochenenden wurden wir immer durch wunderschönes Glockengeläut geweckt.

Ich besuchte die Kirche gelegentlich, nicht weil ich an Gott glaubte oder an den Gottesdiensten teilnahm, sondern weil ich manchmal einfach die Stille in diesen hohen, kühlen und dunklen Räumen genoss. Dann hielt ich stumme Zwiesprache mit mir selbst und versuchte, mir klar zu werden, was ich eigentlich von mir und meinem Leben erwartete. Meist kam ich zu dem Schluss, dass mein eigenes Unglück gering war im Gegensatz zum Unglück vieler anderer Menschen, und dass ich für meinen Sohn stark sein musste. Er hatte noch sein ganzes Leben vor sich und sollte den besten Start haben. Jede Mutter wünschte sich das für ihr Kind und würde alles dafür geben. Ich war da keine Ausnahme. Und natürlich versuchte ich, es ihm nach dem traumatischen Ereignis von vor zwei Jahren so schön wie möglich zu machen, ihn die Albträume vergessen zu lassen und ihn wieder zum Sprechen zu bringen. Aber was konnte ich schon tun, wenn etwas tief in ihm drin dies nicht zuließ? Nichts, ich konnte nur abwarten und darauf hoffen, dass auch bei ihm die Zeit alle Wunden heilte.

Sammy zog ungeduldig an meinem Arm, wir waren am Spielplatz angekommen. Ich hatte es gar nicht gemerkt, so versunken war ich in meine Gedanken. Er zog mich schnurstracks zur Schaukel.

„Willst du schaukeln?“

Er nickte begeistert und rannte los. Ich hob ihn auf den Sitz und schob ihn an. Er genoss den Wind, der ihm durch die Haare wehte und lachte über das ganze Gesicht.

Schließlich hatte er genug und kletterte vom Sitz. Er kam zu mir, warf sich in meine Arme und drückte mich. Das war seine Art, mir zu sagen, dass es ihm gefallen hatte.

Mit seinem Sandspielzeug und mir im Schlepptau lief er zum Sandkasten. Dort waren schon andere Kinder, aber Sammy spielte lieber allein. Er suchte sich eine leere Ecke und buddelte mit der Schaufel ein Loch, um an den feuchten Sand zu kommen. Die ersten Sandkuchen fielen auseinander, aber schnell hatte er den Bogen raus, und der Kuchen behielt die Form.

Nachdem wir unser kleines Picknick verspeist hatten, zusammen noch einige Sandkuchen gebacken, eine Burg gebaut und einen Tunnel gegraben hatten, war es Zeit für den Rückweg. Er verzog seinen Mund zu einer Schnute, aber die Aussicht auf Clares Kochkünste stimmten ihn um. Ich klopfte ihm den Sand aus den Sachen und packte sein Spielzeug zusammen.

Nach dem Abendbrot brachte ich Sammy ins Bett. Ich las ihm noch eine seiner Lieblingsgeschichten vor, aber noch bevor ich geendet hatte, war er schon eingeschlafen. So drückte ich ihm noch einen Kuss auf die Stirn, zog seine Bettdecke glatt und knipste das Nachtlicht an. Ich hoffte, dass er diese Nacht vielleicht keinen Albtraum hatte. Dann verließ ich leise sein Zimmer, ließ die Tür aber einen Spalt offen.

Gemeinsam mit Clare beseitigte ich die Reste der Küchenschlacht.

„Ich muss nachher noch mal runter auf Station.“

„Kein Problem, ich bin da, falls Sammy aufwacht.“

„Ach Clare, habe ich dir jemals gesagt, dass du ein Schatz bist? Ich wüsste nicht, wie ich das alles ohne dich schaffen würde.“

„Dann gäbe es jemanden anderes“, sagte sie schlicht.

„Ich weiß nicht … kann ich mir nicht vorstellen, Sammy betet dich an. Ihr seid einfach ein tolles Team.“

Sie lachte. „Ja, wir sind in der Tat ein tolles Team.“

Dann stand sie auf, streckte sich und packte ihre Zeichensachen zusammen, „Ich bin in meinem Zimmer.“

„Alles klar, bis später“, rief ich ihr nach und ließ mich auf der Couch nieder. Clare verschwand in ihrem Zimmer.

Ich hatte noch ungefähr eine Stunde Zeit und wusste nicht so recht, was ich damit anfangen sollte. Also holte ich mir noch einen Kaffee und setzte mich an meinen kleinen Schreibtisch im Wohnzimmer. Ich schaute mich um und stellte fest, dass ich hier lange nicht mehr aufgeräumt hatte. Also beschloss ich, die Stunde dafür zu nutzen.