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Eine märchenhafte Skikomödie voller Charme und Romantik Blauer Himmel, strahlender Sonnenschein und verschneite Berge: Die perfekte Kulisse für einen unvergesslichen Winter voller Abenteuer und Romantik! Der junge Skilehrer Martin Hofer steckt mitten in einem turbulenten Winter, in dem anzügliche Touristinnen, witzige Missgeschicke und sein großer Schwarm für Chaos sorgen. Wird er seine Schüchternheit überwinden und die Liebe seines Lebens gewinnen? Eine charmante und humorvolle Liebesgeschichte, die Herzen erwärmt – ideal für alle, die sich nach leichter Unterhaltung und winterlichem Flair sehnen.
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Seitenzahl: 349
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Der erste Schnee
Schneeluft
Schwerer Schnee
Schneeluft
Brennender Schnee
Neuer Schnee
Schneemänner und Schneefrauen
Harter Schnee
Noch härterer Schnee
Tiefer Schnee
Eisplatten
Eingeschneit
Eiszeit und Tauwetter
Schneeschmelze
Der Regen ging langsam in Schneefall über. Immer öfter mischte sich eine dicke, behäbige Schneeflocke unter die schweren Regentropfen, die gegen das einzige Fenster im Raum klatschten. Auf dem kahlen Apfelbaum vor dem Fenster stritten sich zwei Meisen um eine Nuss, die eine von ihnen aus einem Futterhäuschen stibitzt haben musste. Es kam von draußen gerade noch genug Tageslicht herein, sodass neben dem flimmernden Computerbildschirm eine kleine Schreibtischlampe ausreichte. Der nervöse Cursor verharrte blinkend auf derselben Stelle einer Tabelle, die noch völlig leer war. Martin starrte den Cursor leicht verzweifelt an und wusste nicht weiter. Er blickte auf die Uhr an der Wand gegenüber. Er hatte noch immer über eine Stunde im Büro abzusitzen, bevor er sich endlich auf den Heimweg machen konnte. Das zog sich noch hin.
Ein Urschrei durchbrach die Stille des Nichtstuns. Martin zuckte zusammen, es beutelte ihn regelrecht durch. Nach etwa drei Sekunden Pause der nächste Schrei. Er kam aus dem Nachbarbüro und die Stimme dazu gehörte seinem Chef. Herr Winkler Junior konnte sich offenbar nicht mehr halten. Er brüllte, fluchte und fauchte. Winkler Junior schrie die beiden Kollegen von Martin aus dem Nachbarbüro dermaßen nieder, dass selbst die zwei Meisen draußen auf dem Baum erschraken. Martin atmete schwer und tippte schnell irgendwelche Artikelnummern in die Tabelle. Egal ob sie zusammenpassten oder nicht, denn er fürchtete das nächste Anschreiobjekt seines Chefs zu werden.
Ein dumpfer Knall direkt neben Martins Bildschirm. Der Chef musste etwas gegen die Wand geschmettert haben, vermutlich den schweren Katalog mit den neuesten Komponenten für Klimaanlagen. Auf den Tuscher folgte noch ein Brüller und ein heftiges Scheppern, diesmal von der zugeschleuderten Bürotür. Martin schloss die Augen und hoffte, der Chef würde nach rechts abbiegen und in sein eigenes Büro gehen. Doch er bog nach links ab und baute sich hinter Martin auf.
Johann Winkler Junior war kein großer Mann, dafür etwas dicklich. Mit seinem Bürstenhaarschnitt wirkte er etwas lächerlich, fast wie ein Lausbub. Das mochte aber nicht lange verbergen, dass er ein Choleriker wie aus einem Märchenbuch für Albträume war. Seine Haut bekam überall rote Flecken, wenn er sich aufregte. Sein Stiernacken schien sich noch weiter zu wölben, wenn er in Fahrt kam. Und seine Stimme überschlug sich gern beim Schreien, was sich zwar lustig anhörte, aber niemandem im Büro war dann zum Lachen zumute.
Winkler Junior errichtete im Büro ein Terrorregime, gleich nachdem er vor einem halben Jahr das Geschäft von seinem Vater Johann Winkler Senior übernommen hatte. Melanie vom Empfang hatte Martin mehr als einmal davon erzählt, welch nobler Herr der Senior war. Ein Gentleman, der nie seine Stimme erhoben und trotzdem genug Autorität ausgestrahlt hatte, um seine Belegschaft gut zu führen. Martin war erst seit zwei Wochen hier. Er wünschte, es gäbe noch den Senior als Chef. Doch den hatte er verpasst und bisher auch nicht zu Gesicht bekommen.
Stattdessen spürte er nun hinter seinem Rücken regelrecht die Blicke des Juniors. Martin verkrampfte sich sekündlich mehr. Angestrengt dachte er darüber nach, was er noch schnell in den Computer tippen könnte. Stattdessen entschied er, in der Preisliste zu blättern und so zu tun, als ob er etwas nachschauen musste.
»Hofer, das ist ein Blödsinn«, hörte er seinen Chef grunzen. »Du kombinierst die Eckteile vom Flachrohrsystem mit den Schellen für die normalen Rohre.«
Martin verstand nicht, blickte aber schnell von der Preisliste auf und sah ein rotfleckiges Gesicht vor sich. Doch der Chef schien sich wieder im Griff zu haben. Er nickte nur in Richtung des Bildschirms und meinte erneut:
»Diese Kombi ist ein Quatsch.«
Martin begriff jetzt. Der Chef meinte die Artikelnummern, die er vorhin in Panik in die Tabelle geklopft hatte.
»Ok. Tut mir leid. Ich werd‘s gleich korrigieren«, beeilte sich Martin zu sagen, ohne zu wissen, was er überhaupt ändern musste.
Er blickte nach zwei Wochen noch immer nicht durch, was er überhaupt hier machen sollte und was genau sein Job war. Die Einschulung hatte am ersten Tag genau zwei Stunden gedauert, danach war der Junior verschwunden und den ganzen Nachmittag nicht mehr aufgetaucht. An den nächsten Tagen wurden ihm einfach Anfragen auf den Tisch gelegt, die er bearbeiten sollte. Er sollte Klimaanlagen für Firmen konzipieren und Angebote erstellen. Doch er hatte keinen Tau, welche Komponenten wofür waren, und die Preisliste war ihm sowieso ein großes Rätsel. Der Chef deutete ein Kopfschütteln an und presste die Lippen aufeinander.
»Gut, wir werden die Einschulung wohl am Montag wiederholen müssen. Vielleicht kapierst du es ja dann endlich, wie du eine Klimaanlage zusammenbaust.«
Martin wusste nicht, ob er erleichtert sein oder ob er sich fürchten sollte. Er hoffte nur, dass die Einschulung einer der Kollegen übernahm und nicht wieder der Chef selbst. Martin nickte demütig.
»Ja, das wäre super. Gerade die technischen Details machen mir noch zu schaffen.«
Der Junior hatte sich für heute offenbar genug aufgeregt. Die Gesichtsfarbe normalisierte sich wieder. Nun schüttelte er beim Kehrtmachen wirklich den Kopf und ging. »Schönes Wochenende«, brummte er zum Abschied.
Martin war noch immer gestresst von dem Aufeinandertreffen, nur langsam wurde er wieder lockerer. Er war froh, dass er einer Schimpftirade entgangen war. Alles in allem fühlte er sich aber gerade ziemlich klein und verloren. Er schaute wieder dorthin, wo die Uhr hing. Noch immer eine Stunde bis Dienstschluss. Er fragte sich, was er hier überhaupt machte und warum. Eigentlich wollte er ja Journalist werden und jetzt saß er hier in diesem Büro und tat so, als würde er Klimaanlagen planen. Es war bis jetzt ein sonderbares Jahr.
Im Frühsommer war er mit der Schule fertig geworden. Er war knapp an einem Zeugnis mit einem guten Erfolg vorbeigeschrammt. Das hatte ihn zumindest ein bisschen gewurmt, wobei er sich selbst eingestehen musste, dass er als Schüler eher in die Kategorie faul einzustufen war. Er mogelte sich durch die Schulzeit. Sein Englisch war ziemlich ausbaufähig, sein Italienisch unterirdisch. Betriebswirtschaft konnte man zumindest auswendig lernen, wenn man schnell eine gute Note für eine Schularbeit brauchte. So richtig gut war er eigentlich nur in den beiden Fächern, die ihn auch wirklich interessierten, in Deutsch und in Geschichte.
Die Schule war jedenfalls vorbei und vor Martin lag ein Sommer, der das große Potential hatte, für ihn ein legen - därer zu werden. Er freute sich auf Grillpartys und auf Ausflüge mit dem Auto, nachdem er gerade erst den Führerschein bekommen hatte. Und vielleicht würde er ja auch eine Freundin finden, wenn er endlich mehr Zeit zum Ausgehen hatte. Doch er vergaß, seine Mutter in die Gleichung einzubauen. Sie hatte wenig Verständnis fürs faul daheim Liegen. Sie trieb ihn an, Bewerbungen zu schreiben. So leierte er sich fast jeden Tag ein neues Bewerbungsschreiben aus den Fingern. Meist schrieb er Banken an. Martin graute allerdings vor einem Bankenjob. Er konnte sich nichts vorstellen, was für ihn langweiliger wäre. Bei jeder Absage spielte er recht überzeugend den Enttäuschten und zuckte mit den Schultern. »Es gibt halt zu viele Bewerber für zu wenige Jobs!« Seine Mutter hingegen schüttelte verständnislos den Kopf, warum ihr Sohn wieder nicht zum Zug kam. »Wie willst du denn ein geregeltes Leben hinkriegen, wenn dich keiner nimmt? Du brauchst Arbeit!«
Arbeit ja, dachte sich Martin. Aber eine, die er auch wollte. Er recherchierte im Stillen, ob und wo es die Möglichkeit gab, als Journalist zu arbeiten. Er wollte für eine Zeitung schreiben, doch da gab es in Tirol nicht so viele Möglichkeiten. Die Redaktionen der großen Tageszeitungen waren entweder in Innsbruck oder in Salzburg oder gar in Wien. Alles zu weit weg, um sich für ein Praktikum zu bewerben.
Seine Eltern wussten, dass er sich eine Karriere im Journalismus erhoffte. Seinem Vater war das eher egal, doch seine Mutter war dagegen. Martin schmorte also mehr in seinem eigenen Saft dahin. Die Aussicht auf einen Job, der seinen Vorstellungen entsprach, war gleich null. Dieser Sommer verlief somit ganz und gar nicht legendär, sondern eher frustrierend. Bis ihm eines Nachmittags sein Vater die Rundschau hinlangte, während er auf der Couch lümmelte.
»Da. Du wolltest doch Schreiberling werden oder so was.«
»Journalist, Papa!«, verbesserte ihn Martin.
»Ja, was auch immer. Die suchen Leute, die für sie schreiben.«
Martin starrte auf das eingerahmte Inserat, in dem stand, dass die Kitzbüheler Rundschau freie Mitarbeiter suchte. Die Rundschau war die Bezirkszeitung und für Martin eher mäßig spannend. Ein Abbild der Bussi-Bussi-Gesellschaft mit ein paar lokalen Berichten, die aber alle schon wieder alt waren, nachdem die Rundschau nur einmal im Monat erschien. Vor allem aber war die Zeitung, wenn man sie so nennen wollte, zugekleistert mit Werbung.
Neugierig war er jetzt trotzdem. Er ging zum Telefon in die Küche und wählte, ohne lange nachzudenken, die angegebene Nummer. Ein Mann mit einer freundlichen Stimme hob ab.
»Hallo, hier ist die Rundschau, was kann ich für sie tun?«
»Äh, ich rufe an wegen ihrer Anzeige, dass sie Leute suchen. Zum Schreiben.«
»Ah, jaaa. Das freut mich, dass sie sich melden. Es geht um ein bisschen mehr als nur ums Schreiben. Wir brauchen auch jemanden fürs Marketing sozusagen. Jemanden, der den Laden am Laufen hält. Hätten sie Interesse, dass wir uns treffen und unsere Möglichkeiten erörtern?«
Der Mann säuselte fast etwas schrullig ins Telefon und wollte von Martin wenig bis gar nichts wissen. Das ging jetzt alles ein bisschen schnell für Martin, aber er willigte ein, am nächsten Nachmittag in die Redaktion zu kommen.
Die Redaktion war, wie sich herausstellte, das Privathaus des Chefredakteurs Bernd Prechtl. Der Mann war der klassische Typ eines Verkäufers. Er trug einen dunkelblauen Anzug, eine rote Krawatte und zerfranste Haussandalen. Sein Vollbart war penibel gestutzt und adrett an den richtigen Stellen ausrasiert. Martin durfte sich auf die braune Ledercouch setzen. Auf dem gekachelten Couchtisch stapelten sich die letzten sechs oder sieben Ausgaben der Rundschau. Im Gegensatz zum Telefonat kam Prechtl jetzt gleich zur Sache und wollte alles Mögliche von Martin wissen. Martin erzählte von der Schule, seiner Leidenschaft fürs Schreiben und dass er Führerschein und Auto hatte. Zwar nur den peinlichen Opel Corsa in violett, den ihm seine Mutter vermacht hatte. Aber das Ding fuhr, und es brachte ihn und seine Freunde auch hin, wohin sie wollten. Den Teil mit dem peinlichen Auto verschwieg Martin freilich.
Es wurde ihm nur sehr langsam klar, wie das hier lief. Bernd hatte ihm gleich das Du angeboten und pries in seinem besten Verkaufsjargon die Vorzüge an, für die Rundschau zu arbeiten. Man konnte irrsinnig viel Geld verdienen mit Provisionen, wenn man sich ordentlich reinhängte.
»Provisionen?«, fragte Martin etwas verdutzt nach.
»Ja, Provisionen. Du verkaufst den Firmen Inserate und vom Umsatz gehören bis zu zwanzig Prozent dir.«
Es hätte bei Martin eigentlich an dieser Stelle klick machen müssen, dass die Rundschau mehr nach einem Verkäufer denn nach einem Journalisten suchte. Irgendwie ließ er sich von der freundlich-sonoren Stimme einlullen, nur einmal fragte er dann doch nach.
»Aber wie ist das mit dem journalistischen Teil? Ich will ja Artikel schreiben.«
»Das kannst du auch. Du kannst schreiben, worüber du willst. Bezahlt wirst du aber für die Inserate, die du mir bringst. Wollen wir es miteinander versuchen?«
Martin dachte nicht weiter darüber nach, was das ei - gent lich bedeutete, und brachte nur mehr ein »ja, gerne« heraus.
Ausstaffiert mit Rundschau-Ausgaben, einer Preisliste und der Einladung zur nächsten Redaktionssitzung, ging er zu seinem violetten Kleinwagen. Der Anflug eines Hochgefühls durchströmte ihn auf der Heimfahrt. Immerhin, er konnte jetzt Artikel verfassen. Und nicht nur das, er konnte über alles schreiben, worüber er wollte. Bezahlt wurde er für seine journalistische Arbeit zwar nicht, aber wie schwer würde es schon sein, ein paar Inserate zu verkaufen? Endlich ein erstes Erfolgserlebnis.
Seine Mutter war skeptischer.
»Und wie viel Zeit musst du da investieren?«
»Das weiß ich noch nicht.«
»Aber dir ist klar, dass das nur ein Nebenjob sein kann? Du bist ja noch nicht mal richtig versichert.«
»Ja, ja das weiß ich«, sagte Martin und dachte sich insgeheim aber schon, dass er zunächst einmal davon leben konnte. Immerhin musste er keine Miete bezahlen, da er ja noch bei seinen Eltern wohnte. Sein Vater sah das einmal mehr pragmatischer.
»Lass ihn doch probieren. Wenn es nicht funktioniert, kann er immer noch was anderes machen.«
Die Mutter grummelte etwas vor sich hin, und Martin schien es so, als ließe sie ihr Unverständnis an dem Pizzateig aus, den sie gerade auswalkte. Das Nudelholz wurde jetzt um eine Spur aggressiver hin und her gerollt.
Der Anblick des Nudelholzes sollte ihn den restlichen Sommer in Gedanken verfolgen. Immer dann, wenn er wieder ein Geschäft verließ, nachdem er mit seinem Angebot für ein Inserat abgeblitzt war. Hin und wieder konnte er eine Anzeige verkaufen, allerdings viel zu billig, weil er mit Rabatten nur so um sich schleuderte. So verdiente er in seinen ersten beiden Monaten bei der Rundschau ganze viertausend Schilling und ein bisschen was. Mit der Provisionsabrechnung in der Hand dachte er wieder an das Nudelholz. Immerhin hatte er aber wenigstens drei Artikel geschrieben, die, neutral betrachtet, für einen Anfänger halbwegs passabel waren. Er selbst hielt sie für den Nabel der Journalistenwelt, ohne das aber laut aus zusprechen. Mit einem weiteren Artikel wollte er groß rauskommen, über eine Schrottdeponie im Wald.
Das Waldstück am Fuße der Loferer Steinberge gehörte zu einem Firmengelände. Eine Schotterstraße schlängelte sich um Fichtenbäume herum ein paar hundert Meter zurück bis zum schleißigen Bürogebäude. Neben dem Weg lagerten zwischen Baumstümpfen rostige Gerippe von aus geschlachteten Autos, das Gestrüpp überwucherte zerbeulte Puch-Mopeds, daneben uralte Blechfässer, die schon Moos angesetzt hatten. Was da mal drin gewesen sein mochte, ließ sich wohl nicht mehr feststellen. All das wollte Martin dokumentieren. Er machte eines Abends Fotos mit seiner Spiegelreflexkamera, die er sich extra für den Job bei der Rundschau angeschafft hatte.
Er ging gerade vor einer zerfallenen Traktorruine in die Hocke, um das Ungetüm im richtigen Winkel abzulichten, da hörte er hinter sich ein Geräusch. Er erschrak so heftig, dass er beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Hinter ihm stand die alte Firmenchefin in ihrer Hausschürze. Er hatte den alten Drachen nicht kommen hören.
»Was machst denn du da?«, bellte sie ihn grantig an. Er sammelte sich so schnell er konnte.
»Ich fotografiere nur die Berge im Abendlicht«, log er und spürte, wie ihn der Mut verließ.
»Schau, dass du weiterkommst«, schimpfte die Alte und spuckte ihm braunen Kautabak vor die Füße.
Martin machte alibihalber noch ein Foto vom rötlich schimmernden Geiselhorn, setzte sich auf sein Mountainbike und radelte davon. Das war es für ihn mit dem investigativen Journalismus, zumindest fürs Erste. Er sollte sich noch lange dafür schämen.
Wenn er schon kein Aufdecker-Journalist war, dann wollte er wenigstens Sportreporter sein.
»Wir brauchen einen Sportteil«, schlug er seinem Chefredakteur gleich bei der ersten Redaktionssitzung vor, bei der er dabei war. Sein Energieanfall war ihm im nächsten Augenblick schon wieder etwas peinlich, aber unerwarteterweise fanden den Vorschlag alle ganz brauchbar.
»Eigentlich eine gute Idee«, meinte Prechtl und beauftragte Martin mit dem Einrichten einer Sportseite. »Schreiben kannst ja, mein Junge«, meinte Prechtl und wischte sich mit dem Zeigefinger den Bierschaum aus dem Bart, »aber beim Inserate Verkaufen hapert es noch. Da musst dich noch mehr reinhängen.«
Martin dachte an das Nudelholz und nickte etwas zögerlich. Er ahnte mittlerweile, dass er niemals das Zeug zu einem guten Anzeigenverkäufer haben würde. Das hatte seine Mutter schon gewusst, noch bevor er überhaupt mit dem Job begonnen hatte. Sie saß an diesem Oktoberabend am Küchentisch und trank eine Tasse Tee, als er nach Hause kam.
»Ich habe auf dich gewartet.«
»Wieso?«
»Weil wir uns unterhalten müssen. Das mit der Rundschau funktioniert nicht«, mahnte sie.
»Aber das kannst du ja nach zwei Monaten noch gar nicht wissen«, protestierte er halbwegs energisch.
Er glaubte allerdings selbst nicht an das, was er da von sich gab. Das schien auch seine Mutter zu spüren, sie durchschaute ihn.
»Schau, sieh es ein. Du bist kein Vertreter. Das Schreiben kannst ja als Hobby weitermachen, aber du brauchst einen richtigen Job.«
Er schwieg einen Augenblick zu lange diesmal. Seine Mutter nutzte diesen Moment und schob ihm die Tageszeitung hin. Ein Stelleninserat von der Firma Klima- und Lüftungstechnik Winkler in St. Johann. Sie suchten einen Mitarbeiter mit einer kaufmännischen Ausbildung. Martin wusste, worauf das hinauslief.
»Morgen schreibst du denen eine Bewerbung.«
Martin war zu müde. Zu oft hatte er in den letzten Monaten mit seiner Mutter über das Thema ordentliche Arbeit diskutiert. Er willigte ein und ging frustriert in sein Zimmer auf den Dachboden, den er für sich allein hatte.
Wie versprochen setzte sich Martin am nächsten Tag nach dem Frühstück vor den Computer und tippte den Bewerbungsbrief. Seinen Lebenslauf musste er nicht überarbeiten, der war ja ohnehin noch auf dem neuesten Stand vom Sommer. So viel hatte sich inzwischen nicht getan. Die Arbeit bei der Rundschau kam ihm jetzt nicht wichtig genug vor, um damit im Lebenslauf anzugeben. Martin rechnete sich keine allzu großen Chancen aus. Umso erstaunlicher war es für ihn, dass er nach einigen Tagen die Einladung zu einem Gespräch bekam. So lernte er wenig später Herrn Winkler Junior kennen, ein bizarres Erlebnis.
Als Martin vom Foyer abgeholt wurde, hatte Herr Winkler überall rote Flecken im Gesicht. Er trug einen roten Pulli, dessen Farbton sich aber mit der Gesichtsfarbe schlug. Der Pulli hatte augenscheinlich schon ein paar Jahre auf dem Buckel, neu und ganz frisch hingegen war der Kaffeefleck auf dem rechten Ärmel. Martin hatte den leichten Geruch von kaltem Schweiß in der Nase. Er hoffte, dass dieser Geruch nicht von ihm stammte. Bei Bewerbungsgesprächen war er immer nervös und schwitzte ein bisschen. In einem unbeobachteten Moment schnüffelte Martin in Richtung seiner Achsel. Nein, er roch nach Seife und Parfüm. Martin folgte Herrn Winkler in dessen Büro im ersten Stock.
Dann wurden Martin zwar die üblichen Fragen gestellt, aber es schien so, als wären Winkler Junior die Antworten ziemlich egal. Stattdessen bekam Martin einen halbstündigen Monolog zu hören über die Erfolge der Firma und wo nicht überall Winkler-Klimaanlagen eingebaut worden waren. Martin driftete in Gedanken schon weg, als ihn eine Frage unvermittelt wieder ins Hier und Jetzt zurückbeförderte.
»Haben sie eine Freundin?«, fragte Herr Winkler und schnäuzte dann laut in ein Taschentuch. Das gab Martin ein paar Sekunden Zeit, um sich zu sammeln.
»Äh … nein?«, sagte er mehr zögerlich fragend als geradlinig antwortend.
»Das ist gut so!«
»Aha?«
»Ja, dann jammern sie mich wenigstens nicht voll, wenn sie Überstunden machen müssen.«
Martin hatte offenbar einen Pluspunkt gesammelt, mit einer Eigenschaft, die nicht im Lebenslauf stand. Herr Winkler hielt Martin die Hand hin, mit der er sich noch eben geschnäuzt hatte, und verabschiedete sich. Martin hatte keine Ahnung, ob und wie es jetzt weitergehen sollte. Die Empfangsdame schenkte ihm beim Hinausgehen noch ein aufmunterndes Lächeln. Das war‘s dann.
Nach zwei Wochen hatte Martin noch immer nichts gehört und dachte sich eigentlich schon, das Thema hätte sich erledigt. Doch seine Mutter bestand darauf, dass er noch einmal bei der Firma anrufen sollte. Mit dem dritten Versuch erwischte er schließlich Winkler Junior am Telefon. Es war wieder etwas grotesk.
»Entschuldigung für die Störung. Ich wollte mich nur mal melden und fragen, ob sie sich schon entschieden haben?«, sagte Martin.
»Mhm. Worum geht es gleich noch einmal?«
»Äh … um den Bürojob mit der kaufmännischen Ausbildung.«
»Ah ja. Stimmt.« Stille. Martin wartete und wusste nicht recht, ob er jetzt etwas sagen sollte und wenn ja, was. Stille. »Hmmm«, hörte er von Herrn Winkler. Stille. Es war kaum auszuhalten. Stille. »Naja«, rührte sich endlich wieder etwas. »Dann probieren wir es halt.«
Begeisterung klang mitunter anders, was in dem Moment aber auch egal war. Es war nicht der Job, den er eigentlich haben wollte, aber er hatte eine Zusage, und es fühlte sich trotzdem nicht schlecht an. Irgendwie eine eigenartige Situation.
Endlich war es fünf am Abend. Martin wartete noch zwei Minuten, ehe er den Computer abdrehte. Er packte seine Sachen und winkte Melanie beim Rausgehen noch zu, die ebenfalls im Begriff war zu gehen. Es schneite nun ziemlich stark. Über sein Auto hatte sich schon eine weiße Schicht gelegt. Abputzen wollte er den Schnee nicht, das sollte der Scheibenwischer erledigen.
Wie jeden Abend, war der Verkehr in und rund um St. Johann sehr dicht. Erst als er schon etwas außerhalb war, konnte er schneller fahren. Er schob eine Kassette in das Kassettendeck des Autoradios. Er hatte sie selbst aufgenommen und sie enthielt vor allem Lieder aus den 80ern. Die 90er fand er musikalisch ziemlich mau, mit wenigen Ausnahmen. These Days von Bon Jovi lief bei ihm in Dauerschleife. Das Lied über Träume und Hoffnungen half ihm durch die späten Teenagerjahre und vermochte ihm noch immer Trost zu spenden. Schon das zaghafte, fast schüchterne Intro mit dem Piano schickte ihm Schauer über den Rücken. Mit dem Einsatz der Gitarre verschmolz dieses Lied bereits zu Beginn zu einer großartigen Klangsymbiose. Er drehte auf volle Lautstärke und sang hingebungsvoll mit, wenn Jon Bon Jovi darüber philosophierte, dass dieser Tage jeder von uns sein Kreuz zu tragen hätte. Halbwegs im Takt befreite der Scheibenwischer die Windschutzscheibe des kleinen Corsa von zerplatzten Schneeflocken.
So fuhr er die letzten Kurven durch die Öfenschlucht, ehe es auf die kleine Anhöhe ging, wo sich der Blick auf den Pillersee öffnete. Das Wasser lag in der Dunkelheit glatt da wie ein Spiegel, eingerahmt von angezuckerten Wiesen und Bäumen, die von den Autoscheinwerfern angestrahlt wurden. Am anderen Ende des Sees konnte man an den spiegelnden Lichtern den Heimatort von Martin erkennen. St. Ulrich am Pillersee, von den Einheimischen auch liebevoll Nuarach genannt. Der Nuarach war der Legende nach ein Seeungeheuer, das im Pillersee gehaust hatte. Nicht nur Schottland hat seine mysteriösen Seeungeheuer. Allerdings, anders als Nessie, konnte sich der Nuarach bei nur vier Metern Wassertiefe im Pillersee wohl nicht mehr gut verstecken, weshalb er ausgewandert sein dürfte. Seinen Namen ließ er aber hier.
Martin fuhr vorbei an der romanischen Dorfkirche mit dem markanten roten Zwiebelturm beim Ortseingang und den beiden großen Hotels, danach der beschauliche Dorfplatz und das Gemeindeamt. Wenige Meter später bog er rechts ein in die Stichstraße zu seinem Elternhaus. Er blieb auf dem großen Parkplatz vor dem Haus stehen und seufzte erleichtert. Endlich Wochenende und endlich zwei Tage Pause von dem Irrenhaus namens Winkler Klima- und Lüftungstechnik.
Als Martin in die Küche kam, stand zu seiner Überraschung sein Vater am Herd. Also gab es Geschnetzeltes mit Reis. Sein Vater war zwar ein begnadeter Bäcker, aber beim Kochen stellte er sich patschert an.
»Mama, ist noch in der Arbeit. Es dauert heute wohl länger im Frisiersalon.«
Martin nickte und ließ sich auf die Holzbank beim Esstisch nieder, es war fast mehr ein Fallen.
»Harten Tag gehabt?«
»Ja«, sagte Martin und erzählte beim Tisch decken, was in der Firma passiert war. Sein Vater hörte meistens aufmerksam zu, außer wenn er gerade die Sauce abschmecken musste. Ansonsten schüttelte er den Kopf, denn er konnte schreiende Menschen nicht ausstehen.
Am selben Abend traf sich die Nuaracher Dorfjugend im Wildschütz, der örtlichen Disco. Der rustikale Charme der 60er-Jahre-Discothek war Ende der 90er schon etwas aus der Zeit gefallen. An den Wänden hingen Gämsenschädel samt Geweih, die zu Lampen umfunktioniert worden waren und für die schummrige Beleuchtung sorgten. Die Disco bestand aus einem einzigen großen Raum mit einer großen Bar, vielen Sitztischen und einer Tanzfläche in der Mitte. Die Discokugel über der Tanzfläche glitzerte im Takt der Musik, weil sie sich je nach Lied schneller oder langsamer drehen ließ. Ein technisches Wunderwerk, auf das Graserl furchtbar stolz war. Graserl war der Besitzer der Disco. Zugleich war er im Winter Skilehrer, im Sommer Jungbauer und das ganze Jahr über Frauenheld.
Graserl war ein Typ der gechillten Sorte. Das mochte auch daran liegen, dass er hin und wieder gerne Gras rauchte. Den Spitznamen Graserl hatte er aber nicht deswegen, sondern weil er sich als Bauernbub immer am liebsten im Heu versteckt hatte.
Martin kannte nur einen einzigen Grund, wie man bei Graserl den Dauergrinser abschalten konnte. Man musste ihn mit seinem eigentlichen Namen Benjamin anreden. Er hasste sämtliche Varianten davon, die Langform genauso wie Benni, Benji oder auch nur Ben. Am schlimmsten war Benny Bunny. Im Suff machten sich die Einhei - mischen manchmal einen Spaß daraus, ihn mit seinem Namen zu pflanzen. Einmal warf Graserl drei Burschen auf einmal aus dem Wildschütz. Er war zwar einen Kopf kleiner als seine Kontrahenten, aber man durfte nicht unterschätzen, wie stark er war. Abgesehen davon war er ein liebenswürdiger Kerl, den die Frauen tatsächlich nur so umschwärmten. Martin vermutete, dass es an seiner Rocker-Mähne liegen musste.
Und wie auf Geheiß, schüttelte sich Graserl mit einer schwunghaften Kopfbewegung die Haare aus dem Gesicht, als er Martin und seinen drei besten Freunden die Gläser mit Cola-Rum an den Tisch brachte.
»Viel Spaß heute«, raunte er ihnen grinsend zu, »aber ihr wisst eh, nur anschauen und nicht antatschen!« Er zwinkerte und verschwand mit seinem Tablett wieder in Richtung Bar.
An diesem Abend fand im Wildschütz eine Vorausscheidung zur Miss-Tirol-Wahl statt. Maxi und Flo wollten unbedingt »Hasen schauen«. Martin wollte das im Prinzip auch, traute es sich aber nicht auszusprechen. Andi war das eher egal. Er wollte nur die Gelegenheit nutzen, um zu rauchen. Daheim durfte er nicht, also qualmte er in der Disco. Andi bildete sich ein, dass er erwachsener wirkte, seit er rauchte. Er war noch 17 und somit der Jüngste in der Gruppe.
Martin schlürfte an seiner Cola und hörte Maxi und Flo beim Flachsen zu. Sie hatten schon zwei oder drei Kandidatinnen entdeckt, die auf dem Weg zum Hinterzimmer an ihrem Tisch vorbeigekommen waren. Eine von ihnen hatte Maxis Arm gestreift, freilich zufällig. Er tat aber so, als wollte sie bei ihm anbandeln. Gerade als Martin im Begriff war, sich in das Gespräch einzumischen, wurde er seitlich angestupst.
»Rutsch mal!«, befahl ihm eine selbstbewusste Frauenstimme.
Es war Rosi, die Tochter des Chefs der Skischule. Sie war ein Jahr jünger als Martin und ging mit Andi in die Schule. Martin war ein bisschen perplex, warum Rosi zu ihnen an den Tisch wollte. Sie kannten sich natürlich, weil in dem kleinen Dorf jeder jeden kannte, aber sie hatten eigentlich wenig miteinander zu tun. Trotzdem tat er wie befohlen und machte Platz auf der mit Brandlöchern gemusterten Bank.
»Fallen euch schon die Glubscher raus?«, fragte sie mit einem frechen Grinsen im Gesicht und deutete auf eine Miss-Tirol-Kandidatin, die gerade mit einer Parfümwolke an ihnen vorbeischwebte.
Martin grinste ein bisschen verlegen, Andi versuchte, kreisrunde Rauchschwaden aufsteigen zu lassen und Flo konterte.
»Machst halt auch mit. Du hast doch sicher einen feschen Badeanzug daheim.«
Rosi lachte dreckig.
»Das würdet ihr doch gar nicht aushalten, wenn ihr mich im Badeanzug sehen würdet. Da kriegt ihr nur Stielaugen.«
Martin dachte darüber nach, dass sie doch ohnehin alle schon mal Rosi im Badeanzug gesehen hatten. Und zwar im Sommer auf der Liegewiese hinter dem See. Er versuchte sich in Erinnerung zu rufen, was er damals gesehen hatte. Rosi hatte keine schlechte Figur, aber mit ihren eher kurzen Beinen war sie wohl zu klein für eine Laufstegschönheit. Und sie hatte für eine junge Frau ein recht kantiges Gesicht. Durchaus ausdrucksstark und hübsch, aber nicht der Mainstream-Definition eines Modelgesichtes folgend.
Martin mochte Rosi zwar, aber er hatte insgeheim auch etwas Angst vor ihr. Sie konnte gnadenlos gemein sein, wenn sie wollte, und sie war hin und wieder auch ein bisschen vulgär. Wohl gerade so viel, um einen bestimmten Schlag Männer scharf zu machen.
»Schau dir die geile Alte da drüben an«, frotzelte sie Martin und zeigte unverhohlen auf eine Kandidatin im hautengen Abendkleid.
Die Alte war wohl kaum älter als Rosi, aber es stimmte. Sie sah verdammt gut aus und winkte gerade der johlenden Schar zu. Martin entfuhr ein »ja, eh«, weil er sonst nicht wusste, was er antworten sollte, und grinste wieder etwas dümmlich. Rosi grinste ebenfalls, aber wissend.
»Du bist ja echt so schüchtern, wie alle sagen.«
Spürte sie wohl, dass er sich ein bisschen vor ihr fürchtete? Er wusste es nicht und trank schnell einen Schluck, um die für ihn peinliche Situation zu überspielen. Rosi aber machte keine Anstalten, wieder gehen zu wollen. Sie richtete sich am Tisch mit den vier Burschen gemütlich ein. Martin war zunächst noch etwas verkrampft, entspannte sich aber langsam.
Während die Kandidatinnen gerade ihre Talente vorführten, geschah dann das Unverhoffte für ihn. Rosi rutschte enger an Martin heran und lehnte sich mit ihrem Rücken an seine Brust. Ihre lockigen Haare kitzelten ihn im Gesicht. Martin fiel das regelmäßige Atmen schwer. Es lastete gar nicht so sehr Rosis Gewicht auf seinem Oberkörper, sondern vielmehr diese für ihn unbegreifliche Situation. Warum tat sie das? Er überlegte, ob er etwas sagen sollte. Er ließ es dann einfach geschehen, denn unangenehm war das Gefühl ja nicht. Fremd schon, aber eben nicht ungut.
Nach ungefähr zehn Minuten hatte er das Problem, dass sein linker Arm langsam taub wurde, weil Rosi mehr oder weniger direkt darauf saß. Er versuchte den Arm in eine andere Position zu bringen. Rosi ahnte wohl, warum er unruhig wurde. Sie schnappte seinen Arm, legte ihn sich um den Bauch und schmiegte sich noch enger an Martin. Spätestens jetzt war das Kuscheln der beiden offensichtlich. Martin sah aus dem Augenwinkel, wie Maxi und Flo tuschelten, und Andi saß nur da und machte Rauchzeichen.
Graserl balancierte ein Tablett mit Getränken an ihnen vorbei und grinste Martin an. Er konnte es selbst nicht glauben, aber es war Realität. Schüchtern hin oder her, irgendwie genoss er diese Nähe. Rosi sprach während - dessen kein einziges Wort. Er konnte leider nicht sehen, ob sie lächelte oder welchen Gesichtsausdruck sie sonst hatte. Aber er nahm an, dass es ihr in diesem Moment auch so gefiel, wie es gerade war. Sonst würde sie ja nicht so sitzen bleiben.
Nun war auch endlich der Teil des Abends gekommen, auf den zumindest die männliche Hälfte der Zuschauer schon die ganze Zeit gewartet hatte. Die zwölf Kandidatinnen stolzierten zunächst zu Blurs Song 2 und anschließend zu Discobeats im Badeanzug über die Tanzfläche. Wenn es ihnen unangenehm war, dann ließen sie es sich zumindest nicht anmerken. Maxi und Flo hatten sichtlich Spaß am Glotzen. Zum ersten Mal seit einer Stunde machte Rosi den Mund auf, um sich über die zwei lustig zu machen.
»Ihr Spanner«, höhnte sie.
»Miss Kuschlerin«, gab Flo zurück und tat so, als würde er ihr ein Krönchen überreichen.
»Er mag‘s«, sagte sie in normalem Tonfall und streichelte kurz Martins Hand, die weiter auf ihrem Bauch ruhte.
Ja, Martin mochte das mittlerweile sogar sehr und hoffte irgendwie, dass Rosi nie wieder gehen würde. Doch justament ein paar Minuten später war es vorbei. Rosi löste sich langsam von ihm, stand auf und ging Richtung Toilette. Als sie zurückkam, setzte sie sich normal neben Martin auf die Bank, als ob vorhin nichts gewesen wäre. Sie schenkte ihm nur einen kurzen, neckischen Blick. Martin überlegte, ob er jetzt die Initiative ergreifen sollte. Einerseits war da diese Gier nach mehr Zärtlichkeiten, andererseits befürchtete er, vor aller Augen eine Abfuhr zu bekommen.
Während er haderte, wurde die Siegerin dieser Miss-Wahl ausgerufen. Es war die geile Alte, wie sie Rosi bezeichnet hatte. Die scharfe Blondine bekam eine Schärpe übergestreift und ein billiges Plastikdiadem aufgesetzt. Die Strasssteine glitzerten im Discolicht trotzdem, als wäre es eine diamantenbesetze Krone, die man der Miss Kitzbühel 1997 überreicht hatte.
Er hatte zu lange gezaudert. Rosi trank ihr Bier aus, winkte in die Runde und verabschiedete sich.
»Ciao, Buben!«, sagte sie und drehte sich noch kurz zu Martin um. »Nicht immer so schüchtern sein«, flüsterte sie und danach war sie weg.
Die anderen drei nutzten ihre Chance, um Martin aufzuziehen.
»Oh, das neue Traumpaar von Nuarach!«
»Oh, aber sie hat ihn sitzen lassen!«
»Oh, vielleicht will sie nur erobert werden!«
»Idioten«, antwortete Martin einsilbig und wusste nicht, was ihn mehr ärgerte. Die blöden Sprüche seiner Freunde, oder dass er möglicherweise eine Chance ausgelassen hatte.
Es gab für ihn eigentlich keinen Grund mehr, noch länger in der Disco zu bleiben. Die Show war vorbei, Rosi war fort und seine Freunde nervten. Außerdem war er müde und es war schon fast Mitternacht. Also verabschiedete er sich und drängte zum Ausgang. An der Bar lehnte Graserl lässig mit einem Geschirrtuch über der Schulter. Er schäkerte mit der neuen Miss. Wie machte er das bloß? Martin war es ein Rätsel.
Beim Rausgehen kam ihm ein eiskalter Luftschwall entgegen. Es hatte aufgehört zu schneien und dafür aufgeklart. Es war frostig. Martin musste den Reißverschluss seiner Winterjacke ganz zumachen. Er hatte zwar nur zehn Minuten zu Fuß nach Hause, aber das reichte aus, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
Der Montag war ein Fiasko. Martin hatte verschlafen und kam zehn Minuten zu spät in die Arbeit. Das brachte ihm den ersten Rüffel vom Chef ein. Der nächste folgte bei der Einschulung, weil Martin aus Sicht von Winkler Junior begriffsstutzig war. Die Einschulung war so abgelaufen, dass sich der Chef an den Computer setzte und Martin danebenstand. Dann wurden irgendwelche Artikelnummern in die Tasten gehämmert, wobei es ein Wunder war, dass die Tastatur dem Zorn dieses Mannes standhielt. Dazwischen grunzte er ein »siehst du?« oder auch ein »so gehört das!« Martin strengte sich an, zu folgen. Doch er schaffte es nicht, diese ungefilterte und vor allem nicht erklärte Vielzahl an Information zu verarbeiten.
Martin wurde aufgefordert, nun eine Klimaanlage für eine große Tischlerei zu berechnen. Er scheiterte nicht nur kläglich, er wusste nicht einmal, wo er anfangen sollte.
»Hofer, du Volltrottel«, setzte sein Chef zu einer Schreiorgie an. Das Gesicht war schon startklar mit den roten Flecken. Gerettet wurde Martin von Melanie. Sie kam gerade ins Büro herein und verkündete, dass der 10-Uhr-Termin schon da war. Ein Großauftrag für ein Spe - ditions-Unternehmen, das der Firma einen schönen Umsatz bescheren würde. Winkler Junior hustete zweimal, um seine durch den Hass verschleimten Stimmbänder wieder freizukriegen.
»Wir reden am Nachmittag weiter«, zischte er. »Inzwischen lernst du den Katalog auswendig!«
Martin fühlte sich wie ein geprügelter Hund und versuchte, seine Würde wieder zu finden. In diesem Büro schien das nicht zu gehen. Also ging er für ein paar Minuten raus vor die Tür, um frische Luft zu bekommen. Den mitleidigen Blick von Melanie hatte er beim Rausgehen sehr wohl bemerkt, doch Mitleid zog seine Gemütslage nur noch mehr runter.
Die frische Schneeluft tat ihm gut, er atmete diesen klaren Geruch von Schnee, den er so sehr liebte, mehrfach tief ein und wieder aus. Tief ein und wieder aus. Tief ein und beim nächsten Ausatmen stürzte Melanie zu ihm ins Freie. Ihr Blick war fahrig und ernst.
»Der Chef sagt, wenn du nicht sofort wieder ins Büro gehst, kannst gleich heimgehen.«
Er drehte sich um, blickte nach oben und sah seinen Chef am Fenster stehen. Die Augenlider zusammengekniffen und ein scharfer Blick, mit dem er Martin von oben herab maßregelte. Martin senkte den Kopf und ließ sich von Melanie die Tür aufhalten. Die Demütigung saß. Er schlich zurück ins Büro, setze sich an den Schreibtisch und begann damit, die Produkte und Artikelnummern im Katalog auswendig zu lernen. Allerdings konnte er sich kaum konzentrieren, weil er noch immer zu aufgewühlt war. Und vor allem drohte am Nachmittag noch ein weiteres Aufeinandertreffen mit dem Chef.
Die Mittagsjause ließ er aus. Er hatte sowieso keinen Hunger und lernte stattdessen weiter. Teil um Teil und Artikelnummer um Artikelnummer trichterte er sich bestmöglich ein. Kurz nach der Mittagspause wurde Martin ins Chefbüro zitiert. Melanie, die gute Seele, gab ihm noch ein paar aufmunternde Worte mit auf den Weg.
»So schlimm wird‘s schon nicht werden. Vielleicht ist er ja besser gelaunt, weil der Vormittagstermin gut gelaufen ist.«
Martin klopfte an die Bürotür. Dem Tonfall des Chefs zufolge wurde er vielmehr hereinbefohlen als hereingebeten. Zum ersten Mal seit dem Vorstellungsgespräch war Martin wieder in diesem Büro. Es roch wieder süßlich nach kaltem Schweiß. Wobei Martin ahnte, dass es sich möglicherweise diesmal um seinen Angstschweiß handeln konnte, der ihm hier in die Nase stieg. Martin musste vor dem Schreibtisch stehen bleiben, wie ein Schulkind. Und ganz der gestrenge Lehrer schlug Winkler Junior den dicken Klimaanlagenkatalog auf.
»Artikelnummer 35 60!«, bellte er.
»Das sind Verbindungsmanschetten«, erwiderte Martin schnell und war dankbar, dass er es wusste.
»Für?«
»Äh, für Lüftungsrohre?«, war sich Martin schon nicht mehr ganz so sicher.
»Für?«
Martin hatte keine Ahnung, was sein Chef meinte.
»Für?«, wiederholte der nun schon recht grantig seine knappe Frage.
»Ich weiß nicht, was sie wissen möchten«, versuchte Martin nicht allzu kleinlaut zu klingen.
»Für welche Rohrdimension, du Depp!«
»Hunderter?«
Mit einem Urschrei drosch Winkler Junior mit beiden Fäusten auf seinen Schreibtisch.
»Du unfähiges Arschloch, du hirnloses Sauvieh, du Vollidiot!«
Gleichzeitig mit den Worten wurde Martin auch von Spucketröpfchen im Gesicht getroffen. Spitze, nasse Nadeln hagelten gegen seine Wange, seinen Mund und seine Nase. Martin versuchte standhaft zu bleiben, obwohl er knapp vor einem Zusammenbruch stand. Winkler Junior schrie noch lauter, bis sich seine Stimme komplett überschlug. So würde man sich ein brüllendes Heinzelmännchen vorstellen. Klein, dick und mit einer gellenden Kopfstimme, nur die Zipfelmütze fehlte.
Martin war unfähig sich zu rühren, bis der Chef den Katalog schnappte und auf Martin schleuderte. Er konnte sich gerade noch ducken, weshalb der Katalog durch die offene Bürotür auf den Gang flog. Martin türmte aus dem Chefbüro. Winkler Junior schrie ihm noch nach, dass er gefälligst den Scheiß-Katalog inhalieren solle.
Wenn der Vormittag schon eine Demütigung war, was war das dann jetzt? Alle Bürotüren waren aufgegangen, alle starrten sie Martin an, der so schnell wie möglich zurück in sein eigenes Kämmerchen huschte. Dort an gekommen, stand Melanie unter der Tür. Sie brachte ihm ein Glas Wasser und streichelte ihm kurz über die Schulter, dann ging sie wieder. Er fühlte, wie sein Herzschlag bis in den Hals hinauf klopfte, und das Atmen fiel ihm schwer. Es dauerte einige Zeit, bis er wieder normal Luft bekam.
Eine halbe Stunde später klopfte Ferdinand am Türrahmen und kam herein, ohne auf eine Antwort von Martin zu warten. Ferdinand war einer der beiden Arbeitskollegen, die vor dem Wochenende vom Chef niedergemacht worden waren. Er bot Martin an, mit ihm ein bisschen zu üben, wie man das Planungstool am Computer benutzte. Sie arbeiteten gut zwei Stunden mit einander und erstellten fiktiv auch eine Lüftungsanlage für eine Lackiererei. Martin lernte in diesen zwei Stunden mehr als in den gesamten vergangenen zwei Wochen. Dann meinte Ferdinand aber, er müsse sich selbst wieder an die Arbeit machen, weil die sonst liegen blieb. Martin probierte noch ein wenig am Computer herum und beschäftigte sich den Rest des Bürotages mit dem Katalog. Pünktlich um fünf ging er.
Beim Heimfahren fuhr dieser Tag im Rückspiegel mit. Diesmal blieb das Radio stumm, Martin hing seinen Gedanken nach. Er wunderte sich über sich selbst, dass er den Anfall des Chefs mehr oder weniger stoisch ertragen hatte. Bloß war die Frage, würde er es weiter ertragen können oder würde er daran zerbrechen. In der Nach - betrachtung schüttelte es ihn jetzt mehr als während der Schreiattacke. Da war er eigentlich nur fassungslos ge - wesen, dass das wirklich passierte. Obwohl er mittlerweile ja wusste, wie der Chef war, war er trotzdem überrascht. Überrascht und überfordert.
Beim Abendessen erzählte er seinen Eltern, was passiert war. Sie sagten erst einmal gar nichts. Sie hörten zu, legten ihr Besteck zur Seite und es schien, als müssten sie sich an ihren Gläsern festklammern, um irgendeinen Halt zu finden.
»Das gibt’s doch alles nicht!«, sagte seine Mutter leise.
»Warum bist du nicht gleich abgehauen? Warum bist du noch geblieben?«, wollte sein Vater wissen.
»Ich weiß es nicht, ich bin nicht mal auf die Idee ge - kommen zu gehen.«
»Du darfst dir nicht alles gefallen lassen. So etwas sollte sich niemand gefallen lassen, so etwas ist eine Sauerei!« Der Tonfall des Vaters bekam spürbar eine zornige Note. Martins Mutter nickte zustimmend.
»Morgen ist dein letzter Tag. Du bist in der Probezeit und kannst jederzeit aufhören. Und morgen gehst du nur mehr hin, um dem feinen Herrn Winkler zu sagen, dass Schluss ist.«
»Und sollte er wieder schreien oder gar mit Katalogen um sich werfen, dann komm ich ihn besuchen. Sag ihm das.«
Sein Vater war in Fahrt gekommen. Martin musste bei dem Gedanken in sich hinein grinsen, wie der kleine Winkler Junior von seinem Vater, der mindestens einen Kopf größer war, zusammengestaucht werden würde. Andererseits, er war erwachsen und wollte sich nicht mehr wie ein kleines Kind von seinem Vater beschützen lassen. Das ärgerte Martin jetzt doch etwas, weshalb er so lässig wie möglich antwortete.
»Passt schon, Papa. Ich krieg das allein hin.«
Sein Vater schien sich zu beruhigen und aß seine inzwischen kalten Nudeln weiter. Seine Mutter hielt sich noch immer verkrampft an ihrem Wasserglas fest und schüttelte weiter den Kopf.
»Es tut mir leid, dass ich dir eingeredet habe, dass du dich dort bewerben sollst.«
Oha. Eine Entschuldigung von seiner Mutter, so etwas kam selten vor. Und eigentlich müsste man so ein seltenes Geschenk auch gebührend zelebrieren. Doch Martin gab weiter die coole Socke.
»Das hast du ja auch nicht wissen können.«
Zu spät fiel ihm ein, dass er diesen Zeitpunkt nicht ungenutzt verstreichen hätte lassen sollen. Er hätte sich darauf berufen können, dass er es ja mit einem Bürojob versucht hatte und das Experiment gescheitert war. Ergo konnte er ja nun wohl seiner journalistischen Leidenschaft nachgehen. Das dachte er sich alles, hätte er es nur laut ausgesprochen. Denn in dem Moment hatte sich seine Mutter wieder gefangen und trug ihren Angriff mit einer mehr oder weniger rhetorischen Frage vor.
»Gut, was machen wir jetzt mit dir? Nur von der Rundschau kannst du nicht leben. Du brauchst einen Job, der dir Geld einbringt. Also, wie soll es weitergehen?«
Martin wollte gerade zu einem genervten und lang - gezogenen »Maaamaaa« ansetzen, als sein Vater dazwischenging.
»Jetzt lass den Buben doch erst mal verdauen, was er da erlebt hat! Wie es weitergeht, das können wir uns morgen überlegen.«