Sonnenblumen - Jennifer Olschewski - E-Book

Sonnenblumen E-Book

Jennifer Olschewski

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Beschreibung

Panikattacken, Depressionen, PTBS, SvV und trotzdem gesund und glücklich leben? Wie das Leben wächst und liebenswert wird, zeigt Jennifer Olschewski in ihrer "Zwischen"-Reihe. Jenny lebt mit den Folgen mehrfacher Traumata. Sie ist überzeugt, dass kein Mensch, vor allem kein Mann auf der Welt sie lieben kann. Nach ihrer Trennung zieht sie in eine andere Stadt und gründet eine WG mit dem frisch von seiner Frau getrennten Max. Während beide versuchen, ihr Leben auf eine glücklichere Bahn zu lenken, erfährt Jenny zum ersten Mal in ihrem Leben, wie es ist, geliebt zu werden. "Sonnenblumen" ist der erste Band einer autobiographischen Reihe. Er erzählt von Traumata sowie daraus entstandenen Erkrankungen und zeigt einen Einblick in das Leben einer gebrochenen Seele. Gleichzeitig macht er darauf aufmerksam, dass niemand mit seiner Erkrankung alleine ist. Dieses Buch kann sowohl für Betroffene als auch Angehörige eine Unterstützung sein, um Tabuthemen anzusprechen.

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Seitenzahl: 430

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Buchbeschreibung:

Sonnenblumen ist der erste Band einer autobiographischen Reihe. Er erzählt von Traumata sowie daraus entstandenen Erkrankungen und zeigt einen Einblick in das Leben einer gebrochenen Seele. Gleichzeitig macht er darauf aufmerksam, dass niemand mit seiner Erkrankung alleine ist. Dieses Buch kann sowohl für Betroffene als auch Angehörige eine Unterstützung sein, um Tabuthemen anzusprechen.

Über die Autorin:

Jennifer Olschewski lebt mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, Tabuthemen psychischer Erkrankungen auszusprechen und in die Welt zu tragen. Wie viele Betroffene hat auch sie mit Ausgrenzung sowie Vorurteilen zu kämpfen. Trotz aller Schwierigkeiten aufgrund ihrer Erkrankungen fand sie ins Leben zurück und möchte Betroffene an ihrer Entwicklung teilhaben lassen sowie ihnen Mut zusprechen. In Sonnenblumen offenbart sie zum ersten Mal Details ihrer Traumata und Erkrankungen.

Triggerwarnung

Solltest du Betroffene*r einer psychischen Erkrankung oder eines Traumas/mehrerer Traumata und dir unsicher sein, ob du dieses Buch bedenkenlos lesen kannst, lies dir, bevor du dich meiner Geschichte widmest, bitte die Triggerwarnung auf den Seiten → und → durch. Aber Achtung: Spoiler. Auf Seite → findest du meine Kontaktdaten. Du bist herzlich eingeladen, mir zu schreiben. Auf Seite → beantworte ich zwei der meistgestellten Fragen aus meiner Community zu Sonnenblumen.

Inhaltsverzeichnis

1. Ein Sommer vor 21 Jahren: Der Fremde

2. Juni 2014

3. Juli 2014

4. August 2014

5. September 2014

6. Oktober 2014

7. November 2014

Ein Winter im Jahre 2000: Der Vertraute

Ein Sommer im Jahre 2005: Der Freund

Ein Sommer im Jahre 2008: Der Bekannte

Ein Spätsommer im Jahre 2005: Der Kumpel

8. Dezember 2014

9. Januar 2015

10. Februar 2015

11. März 2015

12. April 2015

13. Mai 2015

14. Juni 2015

15. Juli 2015

16. Eineinhalb Jahre später

1

Ein Sommer vor 21 Jahren Der Fremde

Gedankenversunken trottete das aschblonde Mädchen über den Asphalt. In einigen Tagen brachen die langersehnten Schulferien an. Sechs Wochen mehr Ruhe, weniger frieren, seltener Angst. Es lauschte auf seinem Heimweg den Vögeln, die vergnügte Schleifen unter der Sonne zogen. Vor ihm erstreckte sich die Welt im bunten Schimmer des Sommers, eingehüllt in einem warmen Glanz. Es freute sich auf den Nachmittag, bloß die Sehnsucht nach Freunden drückte sich schwer auf die Seele, wie der Schultornister auf seine schmalen Schultern. Erschöpft von dem Vormittag, müde aufgrund eines immerfort arbeitenden Hirns betrat es die Wohnung.

»Hallo mein Schatz. Wie war die Schule?«

»Gut.« Untypisch abgeneigt eine Unterhaltung zu führen, ließ Jenny ihren Tornister vor den Schreibtisch in ihrem Kinderzimmer plumpsen. Was sollte sie schon erzählen? Etwa, dass sich die Sorge nie Freunde zu finden im Herzen festgesetzt hatte? Nein. Sie bekäme nur wieder zu hören, dumm, untauglich sowie schuld an ihrer Einsamkeit zu sein.

»Möchtest du erst Hausaufgaben machen oder bis zum Mittagessen zu Dana auf den Spielplatz gehen?«

Es fiel ihr nicht schwer, sich zwischen ihrer anstrengenden Schwester und den blöden Zahlen zu entscheiden. Der Unterricht hatte schon genügend Konzentration gefordert.

»Okay. Aber gehe auf dem direkten Weg. Nicht durch das Wäldchen.« Besagtes Wäldchen war eine Reihe Bäume und Sträucher, die den Ascheplatz, auf dem die Kinder Fußball spielten, von der Siedlung abtrennte. Obwohl sie den Pfad durch das Wäldchen für kürzer hielt, gehorchte sie.

Den Blick gen Himmel gerichtet, schlenderte sie über den Parkplatz, der vor den weißen Reihenhäusern lag. Geblendet von grellem Licht blinzelte sie, senkte den Kopf, betrachtete ihr Lieblingskleid. Ein hellblaues Sommerkleid mit aufgedruckten schwarzen Sternchen, das in die Lüfte hob, wenn sie sich um die eigene Achse kreiste. Bevor sie weiterging, war sie regelrecht gezwungen, den Raffrock zweimal fliegen zu lassen. Für einen Moment frei von ihrer niedergedrückten Stimmung tanzte Jenny den Weg entlang. Gleich beim Schaukeln wird es auch wieder so schön hoch schweben.

Auf dem Abenteuerspielplatz gab es allerlei zu entdecken. Geheime Nischen, Sandkästen, Spielgeräte, Wasserstellen, Sträucher, in denen sie sich gerne versteckte. Trotz der aufregenden Möglichkeiten und obgleich sie nicht schwindelfrei war, trieb sie ein unerklärliches Bedürfnis zu den Schaukeln. Ob ich wieder allein spielen muss? Soll ich lieber zurückgehen? Überfordert mit der Rangelei in ihrem Schädel bemerkte sie den Fahrradfahrer nicht, der gemächlich neben ihr her fuhr.

»Naaa, wo willst du hin?«

Zögerlich wendete sie sich dem Grauhaarigen zu, ohne ihn genauer anzusehen. »Sprich niemals mit Fremden. Wenn dich jemand anspricht, gehe einfach weiter. Beachte ihn nicht. Nimm nichts von Fremden an.« Die Regeln ihrer Mutter überströmten ihre Gedanken, doch wie angestrengt sie auch überlegte, eine Lösung für die eigene Lage fand sie nicht. Einfach weitergehen, sagte sie sich im Kopf vor. Nervös hielt sie das Haupt gesenkt. Wenn ich jetzt schneller laufe, dann bin ich schneller da, aber er würde merken, dass ich mich erschreckt habe. Der Fremde rollte dichter an sie heran. Beinahe glaubte sie, er könne ihr Herz klopfen hören.

»Magst du Katzen?«

»Nein.« Oh, oh. Ehe sie gedanklich über diesen Fehler schimpfte, erinnerte sie sich an die Belehrung, Menschen respektvoll gegenüberzutreten, freundlich zu sein. Gab es einen Grund nicht höflich zu antworten? Allerdings durfte sie nicht mit Fremden sprechen oder lügen. Sie hatte behauptet, keine Katzen zu mögen, damit er nicht anbot, ihr welche zu zeigen, und sie genötigt wäre mitzugehen. Dabei mochte sie die süßen herumtollenden Tiere. Manno. Ich mache immer alles falsch.

»Und wo willst du hin?«

»Zu meiner Schwester auf den Spielplatz.«

Sie erreichten die Einbiegung des riesigen Geländes, dessen Pfad eingebettet von Grünflächen lag. Hinter dem Hügel versteckten sich die Schaukeln. Das seltsame Gefühl in ihrem Bauch verstärkte sich. Abrupt blieb der Alte vor ihr stehen, stellte das Fahrrad quer auf dem Schotter und bäumte sich auf. Das Kinderherz raste.

»Wollen wir uns einen Moment hier hinsetzen? Es ist ja schön hier.«

Aus Furcht, er könne ihr irgendetwas antun, wenn sie sich dem Vorschlag entzog, leistete sie Gehorsam. Den weiten Weg zu den Schaukelplätzen anzutreten oder durch die Büsche zu fliehen schien ihr zu gefährlich, der Heimweg zu lang. Mit angewinkelten Beinen saß das kleine Kind auf der schmalen Rasenfläche, ein Hüne rutschte an es heran. Er war so nah, dass sich ihre Oberarme berührten, Jenny sich in die Ecke gedrängt fühlte. Zitternd die Knie umschlungen suchte sie nach einem Ausweg. Im Augenwinkel beobachtete sie, wie er sich umschaute. Eine mächtige Pranke glitt unter ihr Kleid. Erschrocken presste sie die Schenkel zusammen.

»Ich will nur was gucken, ich tu dir nicht weh«, sprach er, in bedrohlich gelassenem Ton. Ratlos ließ sie die Berührungen über sich ergehen, starrte ins Leere, schickte ein Stoßgebet in den Wind. Lass ihn nicht merken, dass du zitterst. Schwer atmend zerrte er ihr Höschen zur Seite. Sofort durchzuckte sie ein stechender Schmerz. Ich will hier weg! In Trance nahm sie wahr, wie er den Zeigefinger herauszog, an ihm roch - genüsslich seufzend. Erneut drehte er sich in alle Richtungen, kniete sich vor sie, öffnete seine Jeans und packte ihre Hand, die sie erfolglos wegzuziehen versuchte.

»Streichele ihn nur kurz. Er tut dir nichts.«

Angewidert fixierte sie den dicken Penis. Ihr Handgelenk fest im Griff, presste er ihre schlanken Finger auf ihn. Was ist, wenn er mich nicht mehr loslässt? Was ist, wenn er jetzt die Hose zu macht und ich nicht mehr wegkomme? Die ganze Zeit schaute sie den Unbekannten nicht an. War sich unsicher, ob er liebe oder böse Augen hatte. Jedoch war sie sicher, dass sie wieder einen Fehler beging.

»Naaa. Küss ihn doch mal.«

Ruckartig richtete er sich auf, schob Jenny gierig das Becken entgegen und hielt fordernd das Glied vor ihr Gesicht. Ein widerlicher Geruch stieg ihr in die Nase.

»Nur einen kleinen Kuss.« Seine Penisspitze berührte ihre zusammengepressten Lippen. Kurz davor sich zu übergeben, wandte sie den Kopf ab.

»Na gut.« Beim Aufstehen schloss er die Hose.

»Komm, wir gehen zu deiner Schwester auf den Spielplatz.« Er kehrte ihr den Rücken zu, um sein Fahrrad zu nehmen. Jetzt! Eilig sprang sie auf und floh, so rasch es ging in das Wäldchen.

»Scheiße!«, fluchte er.

Ohne sich umzuschauen, stolperte sie blind über Erdboden und Wurzeln. Ihr Herz, hart wie Stein, pochte laut in der Brust. Ich schaffe das! Ich muss nur schneller werden! Ein Druck auf den Ohren sowie im Kopf setzte ihr zu. Ihre Kehle; trocken, zugeschnürt, unfähig einen Laut von sich zu geben. Keuchend sprintete sie den Parkplatz entlang. Wagte einen sekundenlangen Blick zur Seite. Oh nein, gleich hat er mich. Im Schritttempo führte er sein Fahrrad auf dem direkten Weg an der Auffahrt vorbei. Er beobachtete sie. Ein stummes Drohen. Hechelnd hastete sie geradewegs zum Haus. Traf auf eine Nachbarin, verlangsamte ihren Schritt, grüßte flüchtig, jedoch höflich, und beschleunigte wieder. Hoffentlich merkt sie mir nix an. Hoffentlich merkt Mama nix. Hoffentlich macht Mama gleich schnell auf. An der Haustür trat sie hibbelig von einem Bein auf das andere. Nach einer gefühlten Ewigkeit erklang der Summer. Jenny stemmte sich gegen die Tür. Sprang in den Hausflur. Polterte fünf Stufen hinauf. Stürmte an ihrer verwunderten Mutter vorbei.

»Ich möchte doch lieber Hausaufgaben machen.«

»Wieso bist du so außer Atem?«

»Ich bin gerannt.« Das war keine Lüge.

Für DICH,

den Krieger,der in seiner Schlacht des LebensZuversichtsowie einen Grund zum Weiterkämpfensucht.

Erblickst du in der Ferne eine Sonnenblume, sticht dir zuerst der Glanz ihrer Schönheit ins Auge. Das leuchtende Gelb lässt dich erkennen, dass der Sommer das Jahr übernommen hat. Schreitest du jener Blume entgegen, beobachtest ihr Dasein aus verschiedenen Perspektiven, wirst du von ihrer tiefgründigen Ausstrahlung fasziniert sein. Ein zuversichtliches Geschöpf, das stets dem Sonnenschein zugewandt ist, an dem Licht wächst und sich der Wärme öffnet, die ihm zugetragen wird. Verdunkelt sich der Himmel, beugt die Sonnenblume träge den Kopf, bis die Sonne wieder auf ihren Körper strahlt. Dann, als hätte sie tief eingeatmet, ihre Schultern gestrafft, steht sie erneut aufrecht vor dir. Präsent mit ihrer sehnsüchtigen Blüte sowie den breiten grünen Blättern, die Stärke wie auch Halt versichern. An Tagen, an denen der Wind durch die Felder bläst, jegliches Gewächs niederdrückt, fällt dir die Standhaftigkeit dieser Pflanze auf. Der kraftvolle Stängel ist fest verwurzelt, zugleich scheint sie sanft, fast zart, an ihrem Platz zu verweilen. Ihr Anblick vermittelt das Gefühl, sie sei das Sinnbild der Freiheit. Betrachtest du den Korbblüter aus nächster Nähe, entdeckst du die Früchte, die in seinem Inneren reifen. Geduldig wartet er auf den Augenblick, in dem die Samen zu Kernen gereift sind, darüber hinaus sein eigener Reifeprozess möglich wird. Mit Unterstützung der Natur lernt die Blüte, loszulassen. Sie gibt der Umwelt in ausgereifter Form das zurück, was sie erhalten hat. Folgt ihrer Bestimmung; teilt ihr Inneres, nährt ihr Umfeld.

Gerne wäre ich diese Sonnenblume. In dunklen Stunden erbitte ich Zuversicht auf die Fähigkeit, mich dem Licht zuzuwenden, in die Welt zu rufen:

»Ja, es geht weiter! Alles wird wieder gut! Das Leben hat einen Sinn!«

Ich gedenke zu vermeiden, nur mit hängendem Kopf durch die Welt zu traben. Erlaube meinem Haupt, sich zu strecken, um imstande zu sein, jeden einzelnen Moment einzufangen, die Wärme, die mir entgegengebracht wird mit ausgebreiteten Armen aufzunehmen.

An stürmischen Tagen, an denen mich Chaos, Ängste und Zweifel niederdrücken, appelliere ich an die in mir verborgenliegende Standhaftigkeit. Begleitet von dem treuen Freund Stärke bin ich bereit, zu kämpfen. Verfolgt vom steten Willen, mich genauso Sanftheit spüren zu lassen, wie ich sie anderen Lebewesen schenke. Wenn die Zeit gekommen ist, trage ich die Früchte, die in mir reifen - Gefühle, Wissen, Optimismus, Stärke -, in die Welt, damit jeder davon nährt. Mein Herzenswunsch ist, zahlreiche Seelen zu erreichen, mitzureißen, zu faszinieren, zu überzeugen, ihnen Halt zu geben und neue Seelen zu gebären. Obwohl ich meinen Platz längst nicht gefunden habe, werde ich bis zum Schluss des andauernden Reifeprozesses, den ich ungeduldig erwarte, nicht in der Lage sein, loszulassen. Schwermütig träume ich von dem Ort, der optimal ist, um Wurzeln - inmitten eines Feldes unterschiedlicher Artgenossen- zu schlagen. Ebenso wie diese prächtige Sonnenblume. Einen festen Platz zu haben, bedeutet für mich, endlich anzukommen, frei zu sein. Das ist es, was mir fehlt, was ich brauche; Freiheit.

Ist es meinem Leben erlaubt, dem einer Sonnenblume zu gleichen?

2

Juni 2014

»Na, sind wir wieder im Chat?!«

Tom feuert die Arbeitstasche in die Ecke sowie den Inhalt der Jeanstaschen auf seine Hälfte des Schreibtisches. Die Kälte der blaugrauen Bürofliesen kriecht durch ihre Socken bis in den Steiß.

»Hallooo. Schön dich zu sehen. Wie war dein Tag? Anstrengend. Und deiner?«, grummelt sie dem Gäste WC entgegen, in dem Tom der Belastung seiner Harnröhre nachgibt, bevor er die Jeans auf den Bürostuhl werfen, eine Jogginghose aus der mittleren Schicht herausziehen, sich zum Schluss in den dunkelgrauen Fleecepullover zwängen wird. Ein Berg Wäsche stapelt sich neben ihr, engt sie ein, erinnert an den nahenden Einsturz. Egal, von welcher Seite sie ein Kleidungsstück entfernen würde, er bräche zusammen. Unter muffiger Last begraben, müsste sie sich aufwärtskämpfen. Sie ist des Kämpfens müde. Bis vor Monaten hatte sie ihr Bestes gegeben, den Wäscheberg zu versetzen, zumindest zu bezwingen, doch immerfort legte sich ein neues Kleidungsstück auf den Gipfel und wackelte bedrohlich. Aus dem Nichts stürzt sich eine verwaschene hellblaue Jeans auf die Wäschespitze, krallt sich fest, rutscht ab, reißt drei Wollpullis mit in die Tiefe.

»Du bist rund um die Uhr in deinem Chat.«

»Ob ich gerade Lerngeschichten schreibe und nen Aushang für die Eltern mache?!« Sie zieht die Beine an, bohrt die Fingernägel in die Kniekehlen, fixiert die schwarzen Calibribuchstaben, deren kursive Ausrichtung einen beruhigenden Kontrast zu den ewig tiefen Jammerfalten in seinem Gesicht bilden.

»Dann warst du entweder schon oder gehst noch. Oder hat dein Schweizer heute keine Zeit für dich.«

»Er is nich mein Schweizer«, zischt sie und ärgert sich, dass er es wieder schafft sie zu provozieren.

»Ich sehe doch, wie du dich jeden Tag aufstylst, bevor du ins Internet gehst!« Laut klingt seine Stimme weniger männlich, nahezu jämmerlich, sodass sie sich fragt, ob sie aus Mitleid oder Schrecken zusammenzuckt.

»Ja, is kla. Und ich lege auch extra nur für ihn Parfüm auf, weil man das über die Tastatur so gut riechen kann.«

»Tu mal nicht so unschuldig. Ich sehe doch, dass du auf ihn stehst. Wer weiß, vielleicht ist zwischen euch ja schon was gelaufen.«

»Is kla. Ich hab alles aufgegeben, bin 240 Kilometer weit von meiner Heimat weg zu dir gezogen, um dich dann mit nem Typen aus der Schweiz zu betrügen. Meinste nich, ich könnte dat einfacher haben, wenn ich wollte?«

»Oh, das habe ich mir auch schon gedacht.«

Sie schleudert auf dem Drehstuhl herum. Der Ullikopf im Türrahmen raubt ihr jedes gesagtgewollte Wort von der Zunge, stößt sie auf das Ebenbild ihres Vaters - das ähnlich erbärmliche Auftreten; aus Unzufriedenheit hervorgerufene, resignierte Haltung, deren Haupt feuerrot, kurz vor einer Explosion stehend, beinahe lächerlich wirkt. Warum hab ich mich eigentlich oft vor Papa gefürchtet?

»Dass du jemanden in NRW kennengelernt hast. Bist du deswegen in letzter Zeit so gut gelaunt? Glaub nicht, mir wäre das nicht aufgefallen.«

»Ach, was dir alles auffällt. Aber dass ich mich seit vier Monaten jeden Morgen aufstyle, aber erst seit zwei Monaten regelmäßig in den Chat gehe, is dir entgangen?«

Tom zerrt ihren Auftrieb der vergangenen Stunden mit sich, sperrt ihn krachend aus dem Haus. Zurück bleibt ein Schrei, der per 315 Anschlägen pro Minute tackernd über die Kunststofftastatur in den erdrückend stickigen Raum dringt. Eine Stunde Ausdauersport für nix! Jenny korrigiert das letzte Wort, löscht den kompletten Satz, kratzt sich den Knöchel bis sie Blut unter den Fingernägeln spürt, und beginnt von Neuem: „Liebe Eltern! Schaut hinaus, es ist so weit, jetzt kommt die warme Sommerzeit. Wir möchten nicht mit Sonnenbrand hier sitzen und in gefütterten Klamotten schwitzen. Tauscht die dicke Winterkleidung aus, lasst uns nur mit Sonnencreme ...“

»Verfuckte Scheiße! So wird dat nix!«

Würziger Hackfleischgeruch kitzelt in ihrer Nase. Ein weiterer Versuch, kohlenhydratarme Mahlzeiten zu finden, die sowohl ihr als auch Tom schmecken. Sie schaut auf die Uhr. Komm schon Jenny, konzentriere dich, du hast noch sieben Minuten. Ihre Bemühungen sieht er nicht. Er sieht nur, dass sie sich schminkt, sowie körperbetonter kleidet. Selbstverständlich pflegt sie sich nicht, weil ihre depressive Phase weicht, sie endlich eine gesunde Beziehung zu ihrem Körper entwickelt oder sie stetig abnimmt - seit Februar zwanzig Kilo - nein, ihr neues Auftreten liegt natürlich am Chat. Nein. Es liegt auch nicht am Chat oder an den unzähligen Frauen mit denen sie schreibt, sondern an der Handvoll Männer, genauer gesagt an einem bestimmten User, Andrin. Juckende Krusten auf der Wade zwingen sie zu einer Kratzorgie. Warmes Blut rinnt hinab. Sie streift mit einem Taschentuch von unten nach oben, presst es auf die Wunde und zündet sich eine Zigarette an. Kann er nich einfach zugeben, dass er eifersüchtig is, anstatt mir den schwarzen Peter unterzujubeln? Über Jahre hinweg hatte sie Verständnis für seine Eifersucht aufgebracht. Hatte Rücksicht auf die anhaltenden Selbstzweifel genommen, das Gefühl nie gut genug zu sein, sich vergleichen sowie behaupten zu müssen. Ihr ist bewusst, dass ein Eingeständnis seine Blase des Perfekten zerplatzen lassen, ihn entkräften würde. Minderwertigkeitskomplexe hin oder her, er sollte mir einfach ma vertrauen. Fremdgehen fiele ihr im Traum nicht ein. Ihr plagt schon ein mieses Gewissen, wenn sie ausgeht - was selten vorkommt - ihr dabei auffällt, dass sie flirtet. Kommt sie von ihrem Ausgang nach Hause, berichtet sie Tom jedes kleinste Detail. Wer sie anbaggerte, wen sie sympathisch fand, mit wem sie tanzte oder sich lange unterhielt. Sie streitet nicht ab, von Komplimenten der Männer geschmeichelt zu sein, auch sie braucht gelegentlich Bestätigung. Toms Aufmerksamkeiten beschränken sich auf zwei Komplimente innerhalb der gesamten Beziehung. »Eigentlich mag ich keine Frauen mit Bauch«, war sein erstes Kompliment vor sechs Jahren. Damals nahm sie ihm die unglückliche Formulierung nicht krumm, fand es sogar irgendwie süß. Das zweite Kompliment, das sie vor zwei Tagen erhielt, dagegen, stimmte sie rasend. »Die Hose macht aber ein ganz schön schlankes Bein.« Sie warf die Hände in die Höhe. »Ein Dank an die Hose!« Ihren Gewichtsverlust ignorierte er, gab sich geradezu Mühe, diesen zu sabotieren, indem er wieder all die Leckereien vom Einkauf mitbrachte, denen er die Schuld für ihr Übergewicht gab. Jenny speichert das Dokument, wäscht sich die Hände und stapft in die Küche.

»Warum is er nich stolz auf mich? Warum zeigt er mir für meinen Ehrgeiz keinen Respekt? Warum unterstützt er mich nich?« Sie knallt zwei Teller auf den Tisch, trampelt Hände­fluchend zur Besteckschublade. »Ständig nörgelt er an mir herum. Als wär er Adonis!« Besteck landet klirrend auf den Tellern. »Egal was ich mache, et is verkehrt. Warum is er denn überhaupt mit mir zusammen?« Dampfwolken steigen aus der Auflaufform, sammeln sich vor ihren Augen und lenken sie zum Küchenfenster. Eine greisenhafte Gestalt schlendert durch den unifarbenen Garten, nähert sich in der typisch gebeugten, schlaffen Haltung dem Haus. Rasch gießt sie Cola Zero in zwei Gläser. Sie hört, wie sich die Haustür öffnet, Tom den Schlüssel auf die Stufen wirft und in Schlappen über die Flurfliesen in die Küche schlürft. Schnaubend sinkt er auf seinen Platz, rechts von ihr, trinkt das halbe Glas leer. Sie schöpft ihm eine große Portion Low Carb Nudeln, Hackfleisch, Zucchini, Tomaten sowie Mozzarella auf, arrangiert sich selbst, eine kleinere Menge auf den Teller und setzt sich.

»Ich versteh nich«, nimmt sie bedächtig das Gespräch auf, »wie du glauben kannst, dass ich dich betrüge.«

»Du chattest doch ständig mit diesem Typen!«

»Ich chatte genauso viel mit Frauen.«

»Vielleicht fährst du ja alle zwei Monate nach Hause, weil du da jemanden kennengelernt hast!«

»Erstens fahre ich gar nich mehr so oft runter und zweitens fahre ich nur runter, weil ich Leute um mich brauche.«

»Ich hab dir doch gesagt, du sollst mehr mit meinen Leuten unternehmen. So kommst du hier nie in die Kreise.«

»Ich wohne seit viereinhalb Jahren hier. Deine Leute schließen mich aus, sie ignorieren mich, sie reden nich mit mir, reden aber über mich. Außerdem brauche ich anspruchsvollere Konversation und nich nur Tratsch und Klatsch.«

»Dann solltest du vielleicht nicht so viel reden.«

»Ah, stimmt. Ich sitze nen ganzen Abend da und führe Selbstgespräche, ich vergaß! Du könntest mich vielleicht ja auch ma unterstützen. Mit mir an Veranstaltungen und Treffen teilnehmen. Oder mich in die Heimat begleiten, um zu sehen, was ich ich da so treibe.« Jetzt verliert auch sie die Gelassenheit. Er presst die Lippen aufeinander. Schüttelt vehement den Kopf.

»Du hast doch keine Ahnung, wie das ist, mit Panikattacken und psychischem Druck zu leben!«

»Hast du vergessen, wo wir uns kennengelernt haben?« Fassungslos beobachtet sie seine pedantische Art, Zucchinistücke aus dem kalt gewordenen Essen herauszupulen.

»Du solltest langsam mal wissen, dass ich keine Zucchini mag.«

»Oh, das weiß ich. Ich hab nur keine Ahnung, was an Zucchini so schlimm is. Soll ich trotzdem auch noch auf Zucchini verzichten?«

»Ach, worauf verzichtest du denn noch? Ich bin doch wohl derjenige, der alles aufgegeben hat! Sie schmecken nach nichts.«

Bittöö?! Lange weinrotlackierte Fingernägel schaben heftig über das Schienbein, hinterlassen hellrote Striemen. Jenny verließ ihre bescheidene reizende Wohnung mit der Borussiaküche und dem Balkon, um in sein Haus zu ziehen. Ein Haus, das vor ihrer Zeit entstand, nach seinen Vorstellungen, ohne Raum für ihre Träume. Ein Haus in der Nähe seiner Familie, seiner Freunde, seiner vertrauten Umgebung. Ein Haus, in dem er seinen gewohnten Alltagsstrukturen nachkommt. Ein Haus, finanziert durch seinen langjährigen Job. Ein Haus, in dem er die Utensilien für seine Hobbys unterbringt. Ein Haus, in dem er sich verkriecht. Metallisch schmeckende Flüssigkeit fließt von der Innenseite ihrer Wange durch die Zähne, legt sich wie Blei auf ihre Zunge. Verdammtes Scheißhaus.

»Wenn die nach nix schmecken, dann kannste die auch essen!«, giftet sie, ergreift ihren Teller samt Besteck und steht auf. »Übrigens hast du gerade n ganzes Glas Zero getrunken, obwohl du sie nich magst und obwohl du meinst, du könntest sie von normaler Cola unterscheiden.« Sie kehrt ihm den Rücken zu. Rauscht ins Büro. Loggt sich in den Chat ein. Sofort erscheint die Mitteilung, auf die sie gehofft hat. „Ihr Freund Andrin ist online.“

„Hömma! Wollen wir unsere Skypeadressen austauschen ... Dann könnten wir von Angesicht zu Angesicht quatschen?! ;-)“

3

Juli 2014

»Hömma! Dat kann doch wohl nich wahr sein. Ker ey! Es muss doch irgendwo in dieser Stadt ’ne Bude geben, die bezahlbar is«, grummelt sie vor sich hin. Seufzend blickt sie von der Zeitung auf, die sie auf ihrem Schoß aufgeschlagen hat. Ein paar Meter entfernt versucht der vierjährige Eric, sich die Kapuzenjacke anzuziehen. Er zerrt an dem Stoff, der unentwegt hinter seinem Rücken verschwindet und es unmöglich macht, den zweiten Arm in den Ärmel zu schieben.

»Komm mal zu mir Eric. Ich zeige dir einen Trick, wie du dir die Jacke einfacher anziehen kannst.«

Zerknirscht stapft der Bube auf die Erzieherin zu.

»So. Pass auf. Das ist Trick siebzehn.« Sie breitet die Sweatjacke mit der Kapuze zu Erics Füßen auf dem Boden aus. »Jetzt beugst du dich runter - ja, genau so - die Arme in die Ärmel schieben - genau - so, jetzt einfach über den Kopf schwingen - geschafft!«

Zufrieden strahlt er seine Unterstützerin an, klettert auf die Bank, drängt den blonden Schopf durch ihren Arm und schmiegt sich an sie. Mit blauen Kulleraugen schaut er in die Zeitung.

»Jenny, was steht da?« Eine Kinderhand verdeckt das oberste Wohnungsinserat. Langsam führt sie seine kurzen Finger unter den Worten entlang, die sie vorliest.

»Drei-ein-halb Zim-mer-wohn-ung mit Bal-kon in der Neustadt ...«

»Brauchst du eine Wohnung?«

»Ja. Aber leider stehen hier nur Wohnungen drin, die sehr teuer sind.«

»Dann tauf dir doch einfach ein Haus!« Schulterzuckend richtet Eric sich auf, hangelt sich von der Bank und rennt zu der Schaukel, die soeben frei geworden ist.

»Wenn dat ma so einfach wär«, stöhnt sie. Seit einer Dreiviertelstunde hat sie Dienstschluss, aber zuhause den Wohnungsmarkt zu durchstöbern, findet sie unpassend. Müde überfliegt sie die letzten fünf Anzeigen, horcht gleichzeitig dem Geschehen in der Sandgrube. Die neue Jungsclique aus dem Schulübergangsprojekt schmiedet einen Plan, die Mädchen aus dem »Männerrevier« zu vertreiben.

»Wir bauen eine Falle«, schlägt Lukas vor.

»Nein, wir erschießen die mit unseren Gewehr!« Kevin reckt theatralisch einen Stock empor.

»Oooder wir jagen sie!« Benny grinst seine Freunde verschmitzt an.

»So. Ich möchte nicht, dass ihr die Mädchen ärgert, wenn sie es nicht wollen. Das haben wir heute erst im Morgenkreis besprochen. Erinnert ihr euch?«

»Boah, Mann ey! Woher weißt du das schon wieder?« Benny rollt mit den Augen.

»Du weißt doch, Erzieherinnen sehen und hören alles.«

»Und Mamas auch«, fügt Kevin hinzu, der die Schaufel in den Sand wirft, um den geflohenen Kumpels hinterherzurennen.

»Hey.« Max schlendert auf die Endzwanzigerin zu. »Was schüttelst du den Kopf?« Während er das Gelände nach seinem Sohn Lukas, der sich in den Sträuchern am anderen Ende des Hofes versteckt, inspiziert, nimmt er lässig neben ihr Platz.

»Ach, dein Sohnemann ärgert mit seiner Gang die Mädels und in ganz Bremen gibt es keine passende und vor allem bezahlbare Wohnung für mich.« Sie faltet den Weser-Kurier, wirft diesen links von sich, verschränkt die Arme locker vor dem Bauch und lässt ebenfalls den Blick durch die Kinderschar gleiten. »Anna, zieh bitte die Schuhe wieder an. Der Boden ist viel zu kalt, um Barfuß zu laufen«, ruft sie der Dreijährigen zu. Die Temperaturen stagnieren bisher an der 24-Grad-Grenze und sie hat heute keine Lust auf Diskussionen mit Eltern. Anna hockt sich hin, patscht beide Hände auf den Asphalt, streckt den Kopf in den Nacken und kneift die Augen zusammen. Schmollend schlüpft sie in ihre Ballerina.

»Du bist auf Wohnungssuche?« Max holt sie aus ihrer Beobachtung heraus. »Ich dachte, dein Freund hat ein Haus?!«

»Ich hab mich getrennt.« Flüchtig dreht sie sich zu ihm. Es ist ihr unangenehm, dass die Beziehung, die von jedem aus ihrem Umfeld zum Scheitern verurteilt wurde, tatsächlich gescheitert ist.

Tom und Jenny lernten sich in einer psychotherapeutischen Klinik kennen. Er 45, sie 23. Der Altersunterschied war ihr egal, denn sie hatte jemanden gefunden, der diese abscheuliche Leere füllte, die immerwährende Dunkelheit durch Interesse sowie Verständnis erträglicher machte. Sechzehn Monate später zog sie bei ihm ein. Nie hatte das Stadtmädchen von einem Haus geträumt oder ein Dorfleben in Erwägung gezogen. Um mit Tom zusammenzuleben, blieb ihr keine andere Wahl. Sie musste auf das niedersächsische Dorf ziehen. Zwar verlangte er, mit ihrem alten Leben abzuschließen, die langjährigen Bekanntenkreise hinter sich zu lassen, dennoch ging sie davon aus, den richtigen Entschluss gefasst zu haben. Zu spät stellte sie fest, aus einem schmerzlichen Alleinsein in eine unerträgliche Einsamkeit gelandet zu sein. Niemand wollte sie. Verbissen suchte sie Fehler in ihren Verhaltensweisen. Sah die schroffe, direkte Art, den Hang zum übermäßigen Quasseln und bemühte sich, zurückhaltender zu werden. Letztenendes erkannte sie, dass ihr Auftreten ihrer Natur entsprach. Darüber hinaus war sie nicht gewillt, sich zu verbiegen, sich gänzlich aufzugeben, nur damit man sie mochte. Sie sehnte sich nach ihrem Heimatland, in dem es unkomplizierter war in Kontakt zu treten. Heimatland nennt sie es deswegen, weil sie sich hier oben wie eine Ausländerin vorkommt. Zeitweise sogar wie von einem anderen Stern, eine Außerirdische. Zwei Welten, die aufeinanderprallen. Die temperamentvolle Jenny und der geruhsame Norden. Die Potteraner, ihre Gleichgesinnten, sind offenherzig gleichermaßen warm. Die Norderaner dagegen kalt, distanziert, miesepetrig. Ein Kulturschock. Nicht bloß die ungleichen Charakterzüge erschweren den Aufbau eines gefestigten sozialen Umfeldes, ebenso tauchen an jeder Ecke Verständigungsschwierigkeiten auf. In ihrer Naivität war ihr nicht im Ansatz bewusst, dass Vokabulare in verschiedenen Städten voneinander abweichen, man den gleichen Bedeutungen unterschiedliche Bezeichnungen zuordnet. Bis heute meint die Ruhrdeutsche, eine fremde Sprache zu sprechen. Scheinbar kennt die nördliche Gesellschaft nicht einmal gängigste Ausdrücke wie Fisseln, Pinte, Stulle, Pampelacke, Pinnchen. Pinnchen. Wie oft die Heimatverbundene schon die für sie gewohnte Vokabel übersetzen musste.

»Hömma! Ich hab genuch Pinnchen. Die kann ich dann mitbringen.«

»Pinnchen? Was ist das denn?«

»Na, diese kleinen Gläsken, aus denen man zum Beispiel den Grünen trinkt.«

»Ach, du meinst Schluckgläser!«

»Wie? Schluckt ihr aus anderen Gläsern nicht?«

Obwohl der Norden nach vier Jahren weiterhin fremd für sie ist, entschied sie sich gegen einen Rückzug in ihr geliebtes Ruhrgebiet. Denn einen Tag nachdem sie sich von Tom getrennt hatte, erhielt sie in Bremen einen unbefristeten Arbeitsvertrag. Die Neuledige weiß nicht, ob das Schicksal ausnahmsweise gnädig mit ihr ist, sieht darin nichtsdestotrotz die Chance auf einen Neuanfang.

»Wie läuft n deine Wohnungssuche so?« Sie mustert Max, der sich fünf Wochen zuvor ebenfalls getrennt hat.

»Auswahl gibt es eine Menge. Öhm, aber mir graut es vor dem Alltag alleine.« Verlegen wendet er sich ab.

»Putzen, kochen, Wäsche waschen«, neckt sie ihn und entdeckt Lisa, die an der Kindergartentür rüttelt. Der Versuch, die Tür zu öffnen, bleibt erfolglos. Jenny eilt zu ihr, um behilflich zu sein. Auf dem Rückweg nimmt sie Max’ zuckende Mundwinkel wahr.

»Wie wäre es, wenn wir eine WG gründen?«, fragt er, ohne sie anzuschauen.

»So ’ne Frische-Single-WG mit Fußball, Bier und nem Kicker mitten im Wohnzimmer?!«, stößt sie lachend hervor.

»Jaaa, genau!«

Schmunzelnd lässt sie seine Spinnereien unkommentiert.

»Warum nicht, Jenny?« Er durchbohrt sie mit schelmischen tiefbraunen Augen. »Du suchst eine Wohnung. Ich suche eine Wohnung. Dir fehlt das nötige Kleingeld und mir die nötige Erfahrung, einen Haushalt zu führen.«

Amüsiert guckt sie ihn an. »Du brauchst also ’ne billige Putzfrau.«

»Ja. Und eine Babysitterin in meiner Nähe.«

»Solange du nich auch noch nen Betthäsken suchst.«

»Quatsch. Du kannst mir genauso gut auf dem Sofa den Rücken kraulen.«

Gackernd verdreht sie die Augen. Erwischt sich allerdings, wie sie sich das Zusammenleben ausmalt. Ob es ein Regelverstoß wäre, mit einem - bald geschiedenen - Vater aus ihrer Einrichtung, zusammenzuwohnen? Oder verstößt es ausschließlich gegen ihre persönliche Moral?

»Ich kann doch nich mit nem Papa zusammenziehen, dessen Sohn ich hier betreue.«

»Wieso nicht? Lukas wird doch im September eingeschult.«

»Papaaa!« Wie aufs Stichwort stürmt der Junge auf die Erwachsenen zu. »Holen wir noch Leona aus der Schule?«

»Ja. Du kannst schon mal deine Sachen zusammenpacken.«

»Yeah! Ey Kumpels ich gehe noch kickern!«

Zum Abschied breitet Jenny die Arme aus. Lukas schlingt die Ärmchen um ihren Hals, genießt wohlig schnurrend das behutsame Wiegen. Blitzartig löst er sich von ihr, drückt seine Händchen auf ihre Wangen und fragt:

»Spielen wir morgen wieder Fußball?«

»Na klar.«

Er flitzt los. Max folgt dem Energiebündel. An der Türschwelle dreht er sich um.

»Glaube mir, das wäre die perfekte Lösung für unser Problem.«

Glucksend wünscht sie ihm einen schönen Nachmittag. Eric steht vor ihr, übt Trick siebzehn. Beim zweiten Anlauf hat er den Dreh raus. Die Kapuze halb über die zusammengekniffenen Augen gelegt schaut er sie an.

»Bist du jetzt ohne Dachlos?«

»Hey Jenny!« Max wedelt zum Gruß mit Papieren.

»Jungs, ihr schießt euch noch ein paarmal ohne mich die Bälle zu. Ich gucke einfach mal, wie gut das schon läuft.« Den Kreidebildern ausweichend, trippelt sie ihm und seiner Tochter entgegen. Leona saust in die Arme ihrer ehemaligen Erzieherin.

»Wie geht es dir Leona? Haben Jule und du euch wieder vertragen?«

»Ja, sie ist doch meine beste Freundin. Nur der blöde Justin nervt.«

Der Vater wippt mit den Beinen.

»Leona, möchtest du zu Lara gehen? Sie spielt dort hinten in den Büschen«, verrät sie.

Sobald der Lockenkopf losgelaufen ist, hält Max ihr Ausdrucke vor das Gesicht. Wohnungsinserate. Sechs Inserate gelb markiert.

»Die sind groß genug für vier Personen und das Wichtigste ist, dass sie alle einen Balkon oder eine Terrasse haben.«

Ungläubig starrt sie ihn an. »Du meinst es ernst?!«

»Ja. Hier liest du es Schwarz unter Gelb.« Stolz grinsend, als hätte er eine Höchstleistung erbracht, tippt er auf den Zettel.

»Super, Benny, und jetzt probiere das einmal ohne Picke! Max, ich glaube, dass wir das in Ruhe besprech...«

»Okay. Gleich zum Feierabend?« Sie nickt.

Lukas führt Leona neuerworbene Fußballtricks vor, die Erwachsenen verschwinden hinter das Gelände.

»Endlich!«, ächzt Jenny. »Feierabendkippe.«

Ohne ihr den ersten Erholungsmoment des Tages zu gönnen, präsentiert Max, ungewöhnlich überschwänglich, eine seiner Favoritenwohnungen.

»Stell dir vor, du stehst morgens auf und gehst direkt vom Bett auf deinen eigenen Balkon oder auf die riesige Terrasse.« Überdimensionale Armbewegungen untermalen seine Ausführungen. Sie beißt sich auf die Lippen, um nicht loszulachen. Die Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger klemmend, hebt und senkt sie langsam die Hand.

»Ruhich Brauna, mir wird schon ganz schwindelig.« Augenblicklich beherrscht er sich.

»Also. Ich weiß, dass so n Neustart immer mit großer Motivation, Tatendrang und Aufregung verbunden is. Aber wir müssen jetzt ma geordnet denken.«

»Okay. Ordnen wir unsere Gedanken.« Er lehnt sich zu ihrer Rechten an den Zaun. Beide schweigen für drei Zigarettenzüge. Max stiert angestrengt vor sich hin, Jenny auf den Boden.

»Also. Ich versuch dat getz ma auf Hochdeutsch. So. Diese Wohnungen klingen traumhaft. Die Idee an sich klingt toll. Aber ...« Sie schluckt. Kratzt sich den Hals. »Ich bin eine einfache Erzieherin. So. Und wenn ich mir die Mieten ansehe ...«

»Stopp!« Er steckt die gefalteten Ausdrucke in die Gesäßtasche. »Welches Kostenlimit hast du für die Miete gesetzt?«

»Ich kann einfach nich mehr als 450 Euro zahlen. Ich hab noch den Kredit fürs Auto.«

»Perfekt«, fällt er ihr erneut ins Wort. »Du zahlst 450 Euro Miete und alle weiteren anfallenden Kosten teilen wir.« Schulterzuckend tritt er vor sie. »Wenn es für dich zu viel wird, übernehme ich halt mehr.«

Irritiert und skeptisch zugleich glotzt sie ihn an. Sie fühlt sich unbehaglich. Vom Geld anderer Leute zu leben, kommt für sie auf gar keinen Fall in Frage. Es gibt ihr das Gefühl, sie sei auf Hilfe angewiesen und das ist sie mit Sicherheit nicht. Sich von einem Kerl abhängig machen ist das Letzte, was sie will.

»Max, das geht nich. Ich kann nich ...«

»Doch, kannst du.«

»Was is, wenn einer von uns wieder in einer Beziehung is? Was sagt da eigentlich Tina zu? Wie erklären wir es den Kindern?« Jenny redet sich in Rage, gestikuliert wild mit den Händen. »Hömma, Max! Wir sind keine fuffzehn mehr. Wir müssen realistisch sein und nich in irgendwelchen Tagträumen schwelgen.«

Windhosen wirbeln in ihrem Kopf. Gelassenheit weicht der Hektik. Übertrieben schürft sie sich den Oberarm, bis er rote Stellen aufweist. Max ist überaus eifrig und dermaßen fokussiert auf diesen Plan, dass sie befürchtet, er verrenne sich in einer Illusion. Sie hadert mit sich, weil bei ihr bisher nie etwas problemlos verlaufen ist.

»Okay. Ich dachte, ich wäre ein Kopfmensch.« Er grient sie von der Seite an. »Ich werde deine Fragen beantworten. Vielleicht kann ich dich ja doch überzeugen.«

Beide zünden sich eine Zigarette an.

»Erstens«, beginnt er, »zieht man ja nicht aus heiterem Himmel mit einem neuen Partner zusammen.« Ohne eine Reaktion abzuwarten, spricht er weiter. »Zweitens meint Tina, es käme den Kindern zugute.« Er ist gekränkt, dass seine Ehefrau ihm die Kindererziehung nicht zutraut. Ihre schnippischen Bemerkungen lässt er unerwähnt, wobei schnippisch eine Untertreibung wäre. In Wirklichkeit war sie außer sich vor Eifersucht. »Das ist ja wieder typisch für dich! Machst es dir so bequem wie möglich.« Max erschrak über den ungewohnt bissigen Ton. »Du warst doch schon die ganze Zeit scharf auf sie. Mach ihr doch gleich einen Heiratsantrag oder noch besser, gleich ein Kind!« Jeder Beruhigungsversuch seinerseits wurde durch einen weiteren hysterischen Anfall abgeschmettert. »Wenigstens hast du dir eine ausgesucht, die Ahnung von Kindererziehung hat, im Gegensatz zu dir.« Bevor sie ins Bett ging, entschuldigte sie sich für den Ausraster, räumte ein, überreagiert zu haben. Ihn plagen Magenschmerzen. Wo kam dieser ganze Zorn her, den sie ihm entgegenschlug? Selbstverständlich gab es in zehn Ehejahren Streit, - eingekehrter Alltagstrott, unterschiedliche Zukunftsvorstellungen - aber ein derartiger Gefühlsausbruch war neu.

»Drittens, wären die Kids begeistert. Sie mögen dich.« Hastig zieht er an der Zigarette.

»Viertens können wir in jede Wohnung leider erst im August einziehen.« Er hebt den Zeigefinger. »Bevor du wieder Zweifel in deiner ängstlichen Gedankenwelt entwickelst, höre dir meinen Vorschlag an.«

Sie schließt den Mund, presst die Fingerknöchel gegen die Lippen.

»Im ersten Monat wirst du quasi alleine wohnen, damit du keine Probleme mit deinem Job bekommst.« Er hebt wieder den Zeigefinger. »Natürlich läuft die Mietzahlung sofort und wir richten gemeinsam ein.«

Sie ist erstaunt, wie intensiv er sich binnen 24 Stunden mit dieser Idee auseinandergesetzt hat.

»Aaalso.« Sie hält inne. Sucht den richtigen Anfang. »Erstens. Ich kann nich einfach in den Tag leben wie du. Ich brauch nen Was-Wäre-Wenn Plan.« Wenn sich einer von ihnen verliebt, das hat sie bereits durchgespielt, wäre sie diejenige, die auszieht. Wenn die Kinder darunter leiden, würde ebenfalls sie die Wohnung verlassen. Es schockiert sie, dass ihm eine Planung für die entfernte Zukunft unbedeutend scheint. »So. Zweitens. Ich würd gern auch noch ma mit Tina sprechen. Dat fühlt sich nämlich allet n bissken komisch an.« Sie zieht die Nase kraus. »So. Außerdem sollten wir zu dritt mit den Kindern reden. Und nur ma so nebenbei ...« Entschlossen stemmt sie die Fäuste in die Hüften. Worte sprudeln heraus, überschlagen sich. Gönnen ihr keine Atempause. Zwingen sie, dem Gedankenwasserfall hinterherzutreiben. »... meine Gedankenwelt is nich ängstlich. Nur durchdacht. Ich hab schon genug Risiko hinter mir und will nich unüberlegt an die Sache ran gehen. An gar keine Sache mehr.« Sie schabt sich die rechte Wade. »Und außerdem ... Max erst? Dat is schon im August! Dat is in.« Sie stockt. »..n.ich ma mehr drei Wochen!«

Er hebt spöttisch eine Augenbraue. »Okay. Ich bin also nur eine Sache?!«

Feixend boxt sie ihn gegen den Oberarm.

»Übrigens, öh, durchdacht heißt doch, es gibt einen Plan. Deine Aufzählungen hörten sich nicht nach einem Plan, sondern nach Überlegungen an.« Er legt die Hände auf ihre Schultern und fängt ihren Blick ein. »Überlegungen, die dir Angst einjagen, dich zumindest besorgt stimmen.« Eindringlich prüfend sieht er sie an.

»Okay. Ich schaue nach den Kids.«

Was passiert hier? Sie ist überfordert, muss sich sammeln, die Gedankenfetzen sortieren. Vor einer Woche trennte sie sich von Tom. Verarbeiten konnte sie es bisher nicht, plant indessen, mit Max, einem fremden Vater zweier Kinder zusammenzuziehen. Gott, was is, wenn Max herausfindet, wer ich bin? Was is, wenn er von meinen Schwierigkeiten erfährt? Dreimal hintereinander zieht sie an der Fluppe. Die Fünfte innerhalb einer Stunde. Sie ist hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch sich auf den Vorschlag einzulassen, der Sorge eine unvernünftige Entscheidung zu treffen und der Befürchtung er würde sie verurteilen für das, was sie ist. Ihre Fingernägel zeichnen Striemen auf dem Dekollete. Ich werde nich drumherum kommen, ihm einen Teil zu erzählen. Sie inhaliert einen letzten Zug. Dreht den Rest Tabak raus, trottet zur Mülltonne, schmeißt die angesammelten Stummel hinein, biegt in den Hofeingang, um sich zu Max auf die Holzbank unter der stämmigen Eiche niederzulassen. Sie kreuzt die Arme vor dem Oberkörper und streckt die Beine aus. Ihre Augen ruhen auf den Geschwistern, die im Sandkasten einen Graben ausheben. Max sitzt still da. Jenny hält den Atem an.

»Manchma bin ich n Freak. Und manchma hab ich schwierige Phasen. Und ich hab mich gerade erst getrennt.« Ruckartig stößt sie die Luft aus. Er schmunzelt, fährt einen Arm aus, drückt sie an seine Brust.

»Ich bin auch nicht immer einfach.«

»Irgendwie beruhigt mich das jetzt überhaupt nich.«

Ein lautloses Lachen huscht über ihre Gesichter.

»Hey, das kriegen wir schon hin.«

Unerklärlicherweise glaubt sie ihm.

»Ich hätte nie gedacht, dass ich mal mit einer leidenschaftlichen Borussin unter einem Dach leben werde.«

»Du weißt schon, dat ich ’ne Menge schwatzgelbet Gedöns mitbring?!«

Er rümpft die Nase. »O-Kay?! Kann ich es mir doch nochmal anders überlegen?«

4

August 2014

»Holaaa. Hübsche.«

Sie erstarrt. Pochende Schläge an den Schläfen bestärken den Nachhall der unbekannten Stimme, breiten ihn unter der gesamten Schädeldecke aus. Der Haustürschlüssel bohrt sich zitternd in ihren Daumen. Sie spürt, wie sich jemand Schritt für Schritt nähert. Wachsam wendet sie sich dem Schatten zu. Sie setzt einen Schritt zurück. Kantig und breit versperrt eine Männerbrust die Sicht auf die Eingangstür. Ihr Herz trommelt wie fünfhundert Batucada-Spieler einer Kölner Sambagruppe. Bedächtig schaut sie hinauf und blickt in rabenschwarze Augen. Er grinst.

»Hi«, röchelt sie.

»Ich bin Toni.«

Hypnotisiert legt sie ihre schlanken Finger in die warme Hulk-Hand und lässt sie fest von ihr umschließen. »Äh, Jenny, hi.«

»Du bist also unsere neue Nachbarin?«

»Ja, ähm, also nich ganz alleine. Ähm. Ich zieh mit meinem Freund hier ein. Also einem guten Freund. Max. Er is 36.« Gott, was rede ich denn hier. Haltsuchend lehnt sie sich gegen die Wand.

»Ein gutaussehender, guter Freund?«

»Jap, er sieht ziemlich gut aus. Dunkle Haare, braune Augen und, ach, ähm, egal.« Du siehst aber auch ziemlich gut aus. Sie mustert ihn. Breite Schultern. Muskulöse Oberarme. Äußerst muskulöse Oberarme. Schnell lenkt sie die Aufmerksamkeit wieder auf die Lachfältchen.

»Cool. Wenn ihr hier eingezogen seid, könnt ihr ja mal auf einen Drink bei mir in der Bar vorbeischauen. Ist nicht so weit von hier weg. Zehn Minuten zu Fuß.«

»Du hast ’ne Bar?«

»Eine Cocktailbar. Das Desperados. Kennst du das?«

»Nope. Ich bin neu in Bremen. Also fast zumindest.«

»Das heißt, ich muss dich noch überzeugen«, zwinkert er.

Oh, das hast du bereits. Grinsend gibt sie sich Bildern von romantischen Stunden hin; händchenhaltende Spaziergänge an der Weser, an der Promenade sitzend, an seiner Schulter gelehnt, einen Cocktail schlürfend. Allein die Vorstellung gibt ihr das Gefühl von Geborgenheit, beschützt zu sein.

»Für dich werde ich etwas Neues kreieren. Du siehst so aus, als könntest du ein Verwöhnprogramm gebrauchen, ne.«

Sie schaut an sich hinunter. Typischer Samstags-Schmuddel-Look. Verdammt. Wieso hab ich mich nich wenigstens ein bisschen aufgestylt.

»Aber jetzt muss ich erstmal ins Bett, bevor mich mein Partner mit neuen Ideen bombardiert, ne.«

Prompt schießt ein weiterer Tagtraum durch ihre Gedanken; Kuschelzeiten im Kerzenschein, in seinen Armen einschlafen, am Morgen in seinen Armen aufwachen, zerzaust von der Nacht am Frühstückstisch sitzen, sich angrinsen.

»Außerdem muss ich mich um ein ultimatives Geschenk kümmern. Wir haben in einer Woche unseren Jahrestag. Ich möchte diesmal nicht wieder einen Beziehungsstreit riskieren und will mir etwas ganz Besonderes einfallen lassen, ne. Vielleicht ein Wellnesswochenende. Was meinst du?«

Moment. Partner? Fester Partner? So wie fester Freund?

»Björn arbeitet hart an seinem neuen Projekt. Brautfrisuren oder so.«

Sie betet, dass er ihr weder die Enttäuschung noch den gierigen Blick anmerkt. Scheiße. Was macht Björn beruflich?

»Du solltest dir auch etwas Schlaf gönnen. Ciao Hübsche.«

»Tschü.« Verwirrt starrt sie ihm hinterher. Erst als das Knatschen der Stufen verstummt und sich die Tür im obersten Stockwerk mit einem dumpfen Knall schließt, widmet sie sich seufzend ihrer eigenen Wohnungstür. Zögerlich steckt sie den silbernen Schlüssel ins Schloss, dreht ihn nach rechts und sofort ertönt das hohle Klacken, mit dem sich die Tür zu einem neuen Kapitel öffnet. Schlagartig verkrampfen ihre Glieder, in ihrer Magengrube vibriert es. Misstrauisch verharrt sie in dem weißen Flur. So fühlt sich also mein aufregender Neustart an. Kahl. Leer. Ruhig. Yeah. Sie war nicht davon ausgegangen, dass ihr erster Schritt von Feuerwerk oder tosenden Applaus begleitet wird, eher hatte sie befürchtet, an der Einsamkeit zu zerbrechen, die Stille nicht auszuhalten. Ein wenig hoffte sie jedoch schon, ein Neuanfang fühle sich bedeutungsvoller an. Hastig klopft ihr Herz. Den Schlüsselbund mit beiden Händen umklammernd steht sie weiterhin regungslos im Eingang und hört in sich hinein. Ihr fällt auf, dass sie durchgehend den Atem angehalten hat. Kräftig stößt sie die heiße Luft samt der Anspannung durch den Mund hinaus.

»Jenny, beruhige dich. Atme«, ermahnt sie sich. »Alles is gut. Es gibt keinen Grund, Angst zu haben.« Sie schließt die Wohnungstür, steckt den Schlüssel ein, verriegelt, wendet sich der freien Fläche des breiten Eingangsbereichs auf der linken Seite zu und wird von Ideen überflutet. Sie phantasiert Gäste, die ihre Jacken an die Wandgarderobe hängen. Kinder, die ihre Schuhe vor das Schuhregal werfen. Einen Besucher, der einen nassen Schirm in den Schirmständer stellt. Max kommt heim. Lässt den Schlüsselbund in die Schale auf der Kommode plumpsen, stopft die Wollmütze in die unterste Schublade und verschwindet in das Gäste-WC rechts von der Eingangstür. Sie folgt seinen Schritten. Schaut sich im spärlichen Bad um, plant, es ähnlich einzurichten, wie sie es in Toms Haus vorhatte, will jedoch möglichst wenig aus dieser Beziehung mitnehmen. Einen völlig neuen Lebensabschnitt beginnen. Sich nicht an Beteuerungen erinnern, die ihr falsche Zukunftsabsichten versprachen. Jahrelang verließ sie sich auf leere Worte über Liebe, Heirat sowie Familienplanung. Von nun an vertraut sie nur noch sich selbst. Und Max. Bei der Besichtigung sagte er, sie dürfe die Wohnungsgestaltung übernehmen. »Hömma! Sach bloß nich zu allem Ja und Amen«, drohte sie. »Und auf gar keinen Fall, wirst du alles schlecht machen.« Mit gehobenem Zeigefinger schaute sie ihn streng zugleich schmunzelnd an. Lachend bemerkte er, sie gäben ein perfektes Team in der Frische-Single-WG ab. Eine Woche später fand die Schlüsselübergabe statt. Feierlich nebst den Worten »Deine Schlüssel zum Glück«, überreichte er ihr den Bund, bestehend aus fünf Schlüsseln: Haustür, Wohnungstür, Briefkasten, Kellertür, Gartentür.

»Ich muss den Schlüssel ziehen! Ich muss es mir unbedingt abgewöhnen, den Schlüssel stecken zu lassen. Nich dat Max irgendwann ma nich rein kommt.« Mechanisch wie ein fortgeschwemmtes Floß auf weiter See treibt sie in die Wohnung hinein. Ihr Rettungssegel, der Gedanke an ihre Mitbewohner Max und seine Kinder, vertreibt ihre Befürchtung sich in all den Räumen verloren vorzukommen.

In einem Gespräch einigten sich die drei Erwachsenen, dass Besuche der Kids außerhalb der vereinbarten Zeiten mit Absprache aller Parteien möglich sind. Beim ersten Treffen war eine gewisse Anspannung zu spüren. Die übliche Spannung zwischen einem getrennten Paar, das eine gemeinsame Zukunft geplant hatte, nun verarbeiten muss, dass sich seine Wege trennen. Im Gegensatz zu Jennys Sorge verlief die Unterhaltung unproblematisch auf einer sachlichen Ebene. Bis zu dem Gespräch flackerten Horrorszenarien von Eifersuchtsdramen vor ihren Augen auf. Seine Ex könnte ihr eine Affäre mit Max unterstellen. Im schlimmsten Fall hätten Gerüchte ihr den Job gekostet. Die Mutter aber beleuchtete nüchtern die Vorzüge der außergewöhnlichen Konstellation und war so zufrieden, wie man in einer solchen Situation zufrieden sein kann. Um nicht emotional in die Beziehung einzutauchen, agierte Jenny professionell in ihrer Rolle der Pädagogin, hörte zu und vermittelte. Es überraschte sie, dass sie denselben sich wertschätzenden Eltern gegenübersaß, wie zuvor in allen Entwicklungsgesprächen, die sie im Kindergarten geführt hatten. Damit die Erzieherin keine beruflichen Konsequenzen durch eine Prahlerei von Lukas über das Zusammenwohnen davonträgt, weihen sie die Kinder erst in den Sommerferien ein.

Obwohl sie die Wohnung bereits zweimal begutachtete, schaut sie sich penibel um, betrachtet die weißen Wände sowie den hellen Parkettboden. An der Küchentür bleibt sie stehen. Kopfschüttelnd bemerkt sie, dass ihre Vorstellungen von den Räumlichkeiten überhaupt nicht realitätsgetreu waren. Nicht das erste Mal, dass sie sich beim gedanklichen Einrichten verschätzte. Am Türrahmen lehnend schreibt sie Max eine Whatsapp-Nachricht.

„Stehe gerade in der Küche *schmunzel*“

Grinsend steckt sie das Handy in die Tasche, schlendert an der grauglänzenden Küchenzeile entlang und gleitet mit der Hand über die dunkelgraue klebrige Arbeitsplatte. Sie rümpft die Nase. Ehe sie an die bevorstehende Putzarbeit denken kann, fallen ihr die anderen Ecken ins Auge.

»Ein graues Raffrollo würde sich hier gut machen. Und an der freien Wand könnte man nen kleinen Tisch mit vier Stühlen aufstellen und n Wandtattoo anbringen.« In ihrem Tagtraum sitzen die vier sonntagmorgens beim Frühstück. Max brummelt genervt über die Streitereien seiner Kinder, Jenny genießt den neuen lebhaften Lebensabschnitt.

„Wir sind alle, am Borsigplatz geborn ...“, tönt es aus ihrer Tasche.

„Und ... Erlaubt sie uns ein gemeinsames Frühstück? grins“

„Ich frag sie mal :-P Hattest recht ...“

„Wie fühlst du dich? Hast du schon deine Zimmer ausgesucht?“

„Ähm ... Nope ... Bin erst gerade hier angekommen ... Schon mal Flur, Gäste WC, Küche eingerichtet *lach*“

„Okay ... Gefühlslage: Voller Tatendrang ;-)“

„*Grins* ...“

Einen Moment wartet sie, liest oberhalb des Chatverlaufs das Wort offline, schiebt das Lumia in die Hosentasche und lugt in eines der beiden zusätzlichen Zimmer. Mein kleiner BVB-Tempel. Geräuschlos schließt sie die Tür und schleicht durch den ausgestorbenen lichtdurchfluteten Wohnraum, als könne sie jemanden durch hallende Schritte erschrecken. An der deckenhohen Fensterfront im Wohnzimmer stellt sie sich eine gemütliche Essecke vor, in der sie mit Freunden den Abend verbringt. Ob ich jetzt endlich Freunde finde? Sie ruft ein Zukunftsbild vor ihrem inneren Auge auf; eine fröhliche Gesellschaft, Max und seine Freunde, Jenny sitzt abseits, lächelt höflich, stiert glasig auf ihre Hände. Ein vertrauter Anblick. Japsend greift sie sich an den Hals, instinktiv, um ihre Luftröhre zu vergrößern, einen normalen Atemfluss herzustellen. Erfolglos. Beruhige dich. Atme. Panisch reißt sie die Terrassentür auf. Einatmen - ausatmen. Ein - aus. Grüne, schummrige Flecken fließen zu einer saftigen Wiese zusammen. Unerkennbare braune Elemente entpuppen sich als Gartenmöbel. Sechs Liegestühle. Ein ovaler Tisch. Ein - aus. Tanzende bunte Punkte wachsen zu einem Blumenmeer. Der Gemeinschaftsgarten. Toni.

»Dat war ja wieder kla«, murmelt sie. »Da lerne ich nen Mann kennen, der genau mein Typ is, zieh unter ihm ein und dann is er schwul.«

Toni und Björn sind die einzigen Nachbarn im Haus. Vorstellbar, dass sich eine Freundschaft entwickelt. Schier die Chance auf einen potentiellen Lebenspartner in unmittelbarer Nähe zu treffen, ist gesunken. Wenn es für mich doch nur einfacher wäre, Männer kennenzulernen. Ein dezenter Windstoß setzt die Hollywoodschaukel in Bewegung. Quietschend baumelt sie im Schatten der Bäume. Im Pool gluckert Wasser vor sich hin. Paradiesisch. Sie schließt die Augen. Atmet Zufriedenheit ein.

»Los Jenny, wollen wir uns mal das obere Stockwerk vornehmen.« Aus dem offenen Wohnbereich hüpfend, fast hätte sie das Schlümpfelied geträllert, macht sie sich auf den Weg zur Wendeltreppe, die zu den vier Schlafzimmern - zwei davon ebenfalls mit Balkon - und dem Bad führt. Beim Anblick des Badezimmers unterdrückt sie einen Freudenschrei, der sich wie das Quieken eines Ferkels anhört. Dat is verrückt. Wenige Wochen zuvor stand sie vor der Entscheidung, auf ihre heiß geliebten Schaumbäder zu verzichten, damit sie einen geschützten Wohlfühlort an der frischen Luft bekommt, zu dem sie jederzeit fliehen kann. Ohne einen Balkon meint sie sich eingesperrt, aber die Mietwohnungen ihrer Preisklasse waren entweder mit Wanne oder Balkon ausgestattet. Und nun? Nun steht sie in einer pompösen Wohnung. Einer ausgesprochen schönen, pompösen Wohnung. Inklusive Balkonen, Terrasse und Wanne. Neulich fragte sie Max, wie sich ein freiberuflicher Tanzlehrer, der sein Augenmerk auf die eigene Tanzkarriere gelegt hat, eine solche Wohnung leisten kann. Er erzählte von seinem Großvater, der ihn zu Lebzeiten in allen Vorhaben unterstützte. Ursprünglich hatte Max irgendeinen »stinknormalen« Beruf erlernt, war mit dem Herzen jedoch von Kindesbeinen an Tänzer. Sein Opa animierte ihn, an diesem Traum festzuhalten. Schließlich hinterließ er seinem Enkel nach dem Tod ein großzügiges Erbe.

Sie entschließt, die Schlafzimmer mit anliegendem Balkon unter sich und Max aufzuteilen. Für sich wählt sie das hintere Zimmer.

»So. Ich sollte langsam ma die Kisten aus dem Auto schleppen. Sonst schaff ich heute nich alles. Hömma! Wie spät is es eigentlich?« Das Display ihres Smartphones zeigt eine eingegangene SMS an, es ist 7.05 Uhr. Sie ist müde. Seit einem halben Jahr ist kaum an Schlaf zu denken. Entweder schreckt sie nach zweieinhalb Stunden aus einem Albtraum oder sie wälzt sich stundenlang hin und her. Gedanken rotieren, Atemnot breitet sich aus, heftige Kratzanfälle treiben sie zur Verzweiflung. Gestern fiel ihr das Einschlafen besonders schwer. Mit erregter Erwartung auf den Morgen hatte sie die Kartons inspiziert, bis es fünf Uhr war und sie ihren Kofferraum befüllen konnte, ohne den Eindruck einer Flucht zu erwecken.

„Hast du dich verfahren oder bist du schon auf dem Weg zurück?“

Genervt steckt sie das Handy ein.

»Verdammt. Wie spät war es jetzt?« Abermals zückt sie ihr Mobiltelefon; 7.06 Uhr. »Also Jenny, wir rauchen jetzt noch eine, danach legen wir los.« Sie öffnet die Balkontür, reckt die steifen Glieder und lehnt sich über die Brüstung.