Sonnengelb & Tintenblau oder: Der Sommer, in dem ich zu schreiben begann (Roman mit tollem Extra: 21 Schreibanregungen) - Barbara Zoschke - E-Book

Sonnengelb & Tintenblau oder: Der Sommer, in dem ich zu schreiben begann (Roman mit tollem Extra: 21 Schreibanregungen) E-Book

Barbara Zoschke

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Beschreibung

Verbinde deine Liebe zum Lesen mit deinem Talent zum Schreiben und tauche ein in einen Roman, der dich selbst zur Autorin macht! Die 13-jährige Edith verbringt die Sommerferien im Landhotel ihrer Oma. Doch schon kurz nach ihrer Ankunft erreichen sie dort geheimnisvolle Briefe mit Schreibaufträgen. Von wem sie kommen? Das weiß keiner! Überaus mysteriös das Ganze ... Doch nach kurzem Zögern greift sie zum Stift und hat schon ein Gedicht oder eine kleine Geschichte geschrieben! Bald wartet sie sehnsüchtig darauf, weitere Aufträge zu erhalten. Bis sie einen Liebesbrief an sich selbst verfassen soll. Eine wahre Schreibblockade bahnt sich an ...  Die perfekte Kombination aus Roman und Kreativbuch für alle, die gern schreiben (wollen)!

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Seitenzahl: 227

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Über das Buch

Die 13-jährige Edith verbringt die Sommerferien im Landhotel ihrer Oma. Doch so öde wie befürchtet, wird es gar nicht: Denn schon kurz nach ihrer Ankunft erhält sie sehr geheimnisvolle Schreibaufträge. Von wem sie kommen? Das weiß keiner! Überaus mysteriös das Ganze … Doch nach kurzem Zögern greift sie zum Stift und hat schon ein Gedicht oder eine kleine Geschichte geschrieben! Bald wartet sie darauf, weitere Aufträge zu bekommen. Bis sie einen Liebesbrief an sich selbst verfassen soll! Eine wahre Schreibblockade bahnt sich an … Die perfekte Kombination aus Roman und Kreativbuch!

Dies ist meine Geschichte

Von oben

Bruchbude

Wortakrobatin

Es kann losgehen

Matti, QUAD & SUP

Der Geschmack von Eis

Die Liste von den 10 Gründen

Frau Leisegang läuft langsam los

Der Spur achtsam bis zum Ende folgen

Die Geheimschrift und der neue Auftrag

Den Himmel vor lauter Herzchen nicht sehen

Kein Liebesbrief kommt sehr selten allein

Nichts geht mehr und mehr geht nicht

Alles auf Anfang, oder was?

Und jetzt bist du dran!21 (sehr geheimnisvolle) Schreibaufträge … oder: Wer schreibt, ist König*in

Akrostichon

Buchstabensalat

Automatisches Schreiben

Typen-Test

Traum-Training

Show don’t tell

Die Liste von den 10 Dingen

Automatisches Gedicht

Mach dir Notizen

Besondere Sätze

Lauschangriff

Schreibe einen Liebesbrief

Ich sehe was, was du nicht siehst

Geräusche des Morgens

Klingende Namen

Oma-Wörter

Konkrete Poesie

Intuitives Malen

Alla… Alle… Alliteration

Spannende Überschriften – packende Titel

Und alles, was dazwischen war

Achte auf dieses Symbol!

Es führt dich zu der passenden Schreibanregung im Anhang.

Die Sommerferien lagen vor mir wie das Vakuum, von dem unser Physiklehrer so besessen ist. Leer also. Herr Weidmann würde sagen: materiefrei.

Mir standen sechseinhalb ereignislose Wochen bevor.

Es gab keine Pläne.

Wir würden dieses Jahr nicht wegfahren, weil die Familienkasse nämlich auch materiefrei war.

BÄM.

Sosehr sich meine Eltern angestrengt hatten, Geld zusammenzukratzen – für Familienurlaub würde es nicht reichen.

Während sich Hannah und Leonie auf dem Weg zum Bus darüber unterhielten, was sie noch alles kaufen müssten – Sonnenöl, Aufladekabel, Flip-Flops, solche Sachen –, versuchte ich, nicht neidisch auf sie zu sein.

Was richtig anstrengend war.

Ich schluckte den bitteren Geschmack in meinem Mund herunter und grinste jedes Mal fröhlich, wenn sie mich ansahen. Sie sollten kein Mitleid mit mir haben. Und das hätten sie garantiert, wenn sie wüssten, was bei uns in Sachen Geld los war. Und auch sonst.

Kaum hatte ich das gedacht, hakte sich Leonie bei mir unter und fragte zum x-ten Mal: »Was macht ihr noch mal in den Ferien, Eddy?«

Das meinte sie nicht böse. Leo ist nur schrecklich vergesslich.

»Kommt darauf an, wie das Wetter so wird?!«, antwortete ich. Mein Tonfall sollte sie daran erinnern, dass sie sich wiederholte. Prompt schlug sie sich die Hand vor die Stirn.

»Ja, klar«, sagte sie. »Weiß ich doch.«

Den Kommt-darauf-an-Spruch hatte ich von meiner Mutter. Sie hatte ihn am Telefon gegenüber ihrer Freundin Dana gebracht. Es sollte sich so anhören wie: Bei gutem Wetter fahren wir an die Nordsee, bei einem Tief über Europa jetten wir spontan in die Karibik.

Haha.

Funktionierte aber super, der Spruch. Sowohl bei Dana als auch jetzt.

»Deine Eltern sind cool«, fand Hannah. »Die machen sich nicht dauernd so einen Kopf um alles. Meine reden jetzt schon ständig vom nächsten Jahr, weil sie Panik haben, sämtliche Hotels könnten ausgebucht sein, wenn wir uns nicht rechtzeitig kümmern. Wir wollen dann wahrscheinlich mal endlich nach …«

Weil uns ein Schüler vom Humboldt-Platz mit gesenktem Kopf auf dem Bürgersteig entgegenkam, ließ ich mich zurückfallen. Der Smombie sollte mich nicht umrennen. Hannah rief über die Schulter: »… nach Sydney zu meiner Tante.«

»Wow! Nobel«, fand ich. War’s ja auch.

Hannah streckte mir die Zunge raus, als hätte ich etwas Gemeines gesagt. Dann stupste sie Leonie an, plapperte, kicherte. Es ging bestimmt schon wieder um den Typen, den sie im Urlaub hoffentlich wiedersehen würde, am Strand.

Ich stellte mir vor, ich würde noch neben meinen Freundinnen hergehen und könnte mitreden, irgendwas von Sonne und Surfen labern.

Aber ich starrte nur von hinten auf Hannahs haselnussbraune Haare, die ihr nach den Sommerferien garantiert bis zum Po gewachsen sein würden. Darauf arbeitete sie schon seit einem Jahr hin, und es fehlten nur noch ein paar Zentimeter. Ich sah es förmlich vor mir: Wie die Mähne im heißen Sommerwind irgendeines italienischen Badeorts wehte und …

»Hallo? Bist du noch bei uns?«, lachte Hannah. Sie wedelte mit beiden Händen vor meinem Gesicht herum, als müsste sie mich aus einer Ohnmacht wecken. »Sie träumt schon wieder«, sagte sie leise zu Leonie. Sie klang wie eine verständnisvolle Ärztin, die über einen hoffnungslosen Fall spricht. »Lassen wir ihr noch einen Moment.«

»Was? Äh, ja klar bin ich bei euch«, gab ich zurück. »Wo soll ich denn sonst sein?«

Leonie legte den Kopf schief. »In deinen Gedanken?«, sagte sie. Dann verstrubbelte sie sich mit den Fingerspitzen den Pony. Ungelogen, das machte sie ungefähr fünfzigmal pro Minute.

Bestimmt würde sie wie jedes Jahr megablond und tiefbraun gebrannt aus dem Campingurlaub zurückkommen und aussehen wie eine blonde Brasilianerin. Die halbe Klasse, also alle Jungs und vielleicht auch ein paar Mädchen, standen auf Leonie. Aber sie war trotzdem immer unzufrieden mit ihrem Look. Oder tat zumindest so. Egal, sie würde jedenfalls irre was erleben, sich garantiert schon wieder unsterblich verlieben, den ganzen Tag französisch sprechen, Windsurfen …

Nur bei mir würde nach den Ferien alles beim Alten sein. Keine neue Frisur, denn anders als kurz stand mir einfach nicht; kein Wassersport (Stichwort »materiefrei«); ganz zu schweigen vom Verlieben. In wen denn bitte schön? Es waren ja alle verreist. Ich musste mit meinen mies gelaunten Eltern zu Hause bleiben, die sich neuerdings ständig anätzten.

Plötzlich rannte Hannah los. »Der Bus!«, schrie sie.

Leo drehte sich zu mir um: »Komm, Eddy, den kriegen wir noch!«

Aber statt loszurennen, blieb ich stehen. Wie angewurzelt, so sagt man doch. Ich konnte nichts dagegen tun. Es fühlte sich an, als würde ich festgehalten von irgendwas in mir drin. Zig Leute von meiner Schule, die den Bus bekommen wollten, rempelten mich im Vorbeilaufen an. Aber das störte mich nicht, ich schwankte nur ein bisschen wie ein dünner Baum im Wind.

Ich sah, wie der Bus hielt und sich alle Schüler vom Heisenberg auf einmal durch die Türen quetschten. Sie wollten so schnell wie möglich weg von der Schule. Das Jahr hinter sich lassen. Einen Strich unter die Sache machen. In die Ferien fahren.

Logisch.

Nur ich wollte hier nicht weg. Denn solange ich noch in Schulnähe war, konnte ich mir einreden, die Ferien hätten noch nicht richtig begonnen. Ich blieb sozusagen an der Kante zum Abgrund stehen, anstatt von sicherem Boden aus ins Nichts zu springen.

»Eddy, los, komm schon!« Hannah war in der Bustür stehen geblieben, damit sie nicht zuginge, bis ich endlich angerannt käme. Aber sie wurde von nachrückenden Schülermassen in den Bus gedrückt, sodass sich die Tür mit einem Schmatzen schloss, bevor ich überhaupt einen Schritt gemacht hatte.

Als der Bus an mir vorbeifuhr, kam mir kurz die Idee zu winken. Am besten total übertrieben fröhlich. Mit beiden Händen und den Armen weit über dem Kopf hätte ich einen Riesenscheibenwischer mimen können. Aber meine Arme waren schwer wie Blei. Ich bekam noch nicht mal die Hände hoch. »Macht’s gut!«, murmelte ich immerhin. Und: »Schreibt mir.« Was komplett überflüssig war, denn natürlich würden sie mir schreiben. Und ich ihnen. Wir schrieben uns andauernd und ständig, solange wir Guthaben und Netz hatten. Jetzt frage ich mich, was ich schon groß würde schreiben können. Langweilige Berichte von der Materiefreiheit. Überflüssige Nachrichten aus dem Nichts. Ich seufzte.

Hannah drückte Nase und Mund von innen an die Bustür und riss dazu die Augen weit auf. Sie sah aus wie ein gequälter Mops, während Leo, die hinter ihr stand, mir abwechselnd Kusshände zuwarf und fragend die Schultern hochzog. Eigentlich hätte es jetzt schön warm werden müssen in meinem Bauch, denn Leo und Hannah hatten nur Augen für mich. Sie ließen mich nicht los, sondern tackerten mich mit ihren Blicken auf dem Bürgersteig fest. Sie waren einfach die Besten und machten andauernd lauter so Beste-Freundinnen-Sachen, die mir zeigten, dass sie mich mochten. Wir drei waren wirklich die besten Freundinnen der Welt. Wir tickten gleich, lachten über dieselben Sachen, fanden dieselben Jungs und Mädchen süß oder blöd, mochten dieselben Filme und Bücher und keine Ahnung, wir drei gehörten einfach zusammen. Hoffentlich bliebe das auch so, wenn wir diesmal komplett unterschiedliche Ferien verleben würden, dachte ich.

Ich nehme an, dass sich die Freude über meine BFFs und die Angst vor den Ferien gegenseitig aufhoben. Denn in meinem Bauch tat sich nichts. Keine flatternden Schmetterlinge, die Freude signalisierten, aber auch keine rumpelnden Angst-Steine wie im Wartezimmer beim Zahnarzt. Ich fühlte nichts.

Plötzlich sah ich den vorbeifahrenden Bus von oben. Und mich, wie ich da als Einzige, als letztes Molekül von Hunderten sozusagen, zwischen Schule und Bushaltestelle rumstand und noch nicht einmal weinen konnte. Hatte sich jetzt vor lauter Unglück meine Persönlichkeit gespalten? War ich zwei?

Alle anderen Moleküle hatten sich von einem Luftstrom angesogen aus dem Staub gemacht und mich zurückgelassen. Ich war das gottverlassene einzige Atom im Universum.

Erst als der Bus mit quietschendem Gelenk um die Ecke gebogen war, konnte ich meine Beine wieder bewegen. Aber meine Augen blieben über mir. Sie beobachteten mich, als säßen sie in einer Scheißdrohne. Ich legte den Kopf in den Nacken und konnte mir dabei ins Gesicht gucken, obwohl natürlich keine Drohne – erst recht keine mit meinen Augen am Steuer – über mir schwebte. Am Himmel wurden die Wattewolken von unsichtbaren Händen auseinandergerupft und zogen als Flusen weiter.

An der Bushaltestelle setzte ich mich auf die Bank, streckte die Beine weit von mir und wartete darauf, dass meine Augen zurück in die Höhlen flutschten. Ich würde mich ja jetzt wohl nicht für den Rest meines Lebens von oben sehen müssen. Das konnte nicht so bleiben. Vielleicht half es, wenn ich die Augen kurz zumachte?

Kaum waren sie zu, hörte ich Phantomlaute: Das fehlende Stimmengewirr und aufgekratzte Rufen der Schüler begann in meinen Ohren zu hallen.

Krass.

Wie laut die Stille sein konnte, wenn sie so plötzlich da war. Oder ungewohnt für einen bestimmten Ort. Noch nie hatte ich alleine an der Bushaltestelle vor der Schule gesessen.

Ganz entfernt konnte ich das Rauschen der Autos hören, die über die Rhein-Brücke fuhren, irgendwo hinter mir donnerte jemand ein Fenster zu, im Park gegenüber bellte ein Hund, ein Handy klingelte. Ich drückte die Hände auf die Augen.

Ich wollte nicht weinen.

Die Minuten verstrichen. Als das Salz auf meinen Wangen zu brennen begann, wischte ich die Tränen mit den Handrücken weg und atmete so lange wie möglich aus. Dann, ganz vorsichtig, machte ich die Augen wieder auf.

Meine Beine in der löchrigen Jeans, meine Füße in den ehemals weißen Sneakern, unter einer Ferse ein verwittertes Bus-ticket. Der Asphalt übersät mit Kaugummiflecken. Ich sah alles von genau der Stelle aus, an der ich saß.

»Wo bleibst du denn?« Meine Mutter stand in der offenen Wohnungstür und guckte mir vorwurfsvoll entgegen, als ich die Treppe hochkam.

»Bus verpasst.«

»Hättest du nicht anrufen können? Oder wenigstens an dein Handy gehen? Wir dachten, es wäre was passiert.«

Seit mindestens zwei Monaten hielt der Akku von meinem Handy nach dem Laden nur noch für maximal 4 Stunden, dann war er leer. Aber ich hatte keine Lust, das schon wieder zu erklären. Meine Mutter könnte sich das ja auch mal merken. Oder mir endlich ein neues Handy kaufen! Sie trat zur Seite, um mich reinzulassen und schloss hinter mir die Tür.

»Schön wär’s«, murmelte ich.

»Na, hör mal«, sagte sie. »Nach der Zeugnisausgabe passiert immer so viel. Findest du das etwa witzig?«

Natürlich nicht. Ich trottete den Flur entlang Richtung Küche. Weil ich nicht antwortete, fuhr sie fort: »Jedes Jahr tun sich etliche Kinder etwas an, weil sie schlechte Noten auf dem Zeugnis haben.« In der Küche überholte sie mich und drehte die Temperatur am Herd runter.

Ich grunzte verächtlich. Als ob ich wegen schlechter Noten von der Brücke springen würde. Da fielen mir spontan ganz andere Gründe für so was ein: dauerstreitende Eltern, eine leere Familienkasse, ein uraltes Handy, langweilige Ferien …

»Nein, du doch nicht«, sagte meine Mutter, Rike Gedankenleserin Feuerbach, zur Herdplatte. »Aber keine Ahnung, hätte doch sein können, dass jemand aus deiner Klasse …«

»Mama!«, unterbrach ich sie. »Aus meiner Klasse haben alle die Zeugnisse überlebt. Beruhig dich.« Keine Ahnung, was mit meiner Mutter in letzter Zeit los war, sie war kein bisschen cool, da irrte sich Hannah gewaltig. Sie war nervös, zickig, machte andauernd Drama wegen nichts. Ich hatte den Bus verpasst und war danach noch ein bisschen rumgelaufen. Wo war das Problem?

Ich kramte mein Zeugnis aus dem Rucksack, überreichte es ihr mit der einen, hob mit der anderen Hand den Deckel von der Pfanne. »Hmm, Pfifferlinge.«

Meine Mutter warf einen Blick auf die sieben Dreien und zwei Zweien (Sport und Kunst) auf meinem Zeugnis. Sie lächelte, »Ist doch ganz ordentlich«, fand sie. Vielleicht aus Angst, ich könnte mich doch noch umbringen, wenn sie unzufrieden mit einem Schnitt von knapp unter Drei wäre, fügte sie noch hinzu: »Ich wäre froh, in der siebten Klasse so ein Zeugnis gehabt zu haben.«

»Wollen wir dann essen?«, schlug ich vor. Ich hatte Hunger. Und definitiv keine Lust auf ihre Mutmachgeschichten. Ich war in allem »geht so«, daran hatte ich mich längst gewöhnt.

Meine Mutter nickte. »Dann hol mal bitte deinen Vater. Er liegt nebenan im Wohnzimmer und schläft schon wieder.« Sie verdrehte die Augen, weil sie das scheinbar nervte. Keine Ahnung, wieso, das machte mein Vater nämlich immer schon. Ich kannte das gar nicht anders: In der Mittagspause kam er aus seinem Atelier ein Stockwerk tiefer, legte sich für ein kurzes Nickerchen aufs Sofa und war danach wieder topfit.

»Für die zweite Schicht«, wie er immer sagte.

Als ich noch in der Grundschule war, habe ich mich nach dem Unterricht manchmal zu ihm aufs Sofa gelegt, bis es Mittagessen gab. Dann hat er mir von den Häusern erzählt, die er gerade fotografierte; wie sich das Licht in den Fensterscheiben spiegelte, die Farben der Fassaden gewählt oder die Gärten angelegt waren. Oder er berichtete von schwierigen Auftraggebern, die nie zufrieden mit seinen Porträts waren, weil sie sich selbst darauf nicht gefielen. Ich konnte nicht genug von seinen Geschichten kriegen.

Seit ich auf die Gesamtschule ging, hatten wir für unsere »Sofagespräche«, wie mein Vater das immer genannt hatte, keine Zeit mehr. Wenn ich aus der Schule kam, war die Mittagspause meines Vaters schon zu Ende. Wir aßen höchstens noch ganz schnell zusammen, aber auch das eher selten.

»Na, Eddylady?!« Mein Vater setzte sich auf, sah mich prüfend an, runzelte die Stirn ein ganz klein wenig, schlug dann neben sich aufs Polster. »Komm mal her zum alten Mann.«

Ich fühlte, wie es in meinem Hals eng wurde. Schnell kuschelte ich mich an meinen Vater, vergrub das Gesicht an seiner Schulter und seufzte tief. Wahrscheinlich war es sein Geruch oder die Art, wie er Eddylady sagte oder mich gerade eben angesehen hatte, die schlechte Laune meiner Mutter, die ich jetzt die ganzen Ferien über ertragen musste, oder alles zusammen: Die Tränen liefen einfach wieder aus meinen Augen, wie ein kleiner salziger Fluss, der zu lange gestaut worden war.

Was hätte ich jetzt darum gegeben, 10 Jahre jünger zu sein. Mit drei hätte ich meinem Vater auf den Schoß krabbeln und mich von ihm trösten lassen können. Er hätte mich wiegen, mir die Haare aus der Stirn streichen, beruhigende Geräusche machen und die Traurigkeit wegpusten können. »Erzählst du mir was?«, fragte ich.

Mein Vater nickte. »Oh ja, ich erzähle dir was. Aber erst erzählst du mir was.«

Was sollte ich denn erzählen? Dass ich so traurig war, weil ihm der dicke Auftrag durch die Lappen gegangen war und wir deshalb so heftig sparen mussten, dass der Urlaub ausfiel? Dass ich Angst hatte vor der vielen Zeit in materiefreier Einsamkeit?

»O. k., verstehe«, sagte mein Vater, weil ich stumm blieb. »Zeugnis denn o. k.?«

Ich nickte und sagte: »Alles im grünen Bereich.« Das war unser Code für »Keine Versetzungsgefahr.«

»Hellgrün oder Dunkelgrün?«, fragte mein Vater nach.

»Hellgrün«, antwortete ich und zeigte auf die Äpfel im Obstkorb auf dem Tisch. »Grannysmithgrün, würde ich sagen.« Und das stimmte sogar. Die meisten Dreien waren knapp verpasste Zweien, nur in Deutsch hätte ich fast eine Vier bekommen. Satzlehre, Rechtschreibung, Märchen und Fabeln interpretieren – das war echt nicht mein Ding. Vor allem nicht bei der alten Medenwald, die sich, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, immer in ihrem Gebiss rumfriemelte. Sie schrieb mir unter fast jede Arbeit, dass ich die Aufgabenstellung besser lesen sollte.

»Na, siehst du.« Mein Vater tätschelte mir den Kopf. »Das ist doch die Hauptsache.«

So ein Quatsch, dachte ich. Die Hauptsache ist, dass man in die Sommerferien fährt. Aber das sagte ich nicht. Papa sollte sich nicht schlecht fühlen. Er hatte den Auftrag ja nicht absichtlich verloren, auch wenn meine Mutter irgendwie so tat.

»Kommt ihr jetzt bitte?«, rief sie da aus der Küche. »Das Essen wird sonst kalt.«

Ich spürte, wie sich die Bauchmuskeln meines Vaters anspannten, weil er aufstehen wollte. Sanft drückte ich ihn zurück. »Du wolltest mir doch noch was erzählen.«

»Die Oma hat angerufen«, flüsterte er mir ins Ohr. »Aber ich erzähle erst in der Küche weiter, denn das wird die Rike auch interessieren.«

Dass mein Vater meine Mutter mir gegenüber beim Vornamen nannte, war ziemlich neu. Seit wann machte er das eigentlich?

Wir hatten die Nudeln noch nicht auf dem Teller, da bohrte ich schon weiter. »Und, was hat die Oma jetzt gesagt, Papa?«

»Wieso die Oma?«, fragte meine Mutter.

Mein Vater lächelte in seinen Teller, bevor er verkündete: »Oma hat gefragt, ob du in den Ferien für eine Weile zu ihr kommen willst.«

»Nach Wiesendorf?«, fragte ich. »In dieses Kaff? Was soll ich denn da?«

Meine Mutter schüttelte den Kopf. »Aber echt, Erik. Da ist ja nun wirklich der Hund begraben. Und wieso weiß ich davon nichts? Du hättest …«

Mein Vater unterbrach sie. »Ich stelle mir das eigentlich ganz spannend vor. Mit den unterschiedlichen Gästen und …«

»Mhm«, machte Mama. »Du meinst Rentner auf Urlaub, Frauen Ü 50 und Familien mit Kleinkindern? Du hättest vorher mit mir darüber reden müssen, Erik.«

Papa schloss kurz die Augen und atmete den Einwand weg. Er sah mir tief in die Augen. »Für eine oder zwei Wochen. Du könntest Oma ein bisschen im Hotel helfen, Frühstück servieren, Betten machen, …«

»Ach, so weit sind wir also schon, dass unsere Tochter in den Ferien arbeiten muss.« Mama schob ihren Stuhl zurück und stand auf. Sie stellte sich mit dem Rücken zu uns an die Spüle.

»Rike!«, sagte mein Vater. »Musst du das denn wieder so negativ sehen? Ich finde das Angebot …«

»Angebot?!«, schrie meine Mutter. Sie wirbelte herum. Ihre Stimme überschlug sich fast. »Kinderarbeit ist das.«

Ich starrte auf meinen Teller, während sich meine Eltern anbrüllten. Ihre gegenseitigen Vorwürfe wurden immer heftiger, ihre Stimmen immer lauter, und ich wurde immer unsichtbarer für sie. Ich könnte mich jetzt in Luft auflösen, sie würden es garantiert nicht bemerken. Versuchsweise stand ich auf. Sie schrien weiter.

Ich ging raus, schnappte mir das Telefon, schmiss in meinem Zimmer die Tür hinter mir zu und warf mich aufs Bett. Alles wäre besser als diese Stimmung. Ich ließ es sechsmal klingeln, dann nahm Oma endlich ab. »Mini-Hotel Wiesendorf, wie können wir Ihnen helfen?«

»Hi Oma, hier ist Eddy«, sagte ich. »Wann kann ich kommen?«

»Eddylein!« Oma kam aus der Küche geschossen, schmiss den Kochlöffel auf die Rezeption, zog mich an sich.

Ich atmete tief ein. Wie gut sie roch! Hatte ich das wirklich vergessen? Diese Duftmischung aus Blumen und warmem Holz auf ihrer Haut gehörte doch einfach zu ihr, seit ich denken konnte.

Oma packte mich an den Schultern und schob mich von sich weg, um mich an ausgestreckten Armen gründlich betrachten zu können.

Ich betrachtete sie gründlich zurück. Und lobte sie: »Wie chic du wieder bist!« Meine Oma trug ihre silbrig weißen Haare super kurz und fransig geschnitten, die grüne Brille passte perfekt zu ihren blitzenden Augen und zum lässigen Kleid, das ihr knapp bis über die Knie reichte. »Ha! Du hast ja dieselben Sneaker wie ich«, rief ich mit Blick auf ihre Füße.

Oma schob ihre blütenweißen Schuhe neben meine mittlerweile grauen und sah zu mir hoch. »Sag mal, bist du schon wieder gewachsen?«

Ich grinste nur. »Kann schon sein.«

Dann wollte Oma wissen, was alles seit Weihnachten passiert war, als wir uns zuletzt gesehen hatten. Und natürlich wie die Zugfahrt verlaufen ist, ob der Taxifahrer pünktlich am Bahnsteig war, wie sie es ihm aufgetragen hatte, und ob ich Hunger hätte. Sie führte mich an der antiken hohen Kommode vorbei, die zur Hotel-Rezeption umfunktioniert war, durch eine niedrige Tür in den Speiseraum.

»Um dein Gepäck kümmert sich gleich die Svenja«, sagte sie leichthin, als ich mich nach meinem Koffer, dem kleinen Rucksack und der Badetasche umdrehte, die im Flur standen.

»Die Svenja?«, fragte ich.

»Svenja ist Zimmermädchen, Köchin, Klempnerin und Schreinerin in einem. Sie kann einfach alles.«

»Seit wann arbeitet sie denn bei dir?«, wollte ich wissen.

»Sie möbelt vor allem den alten Schuppen auf«, sagte Oma. »Aber jetzt komm, schau dich erst mal um, warst ja ewig nicht mehr hier. Was macht denn die Schule? Davon hast du noch gar nichts erzählt. Ach, wie ich mich freue, dass du mal wieder da bist, wie lange ist es her?«

Vier Jahre war es her. Gleich nachdem Oma das alte Fachwerkhaus gekauft hatte, waren wir in den Sommerferien hier gewesen und hatten ihr geholfen, alles einzurichten. Danach nie wieder. Oma war in der Zwischenzeit zwar mehrmals in Köln gewesen, und Papa fuhr regelmäßig zu seiner Mutter nach Wiesendorf, aber wir drei als Familie zusammen hatten es seitdem nicht mehr hierhergeschafft.

Die fünf ovalen, blank polierten Kaffeehaustische im Speiseraum waren mit unterschiedlichen Stühlen umstellt, die Oma auf Flohmärkten gekauft hatte. Bunte Sträuße in großen Vasen verströmten einen Duft nach Wildblumenwiese. Wieder atmete ich tief ein, das roch so lecker!

»Frisch und selbst gepflückt«, erklärte Oma.

Die alten Holzdielen knarrten, als ich darüberging. Man merkte echt, dass das hier ein Denkmal von achtzehnhundertirgendwas war. Die dunklen Dachbalken schwebten so nah über meinem Kopf, dass ich mit der Hand fast drankommen würde, ohne mich auf die Zehenspitzen stellen zu müssen. Die Menschen mussten damals bedeutend kleiner gewesen sein als wir heute. Durch die schmalen Sprossenfenster mit der davorliegenden Sonnenterrasse blickte ich im Garten auf eine Wiese voller Klatschmohn, an den Rändern wuchsen Stockrosen, es gab eine Kräuterspirale, ein Hochbeet und jede Menge Pflanzentöpfe auf einer kleinen Steinterrasse mit Feuerschale und hinter einem niedrigen Zaun entdeckte ich Salatköpfe und Erdbeeren und was weiß ich noch alles in einem Gemüsegarten.

»Wow!«

»Die Gäste sind um diese Uhrzeit alle ausgeflogen«, erklärte Oma. Sie zwinkerte mir zu. »Wir sind ausgebucht, stell dir vor, bis aufs letzte Bett! Die Hüschs aus der Eins sind bestimmt am See. Die Zwei ist von Frau Leisegang belegt. Sie ist ganz für sich und braucht vor allem ihre Ruhe.« Oma schaute mich über die Brille hinweg an, senkte die Stimme, als könnte uns diese Frau Leisegang hören. »Ihr Name ist Programm. Von der siehst und hörst du nichts. Sie sitzt halbe Tage in ihrem Zimmer herum. Oder wandert ins Dorf runter. Ich glaube, die kennt da jemanden.« Oma drückte den Rücken durch. »Und oben im Apartment ist Familie Bertram untergebracht. Ihr kleiner Anton ist drei, und sie sind wieder schwanger.«

Während Omas Worte wie frisches Quellwasser sprudelten, ging ich hinaus auf die Terrasse. Ich lehnte mich ans Geländer und ließ den Blick über die grünen Hügel und Felder bis hinunter zum Hennensee wandern. Meine Hoffnung, dass unter den Gästen ein Mädchen oder Junge in meinem Alter wäre, hatte sich also schon zerschlagen. Mama behielte vielleicht recht. Ich würde mich hier zu Tode langeweilen.

Schreibauftrag Nr. 15

»Wir haben sogar wieder Fische im See. Berg holt jedes Jahr mehr raus.«

»Und die Hängematte!«, rief ich. »Dass du die noch hast!« Zwischen Apfel- und Zwetschgenbaum im Garten hing tatsächlich immer noch das rotblau gestreifte Tuch, in dem ich beim ersten und letzten Besuch im Mini-Hotel ganze Tage gelegen und gelesen hatte, wenn ich nicht im See planschte oder mit anderen Kindern Verstecken spielte. Die Erinnerungen an den lang zurückliegenden Sommer überfielen mich beim Anblick des Stoffmusters wie aus dem Nichts. Als hätten sie in der Hängematte geschaukelt und auf mich gewartet. Damals hatten Mama und Papa sich noch nicht so oft gestritten.

Ich drehte mich zu Oma um. »Berg? Meinst du den Jungen, mit dem ich vor vier Jahren gespielt habe? Gibt’s den noch? Und wie hieß noch mal der andere? Der mit dem tollen Fahrrad!«

»Matti?« Oma legte wieder einen Arm um meine Schulter. »Ja, die gibt es beide noch. Berg hilft seinen Eltern mittlerweile. Er bringt uns jetzt immer die Brötchen und Eier zum Frühstück. Du kannst ihn morgen wiedersehen, wenn du früh genug aufstehst.«

Ich nickte. »Ja, mal sehen.«

»Er meinte, dass er die ganzen Sommerferien über hier bleibt. Er angelt viel, ein netter Junge, und er würde dich sicher auch mal mitnehmen zum See.« Oma lächelte mich aufmunternd an.

»Oma«, sagte ich amüsiert. »Ich brauche keinen Babysitter!«

Oma wackelte mit dem Kopf wie eine Inderin. Ja. Nein. Ja. »Natürlich nicht«, gab sie zu. »Aber ihr könnt doch mal etwas zusammen unternehmen?! Du willst doch nicht die ganze Zeit mit uns alten Leuten zusammen sein.«

Nein, das wollte ich tatsächlich nicht. Aber trotzdem suchte ich mir meine Freunde ganz gern selbst aus. Oma legte den Kopf schief und zog eine Schnute. Sie drückte mich an sich. »Ich hab’s nur gut gemeint«, sagte sie. »Wenn du Berg doof findest, schieß ihn einfach zum Mond, ok?«

Ich grinste.

»Na, da schau her!« Plötzlich stand eine Frau unter der Terrasse und strahlte uns an. Sie hatte megablonde Haare. So blonde Haare hatte Leonie immer erst nach dem Sommer. Ihre Augen waren genauso blau wie Omas Augen grün. Sie trug eine kurze Jeans und ein ziemlich verwaschenes T-Shirt. »Du bist bestimmt Eddy, oder?! Herzlich willkommen.« Unter dem einen Arm trug die Frau einen vollen Wäschekorb mit Handtüchern, mit dem anderen winkte sie. »Ich bin Svenja.«

»Bringst du ihr bitte den Koffer rauf?«, fragte Oma.

Svenja nickte. »Ich will nur noch kurz nachsehen, warum die Waschmaschine schon wieder spinnt.« Sie hob die freie Hand mit weit gespreizten Fingern. »In fünf Minuten bin ich oben.« Dann verschwand sie mit dem Korb über die Außentreppe im Keller.

Oma wandte sich an mich. »Ich muss zurück in die Küche, das Abendessen vorbereiten. Am besten gehst du mit Svenja hoch und richtest dich schon mal ein, ja?« Im Gehen drehte sie sich noch mal um. »Bettenbeziehen kannst du, oder?«

»Na klar!«

Während Oma im Haus verschwand, hielt ich mein Gesicht in die Sonne. Fünf Minuten: So lange konnte ich das gute Wetter ausnutzen. Wenigstens ein bisschen braun werden, das würde ja wohl klappen in diesem Urlaub. Gerade als es mir schon fast zu heiß wurde, ging über mir ein Fenster auf. »Kommst du, Eddy?«, rief Svenja hinunter. »Die Bruchbude wartet.«

Mit der Hand über den Augen schaute ich an der strahlend weiß getünchten Fachwerkfassade hoch, aber Svenja hatte das kleine Fenster in der ersten Etage schon wieder zugemacht. Hatte sie wirklich Bruchbude