Sonnenschein schmeckt köstlich - Anita Kluba - E-Book

Sonnenschein schmeckt köstlich E-Book

Anita Kluba

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Beschreibung

Ana reist nach Venedig - allein, aber wild entschlossen, sich davon nicht die Laune verderben zu lassen. Ein Paar helle Augen und ein Schubs des Schicksals bereiten ihrem angegrauten Alltag ein willkommenes Ende. Danilo birgt zwar mehr als eitel Sonnenschein, aber Ana ist seit langem die Erste, die sich nicht davon abschrecken lässt. Zuhause in Deutschland hat Anas Großmutter Trix für jedes Problem eine Lösung parat. Die Bürde des Alters trägt sie resolut, ohne sich die Butter von den mundgerechten Häppchen nehmen zu lassen. Ein Herzenswunsch hat sich für Trix bislang trotzdem nicht erfüllt. Nun liegt es an Ana und Danilo. Wenn sie es richtig anstellen, werden alle Bärbeißigen, Weggelaufenen und Wagemutigen am Ende da ankommen, wo sie hingehören.

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Ich bedanke mich mit diesem Buch bei allen, die mir früher immer Geschichten erzählt haben.

Inhaltsverzeichnis

Teil 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Teil 2

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Teil 3

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Teil 1

1

Ana stand einem schlecht gelaunten Italiener im Schlafanzug gegenüber und zweifelte an ihrer Zurechnungsfähigkeit. Sie hatte sich davon überzeugen lassen, dass diese Reise ihr zustand, ja dass es als emanzipierte Frau praktisch ihre Pflicht war, die Reise auch allein anzutreten. Diese Überzeugung war irgendwo zwischen der zehnten und fünfzehnten Brücke, die sie an diesem Abend leise schimpfend mit ihrem Gepäck überquert hatte, verloren gegangen. Sie hegte den sehnlichen Wunsch, dass derjenige, der in diesem beschaulichen Teil Venedigs für die Vergabe von Straßennamen und Hausnummern verantwortlich war, für seine Untat zur Rechenschaft gezogen werden möge. Nach ihrem Geschmack würde dies bedeuten, auf ewig zwischen dem Campo della Contarini und der Calle Contarina hin und her zu irren und darüber zu verzweifeln, dass auf die Hausnummer 561 die 564 folgte. Sie war deutlich nach der vereinbarten Zeit in der kleinen Pension eingetroffen, was der Inhaber sie spüren ließ. Man könnte meinen, das Klingeln an der Tür habe ihn geweckt, dabei war sich Ana sicher, dass das Dröhnen ihres Rollkoffers auf den unebenen Steinen, welches in den engen Gassen erbarmungslos widerhallte, ihr Kommen schon vor mehreren Minuten angekündigt hatte.

Sie wuchtete ihren Koffer eine schmale Stiege hinauf und schürfte sich dabei an der Wand den Ellenbogen auf. In ihrem Zimmer angekommen, machte sich Ana gar nicht erst die Mühe, das Licht einzuschalten. Sie ließ sich direkt auf das Sofa im Gang fallen, das freundlich ächzte und sie beinahe in den bauschigen Kissen verschwinden ließ. „Ich mach nur kurz die Augen zu“, sagte sie sich.

Einige Stunden später jagte ein Heer von tobsüchtigen Italienern mit Nachtpantoffeln sie unter unflätigen Flüchen durch die Gassen der Stadt. Als sie aus dem Traum hochschreckte, war es jedoch nur das Kreischen der Möwen, das den Anbruch eines neuen Tages ankündigte. Ana grub sich aus den geblümten Kissen und ordnete ihre Glieder, die auf dem weichen Polster ihren angestammten Platz vergessen zu haben schienen. Sobald ihr alle Körperteile wieder gehorchten, öffnete sie die Fensterläden.

Mit den Händen auf das morsche Fensterbrett gestützt, sah sie hinunter auf einen schmalen Kanal. Zu beiden Uferseiten waren schlichte, kleine Boote befestigt. Angesichts der Tatsache, dass diese Boote hier Fahrrad und Auto ersetzten, fragte Ana sich, ob sie während ihrer Tage hier wohl auch dazu kommen würde, eine Ausfahrt zu wagen.

Keine Armeslänge zu ihrer Rechten baumelte ein Knäul aus Elektroleitungen. Eines der Kabel überquerte von hier aus den Kanal und verlief zum gegenüberliegenden Haus. In besagtem Haus wurde soeben jemand durch einen unwirsch klingenden italienischen Wortschwall geweckt, der durch das offene Fenster hinübergetragen wurde.

Zufrieden nahm Ana diese Eindrücke auf und war erleichtert, dass die Stadt zumindest auf den ersten Blick nicht der aalglatten herausgeputzten Touristenhochburg zu entsprechen schien, die sie halb befürchtet hatte.

Vor ihr lag ein Tag, den sie frei nach ihren Wünschen gestalteten konnte. Allerdings war sie eher ratlos, wie er aussehen sollte.

Auf der Hauptpromenade war es bereits ziemlich wuselig. Zuhause, in der eintönigen Regelmäßigkeit ihres Alltags, hatte sie sich nach Unterhaltung und Abwechslung gesehnt. Neben ihrem Vollzeitjob sorgte sie daheim für ihre Großmutter und allmählich hatte sie das schlechte Gefühl, keiner der beiden Aufgaben mehr gerecht werden zu können. Vor ihrem inneren Auge hatte sie sich hier in Venedig bildungshungrig den Dogenpalast erkunden und über den Markusplatz flanieren sehen. Jetzt, da sie tatsächlich für ein paar Tage von ihren Pflichten befreit war, schien dieser Kulturdrang jedoch wie weggeblasen. Sie hatte auch schlicht keine Lust, sich von der Herde von Urlaubern auf die Füße steigen zu lassen. Alles was sie wollte, war Ausruhen. Aber die wenige Zeit, die sie in einer der höchstgepriesenen Städte überhaupt zur Verfügung hatte, auf dem Zimmer abzusitzen, wäre zugegebenermaßen eine Straftat.

Allmählich verdarb ihre eigene Antriebslosigkeit Ana die Laune. Wenn ihr Elan schon nicht für Besichtigungstouren reichte, dann wollte sie wenigstens schwimmen gehen. Zuhause war das Wasser schon zu kalt zum Baden und sie vermisste das Gefühl von Salz auf der Haut. Vielleicht würde ja eine Runde schwimmen ihre Lebensgeister erwecken.

Dieser Entschluss wurde jedoch von den zahlreichen Badeverbotsschildern, die spottend hinter jeder Ecke lauerten, auf die Probe gestellt. Na toll! Wer seine Zehe ins Wasser tunken wollte, musste sich wohl oder übel von der Hauptinsel herunterbewegen. Gnatzig machte sich Ana auf den Weg.

“Buongiorno. Quando parte l’autobus?“

Zögerlich hob sie ihren Kopf.

Vor ihr stand ein Mann mit einem schmalen Gesicht und sonnenverbranntem Nasenrücken. Die marineblaue Anzugsjackeund das weiße Hemd erinnerten an einen Matrosen.

Ana sprach fließend Spanisch, weshalb sie die italienische Frage mit etwas Mühe und Zusammenreimen durchaus verstehen konnte. Aber vielleicht half es in diesem Moment ja, sich dumm zu stellen.

Jedoch wiederholte er angesichts ihres Schweigens auf Englisch: „Wann fährt der Bus ab?“

Da sie bereits im Bus saß und auf die Abfahrt wartete, war sie in seinen Augen wohl auskunftsberechtigt. Allerdings war sie weder ein wandelnder Busfahrplan noch erpicht auf Plaudereien.

„Ich weiß nicht“, antwortete Ana und schaute demonstrativ wieder aus dem staubigen Busfenster.

„Wo kommst du her?“

Sie spürte seinen Blick auf sich ruhen und fing diesen auf. Seine braunen Augen waren außergewöhnlich hell. Der Farbton lag eher irgendwo zwischen braun und gelb - wie Ostseebernstein vielleicht. Ana beglückwünschte sich im Stillen dazu, in den Augen des erstbesten schönen Mannes, den sie traf, praktisch zu ertrinken - sehr emanzipiert.

„Aus Deutschland“, gab sie grummelig zurück.

Um diese Zeit am späten Morgen war der Bus auf der Insel Lido praktisch leer. Der Busfahrer stand draußen und unterhielt sich angeregt mit dem Betreiber des Gemischtwarenladens. Niemand beachtete die beiden besonders. Ana rutsche nervös auf ihrem Plastiksitz herum und umklammerte ihren Beutel. Bei ihrem Glück wurde ihr die Tasche samt Bikini darin abgeluchst, bevor sie einen einzigen Zeh in den Strandsand gebohrt hatte.

Aus den Augenwinkeln sah sie, dass der neugierige Fremde ihren Argwohn bemerkt hatte und amüsiert seine Brauen hochzog.

Prompt wurde Ana rot und ärgerte sich darüber, dass sie sich so schnell aus der Fassung bringen ließ.

Anstatt nach dem Fahrplan zu suchen, lehnte der Mann sich neben ihr an die dünne Außenwand des Busses, die Knöchel entspannt überkreuzt. „Und aus welcher Stadt?“

Nun war sie nicht länger genervt von sich selbst, sondern viel mehr von ihm. Mit einem kleinen Schnaufen erwiderte sie: „Aus einer kleinen Stadt in der Nähe von Lübeck. Das ist an der Küste.“

Unbeeindruckt von ihrem abweisenden Verhalten nickte er anerkennend.

Um schwer beschäftigt zu wirken, fing Ana an, ihre Sonnenbrille mit einem Zipfel ihres T-Shirts zu putzen.

„Ich kenne jemanden in Hamburg“, sagte er und deutete mit seinem Sonnenhut aus gestreiftem Leinen in der Hand in die Himmelsrichtung, in der er die Stadt zu vermuten schien.

„Aha.“

Je länger die darauffolgende Stille anhielt, desto unbehaglicher fühlte sie sich. „Venedig ist schöner als Hamburg, nicht wahr?“, platze sie schließlich heraus.

„Mag sein. Allerdings komme ich aus dem schönsten Ort überhaupt“, behauptete er und zwinkerte ihr zu. „Ich bin gebürtiger Kroate.“ Er schien es für angemessen zu halten, dies einen Moment wirken zu lassen.

„Bist du schon einmal in Kroatien gewesen?“

„Ich denke nicht.“ Sie musterte seine Locken, die im hellen Morgenlicht wie Kupferdraht glänzten und dachte bei sich, dass sie sich so nicht den typischen Kroaten vorgestellt hätte. Aber zugegebenermaßen sah sie mit ihrem dunklen Teint ja selbst auch nicht wie die prototypische Deutsche aus.

„Ich bin in Zadar aufgewachsen. Deshalb sind meine gesamten Kindheitserinnerungen geradezu sonnengeflutet. Hast du es schon mal geschafft, an einem klaren Sommertag einen ganzen Strand für dich zu haben? Eine schroffe Felswand schützend im Rücken und das nackte Meer so weit das Auge reicht?“

„Sehe ich aus, als sei ich so ein Glückspilz? Ich schaffe es ja noch nicht einmal, morgens ungestört mit dem Bus zu fahren“, schnaubte Ana.

Diese, seine Person betreffende, vorwurfsvolle Bemerkung erheiterte ihn merklich. Er legte beim Lachen leicht den Kopf in den Nacken und gab so den Blick auf seine apart geschwungene Kieferpartie frei, für die so manches Chanel-Model einen Finger geopfert hätte.

Anscheinend verbrachte er aber seine Zeit lieber hinter der Kamera, denn als er sich wieder beruhigt hatte, fuhr er fort: „Wenn man jedenfalls vor so einer Kulisse groß wird, kann man gar nicht anders, als zu versuchen, die Schönheit um sich herum einzufangen. Deshalb habe ich mit dem Fotografieren angefangen.“ Er richtete seinen Hemdkragen. „Jetzt dauert es nicht mehr lange und ich werde meine Bilder in einer Galerie ausstellen.“ Abwartend sah er Ana an.

Seine Augen, die bei der Beschreibung von Zadar noch geleuchtet hatten, wirkten auf sie nun leer und ausdruckslos. Da musste etwas faul sein. Ana zog die Brauen zusammen und beugte sich gleichzeitig nach vorne, als könnte sie ihn mit geringerem Abstand besser durchschauen. „Das ist nicht wahr, oder?“, fragte sie unumwunden und suchte in seinen Bernsteinaugen nach einer Antwort.

Aber zum ersten Mal seit sie sich begegnet waren, wandte er seinen Blick nun länger ab. Sie konnte sehen, dass er auf der Innenseite seiner Wange kaute.

Als er sie wieder ansah, lag seltsamerweise so etwas wie Erleichterung in seinen Augen.

„Ich bin Danilo“, er bot ihr seine Hand an.

„Ana“, sagte sie nach einem kurzen Zögern und ergriff seine Hand.

Lächelnd redete er sogleich wieder auf sie ein, ohne noch mal auf die aufgeflogene Schwindelei einzugehen. „Weißt du was, auf einer Nachbarinsel ist zurzeit eine Ausstellung, Homo Faber, noch bis zum Dreißigsten. Sie ist außergewöhnlich, wirklich.“ Er stieß sich von der Wand ab.

„Es geht um die verschiedensten Arten der Handwerkskunst hier in der Region“, sagte er und spreizte seine eigenen Finger. „Pozzolis Fotografien von venezianischen Künstlern sind gewaltig, sie laden uns ein.“ Er deutete nun auf seine Brust. „Lass uns doch gemeinsam hingehen!“

Überrumpelt starrte Ana ihn an. Diesmal konnte sie ihn nicht recht durchschauen - war es ihm ernst oder spielte er nur ein Spielchen mit ihr?

„Ich denke … lieber nicht.“

„Du möchtest nicht?“, fragte er mit gerunzelter Stirn.

Ana schaute weg.

Als sie dem Gesagten nichts mehr hinzufügte, schüttelte er merklich enttäuscht den Kopf.

Für einen Moment waren beide still.

„Ich werde nachsehen, ob das der richtige Bus für mich ist“, sagte er mit einem letzten Blick auf sie.

Als er ausstieg, sank Ana zurück auf ihren Sitz und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie hatte bestimmt richtig gehandelt, versuchte sie sich einzureden – lieber Distanz wahren, als sich auf etwas Unsinniges einzulassen, das sie sicher im Nachhinein bereuen würde, oder?

Endlich verabschiedete sich der Busfahrer herzlich von seinem Kumpan und setzte sich hinter das Steuer. Der Motor sprang ruckend an und mit einem Quietschen schlossen sich die Türen.

Sie fuhren die Gran Viale entlang, in der sich Restaurants mit gestreiften Markisen und kleine vollgestopfte Souvenirläden aneinanderreihten.

Nach wenigen hundert Metern kam der Bus wieder zum Halt und eine knarzende Lautsprecherstimme verkündete: Terraza al Mare.

Ungläubig kontrollierte Ana den Namen am Bushaltestellenschild, bevor sie hastig den Knopf zum Öffnen der Tür drückte. Sie hatte geschlagene zehn Minuten im Bus gewartet, um eine Strecke zu fahren, die sie in einem Viertel der Zeit hätte laufen können.

Am Strand wurden ihr Badetücher wie überdimensionierte bunte Mandalas angeboten. Ana umrundete jedoch alle manisch gut gelaunten Tuch- und Eisverkäufer und steuerte auf ein freies Fleckchen Sand zu.

Flugs wechselte sie unter ihrem Rock die Unter- mit der Bikinihose. Das Meer lockte.

Den Schlüssel für das Hotelzimmer und ihr Handy steckte sie jeweils in einen Schuh. Als Wächter wurden ihre angeschwitzten Socken engagiert, die hoffentlich niemand aus den Schuhen herauspopeln wollen würde, um an die Wertsachen zu gelangen.

Der Meeresboden fiel sanft ab und das klare Wasser stieg ihre Beine und Hüften bis zur Brust hinauf. Behaglich ließ Ana sich in die Wellen gleiten.

Das hätte ein vollkommener Moment sein können, würden ihre Gedanken nicht noch bei ihrer Begegnung im Bus festhängen.

Da hatte das Schicksal ihr mal etwas Zerstreuung aufdrängen wollen und sie nahm Reißaus.

Aber irgendetwas hatte sie zurückgehalten. Zugegebenermaßen war sie von ihm fasziniert gewesen. Jedoch stieß seine Unaufrichtigkeit sie ab. Mit kräftigen Armbewegungen arbeitete sich Ana voran, um die Erinnerung an ihn zu vertreiben.

Sie war derart mit ihrem Ablenkungsmanöver beschäftigt, dass sie gar nicht darauf achtete, wie weit sie sich vom Ufer entfernte.

Nach einer Weile schaute Ana sich um und kam sich als winziges Menschlein in den Wassermassen auf einmal grässlich klein und belanglos vor. Obwohl sie eine geübte Schwimmerin war, kroch eine unbestimmte Panik in ihr hoch und breitete sich als taubes Gefühl bis in ihre Zehenspitzen aus.

„Jetzt reiß dich zusammen“, befahl Ana sich selbst. Paddelnd drehte sie sich um und heftete ihre Augen auf den Strand, der als bleicher Streifen ziemlich weit entfernt lag. Was wirkte besser als ein bisschen Seenot, um einen wieder ins hier und jetzt zu befördern. Es war nur nötig, einen Schwimmzug nach dem anderen zu machen. Tatsächlich war sie so fokussiert, dass sie erst als ein Kind mit Schwimmflügeln neben ihr auftauchte, bemerkte, dass das Wasser ihr nur noch bis zum Bauchnabel reichte. Hastig fuhr Ana ihre Füße aus und watete weiter voran, was das Wasser um sie herum nur so spritzten ließ.

Bis auf ein paar wenige weiße Kondensstreifen, die die Urlaubsflieger hinter sich herzogen, war der Himmel blitzeblank. Ana schlenderte mit einem Zitroneneis durch die Gassen, die immer schmaler und damit angenehm kühl und schattig wurden.

Es war die Zeit für Siesta und so begegnete sie kaum jemandem – zumindest keinem Einheimischen. Aus einem geöffneten Fenster drang ein leises Schnarchen an ihr Ohr. Im Vorbeigehen schielte sie durch die Vorhänge ins Haus hinein, wo sowohl eine ältere Dame als auch ihr Kater alle viere von sich gestreckt auf der Couch lagen.

Schmunzelnd bummelte Ana weiter vor sich hin, bis sie auf einmal wie festgenagelt vor dem geöffneten Tor zu einem Innenhof stehen blieb. Da war schon wieder der Mann mit dem marineblauen Anzug!

Obwohl er streng genommen nicht mehr den kompletten Anzug trug. Vor ihm hockte ein Mädchen auf dem Boden. Sie trug sein Jackett, das ihr wie ein Kleid bis zu den nackten Knöcheln reichte.

Im zweiten Stock des Hauses erschien ein Mann im Unterhemd am Fenster und rief etwas zu ihnen herunter. „Si, papà“ antwortete das Kind und ließ die Kreide fallen, mit der es die Steine bunt angemalt hatte.

„Ancora una volta, Danilo!“, bettelte das Mädchen und zog an seinem Hosenbein. Er zerwühlte liebevoll ihre blonden Haare und fasste sie an den Händen. „Rapidamente.“ Mit angezogenen Knien ließ er sie zwischen seinen Beinen schaukeln. „Uno, due“, zählte er mit ansteigender Stimmlage. Auf „tre“ ließ er sie los, so dass sie durch die Luft flog. Das Mädchen landete auf allen Vieren und ihr helles giggelndes Lachen wurde von den Häuserfronten zurückgeworfen. Sie wischte sich die Haare aus dem Gesicht. „Un nuovo record!“, schrie sie und wedelte mit den viel zu langen Ärmeln, die heruntergerutscht waren.

Sie hüpfte wieder auf ihn zu und er bückte sich herunter, um sie auf seine Schultern zu heben. Er hielt sie an den Knien und ihre schwarzen Hacken ruhten auf seiner Brust. Das Kind drückte ihm schmatzend einen Kuss auf den Scheitel. „La campionessa“, rief er und drehte sich mit ihr im Kreis. Das Mädchen streckte lächelnd seine dünnen Arme aus, als könnte es die Sonne vom Himmel pflücken.

Erst als ihr das schmelzende Eis über die Finger lief, erwachte Ana wieder aus ihrer Starre und ging hastig weiter, bevor einer von beiden bemerkte, dass sie sie beobachtet hatte.

Als sie um die nächste Hausecke gebogen war, schaltete Ana wieder einen Gang runter und leckte sich die klebrige süße Soße von den Fingern.

Jetzt war ihr klar, dass es auch schon bei ihrer ersten Begegnung die Begeisterung, die er ausstrahlte, gewesen war, die sie zu ihm hingezogen hatte. Wann hatte sie das letzte Mal einen Drehwurm gehabt? Mit vier Jahren vielleicht. Dabei war Lebensfreude doch etwas, das nicht allein Kindern vorbehalten sein sollte.

Sie hatte das sture Funktionieren, in das sie Zuhause hineingeraten war, gründlich satt. In diesem Moment fasste Ana also den Vorsatz, die lichten Momente, die auch der alltäglichste Alltag zu bieten hatte, auszukosten und überhaupt wieder genüsslicher zu leben. Sie stopfte sich den Rest ihrer Eiswaffel auf einmal in den Mund und kaute mit nachdrücklichem Vergnügen.

Ihre Lebensfreude wahllos mit Fremden in öffentlichen Verkehrsmitteln zu teilen, musste sie sich ja nicht gleich zum Ziel nehmen.

Abends im Restaurant bestellte sie sich das Pastagericht von der Tageskarte, das sich als Spaghetti in einer Soße mit echter Tintenfisch-Tinte entpuppte, die ihre Zunge schwarz färbte. Wenn man über die gewöhnungsbedürftige Farbe hinwegsah, schmeckte es jedoch überraschend gut.

Ana nippte an ihrem Wein und beobachtete die Menschen, die an der Uferpromenade entlangströmten. Sie erwischte sich dabei, wie sie zwischen den Shorts und bunten Sommerkleidern nach einem blauen Anzug Ausschau hielt.

„Ich bin schön affig, was?“, fragte sie eine zerrupfte Möwe, die neben ihr gelandet war. „Vielleicht hätte ich doch mit ihm mitgehen sollen“, überlegte Ana laut. Das Tier fixierte sie mit seinen gelben Augen. Um ihren neuen Gesprächspartner an sich zu binden, warf Ana ihr ein Stück Weißbrot aus dem Körbchen zu, als der Kellner nicht hinsah.

„Was tust du, wenn dir jemand nicht aus dem Kopf geht?“ Der Vogel schlang das Brot herunter und dem Gesetz der Natur folgend, musste bei begrenztem Platz etwas raus, wenn etwas Neues reinkam – so entledigte er sich eines weißen Flatschens, der unansehnlich auf den Holzdielen landete.

Ana seufzte und pochte mit einem Fingernagel gegen ihr Weinglas. „Dachte ich mir, du bist bei weitem nicht so gefühlsduselig. Also drauf geschissen auf das ‚Hätte, wäre, wenn‘. Ich werde ihn wahrscheinlich sowieso nie wieder zu Gesicht bekommen.“

Sie trank mit großen Schlucken ihr Glas leer, legte das Geld auf den Tisch und stand auf.

Nach ihrem komatösen Schlaf in der vorherigen Nacht fand Ana allerdings schwer zur Ruhe. Sie wälzte sich von einer Seite zur anderen, bis das dünne Laken, das sie als Bettdecke hatte, völlig verdreht um ihren Körper gewickelt war. Mit geschlossenen Augen lauschte sie den fremden Geräuschen. Im Kanal vor dem Haus schwappte sacht das Wasser. Weiter in der Ferne ertönte Gelächter und ein Lied wurde angestimmt.

Als sie aufwachte, war es noch nicht ganz hell geworden und für einen Urlaubstag bestimmt verboten früh, doch an Schlaf war nicht mehr zu denken. In dem stickigen Zimmer fühlte sie sich eingesperrt.

Nachdem Ana sich von der altersschwachen Dusche hatte besprenkeln lassen, zog sie sich das erstbeste Shirt aus dem Koffer über und fischte nach ihren abgeschnittenen Jeans, die unter das Bett gerutscht war. Dann raffte sie das Nötigste zusammen und war aus der Tür hinaus.

Die Morgenluft war kühl auf ihrer Haut und Ana rieb sich die nackten Arme.

Auf dem Kanal krochen noch die letzten Nebelreste über die Wasseroberfläche.

Ana nahm die erstbeste Brücke und ging dann einfach der Nase nach weiter.

Ohne Koffer konnte sie beinahe lautlos über die ausgetretenen Steine gehen. So hatte sie das Gefühl, die Stadt dabei beobachten zu können, wie sie langsam zu einem neuen Tag erwachte, ohne dabei zu stören. Oben auf den Dächern schüttelten die Tauben ihr Gefieder auf; an den Haustüren steckten bereits die Zeitungen. Vor einer kleinen Konditorei stand ein dünner Jugendlicher mit weißer Schürze und zog gierig an seiner Zigarette. Zum Glück vertrieb der liebliche Duft der aufbackenden Cornetto-Hörnchen den kalten Zigarettenqualm.

Ana lief unter einer Wäscheleine hindurch, an der angegraute Feinripp-Unterhemden und ein roter Minirock einträchtig nebeneinander gaukelten. Die Gasse machte bald eine Biege und führte sie auf die Promenade am Grande Canale. Nun lugte die Sonne schon hinter dem Meer hervor und die Laternen mit dem altmodischen rötlichen Glas waren erloschen.

Als sie am Ufer des Canale, dessen Wasser das pinkgelbe Farbenspiel am Himmel spiegelte, entlang ging, sah sie ihn.

Er hockte auf dem Boden neben einem überquellenden Mülleimer, das Gesicht in den Händen vergraben. Sein blaues Jackett hing neben ihm über dem Geländer.

Weit und breit war kein anderer Mensch zu sehen.

Ana kam immer näher und fragte schließlich zögerlich: „Ist alles in Ordnung?“

Er zuckte zusammen und schaute über seine Schulter. Mit einer Hand griff er nach der steinernen Balustrade, um auf den Fußballen balancierend nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ana konnte nicht sagen, ob er sich an ihr Treffen im Bus erinnerte und sie wiedererkannte.

„Ja, alles.“ Er atmete geräuschvoll aus.

„Oder vielmehr nichts“, er löste seinen Griff und ließ sich auf die rot-weißen Fliesen fallen.

Ana setzte sich in Bewegung. „Nein.“ Mit wenigen schnellen Schritten war sie neben ihm.

Sein Mund fiel leicht auf, als er fragend zu ihr hochsah. „Nein?“

„Das passt gar nicht zu dir.“ Sie wirkte zornig mit ihm und griff nach seinem Arm. „Komm schon.“ Ana zog ihn auf die Füße.

Nun stand er direkt vor ihr. „Aber wohin?“, entgegnete Danilo verblüfft.

„Was weiß ich“, sie sah sich mit zusammengezogenen Augenbrauen um. „Irgendwohin, wo es netter ist als hier?“, schlug Ana vor und machte eine ausladende Handbewegung, die die Mülldeponie einschloss.

Kurz darauf lief Ana mit verschränkten Armen voraus am Ufer entlang. Danilo folgte. Zu ihren Füßen lag die Skulptur der Venezia alla Partigiana. Ihr Körper wurde von jeder Welle umschmeichelt, ohne Gefahr fortgespült zu werden.

Ana nahm die Stufen herauf zur nächsten Brücke, wo sie gegen das Geländer gelehnt stehen blieb. Unter ihren Fingern fühlte sich der weiße Stein kalt und feucht an. Die aufsteigende Sonne schien Ana in die Augen. Eine halbe Armeslänge entfernt stoppte Danilo neben ihr.

„Es läuft gerade nicht alles ganz so wie geplant“, erklärte er nach einer Weile mit einem freudlosen Lächeln. Sein Fuß scharrte über den Steinboden.

Ana wandte sich ihm zu. „Du meinst, du wolltest heute gar nicht mit mir den Sonnenaufgang genießen?“, fragte sie mit gespieltem Erstaunen und einem angedeuteten Stups mit dem Ellenbogen.

„Oh, ich … doch, doch!“ Ein echtes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.

Ana schaute ihn an. Das Lächeln auf seinem Gesicht hatte ihn augenblicklich wieder in den anziehenden Menschen verwandelt, dem sie im Bus begegnet war. Von seinen leuchtenden Augen eingefangen, streckte Ana eine Hand aus, um sein Gesicht zu berühren und im nächsten Moment küsste sie ihn bereits.

Nach einem Schreckmoment erwiderte Danilo den Kuss - zuerst vorsichtig, dann ungeniert und ausführlich.

Als Ana abrupt ihre Hände von seinem Nacken löste und einen Schritt zurück machte, ließ Danilo die angehaltene Luft mit einem anerkennenden Pfiff entweichen. „Das war unerwartet.“

Ana fasste sich an ihre Wangen, die auch ganz ohne Morgenlicht geglüht hätten. „Ich habe keine Ahnung, woher das kam, ehrlich“, stammelte sie mit aufgerissenen Augen.

Danilo gluckste. Ana wickelte ihre Hände in ihrem T-Shirt ein und suchte so buchstäblich händeringend nach einer situationsangemessenen Bemerkung. Die Wörter stolperten in ihrem Kopf allerdings so heillos übereinander, dass ein Unfall vorprogrammiert war und es haperte ihr auch schlicht an einer schlüssigen Erklärung dafür, dass sie wie eine ausgehungerte Hyäne über ihn hergefallen war.

„Das ist mit Abstand das Beste, was mir seit Wochen passiert ist“, erklärte Danilo und wischte sich mit dem Daumen die Mundwinkel ab.

Ana lachte zittrig. Sie wünschte sich sehnlichst, sie könnte an Ort und Stelle in ihre Einzelteile zerfallen, so dass ihr Kopf sich nicht mehr dafür verantworten müsste, was ihre restlichen Körperteile anstellten. Am Ende hielt sie einfach den Mund, konzentrierte sich stattdessen darauf, nach außen hin eine beherrschte Fassade aufrechtzuerhalten und trat wieder zu ihm an die Brüstung.

Beide schauten herüber zu San Giorgio Maggiore, der Insel gegenüber von ihnen. Nicht zu übersehen war jetzt auch für Ana das haushohe rote Banner der Homo Faber Ausstellung, von der Danilo bei ihrer ersten Begegnung gesprochen hatte.

Mit seinem kleinen Finger tippte Danilo ihre Hand an und linste zu ihr herüber. „Also dann, Ana aus Deutschland.“ Offensichtlich erinnerte er sich sehr wohl an ihre gestrige Begegnung. „Gib mir die Möglichkeit, mich mit dem Besten, was Venedig zu bieten hat, zu revanchieren, ja?“ Er deutete mit dem Kinn in Richtung der Insel. „Bist du bereit?“

„Bereit!“

2

Ein Vaporetto brachte sie zu der Insel mit der leuchtend weißen Basilika. Der Wind im Gesicht half dabei, Anas Verlegenheit weiter zu zerstreuen und Danilo gab sich ohnehin so ungezwungen, als hätten sie diesen gemeinsamen Ausflug seit Ewigkeiten geplant.

Zielsicher schritt er über den Vorplatz und Ana folgte ihm durch das Eingangsportal der Ausstellung, das aufwendig mit geschmiedeten Ornamenten verziert war. Der Empfangsbereich öffnete sich zu einem mit Rundbögen umsäumten Innenhof. Eine schwarze Katze schritt geschmeidig wie eine Gräfin in ihrem englischen Garten um die niedrigen Hecken, die mehrere Kreise bildeten.

Entschlossen warf sich Danilo sein knittriges Jackett über. „Ich werde dich herumführen“, verkündete er. „Ich kann dir alles erzählen, was du wissen solltest.“ Er rieb sich die Hände.

Ana entgleisten in Erwartung stundenlanger künstlerischer Ergüsse kurz die Gesichtszüge.

„Komm, dort beginnt der Venezianische Weg“, sagte er und strahlte dabei so entwaffnend, dass sie eilig wieder ihre Miene glättete.

Durch einen kurzen Gang gelangten sie in einen weiteren großzügig angelegten Hof. Ana las auf einer der Tafeln: „Die Fotografie ist wie das Wasser, sie kann die intimsten und am besten versteckten Seiten einer jeden Geschichte erreichen.“ Irgendwie schlüpfrig.

Danilo schob sie ungeduldig weiter und positionierte sie schließlich vor einer der gerahmten Fotografien mit einer kleinen weißen Statuette.

Nach einem Moment tauchte sein Gesicht allerdings wieder neben ihr auf. „Sag mal, ist das denn das Gesicht eines Kunstkenners?“, fragte er sie streng.

Ana wirkte im ersten Moment verunsichert, machte dann einen Schritt zurück, kniff die Augen zusammen und strich sich tiefsinnig über ihren nicht vorhandenen Bart.

„Wusste ich es doch, du kannst richtig intelligent aussehen“, feixte Danilo.

Mit einem Grinsen schüttelte Ana ihre Pose ab. Glücklich damit, sie zum Lachen gebracht zu haben, betrachtete er ihr Profil mit ungeziert ruhigem Blick.

Als sich Ana der stillen Bewunderung bewusstwurde, nestelte sie verlegen an ihrem Haar und verbarg so erfolgreich ihr rosa Gesicht, bis er seine Aufmerksamkeit wieder zurück auf das Bild lenkte.

Danilo stand schräg hinter ihr und begann unvermittelt zu erzählen: „Agatha betrat das Studio begleitet von dem schlurfenden Geräusch ihrer Schlappen auf dem Steinboden.“

Ana wandte sich um und sah ihn fragend an.

Offensichtlich vergnügt hob er einen Finger an ihr Kinn und lenkte ihren Kopf wieder zurück zum Foto.

„Sie hielt Ausschau nach einer passenden Transportbox. Es war inzwischen nach sieben Uhr am Abend, was bedeutete, dass die Herren Meister vor einer guten Stunde nach Hause gegangen waren und ihr nun keiner mehr im Weg stand.

Sobald sie ein Exemplar von der richtigen Größe entdeckt hatte, manövrierte Agatha umständlich ihren Tritt dorthin. Sie kletterte bis auf die letzte Stufe und selbst dann musste sie sich noch recken. Angestrengt schob sich ihre Zunge zwischen die Zähne. Schließlich konnte sie mit ihren Fingerspitzen die Ecke der Kiste erreichen und schubste sie zu Boden. Bedächtig stieg sie wieder hinab.

Agatha fasste nach den Zipfeln ihrer cremefarbenen Schürze, die das Logogramm des Ateliers Lucchini in eleganter Schnörkelschrift aufgestickt trug. In die entstandene Schürzentasche schaufelte sie einige Hände voll Holzwolle aus dem großen Korb.

Mit der Box unter den anderen Arm geklemmt, wackelte sie in den angrenzenden Raum. Dort legte sie alles auf ihrer Arbeitsfläche bereit, wo sie Pakete für den Transport nach Übersee vorbereitete. Heute war sie dazu angewiesen worden, sich um eine schmucke Porzellanfigur zu kümmern. Agatha betrachtete die filigranen Einzelelemente wohlwollend mit ihren kleinen schwarzen Augen. Eine Schar von beflügelten Jünglingen war von blütenweißem Porzellan überzogen und reckte eine Art Amphore in die Höhe.

Da hörte sie ein scharrendes Geräusch vom Fenster her, das die Ankunft ihres Herrenbesuchs ankündigte.

„Mio caro, mein Schatz“, flötete sie und guckte hastig umher. Padrone Lucchini wäre vermutlich an seinem Limoncelli erstickt, hätte er gewusst, dass just in diesem Moment ein korpulenter Kater durch das Fenster schritt und in sein Studio plumpste. Er drängte sich an Agatha vorbei und machte einen kurzen Kontrollgang über die Arbeitsfläche und durch das Atelier, der zu Agathas Füßen endete.

Agatha hob die Skulptur zärtlich an und setzte sie in das Nest aus Holzwolle. Ihre faltigen Hände bildeten einen harschen Kontrast zu der spiegelglatten Oberfläche. Sie beugte sich über das Etikett und übertrug fein säuberlich die Buchstaben vom Auftragsblatt. Sie überlegte bei sich, ob der zu beschenkende Maharajkumar das Präsent auch gebührend wertschätzen würde.

In Gedanken versunken oder ihrem abnehmenden Hörvermögen geschuldet, nahm sie den herannahenden Signore Vuoto nicht gleich wahr. Als die graue Gestalt sich in ihr Sichtfeld schob, schreckte sie auf. Die Tür des Unterschranks stand einen Spalt breit auf und mit einem beherzten Tritt beförderte sie den verdatterten Kater hinein. Damit war ‚problemo uno‘ bewältigt, doch mit Grauen bemerkte Agatha, dass ihr Besuch nicht ohne Präsent gekommen war. Vor ihr dekorierten die traurigen Überreste einer mickrigen Maus die Arbeitsplatte. In fliegender Hast stopfte Agatha das Häufchen aus Fell und Knochen in den nächstbesten Behälter – die Amphore, die die Engel bereithielten.

Nun stand Vuoto pfeilgerade vor ihr. Über seine runden Brillengläser hinweg fixierte er sie. „Der Bote wünscht zu wissen, ob das Paket fertig ist.“

Agatha griff nach dem Holzdeckel und schlug die Kiste zu, als ein empörtes Miau aus den Tiefen des Schrankes erklang.

„Bitte?“, fragte Vuoto und schob sein verkniffenes Gesicht näher.

„Ich sagte: Wow, was für ein Prachtstück“, krähte Agatha ohne mit der Wimper zu zucken und imitierte den langgezogenen Katzenlaut.

„Ich würde mich sehr glücklich schätzen, sowas in der Post zu finden.“ Sie zeigte ihr schönstes Lächeln, das einige Zahnlücken entblößte.

Vuoto starrte sie mit steinerner Miene an und zog die Kiste zu sich herüber. „Natürlich“, sagte er kühl.

Als die Tür hinter ihm zugefallen war, ließ sich Agatha auf den Schemel hinter sich fallen und ihr gackerndes Lachen füllte den Raum. Der Kater hatte sich inzwischen befreit und sprang auf ihren Schoß.

„Oh, Bonifacio, wenn sie nur wüssten, was für ein Unikat wir da geschaffen haben“, sagte sie in sein Ohr und tätschelte ihm den runden Kopf.“

„Also diese Art von Unterricht gefällt mir“, meinte Ana, die das Schaustück nun mit ganz anderen Augen sah.

„Du hattest schon Angst, was? Kulturbanause!“, entgegnete Danilo und zupfte an einer Strähne ihres Haares.

Nun war Ana diejenige, die ihn weiterschob. Sie suchte ein Bild aus, auf dem der geschwungene Rücken eines Lehnstuhls mit schimmernder goldener Verzierung eingefangen war.

Erwartungsvoll signalisierte sie Danilo, dass es losgehen konnte.

„Wie jeden Morgen erwachte Achille mit dem ersten Tagesschimmer. Er wusch sich am Waschbecken und nahm dann seine Brioche mit zum Fenster. Die Stadt unter ihm lag noch unter einem Nebelschleier. Nachdem er aufgegessen hatte, klopfte Achille die Krümel von seinen Fingern in den Ascheimer.

Mit Bedacht nahm er die ausgetretenen Stufen die Stiege herab und betrat seine Zimmerei. Durch die Werkstatt hindurch gelangte er in den vorderen Teil des Hauses, in dem fertige Stücke ausgestellt waren. Er schloss die Haustür auf und trat vor sein Geschäft. Der Rollladen ließ sich nur widerwillig unter Stöhnen und Ächzen heraufziehen. Der Eigentümer des benachbarten Juwelierladens trug die Zeitung unter dem Arm und grüßte ihn mit einem Tippen an seinen Hut.

Achille schloss angesichts der Kühle wieder die Tür und machte sich daran, seinen Verkaufstresen und die Kasse abzuwischen. Auf die noch feuchte Oberfläche stellte er eine Schüssel mit kandierten Cannoli. Obwohl er nur zu gut wusste, was er finden würde, ging er als Teil seiner Routine zu der kleinen Schiefertafel an der Wand, auf der er seine Aufträge notierte. Er schaute sie an. „Wer mag schon Kreidefinger“, sagte er leichthin zu sich selbst.

Er verschwand im Lagerraum und kehrte mit dem benötigten Werkzeug zurück. Kritisch betrachtete er den doppeltürigen Schrank, der als letztes Einzelstück das Set, an dem er seit Wochen arbeitete, vervollständigen würde. Er erfreute sich an der blendend weißen Lackierung auf dem glattgeschliffenen Holz. Die dazugehörigen Lehnstühle und ein ausladender Esszimmertisch standen bereits vollendet nebenbei.

Mit dem Pinsel in seiner Hand begann er gewandt die Goldlegierung am Rahmen aufzutragen. Achille arbeitete ohne Unterbrechung bis zum Mittag, als Alessandro die Zimmerei betrat, um ihm sein Essen zu bringen. Er war so versunken in seine Arbeit gewesen, dass er bei dem schrillen Klang der Türglocke zusammenfuhr. Alarmiert suchte er nach einem goldenen Spritzer auf dem weißen Untergrund und atmete erleichtert auf, als er keinen entdecken konnte.

Allessandro stellte den Teller ab und kam zu ihm heran. Er warf einen Blick auf Achilles Arbeit und legte eine Hand auf seine Schulter. Aufmunternd meinte er: „Ich bin mir sicher, wenn du diese Serie fertiggestellt hast, werden all deine Sorgen bald vergessen sein.“

„Womöglich“, stimmte Achille zu. Die üppigen Brauen verbargen seine Augen. Nachdem er gegessen hatte, wandte er sich wieder seiner Arbeit zu.

Um kurz nach vier hörte er ein Klappern an der Tür und ein Brief segelte auf die Fußmatte. Er trug den Stempel der Stadt. Achille nahm ihn an sich und wiegte ihn kurz in den Händen. Dann trug er die Post zu seinem Tresen, setzte sich und öffnete den Umschlag. Er saß mit dem Brief in seinen Händen, während die Sonne sich langsam aus den Straßen zurückzog.

Schließlich löste er seine Starre und ordnete die Sendung in seinem Kabinett ein. Da seine Arbeit getan war, säuberte er das Werkzeug im Wasserbecken und brachte alles an seinen Platz.

Die Mühe, das Licht einzuschalten, machte er sich nicht. Langsam durchschritt er den Vorraum und ließ seine Hand über Tischplatten, Armlehnen und Bankrücken gleiten. Er rückte an jedem Stuhl, der nicht an der rechten Stelle war.

Dann löste er mit ruhiger Hand seinen Gürtel und zog ihn aus den Laschen. Achille zog die schwere Tür des Schranks auf und legte ein Ende des Gürtels darüber. So schloss er die Tür von innen und alsbald fielen die Sorgen von ihm ab.“

Ana kräuselte die Lippen und sah Danilo anschuldigend an. Jedoch hob dieser die Schultern und wies so die Schuld von sich.

Sie gingen weiter an den Bilderwänden entlang, um die grüne Mittelinsel herum. Allmählich trafen immer mehr Besucher in der Fondazione Giorgio Cini ein und die Gänge der Ausstellung füllten sich etwas.

„Was steckt eigentlich hinter dem Begriff ‚Homo Faber‘?“, wollte Ana wissen, als sie an einer weiteren rotweißen Infotafel der Exhibition vorbeiliefen, ohne zum Lesen stehenzubleiben.

„Das ist der schaffende Mensch. Einer der in der Lage dazu ist, seine Umgebung zu verändern und nach den eigenen Idealen zu formen.“ Danilo rieb an einem Fleck auf seinem Jackett.

„Wollen wir jetzt etwas suchen, um dich wieder aufzumuntern?“ Forschend betrachtete er eine Fotografie nach der anderen.

Ana nickte.

„Na was haben wir denn da?“ Danilo schien eine passende Anregung gefunden zu haben und wartete bei einer vielfarbigen Collage auf sie. „Ein Blick in die Welt der Schneiderei …“ Er lächelte in sich hinein und begann mit der dritten Erzählung.

„Piero schob zwei schwere, von der Decke hängende Stoffbahnen auseinander und steckte seinen Kopf durch den Spalt. „Paride, geh mir kurz zur Hand, wirst du wohl.“

Paride legte die Messingschere beiseite, band sich widerstrebend seine Haare im Nacken zusammen und folgte seinem Vater. Der war inzwischen damit beschäftigt, den Zuschnitt eines Abendkleides aus irisierend orangenem Material von den steifen Schultern einer Schneiderpuppe zu streifen.

„Wer wird denn darin seinen Auftritt als schillernde Apfelsine haben?“, fragte Paride und schüttelte sich.

„Hüte deine Zunge! Dieses Kostüm wurde für Nicola Campana in Auftrag gegeben.“

Paride horchte auf.

„Sie wird es als Margarita im Teatro LaFenice tragen“, fügte sein Vater hinzu und zwirbelte glücklich seinen Schnurrbart. „Los, bring es mit mir in das Ankleidezimmer!“

Die beiden rafften die ausladende Schleppe zusammen, die sie fast unter sich begrub. „Sie kommt also zur Anprobe?“, konnte man Paride dumpf unter dem Stoffberg fragen hören.

„Natürlich, und sie ist fürwahr eine anspruchsvolle Kundin, das sage ich dir.“

Als das Kleid am vorgesehenen Platz hing, schlenderte Paride in das Vorderzimmer.

Piero musterte ihn. „Es wundert mich, dass du noch hier bist. Ist es für dich nicht an der Zeit dafür, um die Häuser zu ziehen?“

„Aber Vater, wer würde denn ein Haus verlassen, in dem Berühmtheiten eingekleidet werden?“, schmeichelte Paride mit salbender Stimme.

„Ich warne dich, wenn du mit aufwarten wirst, hast du zu wissen, wie du dich zu benehmen hast“, sagte Piero mit erhobenem Zeigefinger. „Du musst ja nicht ihre Füße küssen; obwohl ich nichts dagegen hätte. Lieber etwas zu viel als zu wenig Betragen.“

Seite an Seite saßen Vater und Sohn im Vorraum. Piero studierte sein Kassenbuch und Paride pulte andächtig an seinen Fingernägeln. Paride wusste, dass der Ehrengast nahte, als sich die Finger seines Vaters unter dem Tisch in sein Knie gruben.

„Gott sei meiner Seele gnädig“, stieß Piero aus. „Die Frau Mutter ist schon wieder dabei.“

Paride reckte den Kopf. Sein Vater stürzte zur Tür und führte Nicola Campana und ihre Mutter, begleitet von einer Vielzahl von Verbeugungen, herein. „Signora Campana, ich heiße Sie bei uns willkommen, sehr willkommen. Es ist uns eine Ehre, Sie wieder bedienen zu dürfen.“

Der Ehrengast zeigte ein würdevolles Nicken. In den Augen von Paride wäre das, was sein Vater als Lächeln darbot, eher passend für einen Zahnarztbesuch, da man jeden seiner 32 Zähne problemlos beäugen konnte. Umständlich half Piero den Damen aus den Mänteln.

Nicola Campana trug ein taubenblaues Kleid, das in feinem Kontrast zu ihrem schwarzen Haar stand, welches kunstvoll um ihren Kopf geflochten war.

„Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass der Stoff gestern aus Milan eingetroffen ist. Ich hege die Hoffnung, dass er Ihren Wünschen entspricht.“

„Besser zügeln Sie ihre Hoffnung und niemand wird zu Schaden kommen“, entgegnete Nicolas Mutter schrill.

„Aber natürlich, natürlich.“ Hastig verbeugte sich Piero abermals.

„Wenn wir jetzt mit der Anprobe beginnen könnten, wir haben nicht den ganzen Tag dafür Zeit.“ Frau Mutters Absatz hämmerte ungeduldig auf den Holzboden.

„Ohne die kleinste Verzögerung.“ Piero klatschte in die Hände. „Patricia, kommen Sie her!“ Er winkte das Mädchen heran. „Meine Näherin hier wird Sie zum Ankleideraum geleiten“, meinte er an seine Kundin gewandt.

„Oh, ich denke nicht“, erklang Nicola Campanas melodische Stimme. „Das letzte Mal wurde von ihr eine Nadel vergessen. Wenn Sie mit mir fertig ist, werde ich aussehen wie ein Nadelkissen.“

Pieros Augen weiteten sich auf die Größe von besagtem Kissen und er rang nach Luft.

„Wenn es keine Umstände macht, könnte Ihr Sohn mich begleiten. Ich habe bereits seine Bekanntschaft gemacht und ich denke es wäre angemessen, von einem Schneider angekleidet zu werden, der sein Handwerk beim Meister persönlich gelernt hat.“ Sie schenkte Piero ein süßes Lächeln.

„Keine Umstände, gar keine Umstände“, rief Piero aus und zerrte seinen Sohn am Kragen herbei. Paride war sich sicher, dass er auch das Blut seines einzigen Sohnes mit Freuden serviert hätte, wenn Nicola Campana durstig gewesen wäre.

Patricia wurde von Piero im Vorbeigehen mit einem mörderischen Blick bedacht.

Paride wies den Weg zum Ankleidezimmer und schloss die Tür hinter sich und Nicola Campana. Er kniete vor ihr und öffnete die Schleifen ihrer Schuhe. Von ihren Knöcheln wanderte seine Hand über ihre Waden bis zu ihren Oberschenkeln. Fingerfertig löste er ihre Strumpfhalter, streifte den spitzenbesetzten Stoff von ihren Füßen und warf die Strümpfe hinter sich. Dann hob er ihren linken Fuß an seine Lippen.

„Was tust du denn?“, flüsterte sie.

„Ich erfülle nur den Wunsch meines Vaters“, erklärte Paride und küsste jeden Zeh an ihrem Fuß.

„Ich hatte gehofft, dass wir uns wiedersehen“, hauchte Nicola, zog ihn hoch und versenkte gierig die Hände in seinem Haar.

Das Anziehen von Kleidern war nicht ihre Priorität.“

„Rawr!“ Danilo war unbemerkt näher an Ana herangetreten und biss ihr spielerisch in die Schulter.

Mit einem überraschten Quietschen duckte Ana sich weg.

„Du hast ja keine Manieren“, zischte sie. Zugegebenermaßen etwas geschockt von seinem selbstverständlichen und eher unkonventionellen Körperkontakt schlug Ana spaßeshalber nach ihm.

„Ich wurde verführt“, behauptete Danilo mit erhobenen Händen und einem nur wenig reumütigem Gesichtsausdruck.

„Wir werden noch in Ungnade fallen“, ermahnte Ana ihn in Anbetracht des abschätzigen Blickes eines anderen Besuchers.

Sie bogen um die Ecke und liefen durch einen gläsernen Torbogen und die dahinterliegenden Steintreppen hinauf in einen großen Ausstellungsraum - das ehemalige Refektorium.

„Schau dir das an“, sagte Danilo und sprang die letzten beiden Stufen hoch. Die beiden gingen auf eine Malerei zu, die eine gesamte Wand vom Boden bis zur Decke einnahm. „Die Hochzeit zu Kana von Paolo Veronese.“

Ana ließ ihren Blick über die Festtafel schweifen, aber ihr Interesse galt in Wahrheit nicht dem Bildnis, sondern seinem Betrachter.

„Danilo?“

Er stand mit dem Kopf in den Nacken gelegt. „Mhm.“

„Hast du wirklich selbst etwas mit Fotos zu tun?“

Sie hatte sofort seine volle Aufmerksamkeit. „Ja. Schon.“ Er schien auf der Hut.

„Warum zeigst du mir dann nicht deine Bilder?“

„Du möchtest meine Bilder sehen? Bei mir ...“ Er schluckte. „Ja, mhm, ja unbedingt.“ Das war nicht das überzeugendste Jawort, aber doch eine Zusage.

Sie blieben vor einem altrosa geputzten Haus stehen. Oder immerhin zwei Drittel des Hauses trugen noch Putz. Der stabile Eisenrahmen der Tür war mit verwitterten Brettern gefüllt, die an vielen Stellen schon ausgebrochen waren. Durch eines der Löcher griff Danilo und versuchte den Knopf auf der Innenseite der Tür zu drücken und sie so zu öffnen.

„Und du bist dir sicher, dass du hier wohnst?“, fragte Ana vorsichtig.

„Ja.“ Doch die Tür blieb verschlossen.

Danilo gab sich geschlagen und drehte sich zu ihr um. Er zog seine Sonnenbrille aus der Hemdtasche und gab sie Ana. „Jetzt bekommst du etwas geboten.“

Leise vor sich hin fluchend ging er auf die Knie und hängte behände das unterste Brett der Tür aus der Verankerung.

Ana beobachtete die Prozedur genaustens. Danilo duckte sich und mit einem Hechtsprung verschwand er bis zu den Hüften durch die entstandene Öffnung. Robbend bewegte er sich weiter vorwärts. Als seine zuckenden Füße begleitet von einem Grunzen, das jede Preis-Sau in Entzückung versetzt hätte, unter der Tür verschwanden, fiel es Ana zunehmend schwer, ihr Lachen zu unterdrücken. Fest presste sie ihren Handrücken gegen die Lippen.

Danilo öffnete schließlich von innen die Tür. „Sag nicht, du …“, fing er an und sah sie aus zusammengekniffenen Augen an.

Ana hatte die Wahl zwischen Lachen oder Platzen und entschied sich für ersteres.

„Oh natürlich, für Spott muss man nicht sorgen.“ Er verdrehte die Augen und klopfte Staub und Dreck von seiner Vorderseite.

Entschuldigend hob Ana ihre Hand und wischte einen Schmutzstreifen von seiner Wange.

Notdürftig gesäubert, trat Danilo beiseite und ließ sie herein.

Ana ging voran durch den halbdunklen Durchgang. Sie fuhr mit einer Hand an der unverputzten Ziegelwand entlang, die eine dicke Salzkruste trug. Als sie fast den Innenhof erreicht hatte, hörte sie hinter sich ein Räuspern.

„Ehem, darf ich bitten?“ Mit einer schwungvollen Bewegung öffnete Danilo eine Tür im Durchgang, die Ana gar nicht bemerkt hatte. Sein Gesicht war vollkommen ausdruckslos.

Neugierig geworden, ging Ana die paar Schritte zurück und duckte sich durch die Tür. In dem dahinterliegenden Raum wurde sie von einem feucht-muffigen Geruch empfangen. Hinter sich hörte sie ein Klicken, als sich die Tür schloss. Der Großteil des Raumes wurde von einem Boot eingenommen, das in der Mitte aufgebockt stand. Bei der Wand zu ihrer Linken handelte es sich in Wirklichkeit um ein Rolltor, hinter dem sie das Wasser gurgeln hörte. Quer durch die Garage gespannt hing eine Schnur, an die dicht an dicht Fotos geknüpft waren. Ein sauberer grauer Anzug hing an einem Haken von der Wand. Als ihre Augen sich an das wenige Licht gewöhnt hatten, sah sie, dass eine Wand mit weißer und blauer Kreide bemalt worden war. Sie konnte eine weiße Kuppel vor azurblauem Wasser erkennen. Ein Waschbecken war in eine Ecke geduckt und, halb von dem Boot verdeckt, konnte Ana eine Matratze auf dem Boden ausmachen.

„Ich wohne zurzeit bei einem Freund, weißt du“, sagte Danilo mit dünner Stimme. Sie drehte sich zu ihm um. Er stand immer noch an der Tür, eine Hand umklammerte den Türgriff, als würde er mit dem Gedanken spielen, davonzulaufen. Er nagte auf seiner Unterlippe und wich ihrem Blick aus.

Mit wenigen Schritten war sie bei ihm.

„Hey“, flüsterte sie mit einem sanften Lächeln und tippte ihm auf die Nasenspitze. Danilo hob den Kopf. Sie strich ihm die Haare aus der Stirn und ließ ihre Finger an seinem Hals entlang bis zu seinem Schulteransatz gleiten, wo sie nach den Zipfeln seines Hemdkragens fasste.

Danilos ganze Mimik und Gestik war von Scham gezeichnet.

Ana öffnete den ersten Knopf seines Hemdes. Und den zweiten. Und Knopf um Knopf, bis sie es von seinen Schultern schieben konnte. Zärtlich küsste sie die Sommerspossen auf seinem Schlüsselbein und konnte spüren, wie sein Körper sich unter ihren Fingern entspannte. Danilos Augen mit den blonden Wimpern waren locker geschlossen und er gab ein wohliges Brummen von sich.

3

Einander zugewandt, lagen sie auf der Matratze ausgestreckt. Ana fuhr mit gespreizten Fingern durch Danilos feuchte Locken, woraufhin er sie mit einem Bein wieder nah zu sich zog.