Soweit die Füße denken können - Lars-Oliver Schröder - E-Book

Soweit die Füße denken können E-Book

Lars-Oliver Schröder

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Beschreibung

Nun stehst du da, in der Mitte deines Lebens und bist auf der Suche nach neuen Wegen, auf der Suche nach neuem Sinn im Leben, aber wo, oder wie? Hier erzähle ich dir die Geschichte vom Camino Francés ohne ein dickes gefülltes Bankkonto oder Prominentenbonus. Ich kann es nur in den blumigsten, farbenfrohen Erzählungen beschreiben, welche Gefühle es in mir ausgelöst hat, loslassen zu können und meine Sünden in Santiago de Compostela vergeben zu bekommen. Ich habe etwas zu sagen und es will heraus aus mir. Heute bin ich ein anderer Mensch, denn ich habe Gottvertrauen und Hoffnung gefunden. Nun stehe ich an den Anfängen und gehe gerade den ersten zarten Schritt meines neuen Weges.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

So verrückt sind die Vorbereitungen

Prolog

Kapitel 1

Erster Vorbereitungstag: Durch den Pilgerpass ein Pilger?

Zweiter Vorbereitungstag: Wie nur Müssen müssen?

Dritter Vorbereitungstag: Abschiedsparty

Vierter Vorbereitungstag: Zweifel und Angst übermannen mich

Fünfter Vorbereitungstag: Ich stelle mir meine persönliche Sinnfrage

Sechster Vorbereitungstag: Himmlisches Zeichen für meinen Pilgerstein

Siebter Vorbereitungstag: Ich bin kein bisschen nervös

Kapitel 2

Abreisetag nach Saint-Jean-Pied-de-Port

Kapitel 3

1. Tag: Schwerste Etappe mit der schwersten Last

2. Tag: Ich treffe Songnee und Cristian

3. Tag: Geilstes Essen in den Straßen Pamplonas

4. Tag: Der längste Spaziergang, den man machen kann

5. Tag: Every Day Is Exactly the Same - NIN-

6. Tag: Jeder sucht nach Sinn im Leben

7. Tag: Tim erzählt seine Geschichte

8. Tag: Cristian trifft Siouxsie and the Banshees

9. Tag: Durchquerung einer Geisterstadt

10. Tag: Weit über meine Grenzen hinaus

11. Tag: Everything will be allright Tonight – Bowie-

12. Tag: Verliere meinen liebgewonnenen Freund

13. Tag: Gewitterkino mit Tony und Nico

14. Tag: Radikalster Perspektivwechsel meines Lebens

15. Tag: Pilger vermisst! - Dpa Madrid-

16. Tag: Heute ist nichts passiert! Wirklich nichts!

17. Tag: Die Stadt trägt den Namen meines Sohnes!

18. Tag: Die Vergangenheit holt mich ein!

19. Tag: Meine Wanderschuhe laufen über!

20. Tag: “Mmmmh Lars, du bist also des Lebens müde?“

21. Tag: Mein eigenes Wunder am Cruz de Ferro

22. Tag: Aufgeben ist keine Option!

23. Tag: Deutscher Geheimcode unter uns Pilgern

24. Tag: Zickzack Kuhdungstreifen, Galiciens Wettbewerb

25. Tag: Wir passieren den Kilometerstein 100

26. Tag: Eine Pusteblume zeigt mir das Universum

27. Tag: Ich liebe dieses märchenhafte Galicien

28. Tag: Urkunde mit Bravo und Applaus in Santiago

Kapitel 4

29. Tag: Auf einmal sitzt deine Traumfrau neben dir!

30. Tag: Meine Füße schreien mich an

31. Tag: Letzter Mann am Ende der Welt heißt Michael

32. Tag: Aufenthalt in Fisterra – das Vakuum entweicht

33. Tag: Letzter Tag in Fisterra – Ich verbrenne alles

Epilog

Buch Empfehlungen

Über den Autor

Vorwort

Eine Pilgerreise unternimmt jeder Mensch für sich selbst. Die Gründe dafür sind so unterschiedlich, wie sie nur sein können. In diesem Buch handelt es sich nicht nur um eine Reise, nein, es ist - die - europäische Pilgerreise schlechthin.

Es werden Jahr für Jahr mehr Pilger, sodass zu vermuten ist, dass die letzten 100 Kilometer regelrecht zu einem Volksfest heranwachsen. Einen erheblichen Anteil an dieser Zunahme deutscher Pilger bzw. aus dem deutschsprachigen Raum hat der Komiker und Schriftsteller Hans-Peter Kerkeling. Durch das Buch „Ich bin dann mal weg“ hat er bei den Deutschen, die Lust den Jakobsweg nach Santiago de Compostela zu pilgern, geweckt. Dies wurde insbesondere dadurch hervorgerufen, dass Hape Kerkeling von sich selber schreibt, dass er kein besonders gläubiger Christ ist, was in seinem Buch auch sehr deutlich wird. Obwohl er seine Glaubensschwäche bekundet, findet er auf dem Jakobsweg zu Gott. Ich glaube, er lässt die Leser am höchst persönlichen, spirituellen Erlebnis ganz bewusst nicht teilhaben, was meine Neugier extrem ansteigen lässt. Jeder mag für sich denken: Wenn er diese Begegnung mit Gott auf dem Camino hatte, dann möchte ich sie auch erleben. Es ist alle Male ein esoterisches Ereignis, wenn man sich Woche um Woche an die psychischen und physischen Grenzen bringt. Das Ganze umrahmt von Stille, Einsamkeit, gepaart mit unfassbar schöner Natur. Aber ich weiß von mir selber, du musst dich bewusst entscheiden, den Jakobsweg zu wandern, weil sonst dein innerer Schweinehund dir immer genügend Ausreden liefert, ihn nicht zu beschreiten. In meinem Umfeld habe ich als häufigstes Gegenargument die knappe Freizeit und das fehlende Geld als Ausflüchte bekommen. Da lässt sich für mich die folgende Formel ableiten: Wenn ich genug Geld für eine Pilgerreise habe, fehlt mir die Zeit, und wenn ich genügend Zeit für eine Pilgerreise habe, dann fehlt mir das liebe Geld.

Man muss sich also entscheiden und Entscheidungen fallen uns Menschen immer schwer.

Der Jakobsweg startet in der Regel von Saint-Jean-Pied-de-Port, führt über die Pyrenäen durch das Baskenland bzw. Navarra, durch die Rioja-Gegend, durch Kastilien, hin zu Galicien mit deren Hauptstadt, dem Ziel Santiago de Compostela. Auf dem Platze vor der Kathedrale endet das Pilgern. Als Pilgerreise anerkannt sind schon die letzten 100 Kilometer vom Jakobsweg.

Also muss für alle, die den kompletten Camino Francés wandern, etwas mehr dahinter stecken, als am Ende der Reise alle Sünden vergeben zu bekommen. Es ist für mich unglaublich, wie zahlreich die Menschen aus meinem näheren Umfeld davon träumen, den Weg zu gehen. Genauso häufig und absurd sind aber auch die Ausflüchte, die ich mir von ihnen anhören muss. Ich höre, wie gut ich es habe, diesen Weg jetzt wandern zu können. Weiter höre ich: „Wenn ich nicht so viel arbeiten müsste, würde ich ihn pilgern.“ bzw. „Wenn ich nicht so arm wäre und genug Geld hätte, dann….“ Oder „Wenn ich nicht so eingebunden wäre, dann… .“ Ausreden über Ausreden! Sorry, doch das will ich mir alles gar nicht anhören. Nicht selten muss ich ungefragt die Begründungen ertragen, warum andere den Jakobsweg nicht gehen können. Eigentlich war und ist mir das total egal. Mal im Ernst! Gibt es nicht immer Erklärungen für etwas, was man sich nicht traut? Sind wir Menschen nicht Meister im Erfinden von plausiblen Ausreden sowie Gründen, etwas nicht zu tun? Genau darüber solltest du mal nachdenken! Was oder wer hält dich ab, deine Träume zu verwirklichen? Welche Ausflüchte benutzt du? Aber zugegeben, es ist eine Riesenherausforderung, für die jeder nur zu gerne eine Erklärung parat hat, sich dieser nicht stellen zu müssen. Nur mal angenommen, nur mal so rein theoretisch, du hättest eine Verabredung mit Gott. Er will zu dir sprechen und deinem Lebensinhalt wieder mehr Sinn schenken, dich von Melancholie und Depressionsgefühlen befreien. Hättest du auch dann noch so viele Gegenargumente zur Hand? Wohl kaum! Ich kenne niemanden, den die Pilgerreise nicht zutiefst beeindruckt und zugleich sein ganzes Leben verändert hat. Also los, worauf wartest du? Auf zur Planung und Umsetzung der Wanderung. Lass keine Ausreden mehr gelten, sie kommen sowieso eher einem Sichselbstbelügen nahe. Aber warum solltest du das tun? Weshalb würdest du dich selber belügen wollen? Du hast eine Verabredung mit Gott. Also, worauf wartest du und zögerst noch? Was willst du noch? Überwinde deine eigene Feigheit und gehe diesen Weg. Im Übrigen kann man die letzten 100 Kilometer locker in einem zehntägigen Urlaub packen. Man hat außerdem jede Menge Zeit, sich die eine oder andere Stadt sowie Sehenswürdigkeit in Ruhe anzuschauen.

So verrückt sind die Vorbereitungen

Schon das Zusammenstellen der Ausrüstung ist für sich eine interessante Erfahrung. Zuerst sammelt man alles, was man ebenso für knapp zwei Monate zu brauchen meint. Als ich das für mich tat, da habe ich gerade so getan, als würde ich für einen gewöhnlichen Urlaub packen. Natürlich benötige ich einige Unterhosen, paar Unterhemden, mehrere Socken, ein paar Shirts, wenigstens ein paar Hosen und ein, nein besser drei dicke Pullover, eine Jacke plus eine leichtere für schönes Wetter. Ich „begnüge“ mich mit bescheidenen zwei Schlafanzügen und einem kleinen Kopfkissen und nehme auch nur drei verschiedene Mützen mit, schließlich kann ich ja nicht die ganze Zeit die gleiche Mütze tragen. Eine zweite Sonnenbrille mit einem anderen Abdunklungsgrad, eine Sonnencreme mit Lichtschutzfaktor zehn, eine mit zwanzig und noch einen Sonnenblocker für extreme Sonneneinstrahlung gehören auch dazu. Ach ja, Mückenspray darf ich nicht vergessen und wenn ich schon gestochen wurde, muss ich natürlich Salbe gegen den Juckreiz dabei haben. Meine Kosmetiktasche darf selbstverständlich nicht fehlen und ein Querschnitt der Hausapotheke sollte auch mit. Ein paar Bücher für die langweiligen Abende und so weiter und so fort. Du hast sicherlich bemerkt, dass bis zu diesem Zeitpunkt nicht ein einziges Teil der notwendigen Ausrüstung zugefügt ist? Hmh, wie soll ich es sagen? Ein erstes vorsorgliches Testwiegen und die Zwanzigkilogrenze ist deutlich überschritten, das wohlgemerkt, ohne ein benötigtes Ausrüstungsteil eingepackt zu haben.

Per Faustformel sagt man, sollte das Gepäck maximal zwischen zehn bis zwölf Prozent des eigenen Körpergewichts betragen. Die Sachen, die man am Leibe trägt, sind in diesen Prozenten enthalten. Also gut, ich wiege neunzig Kilo. Macht nach Adam Riese neun bis elf Kilogramm Last, die ich mitnehmen darf. Wie bitte? Wie soll das denn gehen? Es ist komisch, aber mir fällt gerade auf, dass es das erste Mal in meinem Leben ist, dass ich mich eher gewichtiger mache, als ich in Wirklichkeit bin. Typisch Mann! Wenn es zum Vorteil gereicht, macht „Man|n“ sich mal eben schwerer. Hätte mich eine Frau gefragt, wie viel ich auf die Waage bringe, dann wäre ich je nach Hübschheitsgrad auf der Hübschheitsskala nicht mal in die Nähe von neunzig Kilo gekommen. Wie schnell sich das Körpergewicht eines Menschen ändert, je nachdem, wie gerade die Fragestellung ist. Eines kann ich versichern, ich habe Stunde um Stunde gesessen und überlegt, welches Teil ich Zuhause lassen soll. Irgendwie scheint alles besonders wichtig zu sein. All diese Sachen müssen mit, so habe ich mit den Packstücken nicht nur die Ziellast von zwölf Kilogramm überschritten, sondern ebenfalls das Aufnahmevolumen des Rucksackes.

Eine kurze Zeit habe ich darüber nachgedacht, noch schnell vor der Pilgerreise fünf Kilo zuzunehmen, nur damit ich 500 bis 600 Gramm mehr an Kleidung mitnehmen kann. Wie paradox, denn den eigenen Speck müsste ich ja auch zusätzlich mitschleppen. Zum Schluss sind die zwölf Kilogramm tatsächlich eingehalten. Das 2500g schwere Zweimannzelt ist allerdings aus meiner Betrachtung heraus. Schließlich bin ich mir unsicher, ob ich es nicht nach der zweiten Nacht aufgebe, im Zelt zu schlafen, und es einfach wieder zurückschicke.

Bei der Recherche zum Camino stellte ich einen großen Mangel an Erlebnislektüre fest. Selbstverständlich habe ich das Buch von Hape gelesen, ist es doch das am meisten gelesene über den Jakobsweg im deutschsprachigen Raum. Aber mir wurde schnell klar, dass es eine ganz differente Art von Pilgern ist, die Hape dort beschreibt, als ich es mir vorgenommen habe. Somit vermute ich, dass seine Reise abweichend von dem war, wie es die 99 Prozent der anderen Pilger je erleben werden. Und damit meine ich nicht die Prominenz, sondern die azyklische Art des Pilgerns. Vor allem finde ich keine Berichte, wie man sich vor dieser Wanderung so fühlt. Das Zweite, was ich mich die ganze Zeit frage, ist: Was empfinde ich danach? Fühle ich mich von neuem Glauben geschwängert, geradezu erfüllt und versuche, die halbe Welt zu missionieren, zu überreden, den Camino zu wandern? Nach meinen Erfahrungen kann es sein, dass man so begeistert von der Pilgerreise ist, dass man dem Umfeld so dermaßen auf den „Senkel“ geht, dass einem die Freunde eine Zeit lang aus dem Wege gehen. Oder fühlt man das andere Extrem? Eine gewisse Sinnlosigkeit des eigenen Daseins bzw. des gesamten Lebens überhaupt? Aber dann würden nicht so viele den Jakobsweg pilgern und den Sinn im Lebensinhalt suchen. Folglich ist es nur konsequent, wenn ich diese Fragen mit in mein Buch aufnehme. Deshalb habe ich mich kurzerhand entschlossen den Mangel auszufüllen.

Es erscheint mir so wichtig zu sein, dass ich die sieben Tage vor meiner Abreise in Richtung Saint-Jean-Pied-de-Port im Anschluss an meinen Prolog beschreibe und ein paar nach Beendigung der Pilgerreise.

Prolog

Die meisten, wenn nicht gar alle Bücher, berichten über die eigentliche Pilgerreise. Ich möchte hier auch auf die Beweggründe eingehen, warum ich den Weg gegangen, „falsch“ gepilgert bin. Es ist ein unglaubliches Gefühl, für sich diese Entscheidung zu treffen. Jeder Pilger, der über 800 Kilometer zu Fuß zurücklegt, hat sich mit der Wanderung Monate, wenn nicht gar Jahre auseinandergesetzt. Welche Gründe führen einen Menschen dazu, eine solche Strapaze auf sich zu nehmen?

Wir wollen uns mal nichts vormachen, denn es ist eine übergroße Anstrengung, Tag für Tag zwischen 20 und 30 Wanderkilometer Wegstrecke hinter sich zu bringen. Man stelle sich das genau vor, das alles zu Fuß. Nein, nicht einfach so, sondern das Ganze auch noch mit einem Rucksack, der gefüllt schnell fünfzehn Kilogramm Eigengewicht auf die Waage bringt. Das ist ja zu schaffen, habe ich so beim ersten Mal für mich gedacht. Jedoch eines durfte ich rasch feststellen, das Gewicht wird schon nach 30 Minuten Fußmarsch zu einer Herausforderung. Mir wurde sofort klar: „Lars, das musst du heute 20 Kilometer tragen. Über mehrere Stunden hast du diese Last auf dem Rücken und das bei teilweise widrigen Wetterverhältnissen.“

Direkt bei meiner ersten Probewanderung bei Magdeburg, entlang der Elbe, wurde mir deutlich bewusst, welche Strapazen da auf mich zukommen. In vielen Foren war zu erfahren, dass man trainieren soll. Habe ich das erste Mal gelacht, als ich den Satz gelesen habe! Wie albern ist das denn? Ich soll allen Ernstes „Spazieren gehen" trainieren? Echt albern!

Aber nun laufe ich seit einer halben Stunde an der Elbe entlang und schwitze schon wie ein Iltis. Herrgott, wie halte ich das bloß vier Stunden aus? Ich sagte Herrgott! Vielleicht heißt es ja deshalb Pilgerreise, kommt mir dabei in den Sinn. Nach weiteren 30 Minuten auf dem Weg bin ich zur ersten Pause gezwungen. So verfrachte ich mich sichtlich erschöpft auf eine Parkbank, schnalle den Rucksack ab und schmeiße ihn zur Seite. Jetzt einen großen Schluck Wasser, denke ich so bei mir und setze meine Outdoor-Getränkeflasche an. Ich trinke und trinke, und schwups ist sekundenschnell eine von zwei Flaschen gänzlich geleert. Da wird mir allmählich klar, was die Leute in den Foren mit ihren Vorschlägen zum Thema, du musst für die Pilgerreise trainieren, gemeint haben. Wenn ich wieder Zuhause bin, werde ich wohl doch nochmal nachlesen, was da noch so alles an Ratschlägen drinnen steht. Diesmal aber sicherlich, ohne mich schlappzulachen bei den für mich als Laien seltsam anmutenden Tipps.

Es ist etwas ganz anderes, ob man mit jemanden an der Elbe spazieren geht, oder ob du eine Last von fünfzehn Kilogramm auf dem Rücken trägst. Beim ersten Training, so nenne ich es ab jetzt fortan auch, habe ich für vier Kilometer eine Stunde gebraucht, dabei die Hälfte der Getränkevorräte verbraucht und mein T-Shirt samt Jacke durchgeschwitzt. Mir wird schnell klar, heute schaffst du keine 20 Wanderkilometer. Nach „nur“ 25 Minuten Pause schultere ich mir den Rucksack, schnalle ihn am Bauch und im Brustbereich fest, stehe auf und setze meine Probewanderung fort. Gott sei Dank ist es ein herrlich angenehm, warmer Frühlingstag im März mit 20 Grad Außentemperatur, sodass die Sonne die Jacke während der Rast vollends trocknete. Die ersten Schritte sind schon beschwerlich, aber nach kurzer Eingewöhnungszeit läuft es sich wieder ganz gut. Nach circa sechs Kilometern Wegstrecke und locker zwei Marschstunden, die ich dafür brauche, entschließe ich mich kehrtzumachen und zurück nach Hause zu wandern. Zwölf Kilometer, für die ich nebst Pausen gut und gerne fünf Wanderstunden gebraucht habe. „Respekt!“

Am Abend liege ich total erschöpft im Bett, lasse den Tag Revue passieren und ahne, was ich mir da vorgenommen habe. Dabei denke ich so bei mir: Zwölf Kilometer in gut und gerne fünf Stunden und du bist kaputt wie tausend Mann. Wie in Gottes Namen wirst du dich nach der doppelten Strecke fühlen? In Gottes Namen, das passt schon wieder gut zur Pilgerreise und ich schlafe dabei seelenruhig über diesem Gedanken ein.

Nächster Tag mit ebenfalls herrlichem Wetter. Dann nehme ich mir meinen Rucksack, den ich gestern nur lieblos in die Ecke gepfeffert habe, fülle die beiden Getränkeflaschen mit Leitungswasser auf und auf geht´s zum zweiten Trainingstag. Der verläuft schon besser und gibt mir Mut weiterzumachen. Doch der Respekt, der in mir aufkommt, wenn ich an die Pilgerreise denke, ist riesengroß. Über sechs Wochen, jeden Tag ein Pensum von zwanzig bis fünfundzwanzig Kilometern, das Ganze gestartet in den Pyrenäen. Geschlafen wird nicht in einem gemütlichen, bequemen Bett, wie ich es gewohnt bin, nein, geschlafen wird im Zelt auf einer zwei Zentimeter dünnen Isomatte, auf huckeligem Untergrund. Wahlweise in einem Gemeinschaftsraum mit mindestens sechs Personen, die schnarchen, stöhnen und laut träumen. Puh!

In einer der Foren habe ich gelesen, dass nur fünfzehn Prozent derjenigen, die einen Pilgerpass beantragen, in Santiago de Compostela ankommen.

Am Anfang ist die Prozentzahl für mich nicht zu glauben. Nach nur zwei Trainingstagen halte ich sie nicht mehr für übertrieben. Seltsam, wie schnell man das Meinungsbild ändern kann!

Am dritten Trainingstag hatte ich „Glück“, denn ich bin zweimal von einem Platzregen überrascht worden. So konnte ich den sündhaft teuren Spezial-Regen-Poncho ausprobieren, der über meinen Rucksack, das sperrige Zelt samt aufgerollter Isomatte gezogen wird. Glück gehabt, weil es kein einfaches Unterfangen ist, den Spezial-Regen-Poncho schnell mal eben so über meinen Körper mit aufgesetztem Rucksack überzuwerfen. Eine Viertelstunde brauche ich, bis ich den Poncho über mich samt Gepäckstück gebracht habe. Es ist schon eine Herausforderung, dieses große Ding bei Regenschauer und starkem Wind so zu werfen, dass es sich nicht verheddert und über den Wanderer mit dem sperrigen Rucksack kommt, um ihn vor Regen zu schützen. Natürlich ist der Platzregen so überraschend gekommen und ergoss sich sofort wie aus Kübeln, dass ich trotz Poncho klitschnass wurde. Nun denn, weiß ich jetzt aber, dass eine viertel Stunde zum Überziehen gebraucht wird. Der zweite Regenschauer konnte mich dann auch nicht mehr so überrumpeln wie der erste. Nachdem ich es abends zu Hause noch mindesten zehn Mal geübt habe, ist es mir möglich, den Poncho in wenigen Minuten überzuziehen, was sich auf der Pilgerreise bestimmt auszahlen wird. Da bin ich mir ganz sicher.

Im Freundes- und Bekanntenkreis sowie in meiner Verwandtschaft gibt es kaum einen Fürsprecher für dieses Abenteuer. Sicherlich, wenn einer von ihnen mich nach dem ersten Trainingstagen gesehen hätte, vor allem in der Situation, in der ich meinen Spezial-Regen-Poncho überzog, hätten sie gedacht, ich sei jetzt vollkommen verrückt geworden. Es ist eigentlich gar nicht so abwegig, das Unterfangen als verrückt zu bezeichnen. Es gehört schon ein tiefer Glaube dazu, diese Pilgerreise anzugehen, doch bei mir ist es sicher nicht der religiöse Glaube, der mich antreibt. Schließlich tituliere ich mich zwar als gläubig, denn ich glaube an irgendwas, doch eine Kirche habe ich das letzte Mal vor Jahren von innen gesehen. Mich selbst bezeichne ich immer als christlich denkend, jedoch kaum praktizierend. Glauben kann man ja auch an das Universum oder an irgendeine Religion. Was ist es also, was mich antreibt, diese Pilgerreise zu planen?

Klar, es ist jetzt fast drei Jahre her, als sich meine damalige Ehefrau anschickte, sich von mir zu trennen. Nein, ich war mir natürlich keiner Schuld bewusst und es kam für mich, wie für die meisten anderen Menschen aus dem Umfeld, urplötzlich aus dem Nichts. Für eine Trennung oder eine Scheidung reicht es eben aus, wenn eine Person nicht mehr will. Derjenige, der sich trennt, hat es in der Regel von langer Hand geplant und sich gut auf diesen Tag vorbereitet. Es ist schon seltsam, wenn nach dreiundzwanzig Jahren Ehe es auf einmal aus ist. Ja, so etwas wirft garantiert jeden aus der Bahn. Das Leben, welches ich mir bis dorthin vorgestellt habe, gab es jetzt nicht mehr. Später müssen wir dann unseren Enkelkindern erklären, warum sie mehr Omas und Opas haben als ihre Freunde. Genauso wird es kein Blättern im gemeinsamen Fotoalbum mit dem dazugehörigen Schwelgen in Erinnerungen und damit verbundenen sentimentalen Gedanken geben. Vor dem Altar schwor ich: „Bis dass der Tod uns scheidet.“ Zack, das haben wir mal eben ein paar Jahrzehnte nach vorne geschoben. Nun musste ich damit klarkommen, dass meine Frau mit jemand anderem zusammen ist.

Nun denn, die Trennung verlief wie jede andere Scheidung auch. Man hat sich gegenseitig gedemütigt, erniedrigt, geärgert, provoziert und Dinge gesagt, die man irgendwann bereut, eben eine ganz normale Durchschnittsscheidung. Doch sie hat bei mir erhebliche Spuren hinterlassen. Will hier auch gar nicht allzu intensiv auf die Trennung und Scheidung eingehen. Diese Geschichte ist nämlich gut genug für einen eigenen Buchtitel, welchen ich eines Tages sicher auch noch schreibe, denn es kann ein unfassbares und zugleich sehr lustiges Buch zustande kommen. Nun denn, man wird sehen.

Nur drei Jahre später kam die nächste Zäsur meines Lebens. Die Firma, die wir uns noch zu Zeiten der intakten Ehe als Sanierungsfall kauften, ist am Ende und das Insolvenzverfahren wurde beantragt. Ein schwerer, aber unerwarteter Schlag ins Kontor für mich, genauso für die knapp zwanzig Angestellten. Natürlich schrieb ich mir, da ich mir selbst gegenüber nicht unkritisch bin, einen Großteil der Fehler zu. Es sei nur am Rande erwähnt, dass für alle Mitarbeiter feststand, dass es nur einen Schuldigen und Schuft für das Malheur gab. So gesehen hatte ich die Scheidung und Trennung noch nicht ansatzweise verdaut, musste ich mit der nächsten Sache klarkommen.

Meine ersten Gedanken dazu waren: Einfach wegrennen, weg von alledem, was ich durchgemacht habe, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, wo es hingehen soll. Möchte lediglich meinen Rucksack schnappen und abhauen.

Bis mir einer meiner besten Freunde die Frage stellte, wo ich denn hin will. Sebastian hat mich durch das gesamte Trennungsleid begleitet und mir immer ein Ohr geschenkt, so ich eines brauchte. Ich erläutere ihm, dass ich in den Süden möchte. Er gab keine Ruhe und wollte, dass ich es konkretisiere. Nun überlegte ich eine Zeitlang und antwortete zögernd: „In Richtung Portugal, weil es dort schön warm ist.“ Nach dem Gestammel und Gestotter gab er mir einen Rat: „Lars, warum gehst du da nicht gleich den Jakobsweg?“ Das war das erste Mal, dass ich diesen Namen gehört hatte. Bei mir dachte ich so: „Warum soll ich einen Kaffeeweg gehen?“, denn ich assoziierte den Jakobsweg mit einem bekannten Bremer Kaffeeröster und brachte ihn sogleich in Zusammenhang mit der Kaffeesorte Jacobs Krönung. Ich war ein bisschen sauer auf Sebastian und meinte, er hätte mir nicht richtig zugehört, mich auf eine vermeintliche Kaffeefahrt schicken zu wollen. Doch bei den weiteren Beschreibungen empfand ich es sofort als eine ausgezeichnete Idee, ohne auch nur ansatzweise zu wissen, wo der Weg überhaupt liegt. Als ich diesen Vorschlag mit einem Bruder bespreche, kommt es spontan aus ihm herausgeschossen: „Lars, das ist einer meiner Lebensträume.“ Er erklärt mir seine Beweggründe, empfiehlt mir einiges an Literatur zu dem Thema und schenkt mir gleich das Buch von Hape Kerkeling „Ich bin dann mal weg.“ Ferner recherchierte ich, wenn man den Jakobsweg aus religiösen Gründen geht, diese Tortur aus Gottesliebe auf sich nimmt, und bis an das Grab vom heiligen Apostel Jakobus pilgert, dann bekommt man jede seiner Sünden erlassen. Das kann ich jetzt tatsächlich gut gebrauchen, denn weiß Gott, habe ich bestimmt in der Scheidung, sicher auch in der Insolvenzphase wie überhaupt im Leben gesündigt was das Zeug hergab. Was für ein genialer Zusatznutzen! Die gesamten Verfehlungen erlassen und vergeben, somit einfach weg! Eine prima Lösung, die ich auf jeden Fall nötig habe. Eigentlich möchte ich zu mir selbst finden, ein neues Lebensziel, einen neuen Lebenssinn. Jetzt das! Die kompletten Missetaten weg! Es ist entschieden, ich werde diesen Weg gehen, ganz klar auch bis zum Ziel Santiago de Compostela, weil ich dann all meine Sünden, und damit verbunden das schlechte Gewissen loswerde.

Die meisten aus dem Bekanntenkreis rieten mir, mich doch zuerst um einen Job zu bemühen. Aber wie soll ich das machen? Weiß ich doch selber nicht, was ich überhaupt vom Leben erwarte. Es fühlt sich für mich an, als müsste ich den siebten Schritt vor dem ersten tätigen. Wie soll so etwas funktionieren? Andere schlugen mir vor, zu Beginn mit einer Harzwanderung zu starten und wenn ich ganz verwegen bin, eben mit Übernachtung im Freien, das sollte für den Anfang genügen. Einer meiner drei Söhne lachte mich aus und meinte: „Du, in einem Zelt, einfach auf dem Boden schlafend oder in einem verlausten, unbequemen Bett in einer Herberge mit vielen schnarchenden Mitschläfern? Papa, probiere doch erst einmal aus, ob du überhaupt in einem einfachen Ikea-Bett schlafen kannst, bevor du in einem Zelt auf dem Boden nächtigst und die ganze Aktion nach nur einer halben Nacht, ohne ein Auge zuzumachen, reumütig abbrichst.“

Er hat damit nicht ganz so unrecht, denn ich kann mich als wohlbehüteten und bequemen Menschen bezeichnen. Habe ja schon geschrieben, dass ich mir selbst nicht vollkommen unkritisch gegenüber stehe. Schlafe ich jetzt doch in einem Bett von Bretz mit einer himmlisch weichen, superdicken Matratze, welches so viel kostet, wie ein deutscher Kleinwagen. Nein, es ist beschlossene Sache, ich gehe diesen Weg für mich und natürlich auch für die Vergebung all meiner Sünden. Dafür bin ich durchaus bereit, ein wenig zu leiden.

Und von etwas, was ich mir einmal vorgenommen habe, bin ich immer schon sehr schwer abzubringen gewesen. Alles in allem stand das Verhältnis so ziemlich eins zu hundert gegen die Pilgerreise, so viele haben mir davon abgeraten. Also hier mein ungefragter Ratschlag: Erzähle nie in deinem nahen Umfeld allzu viel vom Vorhaben, den Jakobsweg zu gehen, denn Selbstzweifel werden dir von alleine genug kommen, sogar ohne die zahlreichen Kommentare aus dem Bekanntenkreis.

Nun galt es, noch eine weitere Herausforderung zu meistern. Ich muss auf der zwei Zentimeter dünnen Isomatte eine Nacht verbringen, das Ganze mit Schlafsack. Beides eine Premiere für mich! Nie zuvor habe ich so genächtigt, noch nie schlief ich auf etwas so Schmalen, na sagen wir mal „Nichts.“ Aber ich schaffte es. Nach gefühlten Stunden des Hin-und-Her-Kullerns bin ich tatsächlich eingeschlafen. Nach weiteren 30 Minuten Schlaf auf dem zwei Zentimeter dünnen Nichts und dem blöden Schlafsack bin ich mit Schmerzen am ganzen Körper aufgewacht. Ich finde, das muss als Training genügen, und lege mich für den Rest der Nacht in mein tolles, über die Maßen bequemes Bretz-Bett. So beim Einschlafen spreche ich mir selber Mut zu und bin der Meinung, dass ich nach einem Tagesmarsch von mehr als zwanzig Kilometern sowieso kaputt genug bin, dass ich wie in Abrahams Schoß schlafen werde.

Als ich am Morgen aufwache, will ich ausprobieren, wie schnell und leicht das Zweimannzelt aufzubauen ist. Schließlich hat der Verkäufer gesagt, dass es kinderleicht ist und in wenigen Minuten steht. Ich weiß nicht, was der Verkäufer für Superkinder kennt? Das erste Mal habe ich geschlagene zwei Stunden gebraucht, eine weitere Dreiviertelstunde, es wieder zusammenzubauen, um es in die viel zu eng gewordene Verpackung zu quetschen. Das Zelt muss irgendwie gewachsen sein, nachdem es solange an der frischen Luft war.

Es ist schon sehr seltsam, doch je trainierter ich bin und je näher auf den Start zugehe, desto nervöser sowie angespannter werde ich. So das ein oder andere Mal beschleichen mich jetzt Gedanken, dass das alles idiotisch sei und ich die ganze Sache einfach abblasen sollte. Man kann den Jakobsweg ja bekanntlich alleine und für sich gehen. Es heißt weiter, wenn man ihn zu zweit startet, kommt man sowieso nicht gemeinsam in Santiago de Compostela an. Auch das ist ein Schreckensgespenst für mich. Der, der es gewohnt ist, immer Menschen um sich zu haben, muss nun über Wochen hinweg für sich alleine und einsam wandern? Ein zusätzlicher Zweifel setzt sich wie ein Virus in meinem Gehirn fest. Anfangs sehr klein, ja kaum wahrnehmbar. Aber wie das häufig mit Infektionen und Viren so ist, erst einmal infiziert, breitet er sich aus und wird größer und größer. Ein Selbstzweifel ist, fast zwei Monate Enthaltsamkeit ohne Sex? Wie soll das gehen? Nicht, dass ich sexsüchtig bin oder in der Vergangenheit nicht auch eine Phase von mehreren Monaten und länger ohne Sex hatte. Jedoch nie geplant, sondern stets mangels Gelegenheiten, eben einfach so. Doch jetzt nehme ich an, dass ich die kommenden Wochen keinen bekomme. Was ja angesichts einer Pilgerreise ganz okay ist, aber trotzdem oder gerade deswegen beschäftigt es mich enorm. Nein, bloß schnell verdrängen den Gedanken, und ersetzen. Am besten mit dem, dass ich viel zu kaputt bin, um mich nur für eine Sekunde auf der Wanderung mit dem Verlangen nach Sex zu beschäftigen. Und wenn es doch passieren soll, wird mir ja diese durch mein schlechtes Gewissen hervorgebrachte „Sünde“ am Ziel der Pilgertour vergeben. Ist schon praktisch so eine Pilgerreise.

Ich wiederhole mich hier, aber das ein oder andere Mal schleichen sich Gedanken ein, dass das ganze Unterfangen idiotisch ist und ich die gesamte Sache abblasen sollte. Jedoch die Bereinigung all meiner Sünden ist zu einer riesengroßen Motivation herangereift. Im Laufe der vergangenen Tage und Wochen fallen mir davon zahlreiche ein. Selbst an so manch verdrängte Jugendsünde kann ich mich wieder genauestens erinnern. Dazu ein neues Lebensziel, einen Lebenssinn finden, rundet die Pilgerreise jetzt nur noch ab. Und man hört ja immer mehr von den vielen Wundern, die auf dem Jakobsweg anderen Pilgern widerfahren sind. Vielleicht bekomme ich zum Ziel, zum Sinn und der Vergebung all der Verfehlungen als Dazugabe noch ein echtes Wunder hinzu. Ich weiß, das klingt nicht besonders religiös, aber Motivation ist eben alles. Bei der Planung und Buchung, eigentlich muss es Planungsversuche und Buchungsversuche heißen, stellt sich heraus, dass ich mit einer gehörigen Portion Naivität und Einfältigkeit an die Anfahrtsreise herangegangen bin. Dachte so bei mir, dann buchst du die Zugfahrt von Magdeburg zum Startort Saint-Jean-Pied-de-Port. Flötepiepen! Das Internet kennt diese Route überhaupt nicht. Okay, meine ich so bei mir, dann fliege ich eben von Berlin oder Hannover nach Biarritz. Und schon wieder piepte meine Flöte und damit meine ich nichts Sexuelles. Das gibt es wohl nicht, ich muss der einzige Deutsche sein, der dorthin will, denn solche Reiseangebote fehlen gänzlich. Also recherchiere ich erneut in den mir mittlerweile sehr wohl bekannten und fast liebgewordenen Foren. Und siehe da, hier „piepen alle Flöten“ und nichts geht mehr. Eine Anreise oder Abreise aus Deutschland an einem Tag ist schier unmöglich. Es scheint auch so, als wollen die Franzosen die Spanienpilger nicht unterstützen und nach Saint-Jean-Pied-de-Port bringen, weil eine direkte Zugverbindung fehlt. Ich finde einen bezahlbaren Flug. Er führt von Berlin geradewegs nach Mailand und fünfeinhalb Wartestunden später geht es gleich weiter Richtung Brüssel, wo ich „gemütliche“ achtzehneinhalb Stunden Aufenthalt habe, und zack lande ich in Biarritz. Von dort nehme ich ein Taxi oder einen Bus nach Bayonne, um mit ein paar Stunden Aufenthaltszeit, die fast schon kurzweilig anmutende Zugfahrt von eineinhalb Fahrtstunden nach Saint-Jean-Pied-de-Port fortzuführen. Wie schräg ist das denn? Da mutet die Anreise ja schon als eigene Pilgerreise an, so anstrengend ist das. Alternativ fahre ich lieber mit dem Fernbus Richtung Paris, um von dort nach Biarritz weiterzufahren. Den Rest der Wegstrecke kennst du ja. Schlappe zweihundert Euro muss ich für diese fast schon masochistisch anmutende Anfahrt berappen. Nun denn, es ist und bleibt von Anfang an eine leidvolle Pilgererfahrung. In dem Film „Dein Weg“ mit Martin Sheen scheint es so leicht und locker zu gehen und Hape Kerkeling geht erst gar nicht intensiver darauf ein. Genau aus dem Grund habe ich mich ja förmlich gezwungen gefühlt, dieses Buch zu schreiben, um dir eine gute Vorstellung zu geben und deine persönliche Vorbereitung besser zu ermöglichen.

Der Vater all meiner Beweggründe ist folgender und liegt einige Monate vor dem Pilgerantritt. Mein ursprünglicher Plan war, wenn man es überhaupt so nennen kann, abzuhauen, einfach wegrennen aus dem bisherigen Leben, weg von alledem, was mich belastet.

Jetzt gehe ich den „Jacobs Weg“, die Krönung meines neuen Lebens:

Kapitel 1

Die Zeit vor dem Start der Pilgerreise, aufgeteilt in sieben Vorbereitungstagen. So verändert der Jakobsweg mich und mein Leben schon vor dem Antritt.

Erster Vorbereitungstag: Durch den Pilgerpass ein Pilger?

Heute ist der Pilgerpass gekommen. Ich halte nun endlich meinen höchstpersönlichen Pilgerausweis in der Hand. Es ist nicht irgendeine schnöde, lieblos am Computer gedruckte Version. Nein, mein Name, die eigene Anschrift, der individuelle Startort und der finale Tag des geplanten Aufbruchs stehen in einer wunderschönen Handschrift im Ausweis. Ich freue mich unglaublich und bin jetzt schon stolz, als wäre ich den kompletten Jakobsweg entlang gepilgert.

Ich weiß noch genau, wie es gewesen ist, als ich den Pass bestellte und die Frage las, wann und von wo aus ich starte. Dazu erfuhr ich in einer Broschüre vom Camino, man solle den Pilgerpass sehr frühzeitig bestellen, weil es mitunter bis zu sechs Wochen dauert, bis er beim Besteller Zuhause eintrifft. Heute wurde ich jedoch eines Besseren belehrt. Meine Order über das Internet bei der Organisation Stiftung Haus ST. Jakobus www.jokobosgesellschaft.de versah ich mit dem Zusatz Expresszustellung, was drei Euro extra kostete. Insgesamt zahle ich dreizehn Euro, welches ich als Spende ansehe und die erste gute Tat im Zusammenhang mit dem Jakobsweg verbuche. Denn ich will ja Pilger werden, da kann so eine gute Tat schon ein bisschen behilflich sein. Es vergingen nur wenige Tage und ich bekam das Dokument mit jeder Menge Prospekte. Ich packe den höchstpersönlichen Pilgerausweis in eine extra für ihn vorgesehene, wasserdichte Tüte. Somit behandelte ich ihn jetzt schon wie einen kleinen Schatz. Als ich vor ein paar Tagen den Ausweis bestellte, wusste ich noch nicht, dass man einen Starttag und Startort angeben muss. Da mir partout keiner in den Sinn kam, sich jedoch in jener Zeit die Ereignisse zu überschlagen schienen, dachte ich mir kurzerhand ein nahes Fantasiedatum aus. Der Zufall entschied und es ist tatsächlich möglich, kurzfristig zu starten.

Ich habe vor kurzem gelesen: Dein Zuhause ist dort, wo deine Freunde sind. Ja Magdeburg ist demnach mein Zuhause, von wo aus ich dann auch losmarschiere. Es ist für mich das erste kleine Jakobsweg-Wunder, welches mir geschieht. Ich bin unglaublich nervös vor Freude und überlege mir gerade, wo ich den Pass verstaue. In der Geldtasche, die ich als Hängetasche um den Hals trage? Oh nein, besser nicht, denn das Geld darf mir ruhig gestohlen werden, aber um Himmels willen nicht der Pilgerpass. Es ist bezeichnenderweise das einzige Dokument, welches mich eindeutig als Pilger ausweist. In die Brusttasche meiner Joop-Jacke? Schließlich habe ich mir diese extra besorgt, weil die schwarze Jacke über zahlreiche Taschen verfügt. Ich bekam sie als Winterschlussverkauf-Schnäppchen. Sie besitzt zwei große Hüfttaschen. Die rechte davon hat noch doppelt aufgesetzte Kleinkramtaschen. Eine ist passgenau für ein Handy und die andere passend für eine Zigarettenschachtel der 5-Euro-Größe, die ich allerdings für meinen MP-4-Player fremd nutze. Des Weiteren ein paar üppig bemessene Brusttaschen, wobei die linke davon ebenfalls eine aufgenähte Unterbringung mit Reißverschluss besitzt. Das Ganze wird getoppt mit einer Dauneninnenjacke, die herausnehmbar ist, und abermals zwei Extrataschen im Hüftbereich aufweist. Schon sehr praktisch diese Joop-Jacke. Es fällt mir erst jetzt in genau jenen Moment bei der detaillierten Beschreibung auf: Die Jacke ist viel zu praktisch für eine edle Designerjacke, denn Joop entwirft sonst doch eher elegante Kleidungstücke. Wollte Wolfgang Joop etwa auch auf dem Jakobsweg pilgern, geht mir durch den Kopf? Jedoch habe ich nirgendwo davon gelesen. Oder hat er den Trend zum Pilgern bzw. Wandern kommen sehen und wollte den Markt für Pilgerreisende bzw. Outdoor-Aktivisten mit schicker und eleganter, aber auch praktischer Allwetterkleidung bedienen? Das würde zumindest dieses auffallend anders anmutende Modell von ihm erklären. Ich bemerke, ich schweife ab, und lasse den Gedanken einfach wieder los. Wahrscheinlich ist das der Grund, warum die Jacke so günstig zu bekommen war. Sie ist eben nicht Jooptypisch und fand, hier nur hypothetisch behauptet, deswegen keine Abnehmer. Also stecke ich den Pilgerpass in die Brusttasche der aufgesetzten Tasche mit Reißverschluss.

Kurzentschlossen beschließe ich am Nachmittag, noch eine kleine Probewanderung von zehn bis zwölf Kilometern zu unternehmen. Mehr ist leider nicht möglich, da ich ebenfalls heute meine Mutter in Osnabrück besuchen möchte. Sie äußerte den Wunsch, mich vor der Abreise noch einmal zu sehen. Den teilt Mum mit gut einem Dutzend Freunden und Bekannte. Aber Muddi trägt den Besuchswunsch mit so einem Nachdruck vor, dass es gefühlt eher eine Aufforderung für einen Sohn darstellt, genauso wie ihn eben nur besorgte Eltern formulieren können. Es ist schon seltsam, wie sich manche Dinge und Gepflogenheiten vor einer langen Reise ändern. Es gab in der Vergangenheit schließlich regelmäßig Zeiten, in denen ich sie für mehrere Monate nicht besuchte. Doch jetzt tut sie gerade so, als fliege ich mit einer Rakete zum Mars, um für die nächsten Jahre als Astronaut durch fremde Galaxien zu schweben. Wobei die Mission für sie gefühlt so gefährlich erscheinen muss, dass meine gesunde und heile Wiederkehr zum Erdenplaneten als sehr unwahrscheinlich gilt. Aus meiner Perspektive werde ich nur sechs bis acht Wochen fort sein, das Ganze auch noch im recht sicheren sowie nahen Europa. Vielleicht liegt es auch daran, dass sie denkt, es kommt ein ganz anderer Mensch zurück als jener, der zur Reise aufbricht. Klar, solche Wunder passieren durchaus auf dem Jakobsweg. Aber ihr wisst es bestimmt aus eigener Erfahrung, wenn Muddi dich nochmal zu sehen wünscht, dann hast du zu gehorchen, egal wie alt, selbstständig oder erwachsen du bist. Ich freue mich schon auf die gutgemeinten Ratschläge meiner Mutter. Tu dieses nicht, lasse jenes sein, sei immer wachsam und vorsichtig, trinke nicht so viel Alkohol, lass dich nicht ausrauben etc., etc.. Für meine Person werde ich die guten Rat-„Schläge“ aushalten, ertragen, einstecken, anhören und brav versprechen, alle einzuhalten. Sollte ich mir dann doch unterwegs eine Flasche Wein gönnen, so wird mir diese „Sünde“ und der Meineid meiner Mutter gegenüber gegebenenfalls am Schluss der Pilgerreise vergeben. So habe ich nicht mal ein schlechtes Gewissen, ihr meine Enthaltsamkeit und Befolgung all ihrer wohl gut und ernst gemeinten Ratschläge zu versprechen. Außerdem bin ich mir sicher, dass nach solchen Strapazen einem sowieso die Kraft und die Lust fehlen, ausgiebig feiern zu gehen.

Am Abend besuche ich einen sehr guten Freund von mir. Auch er muss mir „Schläge“ des gut gemeinten Rates erteilen. Pass bloß auf dich auf, denn ich habe gelesen, auf dem Jakobsweg sollen sich unglaublich viele heiratswütige südamerikanische Frauen herumtreiben, die den Weg nur wandern, um sich einen europäischen Ehemann zu schnappen. Das kann ich mir nun beim besten Willen überhaupt so gar nicht vorstellen. Dabei will und kann ich mein Lachen kaum unterdrücken. Was soll in einem Kopf solch einer Südamerikanerin vorgehen? Etwa dieser Gedanke: Die Männer sind abends nach dem langen, anstrengendem Marschieren so kaputt, dass sie sich sofort ihrem Werben ergeben, sogleich ihr einen Heiratsantrag unterbreiten, kaum Zuhause zurückgekehrt zum Pfarrer rennen und das Aufgebot bestellen? So ein Quatsch! Bei so vielen Rat- „Schlägen“ frage ich mich, ob meine Mutter, einer der Dutzend Freunde, Familienmitglieder oder Bekannten, vor mir schon mal diesen Weg gepilgert sind? Soviel ich weiß- nicht. Also woher kommen all diese Geschichten? Da fällt mir unweigerlich Dieter Nuhr ein, den ich im Dezember noch live in Wolfsburg gesehen habe. In meiner Wohnung hängt ein mannshoher Garderobenspiegel, in den man geradewegs hineinschaut, wenn man den Raum betritt oder verlässt. Dort am Spiegel, direkt im Blickfeld des Betrachters, klebt ein fetter, runder Spruchaufkleber von Herrn Nuhr mit einem meiner Lieblingszitate von ihm. „Wenn man keine Ahnung hat: Einfach mal die Fresse halten.“ Dieter, wie recht du doch hast! Ich beschließe, bei der Rückkehr mindestens ein Dutzend dieser Aufkleber zu besorgen. Habe mir somit geschworen, mit Ausnahme meiner Mutter jedem aus der „Klugscheißerecke“ oder der Fraktion der „Besserwisser“ eben genau solch einen gutgemeinten Rat-“Schlag“- Aufkleber von Dieter Nuhr zu schenken. Mütter sind grundsätzlich herausgenommen, denn sie machen sich naturgemäß stets Sorgen um ihren Nachwuchs. Seltsam, irgendwie empfinde ich es jetzt nach meinem Beschluss, die Aufkleber zu verschenken, viel erträglicher und angenehmer unzählige, ungefragte sowie unqualifizierte Ratschläge zu hören. Sicherlich gibt es für heiratswillige Südamerikanerinnen einen besseren Heiratsmarkt als den Jakobsweg.

Ich habe eben, just in diesem Moment beschlossen, mir ein zweites ultraleichtes unglaublich teures Handtuch zu kaufen. Scheint doch etwas vom „Heiratsmarkt“ Jakobsweg im Unterbewusstsein angekommen zu sein.

Zweiter Vorbereitungstag: Wie nur Müssen müssen?

Heute Nachmittag will ich eine Trainingswanderung unternehmen, um die Ausrüstung zu testen, aber auch, um eine passgenaue Einstellung des Rucksackes vorzunehmen. Als sekundären Plan möchte ich meine Wanderschuhe so optimal wie möglich einlaufen, bevor ich den Gewaltmarsch starte. Schließlich nehme ich nur eine einzige Packung Blasenpflaster mit.

Zur Stärkung esse ich vorher noch einen Döner, denn man verbraucht schon jede Menge Kalorien so unterwegs. So ein Döner geht immer, war meine einhellige Meinung bis zu jenem Tag. Das hätte ich besser gelassen, weil es jetzt besonders stark im Magen rumort. In diesen Augenblick fällt mir ein, was ich vor kurzem gelesen habe, man soll Bananen, ansonsten nur leicht verdauliche Nahrung zu sich nehmen. Nach ein paar Testkilometern mit rumorendem Magen kommt es und ich muss auf die Toilette. Mein erster Gedanke: Ach Mist, hier gibt es gar keine, so mitten in der Natur. Also suche ich mir neben dem Elbwanderweg ein etwas abgelegenes Plätzchen unter Bäumen im Dickicht, schnalle mir den Rucksack ab und lege ihn beiseite. Gott sei Dank habe ich, meiner perfekten Vorplanung geschuldet, eine Rolle Klopapier dabei. Es ist schon sehr ungewohnt und wenig anonym, so inmitten des Waldes den „Allerwertesten“ blankzuziehen und sein Geschäft zu vollrichten. Hinter mir knackt ein Ast. Erschrocken springe ich sofort aus der Hocke hoch, weil ich vermute, gleich kommt der grimmig dreinschauende Oberförster, der mich schnauzend der Umweltverschmutzung bezichtigt und von mir verlangt, den Dreck gefälligst unverzüglich zu entfernen und wieder mitzunehmen. Selbst der niedlich zwitschernde Vogel auf dem Baum scheint nicht fröhlich vor sich hin zu trällern, sondern das Gezwitscher verändert sich in meinen Ohren und es hört sich, wie aus dem Nichts kommend, nach Gemecker an. Jetzt habe ich aber die Schnauze voll. Da schimpfe ich lauthals zurück: „Hör bloß auf, hier so herumzumeckern, schließlich kackt ihr auch immer auf meinen weißen Mercedes, am liebsten, wenn er frisch gewaschen und poliert aus der Waschstraße kommt.“ Irgendwie denke ich, jeden Moment kreuzt eine Wandergruppe die geschützte Position und alle aus der Gruppe schauen auf meinen nackten Hintern. Oder schlimmer noch, man wird von einer Horde wilder Mountainbiker bei der Verrichtung des Geschäfts umgefahren. Also beeile ich mich, damit mich niemand so mit meiner heruntergelassenen Hose sieht. Bei einem bin ich mir absolut sicher, auf dem Pilgerweg wird das Ganze deutlich anonymer! So viele Wanderer sind dort bestimmt nicht unterwegs und die Gegend bietet auch garantiert mehr Freiraum, ein stilles Örtchen zu finden. Beim Hintern abwischen bemerke ich: Klopapier, das Zuhause als die einzig wahre Art des Saubermachens angesehen wird, erscheint hier in der Natur als denkbar ungünstig. Dann probiere ich es mit einem Markentaschentuch und siehe da, es erweist sich als viel bessere Variante. So bin ich dem rumorenden Döner im Magen plötzlich sehr dankbar für diese unerwartete Erfahrung. Trotz alledem beschließe ich daheim, bei der Wanderkleidung sicherheitshalber die weißen Unterhosen gegen schwarze auszutauschen.

Sicher ist sicher!

Wieder in der Wohnung angelangt, korrigiere ich meine Ausrüstungsliste auf den allerneusten Kenntnisstand. Weiße Unterhose durch dunkle ersetzt und die Rolle Klopapier durch zwei Packungen Taschentücher.

Am Abend fahre ich letztmalig zu einer Freundin nach Berlin. Sie ist so die einzige Person, die mich nicht von der Pilgerreise abhalten will. Bei der Rückfahrt sehe ich kurz vor meiner Ausfahrt noch ein Riesenplakat. Das ist gigantisch und misst mindestens fünf mal fünf Meter. Es ist eines von diesen Werbebannern, auf denen sonst nur Möbelhäuser oder Einkaufszentren werben. Auf dem Schild steht in riesigen Lettern: „Ich halte dich - Gott -“, das Werbeschild ist dort so platziert, wie höchstpersönlich für mich geschrieben, als hätte man mich hier heute erwartet. Als würde mich jemand abfangen, um mir noch eine Botschaft mitzuteilen. Irgendwie fühle ich mich seltsam berührt.

Dritter Vorbereitungstag: Abschiedsparty

Manches Mal im Leben gibt es Zufälle, die gibt es gar nicht, die kann man einfach nicht glauben. Zugegeben, an Zufälle glaube ich im normalen Leben sowieso nicht. Doch am letzten Wochenende, als ich mit meinem Freund aus Magdeburg eine kleine Abschiedsfeier im gemeinsamen Lieblingsclub, dem First, veranstalte, lernen wir noch ein paar nette Frauen kennen. Eigentlich soll die Feierlichkeit in einem bescheidenen Rahmen erfolgen, da die Pilgerreise teurer wird, als ich es vor Wochen veranschlagte. Die Feier nimmt eine grundlegende Wendung und gerät aus den Fugen, als wir eine Flasche Champagner der Marke Moet Chandon bestellen. Es hat sich komischerweise alles gegen uns verschworen, denn die Mitarbeiter des Clubs scheinen uns persönlich zu kennen und begrüßen uns auffallend herzlich wie freundschaftlich. Als dann sogar der Inhaber die komplette Runde am Tisch mit Handschlag begrüßt, ist es aus mit der bescheidenen Party. Irgendwie läuft ab dem Zeitpunkt alles aus dem Ruder und wir ordern die zweite Flasche. Die Frauen tanzen in aufreizenden Posen mit freiem Bauch an unserem Platz. Es ist eine ausschweifende Abschiedsparty, die ich sehr genieße. Doch mein Freund und ich sind zu betrunken, um noch irgendetwas mit den Schönheiten anzufangen.

Jetzt gehe ich nochmal auf den Zufall ein. Über mehrere gemeinsame Bekannte aus dem First bekommt eine der Grazien meine Telefonnummer heraus. Es ist genau die Reizvollste, die mir jenen Abend am besten gefiel und so schön aufreizend bauchfrei am Tisch tanzte. Wie sie es hinbekam, ist mir unklar, aber sie schaffte es irgendwie. Diese wunderschöne Frau schreibt mir tags drauf über WhatsApp eine Nachricht und schickt mir sogleich ein Foto, zusätzlich das Video von ihr, in dem sie mit erhobenem T-Shirt für uns tanzte. Leute, wir leben in einer absolut geilen Zeit! Jedenfalls habe ich von dem Tag an für mich beschlossen, nirgendwo mehr bauchfrei zu tanzen, schließlich gibt es immer jemanden, der es filmt.

Sie muss nicht lange herumwundern, denn als Mann ergreife ich sofort die Initiative und möchte sie unbedingt treffen. Da es Wochenende ist, frage ich sie, ob sie vielleicht gleich heute kann. Wie der Zufall es so will, sie kann. Die ganze Zeit gehe ich neuen Frauenbekanntschaften aus dem Wege. Selbst wenn ich einmal von einer hübschen Frau in einem Club angelächelt wurde, habe ich zurückgelächelt, mich auf dem Absatz umgedreht und bin abgehauen. Alles, was mich von meiner Pilgerreise hätte abhalten können, bin ich in den letzten Wochen aus dem Wege gegangen und nun das! So kurz vor der Abreise begegne ich jener Schönheit mit diesem makellosen Bauch sowie reizvollen wie perfekten Figur.

- Gott - jetzt brauche ich in der Tat deinen Halt!

Bitte stehe mir bei!

Eine Frage hingegen beschäftigt mich: Soll das etwa nochmal eine harte Prüfung für mich sein? Will Gott mich prüfen, wie fest ich im Glauben bin und ob ich wirklich auf Pilgereise gehen will? Ja, ich will pilgern, aber ich will auch unbedingt diese Frau treffen. Es ist wie ein Zwang, als hätte sie mich hypnotisiert und auf sie programmiert. Ich möchte sogar mehr, als sie nur wiedersehen. Sie ist eindeutig erheblich jünger als ich, was man ihr im Gesicht nicht so offensichtlich ansieht, doch am Körper ist es umso sichtbarer. Ich muss sie unbedingt haben, um genau dort weiterzumachen, wo wir am Vorabend aufgehört haben.

Lieber Gott, ich danke dir, du bist allwissend und sehr großzügig zu mir. Ja, du „führest mich in Versuchung.“

Aber bevor ich ihr am Abend begegne, mache ich noch einen Trainingslauf. Aus Zeitknappheit bin ich heute kurzerhand nur sechzehn Kilometer gerannt. Als ungefähr die ersten drei bis vier Kilometer hinter mir liegen, kommt es mir vor, als setzte ich nicht mehr einen Schritt vor den anderen. Nein. Es fühlt sich urplötzlich ganz eigenartig an, in etwa so, als wenn ich gar nicht mehr laufe, sondern es ist wohl eher ein Hüpfen. Die Schwerkraft scheint für mich ausgesetzt. Meine Fußspitzen berühren zart den Boden und von Erdanziehung befreit schnellt, mein Körper federleicht hoch. Bei jedem einzelnen Hüpfer bekomme ich das Gefühl, als ob er mich spielend ein paar Meter und mehr vorwärtsbringt. Es ist beinahe wie Schwerelosigkeit. Ja, ich fange an zu schweben. Mein MP-4-Player spielt von Pearl Jam den Song „Wishlist.“

Ich drücke auf die Repeattaste, um es wieder und wieder zu hören. Eine Strophe brennt sich mir dabei besonders ins Gehirn ein, wie ein Brandzeichen auf dem Rinderarsch einer amerikanischen Kuh: „I wish i was an Alien, at Home behind the Sun.“ Ich lausche dem Lied geschätzt 30-Mal und erkenne: Den Wunsch, ein Alien zu sein, welcher hinter der Sonne Zuhause ist, kann ich von meiner Wunschliste streichen, denn das bin ich bereits hier auf Erden. Ich empfinde mich auf diesem Planeten fremd und nicht mehr zugehörig. Logischerweise muss ich aus einer fernen Welt stammen, fühle mich anders als alle anderen.

Keine Ahnung, warum das so ist, ich bin eben ein Alien.

Abends treffe ich die Schönheit, sie heißt Swetlana. Als sie an der verabredeten Stelle aus dem Gebäude herauskommt, stockt mir der Atem. Ich sehe ihre Silhouette und bin sofort hellauf begeistert. Als der liebe Gott schöne Körper verteilte, ist er bei ihr besonders großzügig und spendabel gewesen. Sie hat einen grazilen Body getragen von unendlich erscheinenden Beinen, einer schlanken, wohl definierten Taille und Schulterpartien die ähnlich angenehm rund wie ihre Brüste geformt sind. Das Dekolleté zeigt wunderschöne Schlüsselbeine die von einem perfekten Hals gekrönt werden. Ihr makelloses Aussehen wird durch ein gekonnt anmutiges Auftreten unterstrichen. Ihre Bewegungen erinnern an die einer erhabenen Gazelle. Scheinbar fühlt sie sich ebenso zu mir hingezogen wie ich mich zu ihr. Es ist beinahe so, als wenn wir uns schon ewig kennen. Sie muss auch ein Alien sein!

Man, war das eine Nacht!

Am Morgen ist ihre Haut leicht salzig, duftet dabei herrlich und glänzt so schön sanft und seiden mit einem angenehmen sonnengebräunten Teint. Ihre Frisur sitzt nicht mehr so perfekt wie am Beginn des Treffens. Ihre Küsse schmecken so herrlich frisch und unbeschreiblich lecker, sodass ich es hier auch nicht weiter ausführen möchte. Sie spricht mit so einem niedlichen Akzent, der mich fesselt und mich jedes einzelne Wort, das ihre Lippen passiert, wie eine komplette Sinfonie der Sinne genießen lässt.

Vierter Vorbereitungstag: Zweifel und Angst übermannen mich

Als ich am Morgen aufwache, weiß ich, dass diese Nacht für einen ganzen Trainingstag gut gewesen sein muss. Ich glaube, Gott hat heute den Willen und meine Entscheidung zu pilgern auf die größte Prüfung gestellt, die er einem Mann so kurz vor einer wochenlangen Abreise stellen kann. Fast alle Freunde haben versucht, mir die geplante Pilgerreise als wahnwitzige damit aberwitzige Idee auszureden, ohne Erfolg. Der Wunsch hat sich von Tag zu Tag gesteigert und manifestiert. Ich weiche seit Wochen jeder sich bietenden Frauenbekanntschaft aus und jetzt lerne ich Swetlana kennen. Wir hatten einen supergeilen Abend und eine noch geilere Nacht. Sie ist eine von diesen atemberaubenden Schönheiten, deren Blicken sich kein Mann ernsthaft entziehen kann. Eine Frau mit dreiunddreißig und einem einmaligen Body. Ihr Bauch ist so flach wie der Bodensee und lässt die Muskulatur geschmeidig durchblicken. Sie sieht aus, als ob sie aus einem Hochglanz-Fitnessstudio-Prospekt entsprungen ist. Mir ist bewusst, dass nicht jeder Mann auf diese Art von durchtrainierten Körpern steht, denn das habe ich bis zu ihrem Kennenlernen auch von mir gedacht. Doch jetzt bin ich von ihrem Antlitz verzaubert. Der Hintern hat mir beim ersten Anblick den Atem verschlagen. Wenn es den Beruf des Arschmodels wirklich geben sollte, sie ist die perfekte Besetzung dafür. Früher wusste ich nie etwas mit der Redewendung, „mit dem Arsch kannst du Nüsse knacken“ anzufangen, aber jetzt ist mir klar, was damit gemeint ist. Sie hat mein Alter auf schmeichelhafte einundvierzig geschätzt und lag mit ihrer Schätzung „nur“ sechs Jahre daneben. Doch ich ließ sie in diesem Glauben.

Als ich ihr am Morgen erzähle, dass ich am kommenden Mittwoch eine circa zweimonatige Pilgerreise antrete, schweigt sie lange. Ihre ersten erschrockenen Worte sind: „Nein Lars, das kannst du nicht machen. Du nimmst mich mit zu dir und fährst in nur vier Tagen für zwei Monate fort? Nein Lars, das geht nicht.“ Irgendwie hat sie damit recht und ich rufe Rat fragend meinen Freund Emanuel an. Er gibt in seiner weisen Art natürlich keinen Ratschlag, sondern meint nur, ich solle tun, was mir am wichtigsten erscheint. Mir ist klar, Gott stellt mir die härteste Prüfung von allen, denn seit drei Jahren wünsche ich mir nichts Sehnlicheres, als eine feste Beziehung mit einer schönen, klugen und mich liebenden Frau. Sprechdenkend antworte ich: „Swetlana, wir haben volle drei Tage der gemeinsamen Zeit. Wir können jede einzelne Minute davon zusammen verbringen.“ Gedacht getan. Sie ist wirklich spontan für diese Zeit bei mir eingezogen.

Jetzt bin ich sicher: Gott will mich tatsächlich nochmal prüfen!

Doch mein Entschluss zum Pilgern steht wie in Stein gemeißelt fest. Ob das am Abfahrtstag noch so sein wird, wird sich zeigen.

Erstaunlicherweise geht die Nervosität von Tag zu Tag zurück. War ich doch vor kurzem so nervös, dass ich kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Machte mir nur Sorgen, ob ich auf dem Boden schlafen kann, ob das Campen in der freien Natur überhaupt etwas für mich ist? Ob es ausreichend Wasserstellen gibt? Mein Körper den Anstrengungen standhält? Ob mein Schulenglisch genügt, um mich in Frankreich oder Spanien zu verständigen? Zweifel über Zweifel taten sich noch vor Tagen auf. Die sind nun der Ruhe und der Klarheit gewichen, das Richtige zu tun.

Ich höre eine innere Stimme, die mir die ganze Zeit sagt: „Lars, du tust das einzig Richtige.“ In mir schwebt die Gewissheit, wenn ich es jetzt nicht mache, dann tue ich es niemals, diese Haltung kenne ich nur zu Genüge. Der innere Schweinehund ist all-zugut im Erfinden von flüchtigen Ausreden bei unbequemen, anstrengenden sowie ungeliebten Vorhaben. Da fällt mir unweigerlich eine Passage aus einem meiner Lieblingsbücher ein.

Zitat:

Angst ist ein gutes Leitsystem, aber ein schlechter Ratgeber. Sie führt sie genau an die richtige Stelle – und sagt Ihnen dann: „Tu´s nicht!“ In diesem Moment müssen Sie für sich selbst klären, was hinter Ihrer Angst steht: eine reale Bedrohung oder ein kleines ängstliches Kind.

Tja, bei mir ist es dann wohl eher das angstgeplagte Kleinkind, welches zu mir spricht. Das Buch: Und täglich grüßt dein Lebenstraum, hat einer meiner besten Freunde, Emanuel Koch, geschrieben.

Ohne ihn und sein Buch hätte ich nie den Mut aufgebracht die Strapazen, die Zeit ohne Einkommen, ohne eine Wiederkehr in eine heile und vorgeplante Welt den Jakobsweg zu beschreiten. Früher war ich stets der Meinung, dass die unterschiedlichen Angstgefühle eine Art Warnsystem in uns Menschen darstellen, uns so vorgewarnt vor Unheil in Acht nehmen lässt und schützt. Durch diese Lektüre weiß ich heute, dass Furcht ein Leitsystem darstellt und vor meinen größten Lebensentscheidungen habe ich immer Angst, Respekt und Fracksausen gehabt. Vor wenigen Tagen hatte ich noch so viel Muffensausen, nicht einmal über die Pyrenäen zu gelangen, dass ich mich am liebsten um-entschieden hätte. Doch habe ich mich damals schon der Furcht gestellt und ihr mutig entgegengerufen: „Ja, ja, Angst ... ich weiß genau, was du mir mit dem mulmigen Gefühl sagen willst. Es ist eine Lebensaufgabe, an der ich nach ihrer Vollendung extrem wachsen werde. Ich gehe fort und komme als ein anderer wieder, ich kehre als besserer Mensch zurück, mit Lebensmut und Lebenssinn.“ Meine Angstgefühle müssen es gehört und verstanden haben, denn sie scheinen augenblicklich resigniert zu haben. Die Furcht weiß, dass da jetzt nichts mehr zu machen ist, und lässt mich scheinbar in Ruhe. „Danke Emanuel“, denn ohne dieses Wissen hätte ich ganz bestimmt bis zur letzten Minute mit meinen Angstzuständen kämpfen müssen. Angstgefühle vor etwas zu haben ist also nichts Schlimmes, was nur Angsthasen, Weicheiern und Schissern widerfährt. Nein, Angst stellt dir die Weichen in die richtige Richtung.

Der Trainingstag verläuft abermals sehr entspannt. Die Tagesetappen von fünfzehn bis zwanzig Kilometer stellen für meinen Körper keine außergewöhnliche Strapaze mehr dar. Habe aber extremen Muskelkater in der Schulterpartie und in den Oberschenkeln, was mich doch überrascht, denn bezeichne ich mich selber als Hobbyläufer. Bis dato war ich der Meinung, meine Oberschenkel seien für diese Wanderung bestens trainiert.

Fünfter Vorbereitungstag: Ich stelle mir meine persönliche Sinnfrage

Heute bin ich mit heftigem Muskelkater aufgewacht. Die Beine fühlen sich bleiern und schwer an. Ich spüre den quälenden Schmerz im gesamten Oberschenkelmuskel. Der Muskelschmerz zieht sich vom Schulterbereich nach unten und endet knapp vor meiner Kniescheibe. Am schlimmsten hat es die Schulterpartien erwischt. Die kommen mir vor, als hätte ich auf einem Punk-Konzert eine übergewichtige Freundin volle zwei Stunden auf den Schultern sitzend, getragen. Getragen ist noch zu gelinde ausgedrückt, denn die schwere Bekannte muss auch im schnellen Rhythmus der Musik frenetisch, ausflippend auf meinem Schulterbereich wild mitgepogt haben. Himmel noch eins, der Muskelkater zieht sich schmerzend von der Schulterpartie bis tief runter in den Rückenbereich. Kurzerhand beschließe ich, heute das Training mit Rucksack ausfallen zu lassen, stattdessen einen kurzen, beschwingten Jogginglauf von zwölf Kilometern einzuschieben. Mir fällt sofort auf, wie leicht sich das Laufen, befreit vom Ballast, anfühlt. Überhaupt scheint es mir gut-zutun, ganz ohne Gewicht hier durch die Natur zu hüpfen, und das schöne Wetter dabei zu genießen. Wieder Zuhause angekommen, kümmere ich mich nach der Dusche erst einmal um den Muskelkater. Mir ist beim lustigen vor mich hin Joggen eingefallen, dass ich in der Vergangenheit zum schnelleren Abbau der Übersäuerung meiner Muskeln ein bestimmtes Präparat aus der Apotheke zu mir nahm. Früher, damit meine ich die Zeit, als ich intensiv gelaufen bin, und zielgerichtet für einen Stadtmarathon trainierte. Damals hatte ich Trainingswochen, deren Laufleistung, je näher sich die Zeit auf dem Marathonstart zubewegte, sich immer weiter ausgeweitet hat. In der Spitze umfasste das Training ein Pensum von 100 Kilometern pro Woche. Logischerweise sind seinerzeit die Muskeln auch ständig übersäuert und von Muskelkater geplagt gewesen. Ich schluckte zu der damaligen Zeit ein Medikament, welches die Übersäuerung schneller abbaute, somit eine höhere Trainingsleistung ermöglichte. Also spaziere ich los, kaufe mir eine 200er Packung von den Anabol Loges Intens, zusätzlich eine Schachtel Magnesium.

Mir wird die Spiritualität der Pilgerreise zunehmend bewusster, sie ist regelrecht er-fühlbar. Es ist ein herrliches Gefühl des Bewusstseins. Mir ist unklar, woher dieser Bewusstseinszustand, die Gedankenansätze, die ganzen Bilder im Kopf, die Feinfühligkeit, die enorme Liebe und die Zuversicht, es wird sich schon alles in meinem Leben richten, herkommen. Liegt es daran, dass ich körperlich erschöpft bin? Dass der Tag der Abreise immer näher rückt, bzw. da-ran, dass ich mich in den letzten Wochen so intensiv mit dem Thema des Pilgerns auf dem Jakobsweg auseinandersetzte? Oder liegt es gar an Swetlana, die in mir ein bis jetzt verschlossenes Tor aufstieß? Am Nachmittag setze ich mich in mein super bequemes Bett und denke noch mal in Ruhe über das vergangene Leben nach. Insbesondere über die Phase nach der Trennung. Nun wird mir klar, warum ich mir in den letzten Jahren so leer vorgekommen bin. Je näher ich der Pilgerreise komme, desto sicherer bin ich mir, den Grund zu kennen. Ich erkläre es mir mit folgender Gleichung: Wie soll Gott in dich hineinkommen, dich mit Glauben und Liebe aus-„füllen“, wenn du randvoll bist? Überfrachtet mit Glaubenssätzen, Ablenkungen, Gedanken und unnötigem Informationsmüll. Du musst entleert sein und je leerer desto besser, denn umso mehr freier Raum steht für Gott zur Verfügung. Mir geht ein helles Licht der Erleuchtung auf.

Das ist der wesentliche Beweggrund für eine Pilgertour. Alle Menschen, die ein „Fehlen“, eine „Leere“ in sich spüren, wollen und müssen irgendwann pilgern gehen. Jeder, der nach Sinn im Leben sucht, trägt eine Leere in sich.

Warum sollte ich nach dieser Erkenntnis noch pilgern? Ganz einfach, weil es aus der Leere eine Art Vakuum, einen hohen Unterdruck, entstehen lässt. Wenn du jetzt pilgerst, suchst du den Kontakt zu Gott. Dein eigener Vakuumzustand saugt zum Druckausgleich Gott und Gottes Liebe förmlich in deinen Körper und Geist hinein. Alle Pilger durchlaufen diese Erfahrung für sich, jeder an einer anderen Stelle der Wegstrecke und in einem individuellen Ausmaß. Darum ist die Erkenntnis für den Einzelnen so mystisch, spirituell und unterschiedlich. Denn wenn dein Vakuum am größten scheint und du den Kontakt zu Gott suchst, dann saugst du ihn in dich auf, und zwar voll und ganz. Gott ersetzt deine Leere, den Zustand des Fehlens, vollkommen und endgültig. Darum ist es auch so ein erfüllendes Gefühl. Jeder Pilger spürt es individuell auf die eigene Art und Weise. Du bemerkst exakt, wann Gott in dich hineinströmt.

Am Nachmittag kommen noch einige Freunde spontan auf einen Besuch bei mir vorbei. Sie scheinen instinktiv zu wissen, dass der Lars, der von der Pilgerreise zurückkehren wird, ein anderer sein wird als der Lars von heute. Ich werde auf mein ständiges Lächeln angesprochen und gefragt, ob ich irgendwelche Drogen zu mir nehme? Einer von ihnen sagt es ganz direkt: „Lars, es ist unnatürlich. Du hast so sehr darunter gelitten, dass deine Exfrau sich von dir getrennt hat und häufig gesagt: Wenn du deinen Partner vernachlässigst, dann sei gewiss, es gibt immer jemand anderen, der diese Aufgabe gerne für dich übernimmt und dir deinen Partner wegnimmt. Jetzt hast du auch noch das Desaster einer Insolvenz durchlebt, stehst vor dem existenziellen Nichts, hast keinen Job mehr, weißt nicht was, dich nach der Wiederkehr erwartet und lächelst jetzt mit einer inneren Zufriedenheit vor dich hin, als führest du das vollkommene Leben. Lars, das ist krank! Du musst ganz sicher irgendwelche Drogen nehmen“. Ich erzählte ihm von dem Riesenplakat auf dem geschrieben steht: