Spätzle in Japan - Petra Sterk - E-Book

Spätzle in Japan E-Book

Petra Sterk

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Beschreibung

»Spätzle in Japan« ist eine Art Reisebericht: Die Autorin ist Mitte zwanzig und lebt in München, als sie das erste Mal von Panikattacken heimgesucht wird, die sie einiges in Frage stellen lassen. Es folgen Therapie, Beziehungsversuche und ferne Länder. Der Leser wird auf eine äußere und innere Reise voller eindrücklicher Erlebnisse und persönlicher Entwicklung mitgenommen. Doch das Buch will nicht nur eine Erzählung sein. Es will anregen, sich mit dem eigenen Leben wohlwollend auseinanderzusetzen und aus Erfahrungen zu lernen. Und es will ein Anstupser sein für die, die vielleicht gerade irgendwo auf ihrem Weg stecken geblieben sind.

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Über die Autorin:

Petra Sterk, Jahrgang 1985, lebt in ihrer Wahlheimat Augsburg und hat sich bisher weniger mit dem Schreiben als mit dem Leben beschäftigt.

Nach ihrem Kommunikatonsdesign-Studium in Nürnberg verschlägt es sie beruflich nach München. Dort wird sie von Panikattacken sowie anderen Widrigkeiten heimgesucht und entdeckt schließlich das Langzeit-Reisen für sich.

Die Erlebnisse und Lehren dieser Zeit verarbeitet sie in diesem, ihrem ersten Buch, getreu dem Motto: Den Taten müssen auch mal Worte folgen. Oder so ähnlich.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Angst

Kapitel 2: Allein

Kapitel 3: Aufbruch

Kapitel 4: Fahrtwind

Kapitel 5: Überwindung

Kapitel 6: Fragestunde

Kapitel 7: Mai

Kapitel 8: Gepäck

Kapitel 9: Achterbahn

Kapitel 10: Hamsterrad

Kapitel 11: Entdeckungsreise

Kapitel 12: Pläne

Kapitel 13: Reisealltag

Kapitel 14: Gegenwind

Kapitel 15: Spätzle

Kapitel 16: Achttausend

Kapitel 17: Luftballon

Kapitel 1

Angst

Es raste, es raste wahnsinnig schnell. Als würde es jeden Moment aus meiner Brust springen und einen Marathon um die ganze Welt laufen wollen. Kurz vor dem Ziel würde es vor Erschöpfung zusammenbrechen, mein armes Herz. Ich schwankte, ich taumelte. Zumindest fühlte es sich so an. Eigentlich saß ich nur starr vor Schreck und Angst in meinem Schreibtischstuhl.

Ich war allein im Büro, die Chefs und die Kollegin waren außer Haus und ich nutzte die ungestörte Zeit, um all die liegengebliebenen Sachen zu ordnen. Der Stress der letzten Tage und Wochen, die Messevorbereitungen, es war endlich geschafft. Ich konnte wieder durchatmen und genoss die Ruhe in den Altbauräumen der Agentur. Ruhe. Bis zu dem Moment, in dem mein Herz aus dem Nichts anfing zu rasen. Eine überwältigende Panik überkam mich. Was, wenn es so schnell schlägt, dass es am Ende wirklich stolpert und dann keine Lust mehr hat, weiter zu laufen? Was, wenn ich nun einfach umkippe und keiner ist da, um mir zu helfen? Was, wenn ich sterbe? Jetzt, hier?

Es war früher Nachmittag und es war einer dieser Mai-Tage, nicht warm, nicht kalt, aber die Milde des bevorstehenden Sommers lag schon in der Luft. Hier draußen auf der Straße, aus der Isolierung der Agenturräume befreit, fühlte ich mich schon sicherer. Sollte ich hier umkippen, würde es wenigstens nicht unbemerkt bleiben. Mein Herz rannte ungebremst weiter und ich steuerte Hilfe suchend auf die gegenüberliegende Apotheke zu. Die Frau hinter dem Tresen sah mich zunächst skeptisch und dann besorgt an, als ich ihr von meinem organischen Wettrennen erzählte. Die Besorgnis in ihren Augen verstärkte sich, als sie meinen Puls und meinen Blutdruck kontrollierte. Anscheinend nichts, was man mit einer Tablette oder Bachblüten hätte in den Griff bekommen können. Schade eigentlich. Die Apothekerin entschied sich, mich lieber in ärztliche Hände zu übergeben. Zehn Minuten später lag ich dann auf einer Liege in einer Arztpraxis, gerade mal zwei Stockwerke über der Apotheke. Betablocker, soweit ich das verstanden hatte, tropften in meine Venen und taten nach einer Weile auch ihren Dienst. Mein Herz beruhigte sich und fand zu seiner normalen Geschwindigkeit zurück.

Ich war nicht gestorben. Das war schon mal gut. Ich hoffte, was auch immer das gewesen war, es würde nicht wieder passieren. Pustekuchen. Als hätte ein einmaliger Warnschuss meines Herzens nicht gereicht, versuchte es stattdessen wiederholt, neue Rekorde in Sachen Geschwindigkeit und Länge aufzustellen. Immer wieder. Manchmal hatte ich tagelang nach solch einem Herzrennen ein beklemmendes Gefühl in meinem Brustkorb. Damit ich auch ja nicht vergaß, dass etwas nicht stimmte. Meistens veranstaltete mein Herz diese Rennen, wenn der Rest meines Körpers zur Ruhe kam. Abends auf der Couch, lesend im Bett, oder beim Genuss einer Gorgonzola-Spinat-Pizza beim Lieblingsitaliener. Am gemeinsten waren die Attacken aber nachts, wenn ich mit Übelkeit aus dem Schlaf aufschreckte.

Der Ablauf dieser Attacken war immer der gleiche: erst fühlte ich mich nur etwas unbehaglich, dann trat eine augenblickliche Appetitlosigkeit mit leichter Übelkeit ein und schließlich rannte mein Herz los. Es raste und schien mir die Kehle hinaufspringen zu wollen. Manchmal kam es mir vor, als würde mein Brustkorb gleich explodieren. Dann wurde mir meist schummrig, das Gefühl einer bevorstehenden Ohnmacht stellte sich ein. Ständig schwang dabei die Angst mit, mein Herz könnte sich diesmal wirklich übernehmen und am Ende einfach ganz aufhören zu schlagen.

Nie zuvor in meinem Leben hatte ich mich so beschissen gefühlt. Hilflos, die Kontrolle über den eigenen Körper verlierend. Natürlich war mir klar, dass dies kein dauerhafter Zustand sein konnte. Ganz normale Dinge wie etwa ins Kino gehen, Wandern oder eine Zugfahrt wurden zur Belastungsprobe, da ich nie wusste, wann es wieder los geht. Ganz abgesehen davon, dass es mir auch ziemlich unangenehm war, auf Arbeit zu erklären, warum ich manchmal kollabiert unterm Schreibtisch lag. Mein kompletter Alltag war durcheinandergeraten, beherrscht von diesen Attacken und der Angst vor ihrem plötzlichen Auftreten. Das schlimmste war, ich wusste nicht, woher sie kamen und was ich dagegen tun konnte.

Die nächsten Wochen stand Ursachenforschung auf dem Programm. Unter anderem durfte ich 24 Stunden lang einen kleinen Kasten um den Hals tragen, der bei einer auftretenden Attacke gegebenenfalls Unregelmäßigkeiten aufzeichnen sollte. Doch just an diesem Tag hatte mein Herz keine Lust auf sportliche Herausforderungen und blieb ruhig. Meine Schilddrüse konnte als Verursacher ausgeschlossen werden und auch ein Besuch beim Herzspezialisten blieb weitestgehend ergebnislos. Dort erfuhr ich, dass eine meiner Herzklappen minimal undicht sei, ich damit aber gut und gerne Leistungssport betreiben könnte, bis ich 120 bin. Das war einerseits interessant, half mir andererseits aber nicht weiter. Jetzt war ich erst einmal Mitte Zwanzig, hatte ein rennendes Herz und wusste immer noch nicht warum. Irgendwas stimmte nicht mit mir, das war offensichtlich. Und es wurde nicht besser. Im Gegenteil. Eines Nachts war es so schlimm, dass David, mein Freund und stiller Mitleidender, den Notarzt rief. Er wusste einfach nicht mehr, was tun. In dieser Nacht war ich der felsenfesten Überzeugung, es würde nicht mehr gut gehen, ich würde sterben. Mein Herz schlug so schnell, ich konnte nicht einmal mehr die einzelnen Schläge voneinander trennen. Ich hatte regelrecht Todesangst.

Als der Krankenwagen dann eintraf, hatte mein Herz bereits zwei Gänge zurückgeschaltet. Während vor Ort Puls und Blutdruck gemessen wurden, noch einen weiteren. Anstatt mich darüber zu freuen, schämte ich mich. So viel Drama wegen nichts, wie peinlich. Wie unendlich peinlich. Obwohl sich die Geschwindigkeit meines Herzens bereits wieder dem Normalbereich näherte, musste ich eine Nacht zur Beobachtung ins Krankenhaus. Dort hatte ich dann noch zwei weitere, kleinere Attacken, die aufgezeichnet und somit ausgewertet werden konnten. Keine Unregelmäßigkeiten. Dies schloss weitere, organische Ursachen aus. Eigentlich eine gute Nachricht, aber immer noch keine Antwort, kein Warum. So sehr hatte ich gehofft, eine Erklärung zu finden, einen Ansatzpunkt. Hatte gehofft, etwas zu haben, das behandelt werden kann. Aber nichts dergleichen. Nach der Nacht im Krankenhaus fühlte ich mich kraftlos und verzweifelt. Was stimmte denn nicht mit mir? Langsam kam mir die Idee, dass wenn es nicht mein Körper war, der diese Rennen auslöste, dann musste es doch mein Kopf sein. Aber wie? Und warum?

Reichlich überfordert mit der Situation wendete ich mich an meine Hausärztin. Als ich ihr meinen Gedankengang erläuterte, fragte sie, ob ich derzeit denn Stress hätte. Auf der Arbeit oder Zuhause. Ich dachte nach. In der Agentur war es derzeit recht ruhig und in der Beziehung mit David eigentlich auch. Natürlich war dort nicht alles in Butter, aber es hatte schon schlimmere, streitintensivere Phasen zwischen uns gegeben. Die Wohnung, in der wir nun seit einem halben Jahr lebten, war inzwischen vollständig eingerichtet und fühlte sich bereits nach Zuhause an. Das Verhältnis mit meinen Eltern war wie immer nüchtern und sachlich, aber auch hier gab es keine nennenswerten, negativen Vorkommnisse. Also: nein. Akuten Stress hatte ich gerade wirklich nicht. Das Einzige, was mich stresste, war diese Herzraserei. Daraus schloss meine Hausärztin, es sei sehr unwahrscheinlich, dass die Rennen psychisch bedingt waren. Sie sah mich mitleidig an und gestand, sie habe nun auch keine Ideen mehr. Ich bekam einen wohlmeinenden Händedruck und eine Packung Betablocker mit auf den Weg, die ich nehmen konnte, wenn eine Attacke auftrat. Danke für Nichts.

Und nun?

Es war mir klar, dass mein Herz sein Sprinttraining nicht einstellen würde, nur weil ich ein paar Notfall-Betablocker in meinem Geldbeutel verstaut hatte. Diese halfen zwar etwas, milderten die Attacken ab, mehr aber auch nicht. Die Häufigkeit blieb, sowie die ständige Angst vor erneuten Rennen. Dazu gesellte sich eine gewisse Panik, die mich ereilte, wenn ich die Tabletten mal nicht bei mir hatte. Von meiner Hausärztin allein gelassen, machte sich Frustration in mir breit. Gleichermaßen wuchs aber auch die Überzeugung, dass sie falsch lag, dass es sehr wohl etwas Psychisches sein musste. Nichts anderes machte Sinn, war doch organisch alles ausgeschlossen worden. Auch ein paar Gespräche mit meiner Mutter, ihres Zeichens selbst Medizinerin, festigten meine Vermutung. Also ergoogelte ich mir mein weiteres Vorgehen, denn Nichtstun, das war keine Option. Ich wollte und konnte so nicht weiter machen. Ein Psychiater musste her.

Das klang in meinen Ohren sehr dramatisch, überzogen, aber anscheinend musste das meine erste Anlaufstelle sein, denn ich brauchte eine Diagnose. Einen solchen zu finden war in München nicht schwer, doch dort anzurufen, kostete mich unglaublich viel Zeit und Überwindung. Alles an diesem Anruf war mir peinlich. Zunächst war es mir prinzipiell unangenehm, jemand fremden anzurufen. Dazu der Grund meines Anrufs, unangenehm hoch zehn. War das denn überhaupt nötig? Mussten nicht nur richtig psychisch kranke Menschen zum Psychiater oder Psychologen? Vielleicht übertrieb ich einfach nur und alles würde bald von selbst wieder aufhören. Dann hätte ich mal wieder unnötig Drama gemacht, so wie in der Nacht, als mich der Krankenwagen abgeholt hatte. Das wäre so peinlich. Und überhaupt, es war ja nichts Ernstes, nichts Körperliches. Mein Herz war da allerdings entschieden anderer Meinung und machte mir das durch weitere Rennen mehr als deutlich. Nach ein paar kindischen Tobsuchtsanfällen und »Ich kann das nicht!«-Ausrufen griff ich dann irgendwann doch zum Telefon und vereinbarte einen Termin. Es ging nicht mehr anders.

Panikattacken. Das war meine Diagnose. Nach vielleicht einer halben Stunde Gespräch löste dieser Mensch das Rätsel, das mich nun schon über viele Wochen hinweg begleitet hatte. Einfach so. Als sei es das Normalste und Offensichtlichste auf der Welt. Zunächst war ich erleichtert. Endlich wusste ich, was mein Herz zum Rasen brachte und es war behandelbar, wie man mir mitteilte. Das war toll, aber das wie, das gefiel mir gar nicht. Theoretisch hatte ich dies schon befürchtet, aber dass es nun wirklich zur Realität werden würde, das war etwas anderes. Ich sollte, wenn auch niedrig dosiert, Psychopharmaka nehmen und mich in Therapie begeben. Schluck. Wie weit war ich gesunken? Offiziell psychisch krank. Wie peinlich. Aber es war, wie es war und es galt zu tun, was es zu tun galt. Also begab ich mich auf die Suche nach einer Psychologin, was in einer Großstadt wie München aufgrund der hohen Nachfrage nicht so einfach war.

Letztendlich führte meine Suche mich zu Frau Rosenberg. Dass ich mich zu ihr in Therapie begab, war mehr eine strategische als eine auf Sympathie beruhende Entscheidung. Sie war die Einzige, die einen für mich machbaren, wöchentlichen Termin frei hatte. Donnerstagmittag um zwölf Uhr. Da ihre Praxis mit dem Fahrrad in nur sieben Minuten von der Agentur aus zu erreichen war und ich meine Mittagspause durchaus flexibel verlängern konnte, war das sogar sehr gut machbar. Soweit das Praktische. Natürlich haderte ich mit der Tatsache, dass ich somit allen in der Agentur von der Therapie erzählen musste. Peinlich. Ursprünglich hatte ich gehofft, etwas nach Feierabend zu finden, aber das war unmöglich. Wieder mal nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und überwand mich, meinen neuen, wöchentlichen Mittagstermin zu verkünden.

Zu meiner großen Verwunderung gab es keine komischen Blicke, keine Nachfragen, sondern rundherum nur ein kurzes, verständnisvolles Nicken und das war's. Niemand schien das als peinlich oder seltsam wahrzunehmen, nicht einmal ansatzweise. Vermutlich waren alle mit mir froh, dass ein Grund für meine gelegentlichen, unfreiwilligen Auszeiten unter dem Schreibtisch gefunden war und es Aussicht auf Besserung gab. Vermutlich war ich die Einzige, die sich Gedanken über das Peinlichkeitspotential der ganzen Situation machte.

Also begann ich meine Therapie bei Frau Rosenberg. Leider lief diese sehr schleppend an, das hatte mehrere Gründe. Zum einen konnte ich mich durch die eingequetschte, zeitliche Position in meinem Tagesablauf nie so richtig darauf einlassen und zum anderen stimmte die Chemie zwischen uns einfach nicht. Ihre Ansätze und Methoden prallten an mir ab, denn allzu oft wehrte ich mich mehr oder weniger unabsichtlich dagegen. Das nahm Frau Rosenberg natürlich auch wahr und thematisierte es hin und wieder. Mangels Alternativen blieb ich trotzdem. Ein paar Sachen nahm ich dennoch mit, Entspannungstechniken und Verhaltensstrategien etwa, die mir beim Auftreten der Panikattacken halfen. Bald schlugen dann auch die Psychopharmaka an und ich begann mich besser zu fühlen. Die Häufigkeit und Intensität der Panikattacken wurden weniger. Das wiederum gab mir innere Ruhe zurück, die Grundvoraussetzung, um meine Problematik tiefgreifend anzugehen. In dem Zustand der ständigen Anspannung, in dem ich mich vor Therapiebeginn befand, wäre das undenkbar gewesen.

Diese kleinen Fortschritte machten mir Mut. Genau in dieser Phase schlug mir Frau Rosenberg ein Buch vor (»Wenn plötzlich die Angst kommt: Panikattacken verstehen und überwinden« von Roger Baker), geschrieben von einem klinischen Psychologen, der eine Zeit lang selbst an Panikattacken litt. Dieses Buch holte mich dort ab, wo ich es brauchte. Es gab mir etwas, womit ich arbeiten konnte. Verständnis. Ich begann zu verstehen, was Panikattacken bedeuten, was sie sind, woher sie kommen. Ich lernte, dass diese Attacken im Grunde genommen nichts anderes sind, als die Panik, die einen überkommt, wenn man plötzlich im Wald vor einem Grizzlybären steht. Es sind die gleichen Symptome: weiche Knie, mulmiges Gefühl im Bauch, Übelkeit, Schwindel und ein drastisch erhöhter Puls. Nun gibt es in München viele Tiere, im Zoo unter anderem auch Bären, aber die Wahrscheinlichkeit, von solch einem zuhause auf dem Sofa angegriffen zu werden, ist gering. Genau hier liegt das Problem. Tritt eine Panikattacke auf, tut sie das ohne klar ersichtlichen Auslöser. Der Körper reagiert auf etwas, das gar nicht da ist. Unerklärlich. Doch schafft man es, die Attacke als an sich normale Reaktion des Körpers zu deuten, versteht man auch, dass man nicht daran sterben oder auch nur ohnmächtig werden wird. Im Grunde sind diese Abläufe sogar das Gegenteil von lebensbedrohlich, nämlich überlebenswichtig. Sollte da tatsächlich ein Bär vor uns stehen, pumpen sie Adrenalin in unseren Körper und versetzen uns in Alarmbereitschaft, bereiten uns vor auf die evolutionär in uns angelegte Entscheidung: Weglaufen oder Angreifen. Das alles begann ich zu verstehen und es beruhigte mich.

Eines Abends ließ ich mich, wieder mal von einer Panikattacke geplagt, auf dem Teppich vor dem Sofa nieder. Ich versuchte es mit Ablenkung, mit Fokussierung auf andere Dinge, autogenem Training und was ich sonst noch so in meinem über die Monate hinweg immer größer werdenden Repertoire hatte. Doch nichts half. Ich war frustriert und schließlich gab ich auf. Ich gab einfach auf. Darauf vertrauend, dass, egal wie lang es diesmal dauerte, ich nicht daran sterben würde. Ich sagte zu meinem Herz: »Ok, pass auf, mach' doch einfach was du willst, scheiß' drauf, ich weiß doch auch nicht, was ich tun soll. Ich leg mich derweil hier auf den Boden, gibst halt Bescheid, wenn du fertig bist mit dem ganzen Panikgedöns, was anderes kann ich grad eh nicht machen.« Plötzlich fühlte ich etwas, das ich seit Ewigkeiten nicht mehr verspürt hatte. Erleichterung. Entspannung. Entschleunigung. Mein Herz wurde langsamer. Die Panikattacke hörte auf, einfach so. Ich sank in den blasslila Flokati und atmete tief ein und aus. Tief ein. Und wieder aus. Des Rätsels Lösung war so einfach und so schwierig zugleich. Die Dinge laufen lassen, mit der Zuversicht, dass es am Ende gut sein wird. Sich selbst und seinem Körper Vertrauen schenken. Loslassen. Die Tage vergingen und es zeigte sich: ich hatte die Panikattacken im Griff. Eben, weil ich sie nicht mehr im Griff hatte und es auch gar nicht erst versuchte.

Leider hieß dies nicht, dass ich ganz von ihnen befreit war. Wenn auch selten und leicht, beglückte mich mein Herz ab und an noch mit seinen Rennvorstellungen. Zudem musste ich weiterhin Psychopharmaka nehmen, was sich in meinen Augen unbedingt ändern musste. Denn dass mein Wohlergehen von Tabletten abhängig war, empfand ich als gruselig. Rund ein Jahr war ich nun schon bei Frau Rosenberg in Einzeltherapie. Die Dinge waren besser, mein Alltag war weitestgehend zur Normalität zurückgekehrt, aber nun gab es keinen wirklichen Fortschritt mehr. Die Sitzungen kamen mir immer öfter sinnlos vor.

Das wiederum entging auch Frau Rosenberg nicht und so kam sie eines Tages mit einem neuen Vorschlag auf mich zu. Gruppentherapie. Das sei in meinem Fall, wo es auch eine soziale Problemkomponente gab, sehr zu empfehlen und könne schnell weitere Fortschritte bewirken. Was genau sie damit meinte, verstand ich nicht. Gruppentherapie. Ich musste sofort an Loriot und seinen »Ödipussi« denken: »Sie sind ja wohl das mieseste und primitivste...!« Nein. Es hatte schon ewig gedauert, dass ich die Tatsache, überhaupt in Therapie zu sein, nicht mehr als peinlich empfand und nun Gruppentherapie? In meinem Kopf entstanden Bilder von traurig dreinblickenden, auf Stühlen im Kreis drapierten Menschen. Einer spricht, mit gesenktem Kopf und die anderen nicken mitleidig. Er berichtet vom Tod seiner Zimmerpflanze. Von irgendwo aus dem Kreis fragt die Stimme der ebenfalls anwesenden Therapeutin: »Und was haben sie dabei empfunden?« Der bis jetzt Sprechende bricht in Tränen aus, worauf der Rest des Kreises noch mitleidender nickt. So stellte ich mir das vor. Lächerlich, gefühlsduselig, peinlich. Das sollte mir helfen? Ernsthaft? Ich antwortete Frau Rosenberg, ich würde es mir überlegen. Eigentlich hätte ich lieber direkt nein gesagt, aber ich wollte das Thema fallen lassen und schnell zum Abschluss der Stunde kommen.

Die Woche Bedenkzeit bis zum nächsten Termin änderte meine Einstellung. Denn: let's face it, ich kam nicht weiter und ich wollte unbedingt gesund werden, ohne weiter Tabletten schlucken zu müssen. Also was sollte ich machen? Vielleicht war es wie mit Essen, das man noch nie probiert hat, aber aus Überzeugung nicht mag: Erst einmal versuchen, dann weiß man wenigstens, von was man spricht. Ich stellte meine Zweifel beiseite und teilte Frau Rosenberg schließlich mit, sie habe mich überzeugt, ich wolle das mit der Gruppentherapie probieren. Daraufhin gab sie mir die Kontaktdaten von Frau Günter, die sie mir wärmstens empfehlen könne und die, soweit sie informiert war, freie Plätze in einer ihrer Gruppen hatte. Gerade mal zwei Wochen später saß ich dann tatsächlich für ein Erstgespräch auf einem der Korbstühle von besagter Frau Günter, in ihrer Praxis, mitten im olympischen Dorf.

Ich hatte befürchtet, ich würde direkt in eine der Gruppen geworfen, friss und stirb, aber zu meiner Erleichterung war es nicht so. Zunächst durfte man, also Patient und Therapeut, sich gegenseitig fünf Termine lang beschnuppern. Wahrscheinlich gab es der Therapeutin auch die Möglichkeit, die Gruppentauglichkeit der Patientin einzuschätzen. Vom ersten Termin an war mir klar, ich fühlte mich hier viel besser aufgehoben als bei Frau Rosenberg. Vielleicht war es das reifere Alter von Frau Günter, vielleicht waren es ihre Praxisräume oder vielleicht einfach ihre direkte Art. Was auch immer es war, es ließ mich bleiben und die Einzeltherapie gegen Gruppentherapie eintauschen.

Es dauerte nicht lange, dann kam der Tag, an dem ich der Gruppe vorgestellt wurde. Ich war nervös und immer noch etwas skeptisch, doch wie ich mit Erleichterung feststellte, hier war es nicht wie bei Loriot. Gemeinsam mit Frau Günter, einer Co-Therapeutin und gut einer Hand voll anderer, von ihrer Psyche geplagter Menschen, saß ich im Korbstuhlkreis. Nachdem ich mich vorgestellt hatte, gingen wir direkt zum üblichen Ablauf der Stunde über. Wer etwas zu besprechen hatte, meldete sich, und wer etwas darauf zu sagen hatte, tat dies. Schnell verstand ich das Konzept, das dieser Gesprächsrunde zugrunde lag und es mir leicht machte, mich dort emotional sicher zu fühlen. Eigentlich war es wie ein Austausch mit Freunden, doch es gab Spielregeln und einen Schiedsrichter. Nichts, was in der Gruppe erzählt wurde, durfte nach draußen gelangen und wenn man jemanden Feedback gab, musste das konstruktiv und wohlwollend sein. Eine Biertischrunde light, sozusagen. Ein Austausch in geschützter Atmosphäre.

Die Gruppe wurde schnell fester Bestandteil meiner wöchentlichen Routine und manchmal freute ich mich regelrecht darauf. Anfangs nahm ich noch die U-Bahn, da mir die Entfernung mit dem Fahrrad, mit dem ich sonst immer überall hinfuhr, doch zu weit erschien. Außerdem lag die Praxis am Ende derselben Linie, die auch zu mir nach Hause und zur Agentur führte. Einfach sehr praktisch das alles. Aber ich merkte, dass mir die mentale Vor- und Nachbereitungszeit fehlte. Der Grund, abgesehen vom sportlichen und finanziellen Faktor, warum ich inzwischen auch immer mit dem Fahrrad in die Arbeit fuhr. Jeden Tag. Egal bei welchem Wetter. Egal zu welcher Jahreszeit. Morgens hatte der Körper die Möglichkeit, in Schwung zu kommen, am Abend strampelte ich den Berg hoch und mir damit den Stress von der Arbeit aus dem Kopf. Es tat mir gut. Also stieg ich nun auch jeden Dienstagabend nach getaner Arbeit auf meinen Drahtesel und machte mich auf, Richtung olympisches Dorf.

Als ich den Weg dorthin endlich intus hatte und nicht die ganze Zeit auf das Handy schauen musste, gab mir das eine halbe Stunde Zeit, um Abstand zur Arbeit zu gewinnen und mich mental auf die Gruppe vorzubereiten. Auf dem Rückweg nach Hause saß ich sogar fast eine Stunde auf dem Fahrrad. Nachbereitungszeit. Am Ende dieser Rechnung standen also insgesamt drei Stunden, die nur dafür da waren, an mir zur arbeiten. Zeit ganz allein für mich.

Letztendlich war es vor allem die Zeit auf dem Fahrrad, die mich weiterbrachte, denn anfangs nahm ich nicht gerade aktiv an den Gesprächen der Gruppe teil, sondern hörte nur zu. Als meine Beiträge mehr wurden, waren es meist nur Feedbacks zum Thema eines anderen. Ich fand ihre Probleme faszinierend, denn oft war in jedem vorgetragenen Thema auch ein Stückchen meiner eigenen Problematik versteckt. Jede Anmerkung, die ich machte, war also auch ein Ratschlag an mich selbst. Diese kleinen Denkanstöße, ob von den anderen oder von mir selbst, nahm ich auf mein Fahrrad mit und ließ sie durch meine Hirnwindungen fließen. Immer und immer wieder. Das war gut, das half. Aber meine eigenen Themen vorzubringen, über mich selbst und meine Emotionen zu sprechen, fiel mir unendlich schwer. War mir peinlich. Langsam verstand ich auch, was Frau Rosenberg mit der sozialen Komponente meiner Problematik meinte. Doch es war ein guter Anfang und ich war zuversichtlich, das Thema Panikattacken eines Tages hinter mir lassen zu können. Es war eben noch ein langer Weg.

Nachgedacht: Verstehen, loslassen, repeat.

Es dauerte lange, bis ich wirklich verstand, was mit mir los war. Dank des von Frau Rosenberg empfohlenen Buches konnte ich schnell das Wesen einer Panikattacke verstehen, aber warum diese bei mir auftraten, das musste ich für mich selbst herausfinden. Das tat ich. Die Ergebnisse meiner Denkarbeit waren, im Nachhinein betrachtet, sogar eigentlich recht logisch. Fast schon irrwitzig, durch wie viel Therapiezeit ich dafür gehen musste.

Bildlich gesprochen: ich war eine Wassertonne. So eine dicke blaue, die bei vielen Vorstadthäusern im Garten steht und das Wasser aus der Regenrinne vom Dach des Geräteschuppens auffängt. Mit fest verschlossenem Deckel und einem Hahn, aus dem bei Bedarf Gießwasser entnommen werden kann. Leider gab es in meinem Wassertonnen-Fall kein Sicherheitsloch, aus dem Wasser bei Überfüllung ablaufen konnte und Gießwasser entnahm auch keiner. Das interessierte den Regen aber nicht und so lief immer weiter Wasser in die Tonne. Diese bekam langsam Risse. Immer größere Risse, bis die Tonne eines Tages an mehreren Stellen platzte. Zunächst wurde versucht, die Tonne zu reparieren, sie abzudichten, aber das Wasser drückte immer weiter hinaus. Erst als die vermeintlichen Rettungsversuche aufhörten, konnte das Wasser ungehindert abfließen und es entstand keine weitere Spannung und somit keine Risse mehr. Will meinen, es gab nicht die eine Sache, die zu den Panikattacken führte, sondern eine Fülle an verschiedenen Faktoren, Situationen, Lebenserfahrungen und die Tatsache, dass ich kein emotionales Sicherheitsventil in meinem Leben hatte. Also platzte ich, mein Körper meldete sich und teilte mir unmissverständlich mit, dass da was so ganz und gar nicht stimmte. Der Versuch, meinen Körper zurückzuhalten, ihn zu kontrollieren, machte alles nur schlimmer. Erst als ich losließ, alles abfließen ließ, entwich die Spannung und ich konnte damit beginnen, wieder zu heilen.

Lange hatte ich mich gefragt, warum, warum genau zu diesem Zeitpunkt? Es war doch alles ok. Die Stressphase im Job war vorbei und die Arbeit machte oft sogar Spaß. Ich lebte in einer ruhigen Langzeitbeziehung. Gerade hatten wir ein Auto gekauft. Ich spielte Fußball, was ich schon immer wollte. Alles war doch eigentlich top. Mein Leben war geordnet. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich alles erreicht, was ich mir vorgenommen hatte. Abitur. Ein Diplom. Einen Job. Ein Leben in einer Großstadt. Eine feste Beziehung. Eben alles, was ich wollte.

Doch manchmal ist das, was man will, nicht das, was man braucht. Manchmal sagt einem der Kopf etwas anderes, als was Bauch und Herz einem sagen. Doch basierend auf meiner Erziehung und einer Welt, in der Vernunft und Weitsicht als hohe Qualitäten angesehen werden, war mein Kopf der Bestimmen Das mag für weite Teile meines Lebens auch richtig gewesen sein, aber nun war ich am Ende der von meinem Kopf erdachten Leiter angekommen. Und es war nicht gut dort. Es gab kein Weiter mehr. Das sollte also mein Leben sein? Für immer? Also schrie mein Herz, dass ich es nun endlich auch einmal anhören sollte. Mein Kopf hatte mich in eine Sackgasse manövriert und ich wollte es nicht wahrhaben. Nun sind Kopfentscheidungen nicht immer schlecht, aber eben auch nicht immer gut, denn wirklich glücklich machen sie uns nicht. Wir alle wissen, dass unsere besten Erlebnisse selten aus vernünftigen Entscheidungen resultieren. Denn der Kopf vermag Geschichten zu schreiben, das Herz aber erlebt sie.

Globaler betrachtet ist dieser Unterschied zwischen Wollen und Brauchen, zwischen Kopf und Herz-, beziehungsweise Bauchentscheidung, ein Dilemma, in dem meine ganze Generation steckt. Wir können alles tun, was wir wollen. Alles. Wir müssen uns nur entscheiden. Und genau da liegt das Problem. Wer sich entscheidet, läuft natürlich auch immer Gefahr, eine »falsche« Entscheidung zu treffen. Schock. Panik. Unmöglich! Aber es ist so. Manchmal rennen wir etwas hinterher, von dem wir glauben, dass wir es wollen und wenn wir es dann haben, stellen wir fest: es macht uns nicht glücklich. Nun können wir uns entweder mit der vermeintlich falschen Wahl abfinden, uns mit anderen Dingen ablenken, oder wir ändern etwas. Aber Veränderung ist schwierig und der Abschied vom eigenen Willen oder was man Jahre lang dafür gehalten hat, ist noch viel schwieriger. Niemand gibt gerne seine Orientierung im Leben auf. Aber manchmal, manchmal kann man eben Glück haben wie ich und hat gar keine Wahl. Man wird gezwungen, etwas zu ändern.

Als all dies begann, die Panikattacken, an diesem Nachmittag im Mai und auch in den darauffolgenden, anstrengenden Monaten, könnte ich mir nicht vorstellen zu denken, was ich heute aus tiefster Überzeugung heraus sagen kann: Die Panikattacken sind das Beste, was mir je passieren konnte. Danke Herz, ich danke dir! Ich danke dir, dass du dich zur Wehr gesetzt hast, gegen ein Leben, das ich wollte, das mir aber eigentlich nicht entsprach.

Kapitel 2

Allein

Die Wochen gingen ins Land und ohne, dass es mir so recht bewusst war, waren die Panikattacken verschwunden. Keine Herzrennen mehr. Endlich. Ich war unglaublich froh und auch ein bisschen stolz auf mich. Die Gruppentherapie wirkte also. Ich konnte sogar damit beginnen, die Psychopharmaka langsam auszuschleichen. Ich würde wieder pillenfrei sein! Das alles war toll, aber, aber, da war ein Aber. In der Therapie und meiner Nachbereitungszeit auf dem Fahrrad hatte ich begonnen, überall in meinem Leben zu graben. Ursachenforschung. Das half mir zu verstehen, woher die Panikattacken kamen. Mein Leben glich nun aber einer Baustelle mit lauter Löchern, Gräben und abgetragenen Mauern. Ein unangenehmer, aber notwendiger Schritt, um endlich mal aufzuräumen. Außerdem war es Prävention, damit mein Herz in Zukunft nicht wieder auf unnötige sportliche Aktionen zurückgreifen musste, um mich auf Missstände in meinem Leben aufmerksam zu machen.

Das Auftreten der Panikattacken und das hart erarbeitete Verschwinden selbiger, hatten eine Basis geschaffen, um mich nun so richtig mit allem auseinander zu setzen. Das erste Mal in meinem Leben begann ich, mich gründlich zu reflektieren. Endlich hatte ich wieder die emotionalen und mentalen Kapazitäten, um mich umzuschauen. Leider war eines der ersten Dinge, das auf meinem Radar erschien, meine Beziehung zu David. Er hatte mich während der Zeit der akuten, schlimmen Panikattacken immer unterstützt, aber nun merkte ich immer Öfter, wie er mir auf die Nerven ging. Wie unsere Beziehung mir auf die Nerven ging. Vermutlich war es andersherum nicht besser, denn immer Öfter stritten wir heftig über Kleinigkeiten. Seit gefühlt zwei Jahren schon schlitterten wir langsam, aber sicher einer Explosion entgegen. Ich wusste, ich war 27 und musste mir langsam überlegen, wo diese Beziehung noch hinführen sollte. Aber das Thema erschien mir immer mit zu großen Konsequenzen verbunden, also legte ich es lieber wieder beiseite. Es war eines der größten Löcher auf meiner Baustelle, aber ich ignorierte es geflissentlich. Vielleicht hoffte ich ja, aus dem Loch würde einmal ein schöner Baggersee werden.

Doch die Explosion kam und das Loch war nicht mehr zu ignorieren. Leider geschah dies auf einer Hochzeit, zu der wir eingeladen waren. Nun ist eine Hochzeit nicht der klassische Rahmen, um sich des Endes der eigenen Beziehung bewusst zu werden, aber das sucht man sich ja nicht aus. Der Streit zwischen David und mir war wieder komplett unnötig und an einer absoluten Nichtigkeit entbrannt. Eigentlich hätte er mich verstehen müssen, eigentlich hätte ich ihn verstehen müssen. Stattdessen wollte ich ihn einfach nur erwürgen und er schmollte. Solche Streitereien häuften sich in letzter Zeit, es schien, dass wir nun endgültig die Unzulänglichkeiten des jeweils anderen nicht mehr ausgleichen wollten. Und konnten. Ich suchte nach einer Antwort im Wein. Mit Schwung stürzte ich Glas Nummer drei hinunter und warf mich auf die Tanzfläche. Ich tanzte wie bekloppt. Hatte Spaß wie bekloppt. Wahrscheinlich war ich auch bekloppt. Es tat so gut, die Gefühlssuppe aus Traurigkeit, Wut und Resignation hinunterzuspülen und gleichzeitig aus mir hinaus zu schwitzen. Barfuß. Mit hohen Absätzen geradeaus zu gehen, war schon schwer für mich, beim Tanzen hatte ich mir damit sicher beide Beine gebrochen.

Je mehr ich meinem tanzenden Körper und dem Boden unter meinen Fußsohlen bewusst wurde, desto deutlicher spürte ich auch die Entschlossenheit einer Entscheidung in mir wachsen. Egal wie ich es drehte und wendete, eine gemeinsame Zukunft konnte ich nicht mehr sehen. Dieses Gefühl trug ich nun schon eine Weile mit mir herum, es war nichts Neues. Doch an diesem Abend glich die Vorstellung eines Lebens ohne ihn einer Erleichterung. Das war neu. Allerdings war da noch die andere Seite: wir waren immerhin schon sechs Jahre zusammen und er war eigentlich ein toller Mensch. Das alles wirft man nicht einfach weg. Es war eine zu weitreichende Entscheidung und ich wollte nicht mehr weiter darüber nachdenken. So gönnte ich mir lieber ein weiteres Glas Rotwein, um meine Hirnzellen zu benebeln, stürzte mich wieder ins Vergnügen und stellte fest, dass ich mich wirklich wunderbar amüsierte. Ohne ihn. Auf der Tanzfläche. Allein.

Am nächsten Morgen verabschiedeten wir uns von seiner Verwandtschaft, die den Streit zwischen uns natürlich mitbekommen hatte. Gerade zu seiner Mutter und seiner älteren Schwester hatte ich ein gutes Verhältnis und so überkam mich eine diffuse Traurigkeit, als ich zum Abschied sagte: »Ich glaube nicht, dass wir uns wiedersehen.« Zunächst dachte ich, dass ich diese Worte nur aus Trotz formulierte, um meine Angepisstheit David gegenüber zum Ausdruck zu bringen, aber ich meinte es ernster, als ich vor mir selbst zugeben wollte. Zuhause in der gemeinsamen Münchner Wohnung angekommen, löste sich die angespannte Stimmung auch nicht. Aber immer noch: es waren sechs Jahre, die wir gemeinsam verbracht hatten! Also ließen wir uns Zeit für den Prozess des Lösens, ohne dass wir uns des Prozesses überhaupt bewusst waren. Die Hochzeit war Auftakt für zwei Wochen Urlaub gewesen, den wir eigentlich mit Besuchen diverser Verwandter verbringen wollten. Das fühlte sich nach dem heftigen Streit jedoch nicht mehr richtig an. Auch wenn wir nicht fähig waren, es anzusprechen, so hatten wir wohl beide das Gefühl, dass dieser Streit der berühmte Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Da war etwas, was sich nicht mehr so einfach reparieren ließ. Wir brauchten Abstand. So ging David für zwei Wochen Eltern und Geschwister besuchen und ich blieb allein in München. Nun hatten wir beide Zeit über unsere Beziehung nachzudenken und nachzufühlen.

Nach zwei Wochen Besinnungszeit kam David zurück und wir beschlossen, ganz klassisch, zu unserem Stammitaliener um die Ecke zu gehen, um zu reden. Mein Appetit hielt sich jedoch in Grenzen, auch der Anblick meiner geliebten Spinat-Gorgonzola-Pizza mit extra viel Olivenöl konnte daran nichts ändern. Ich war nervös, unruhig. Wenn wir sonst hierhergekommen waren, stellte sich spätestens beim ersten Schluck Hugo oder Aperol Spritz eine gewisse Entspannung bei mir ein.

Diesmal war mein erstes Glas bereits leer, das zweite auf dem Weg, doch ich fühlte mich immer noch angespannt. Wir sprachen über dies und das. Was er bei seiner Familie gemacht hatte, wie für mich die zwei Wochen gewesen waren und wie wenig wir uns darauf freuten, die kommende Woche wieder zur Arbeit zu gehen. Irgendwann nahm ich dann meinen Mut zusammen. Ich spürte meinen Herzschlag bis zum Kinn, hatte einen dicken Klos im Hals und doch brachte ich es endlich über die Lippen: »Ich glaube, es macht keinen Sinn mehr.«

Davids Reaktion war erleichternd und ernüchternd zugleich: »Das denke ich auch.« Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Dass er mich bitten würde, an der Beziehung festzuhalten? Dass er mit einem Masterplan um die Ecke kommen würde, wie alles sofort besser wird und wir dann glücklich und frisch verliebt zurück nach Hause schlendern? Ich hatte jedenfalls nicht erwartet, dass er mir zustimmen würde. Ich hatte nicht erwartet, dass an diesem Abend unsere Beziehung enden würde. Obwohl ich diesen Gedanken zuerst ausgesprochen hatte, war ich darauf nicht vorbereitet. Das war's jetzt also? Sechs Jahre, bye bye, auf nimmer Wiedersehen? In mir breiteten sich zwei paradoxe Gefühlsströme aus, eine tiefe Traurigkeit, aber auch Erleichterung.

Etwas, worüber ich schon seit Jahren nachgedacht aber nie wirklich in Erwägung gezogen hatte, geschah nun tatsächlich. Ich begann, mich und die Situation um mich herum zu betrachten. Die Terrasse des Italieners sah aus wie immer, sah aus wie all die anderen Male, die David und ich hierhergekommen waren und gemeinsam gegessen hatten. Die Tische, die Stühle, die Blätter der Bäume und die Hecke, die zur Abgrenzung zur Straße diente. Bald war Sommer und alles stand bereits in einem saftigen Grün. Nicht alle Tische waren besetzt und es herrschte eine angenehme Geräuschkulisse. Die Luft war mild und irgendein Baum oder Strauch in der Nähe verströmte einen leichten, blumigen Duft. Alles war normal, schön, wie immer. Bis auf die Tatsache, dass inmitten dieser italo-münchnerischen Kulisse ein Paar saß, das nun kein Paar mehr war. Die beiden Gefühlsströme in mir hatten sich inzwischen neutralisiert und ich fühlte gar nichts mehr. Auch die Anspannung war endlich gewichen und ich konnte nun mit Appetit meine Pizza essen.

Als wir dann gemeinsam den Heimweg antraten, brach in mir unerwartet ein Damm. Mir kamen die Tränen und mir wurde es schwer ums Herz. Denn plötzlich wirkte genau das nicht mehr natürlich, das gemeinsame nach Hause gehen. Ich wusste nicht, wie würde das nun aussehen, das nach Hause kommen. Ich war verwirrt. Denn auch wenn alles in der Wohnung noch genau so war wie vor zwei Stunden als wir das Haus verlassen hatten, so war jetzt doch alles anders. Das war nicht mehr unsere Wohnung. Dort stand nicht mehr unser Sofa. Da war nicht mehr unser Tisch. Und vor allem war dort nicht mehr unser Bett. In all den Dingen in dieser Wohnung war nun kein uns mehr.

Als erste Konsequenz zog David dann aus dem Schlafzimmer auf die Couch. Sie war das teuerste Möbelstück in der Wohnung und etwas überdimensioniert für das schmal geschnittene Wohnzimmer. Beim Kauf hatten wir darauf geachtet, dass sie gleichzeitig ein bequemes Bett abgeben konnte, um Besuchern eine angenehme Nachtruhe zu ermöglichen. Davon profitierte David nun. Ich selbst profitierte davon, dass das Schlafzimmer mehr durch meinen Geschmack geprägt war. Außerdem stand dort mein Klavier, auf dem ich viel zu selten spielte.

So wurde aus der Zwei-Zimmer-Pärchen-Wohnung mal eben eine improvisierte WG. Soweit die Theorie. Denn bis auf das Bett nutzten wir alles wie zuvor. Gemeinsam. Das Bad, die Küche, den Esstisch, der im Wohnzimmer stand. Auch auf der Couch saßen wir manchmal abends noch zusammen, um femzusehen. Wir kauften weiterhin Essen für zwei, kochten meist für beide und die Waschmaschine wurde auch noch mit beiderlei Klamotten befüllt. Einfach, weil es so praktisch war. Einfach, weil wir das sechs Jahre lang so gemacht hatten. Die erste Woche fühlte sich alles noch surreal an. Als dann aber auch der Letzte aus Familien-, Arbeits- und Freundeskreis über die Trennung informiert war, etablierte sich unsere Pseudo-WG als unser neuer Alltag.

Während wir so nebeneinanderher lebten, wurde mir bewusst, dass wir eigentlich schon seit einer ganzen Weile nichts anderes gemacht hatten. Nebeneinanderher leben. Irgendwo zwischen Arbeitsleben, Panikattacken und einem gemeinsamen Auto mussten wir aufgehört haben, ein Paar zu sein. Wahrscheinlich war es gar nicht David selbst, der mich immer wieder auf die Palme gebracht hatte, sondern die Beziehung an sich.

Wahrscheinlich war das der eigentliche Grund für all unsere unnötigen, ausufemden Streitereien gewesen. Wahrscheinlich hätten wir uns schon viel früher trennen können, viel früher trennen sollen. Wahrscheinlich. Bestimmt. Mich beschlich das Gefühl, Zeit vergeudet zu haben. Meine und auch Davids Zeit. Wie hatte ich nur so lange ignorieren können, dass unsere Beziehung keine Beziehung mehr war? Ich hätte es viel früher sehen können, ja vielleicht müssen. Aber so war es nicht gewesen. Es war eben erst an diesem Hochzeitsabend auf der Tanzfläche passiert, dass meinem Herz die Augen aufgingen. Es ging nicht früher, versuchte ich meinem Kopf klarzumachen. Doch dieser schien das nicht so recht akzeptieren zu wollen und bestrafte mich mit länger anhaltenden Grübeleien. Danke auch.

Irgendwann schob ich diese Grübeleien beiseite, denn mir wurde eine andere Problematik bewusst. Nun stand ich also da, mit meiner Entscheidung, mit meiner neu gewonnenen Freiheit, hatte aber kein bisschen Ahnung davon, wie man eigentlich Single ist. Wie man allein ist. Seit meinem sechzehnten Lebensjahr war ich mehr oder weniger immer in einer Beziehung gewesen und wenn nicht, dann war in meinem Leben gerade so viel los, dass ich gar nicht dazu kam, darüber nachzudenken. Aber jetzt hatte ich einen geregelten Alltag und diesen Alltag hatte ich bis vor Kurzem, sechs Jahre lang, mit ein und derselben Person verbracht, davon die meiste Zeit in einer gemeinsamen Wohnung. Das zeitliche, räumliche und zwischenmenschliche Loch fiel dementsprechend groß aus. Wobei das räumliche Loch zunächst relativ war.

Eigentlich hatten David und ich vereinbart, unsere Nachtrennungs-WG möglichst schnell aufzulösen. Da ich ein bisschen mehr verdiente als er und gerade keine Lust auf räumliche Veränderung hatte, war der Plan, dass ich in der Wohnung bleiben und er sich ein WG-Zimmer suchen sollte. Der Münchner Wohnungsmarkt und Davids nicht allzu große Motivation bewirkten allerdings, dass das Provisorium, in dem wir lebten, noch über Monate hinweg bestand. Es war somit noch viel schwerer, sich vollständig aus der Beziehung zu lösen und sich auf die eigenen zwei Beine zu stellen. Da ich in der Wohnung nur selten meine Ruhe hatte, wünschte ich mir umso mehr, einfach mal rauszugehen. Frei zu sein. Mich selbst zu genießen. Spaß zu haben. Mich mit Freunden zu treffen. Genau da lag aber ein großes Problem. Sich mit Freunden zu treffen, wäre eine super Idee gewesen, nur waren da keine Freunde.

Deshalb passierte es nun Öfter, dass ich mich nach einer langen Arbeitswoche freitags auf dem Sofa oder dem Balkon wiederfand und nicht wusste, was ich mit mir anfangen sollte. Früher begann in diesem Moment die gemeinsame Zeit mit David. Zu zweit. Oder wir fuhren seine Verwandten besuchen. Doch mit dem Ende der Beziehung brach natürlich auch diese Ressource privater, sozialer Kontakte weg. Es war Wochenende und da war keine einzige Nummer, die ich hatte wählen können, um meine Isolation zu beenden. Zumindest dachte ich das. Unter der Woche fiel mir dieser Mangel gar nicht weiter auf, denn die meiste Zeit hatte ich Menschen um mich herum. Sowohl auf Arbeit als auch in der Freizeit.

Das war das Paradoxe. Einsamen Menschen rat man gerne, sich zu engagieren oder sich in Vereinen anzumelden. All das hatte ich bereits getan und meine Freizeit war mehr als gut gefüllt. Zweimal die Woche spielte ich Fußball im Verein und an einem Tag hatte ich Gospelchor-Probe. Dazu kamen Spiele oder Auftritte an manchen Wochenenden. Nicht zu vergessen die Gruppentherapie, zu der ich weiterhin jeden Dienstag ging, in der ich aber das Thema Freundesmangel nie thematisierte. Auch zu Hause in der Wohnung gab es noch einen weiteren Menschen neben mir, auch wenn mich dessen Anwesenheit meist eher nervte als beruhigte, aber dennoch, da war jemand. Die meiste Zeit war ich also von Menschen umgeben, sprach mit ihnen, interagierte. All dies suggerierte mir, dass ich nicht allein war. Doch dann kamen eben diese Abende am Wochenende. Ohne Termine. Ohne Aktivitäten. Ohne Pflichten. Ohne soziale Kontakte. Ich fühlte mich unendlich allein. Vor allem wenn David auch daheim war, war die Situation manchmal kaum zu ertragen. Seine Anwesenheit führte mir vor Augen, dass ich mit dem Ende der Beziehung auch all meine wenigen privaten Kontakte gekappt hatte.

Nur gut, dass gerade Sommer war. Als mich meine eigenen vier Wände zu erdrücken drohten, entschloss ich mich zur Flucht nach draußen. Ich setzte mich auf mein Fahrrad und fuhr erst mal zu Rewe, um mir dort eine Packung rote Gauloises und drei Tegernseer zu holen, die dort meist gut gekühlt vorrätig waren. Mein weiterer Weg führte mich direkt zur Isar. Da ich in einiger Entfernung zur Stadtmitte wohnte, konnte ich problemlos die Massen vermeiden, die sich in lauen Sommernächten grillend und oder Bier trinkend am Fluss versammelten. Wenn ich schon allein war, dann bitte richtig. Es war nicht meine erste Freitagsflucht nach draußen und somit steuerte ich gezielt meinen Stammplatz an. Ich gratulierte mir innerlich zu meinem Wortwitz, denn der Stammplatz war tatsächlich ein Baumstamm. Nur leider lachte außer mir keiner. Genau genommen lachte nicht einmal ich. Ich fühlte mich mies. Ohne Zuflucht. Kein Ort, niemand, zu dem ich hätte gehen können, ohne mich verstellen zu müssen. Denn so kannte mich die Welt nicht. Außer David und den anderen in der Therapiegruppe wusste niemand um die deprimierte, schwache und traurige Version von mir.

Wie auch. Ich war es gewohnt, meine Schwächen mit Humor zu überspielen. Dieser Humor äußerte sich zur Schulzeit in einem nicht immer geschätzten Foppen der Mitschüler und hatte sich mit der Zeit zu einem trockenen Sarkasmus weiterentwickelt. Von vielen Menschen toleriert, aber von keinem verstanden. Ich Öffnete die erste Flasche, nahm einen Schluck und zündete mir dann eine Zigarette an. Zigaretten. Wie bescheuert. Ich hatte die letzten Jahre nicht geraucht, warum eigentlich jetzt? Bloß, um etwas anders zu machen als während meiner Beziehung? Wahrscheinlich ja. Ich setzte meine Kopfhörer auf, ließ Musik laufen und genoss mein Bier. Wie man eben ein Bier genießen kann, wenn man allein auf einem Baumstamm am Fluss sitzt. Das gleichmäßige Fließen des Wassers entspannte meine Augen, die Musik besänftigte meine Ohren und das Bier meine Synapsen. Mein Hirn ging seine Wege und tauchte ein in das endlos scheinende Meer der Einsamkeit. Zunächst voller Selbstmitleid und dann mehr und mehr fokussiert auf die Fragen, die meine Situation aufwarf. Warum hatte ich eigentlich keine Freunde? War das schon immer so?

Ich grub in meinen Erinnerungen. Das, was mir innerhalb der Therapiegruppe meist nicht gelang, die Auseinandersetzung mit mir selbst, fiel mir hier, allein auf meinem Stamm, leichter. Also ging ich gedanklich ganz zurück in meine Grundschulzeit. Soweit ich mich erinnern konnte, hatte ich damals Freunde, allerdings verlief sich das beim Wechsel auf das Gymnasium. Die meisten der alten Freunde waren auf andere Schulen gegangen: Hauptschule, Realschule, das Nachbargymnasium. Zudem waren wir von der Kleinstadt aufs Land gezogen. Deshalb verbrachte ich den Tag bei meiner Oma in Stadtnahe und wurde abends von meinen Eltern abgeholt, um in unser fünfzehn Kilometer entferntes Dorf zu fahren. Ich gehörte also weder auf das Land noch in die Stadt.

In der Schule fand ich keinen wirklichen Anschluss, die meisten Grüppchen bestanden schon seit Grundschulzeiten oder gliederten sich nach Wohngebieten. Da gab es kein Reinkommen. Ich hatte zwar eine Zeit lang eine beste Freundin, die ich aus Grundschulzeiten übernommen hatte, doch als diese auf eine Privatschule ging, verlief auch dieser Kontakt im Sand. In der Hochphase der Pubertät hatte ich es dann doch zu einigen Freunden gebracht. Da waren die anderen Außenseiter in der Stufe, die Nerds, die Sportler, die Emos. Da war meine Tischnachbarin, neben der ich nicht nur in der Schule saß, sondern auch morgens im Bus. Das Busfahren hatte ich bei meinen Eltern durchgesetzt und es verhalf mir zu etwas mehr Verbundenheit mit meinem eigentlichen Wohnort.

Dort traf ich dann auch mit der Zeit auf eine Gruppe von Mädchen, die im selben Dorf wohnten und alle eine Gemeinsamkeit mit mir hatten: wir hatten sonst nichts mit den anderen Jugendlichen auf dem Land zu tun. Ansonsten waren wir von Grund auf verschieden. Doch das sollte reichen, um sich bis ins Erwachsenenalter nicht aus den Augen zu verlieren. Da waren also einige Menschen um mich herum, aber mit niemandem war ich wirklich dicke. Seltsam.

Mir fiel ein nicht lange zurückliegendes Gespräch mit einer der besagten Jugendfreundinnen ein. Sie war vor Kurzem ebenfalls nach München gezogen und wie man das in München eben so macht, hatten wir uns eines Mittags zum Lunch in einem Bio-Café verabredet. Trendbewusst waren wir ja, wir Mädels vom Land. Sandra und ich sprachen wie früher über Jungs und Zukunft, aber eben auch über Vergangenheit. Die Gruppentherapie schien bei mir Wirkung zu zeigen, denn seit einiger Zeit hatte ich ein erhöhtes emotionales Mitteilungsbedürfnis. So thematisierten wir auch eine ungute Zeit in meiner Jugend, als meine Mutter im Krankenhaus war und auch sonst so gar nichts bei mir glatt lief. Ich erwähnte, wie mies es mir damals ging und zwei völlig irritierte Augen schauten mich über meine Bio-Kürbis-Quiche hinweg an. »Warum hast du denn nichts gesagt? Wir dachten immer, du kommst klar, du hast immer so stark gewirkt.«

Ich Öffnete meine zweite Flasche Bier und zündete noch eine Zigarette an. Stark also hatte ich gewirkt. Unnahbar, abweisend vielleicht? Interessant. Das Wasser der Isar floss weiter ungestört an mir vorbei. Es war eigentlich sehr schön hier, aber mein Hintern begann vom Sitzen auf dem Baumstamm langsam weh zu tun. Ich bemühte mich um eine angenehmere Sitzposition und nahm meinen Gedankengang wieder auf. Diesmal dachte ich über meine Zeit im Studium nach. Da hatte ich bereits begriffen, dass meine Art, Freundschaften aufzubauen und zu halten, nicht ideal war. Neue Stadt, neue Chance, dachte ich mir.

Im ersten Semester hatte ich dann auch eine recht enge Freundin, genauer genommen waren wir ein Dreiergespann, aber zu ihr hatte ich einfach den besseren Draht. Wir verbrachten viel Zeit miteinander, tranken viel Kaffee und ab und an auch viel Alkohol. Eine klassische Studentenfreundschaft eben. Neu für mich war, dass ich versuchte, ihr auch meine unguten Seiten und Geschichten anzuvertrauen, um ihr meine Offenheit und Freundschaft zu beweisen. Das gelang mir so mittelmäßig. Vor allem übersah ich bei all meinen verkrampften Bemühungen, dass sie selbst ein viel größeres Päckchen zu tragen hatte, als mir bewusst war. Die Freundschaft zerbrach an einer Nichtigkeit, an einem Missverständnis, aber vor allem an meinem Unverständnis davon, was eigentlich Freundschaft ist. So verliefen sich die Dinge. Ich rutschte in eine feste Beziehung mit David, sie in eine Therapie. Und irgendwie war sie dann weg. Wie sehr mich der Verlust dieser Freundschaft schmerzte, realisierte ich allerdings erst Jahre später und erst jetzt merkte ich, dass sie ziemliche Narben hinterlassen hatte. Denn dieses eine Mal hatte ich wirklich versucht, etwas zu investieren.

Ich schob meine Gedanken beiseite. Inzwischen war die zweite Flasche leer und die Blase meldete sich. Das war das einzige Problem an meinem schönen Stammplatz, es gab keine Toiletten. Aber dafür genug Natur und um diese Uhrzeit so gut wie keine anderen Menschen. Ich sagte meinem Fahrrad, es solle schön auf sich und meine letzte Flasche Bier aufpassen und begab mich Richtung Büsche. Nach meiner Rückkehr öffnete ich die letzte Flasche und setzte mir wieder die Kopfhörer auf. Die Isar floss weiter ihren gewohnten Weg.

Im Laufe meiner Jugend hatte ich eine Strategie entwickelt, um der Freundschaftsproblematik Herr zu werden. Ich versuchte, mich zu überzeugen, ich sei eben nicht der Enge-Freunde-Typ. Oder überhaupt ein Freunde-Typ. Also bemühte ich mich stets, wenn auch unterbewusst, mein Bedürfnis an emotionaler Nähe einfach durch feste Partnerschaften zu befriedigen. Die Konzentration auf eine einzige Person schien mir wesentlich ressourcenschonender und vor allem emotional machbar. Der Clou daran war lange, dass ich gerne in Fembeziehungen lebte und somit trotzdem immer sehr viel Zeit für mich und zur Pflege der ein oder anderen lockeren Freundschaft hatte. Das war die letzten sechs Jahre jedoch anders gewesen.

Sehr schnell war ich mit David zusammengezogen und so war es bequem, außer ihn sonst niemand in mein Leben zu integrieren. Auch die Freundschaften, die ich in meiner voran gegangen kurzen Singlephase angefangen hatte aufzubauen, verliefen sich. Da war das Studium. Die Arbeit. Und der Freund. Für mehr hatte ich keine Energie. Eigentlich war das auch immer ok gewesen, ich fühlte nicht wirklich, dass mir etwas fehlte. Aber jetzt war sie weg, die Beziehung und mir wurde sehr, sehr schmerzlich bewusst, was ich die letzten Jahre versäumt hatte zu tun. Ich spürte den Schlag der Einsamkeit, obwohl von so vielen Menschen umgeben. Es dämmerte mir, dass ich mich selbst belogen hatte. Denn eigentlich sehnte ich mich doch nach dem emotionalen Austausch mit anderen, mit Vertrauten, mit Freunden. Außerhalb einer Beziehung. Außerhalb einer Gruppentherapie.

Die dritte Flasche war nun auch leer, die Denkfähigkeit meines Hirns beeinträchtigt und in meine Gedanken schob sich immer mehr Selbstmitleid. Außerdem wurde es langsam kalt. Es war Zeit zu gehen, ich war lange genug hier gesessen. So verließ ich meinen Baumstamm am Fluss und legte mit dem Fahrrad den Berg hinauf strampelnd meine neue Mission fest: Freunde, ich brauche Freunde!

Nachgedacht: Ich, der Emotionslegastheniker

Das Gemeine am Aufräumen ist, dass danach zwar alles viel ordentlicher aussieht, aber es fallen einem auch Dinge auf, die man vorher leicht und vor allem gerne übersehen hat. So war das bei mir mit dem Thema Freundschaft. Das Problem bestand schließlich nicht erst seit den Panikattacken oder der Trennung von David, doch nie zuvor war es so offensichtlich gewesen. Es sprang mir nun regelrecht ins Gesicht, ich musste mich damit auseinandersetzen. Das erste Mal seit meiner Jugend war ich ganz allein für mich, keine Ablenkung aus einer Beziehung oder durch aufregende Lebensumstände. Auf dieser planen Lebensleinwand stachen die nicht vorhanden Freundschaften so sehr heraus, dass ich mich gezwungen fühlte, mich mit diesem schmerzlichen Thema zu beschäftigen. Endlich, es war wirklich höchste Zeit dafür. Also warum hatte ich keine richtigen Freunde, keine tiefe Verbindung zu irgendwem? Was war da bisher schiefgelaufen?

Wie man in den Wald hinein ruft, so schallt es heraus. Formulieren wir etwa an der Käsetheke freundlich und mit einem Lächeln unsere Wünsche, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass wir ebenso freundlich bedient werden. Zumindest außerhalb des fränkischen Sprachraums. Schreien wir aber der Dame hinter der Theke mürrisch unsere Bestellung entgegen, wäre es verständlich, würde der Brie anstatt auf der Waage in unserem Gesicht landen. So ist das bei allen zwischenmenschlichen Interaktionen und eben auch innerhalb von Freundschaften. Gebe ich mich verschlossen, wird sich mein Gegenüber auch eher zurückhalten. Erzähle ich offen über meine Probleme, ist es wahrscheinlich, dass der andere auch seine mit mir teilt. Zeige ich Interesse, bekomme ich vermutlich Interesse zurück. Alles Grundlagen der zwischenmenschlichen Kommunikation und für jeden machbar beziehungsweise erlernbar.

Bei einer Freundschaft geht es jedoch nicht immer nur darum, freundlich zu sein oder eine Unterhaltung aufrecht zu erhalten, sondern darum, emotional adäquat und ehrlich auf den anderen zu reagieren. An diesem Punkt kommen Menschen, die wie ich unsicher mit ihren eigenen Emotionen sind, ins Schlingern. Wie sollte man auf die wiederholte Absage eines Treffens reagieren, verständnisvoll oder genervt? Das Gegenüber hat etwas Verletzendes gesagt, aber war das jetzt wirklich verletzend genug, um sauer zu sein? Ist mein Problem überhaupt wichtig genug, um es zu thematisieren? Das sind scheinbar einfache Fragen, aber für uns Emotionslegastheniker können sie zu großen Unsicherheiten führen.

Nicht, dass wir die Emotionen der anderen nicht lesen könnten, das geht mitunter überdurchschnittlich gut, aber das Erkennen und Ausdrücken unserer eigenen Gefühlslage stellt oft ein Problem dar. Uns fällt es schwer, die eigenen Emotionen richtig einzuordnen und ihre Angemessenheit einzuschätzen. Das kann neben einem geringen Selbstwertgefühl noch viele andere Gründe und Facetten haben, die Auswirkung ist aber immer die gleiche. Wir sind in der Beurteilung unserer Emotionen davon abhängig, wie die Reaktion des Gegenübers ausfällt. Das kann nicht funktionieren, denn reagiert der andere, bedeutet das, dass wir bereits gehandelt haben. Zu spät also. Deshalb versuchen wir zuvor, die Situation durch Denken zu lösen. Aber mit dem Kopf über Emotionen und Gefühle zu entscheiden, funktioniert ebenfalls nicht. Also bedeuten solche Situationen in erster Linie Stress und erfordern einen hohen Energieaufwand. Das wiederum führt dazu, dass wir sie lieber gleich vermeiden und die Freundschaft auf einem oberflächlichen Level halten. Das ist einfach, da gibt es kein Risiko. Hier entsprechen die Gesetzmäßigkeiten wieder denen an der Käsetheke. Alles easy.

Lange hatte ich mir eingeredet, dass das so ok für mich ist, dass ich keine tiefen Freundschaften brauche. Doch wenn ich ehrlich war, hatte ich einfach immer nur Angst. Angst, es nicht richtig zu machen, überfordert zu sein. Dabei sehnte ich mich danach. Denn Freundschaften sind anders als Familienoder Paarbeziehungen. Zwar suchen wir in ihnen auch nach Vertrautheit, nach Gemeinsamkeiten, aber oft sind es doch gerade die kleinen und großen Unterschiede, die Freundschaften besonders machen. Freunde sind unsere Spiegel, unsere Sparringspartner, sie erweitern uns. Sie helfen uns, uns selbst zu definieren, uns weiterzuentwickeln.

Deshalb fühlen wir uns nicht nur einsam und ungeliebt, wenn sich unser Freundeskreis auf die nette Dame an der Käsetheke beschränkt, sondern auch irgendwie nicht komplett. Freunde sind unser erweitertes Ich. Außerdem sind sie wie der Nussvorrat, den sich das Eichhörnchen vor dem Winter anlegt: In schlechten Zeiten nähren sie uns mit ihrer Energie.

Das wollte ich alles, das wollte ich unbedingt. Also hieß es für mich trotz meiner Emotionslegasthenie: mich öffnen, Emotionen zulassen. Ein Langzeitprojekt.

Kapitel 3

Aufbruch

Meine erste große Leistung in Sachen Freundschaft: ich plante mit Sandra einen Kurzurlaub. Das war in vielfacher Weise erstaunlich. Urlaub gab es in den letzten Jahren meines Lebens wenig bis gar nicht. Entweder ich hatte kein Geld (Studium) oder keine Zeit und Energie für die Planung (Arbeit). David und ich hatten es während unserer gesamten Beziehung nur zweimal in den Urlaub geschafft, einmal vierzehn Tage Strandurlaub in Kroatien und einmal ein verlängertes Snowboard-Wochenende in Österreich. Ansonsten verbrachten wir unsere freie Zeit größtenteils bei Verwandten. Mir hatte das in den Urlaub fahren auch nicht weiter gefehlt, doch jetzt war es überfällig.

Den bevorstehenden Spätsommer-Urlaub hatte ich bereits Anfang des Jahres eingereicht, damals noch mit dem Gedanken, ihn mit David zu verbringen. Aber nun, wo sollte ich hin? Und mit wem? Ein Pärchenurlaub war ja nicht mehr möglich und mich allein auf den Weg zu machen, erschien mir absurd. Also blieb nur noch die Möglichkeit, mit einer Freundin zu fahren. Bei einem Treffen stellten Sandra und ich fest, dass unsere freien Tage sich überschnitten, ebenso wie das Bedürfnis, das Meer zu sehen. Da war es schnell beschlossene Sache, wir würden spontan für fünf nach Tage Kroatien fahren.

Das war bereits mein zweiter Urlaub mit Sandra, der letzte war allerdings gut zehn Jahre her. Wir waren 16 und zu viert mit einem Jugendreisen-Veranstalter auf Elba. Das war etwas ganz anderes. Diesmal würde ich also fünf Tage, 24/7 mit ihr verbringen. Ich wusste nicht so recht, wie ich darüber denken sollte. Einerseits freute ich mich total und außerdem war es doch das, was man mit Freundinnen machte, in den Urlaub fahren, gemeinsame Zeit genießen. Auf der anderen Seite war ich nervös, ich hatte noch nie so eng so viel Zeit mit jemanden verbracht, mit dem ich nicht in einer Beziehung lebte. Mich beschlich das Gefühl, dass ich die Sache in meinem Kopf überdramatisierte und ich beschloss, einfach mal so zu tun, als sei ich normal.

Einige Tage später saßen wir tatsächlich in dem von den Eltern geliehenen Twingo und fuhren Richtung Meer. Schon bevor wir es überhaupt sahen, konnte ich es spüren und bald auch riechen. Die salzige Luft roch nach Entspannung und Freiheit. Als wir dann am Abend wirklich und wahrhaftig am Meer standen und in der Wärme der letzten Sonnenstrahlen des Tages unsere Füße in das salzige Wasser tauchten, spürte ich ein angenehmes Gefühl meinen Körper durchfluten. Ich mochte das Meer. Nun ist die Adria nicht von gar so imposantem Ausmaß wie etwa der Atlantik, aber mir reichte sie vollkommen.

Die Vorstellung unendlicher Mengen an Wasser faszinierte mich. Ich hatte immer umgeben von Hügelketten oder hohen Häusern gelebt, diese flache Weite war mir fremd. Wunderbar fremd. Das letzte Mal, dass ich an einem Meeresstrand saß, war einfach viel zu lange her. Die Weite und Freiheit des Meeres durchfluteten mich, ich begann zu entspannen und die Sorge, ob ich die nächsten Tage mit der ständigen Nähe von Sandra zurechtkommen würde, löste sich in Luft auf.