Spiegelgänger - Claudia Starke - E-Book

Spiegelgänger E-Book

Claudia Starke

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Beschreibung

Wenn der Spiegel dir Schutz und Trost verspricht, verlierst selbst du deine Zweifel und trittst hindurch, ohne darüber nachzudenken, was dich dahinter erwarten könnte. Was wirst du tun, wenn du dich in einer Welt wiederfindest, in der deine Wünsche, aber auch deine Alpträume Realität werden können? Was, wenn du hinter den Spiegeln nicht allein bist? Und was, wenn der Weg zurück unmöglich scheint?

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Spiegelgänger

Ein Horror-Roman

Claudia Starke

Schaust du mich an aus dem KristallMit deiner Augen Nebelball,Kometen gleich, die im Verbleichen;Mit Zügen, worin wunderlichZwei Seelen wie Spione sichUmschleichen, ja, dann flüstre ich:Phantom, du bist nicht meinesgleichen!

aus: Das Spiegelbild, Annette von Droste-Hülshoff

1. Sofia

S

ofia Ruhland tanzte durch ihr Zimmer. Heute hatte sie ihr Diktat wiederbekommen – sie hatte null Fehler! Kaum, dass ihre Mutter von der Schicht aus dem Krankenhaus nach Hause gekommen war, hatte die Siebenjährige ihr das Heft gezeigt und das Leuchten in deren Gesicht gesehen. Nicole Ruhland schimpfte nie, wenn eine Arbeit schlecht ausfiel, dafür zeigte sie umso mehr, wie stolz sie war und wie sehr sie sich freute, wenn eine Arbeit gut ausfiel. Dann gab es immer etwas zum Abendessen, das Sofia besonders gerne aß.

Nicole kochte also und ihre Tochter tanzte. Ab und an hielt das Mädchen inne, streckte seine Nase in die Höhe, wackelte damit, als wäre es ein Kaninchen, das Witterung aufnahm, und versuchte herauszufinden, was später auf ihrem Teller liegen würde. Hähnchen. Es roch eindeutig nach Brathähnchen. Und Zitrone. Nicole machte vermutlich ihr Lieblingshähnchen, mit Zitronenscheiben und Rosmarin, im Backofen knusprig braun gegrillt. Dazu passte alles, von Pommes über Bratkartoffeln bis hin zu Kroketten. Nur leider roch es überhaupt nicht nach etwas davon, dazu war der Hähnchengeruch zu intensiv. Sofia summte das Lied von dem namenlosen Pferd und tanzte wieder durchs Zimmer, während ihre Mutter beim Kochen leise ihr Lieblingslied sang. Und so traf sich dasselbe Lied, unterschiedlich vorgetragen, im Korridor vor dem Spiegel.

Er stand unter der Eiche auf dem unbebauten Grundstück in der Liebigstraße, dicht an den Stamm gedrückt, um von den umliegenden Häusern aus nicht gesehen zu werden. Die meisten Fenster in dem fünfgeschossigen Haus direkt gegenüber waren hell erleuchtet, doch ihn interessierten einzig die drei Fenster im obersten Stock. Kinderzimmer, Küche, Wohnzimmer. Ob sie viel verändert hatte? Nachdem sie ihn aus ihrem Leben gestrichen hatte, hatte sie ihn auch nicht mehr auf dem Laufenden gehalten. Er war froh, dass sie nicht umgezogen war, denn dann hätte er sie vermutlich gar nicht mehr gefunden. Das war zwar sehr dumm von ihr, aber sie konnte auch noch gar nicht mit ihm rechnen, für sie war er viel zu früh dran. Für ihn war es schon lange viel zu spät.

Regen tropfte vom Eichenlaub und den Ästen über ihm, rann durch seine dunklen Haare in den Kragen seiner Jacke und seines Hemdes, seinen Nacken hinunter. die kalte Nässe ließ ihn frösteln. Er sah auf die Uhr. Jetzt war genauso gut wie später. Achselzuckend stieß er sich von dem Stamm ab, trat aus den Schatten und schickte sich an, die Straße zu überqueren.

In der Küche klapperte das Geschirr, ihre Mutter sang mittlerweile lauter und ein anderes Lied, Spirit in the sky. Sie hatte Sofia mal erklärt, worum es bei dem Lied geht, doch das Mädchen hatte nur behalten, dass Spirit Geist bedeutete. Seitdem stellte es sich immer Hui Buh vor, der auf einer Wolke saß und im Takt schunkelte. Sofia grinste und schlich zur Tür. Es dauerte bestimmt nicht mehr lange, bis ihre Mutter sie zu Tisch rief.

Es klingelte.

Jäh hörte Nicole auf zu singen und die plötzliche Stille ließ Sofias Herz schneller schlagen. Ihre Mutter wirkte oft angespannt und ängstlich, wenn es unerwartet klingelte, doch immer nur für einen kurzen Moment. Bestimmt auch dieses Mal, ihre Mutter würde gleich die Tür öffnen und weitersingen, während sie auf die Ankunft des späten Gastes wartete.

Ihr Gesicht, als sie ihm die Tür öffnete, war es wert. Ehe sie reagieren konnte, hatte er sich bereits über die Türschwelle geschoben und drängte sie zurück, Richtung Wohnzimmer.

»Du«, spie sie ihm entgegen, er hörte all ihre Verachtung aus dieser einen Silbe heraus und grinste.

»Ich.« Er packte sie, seine große Hand umschloss ihre Kehle. »Du hast mich also nicht vergessen. Das ist gut, denn ich hatte schon befürchtet, dass du mich nicht mehr kennst. Und ich habe dich ganz bestimmt nicht vergessen.«

Sie umklammerte mit beiden Händen sein Handgelenk, versuchte, sich gegen ihn zu stemmen, doch der Druck auf ihren Kehlkopf wurde stärker, je mehr sie widerstand. Also fügte sie sich, ging schneller, rückwärts zwar, doch guten Willen zeigend, und er lockerte den Griff seiner Hand etwas.

»Du kapierst schnell. War ja früher schon so.« Er schloss die Wohnzimmertür hinter sich und bugsierte sie zu dem einzigen Sessel, der vor dem Bücherregal stand. »Setz dich, meine Liebe.«

Sie tat, wie ihr geheißen, froh, dass er sie losließ, kaum, dass sie saß. Zitternd umklammerte sie die Armlehnen.

»Wo ist er? Nebenan? Oder hat er noch nicht Feierabend?« Er setzte sich auf den Couchtisch und beugte sich vor.

Sie schüttelte den Kopf, wollte antworten, doch ihre Kehle schmerzte, war trocken und machte sie husten.

Er erhob sich wieder, trat zu ihr und strich ihr durch die blonden Locken. »Wenn ich mich jetzt auf die Suche nach ihm mache und dabei jedes Zimmer betrete, was bekomme ich da wohl zu sehen?«

»Nein!«, krächzte sie, riss die Augen weit auf, ihr Blick voller Angst ließ ihn lächeln.

»Wen versteckst du?«

»Niemanden. Er«, sie räusperte sich mehrmals, »er ist abgehauen damals, ist einfach weg und ich …«

»Ich weiß, das hat mir bereits ein Vögelchen geflüstert, dass dies die Geschichte ist, die du überall herumerzählst. Dass er dich und deine kleine Tochter im Stich gelassen hat. Eigentlich ja sogar nur dich, denn dein Balg war ja noch nicht einmal geboren. Ist schon ein mieser Kerl gewesen. Mich hat er doppelt beschissen, weil er dich gevögelt und mich verpfiffen hat. Und dann hat er dich auch beschissen, weil er dich erst angedickt und dann verlassen hat. Du hast scheinbar einen äußerst schlechten Männergeschmack.« Er setzte sich zu ihr auf die Sessellehne. »Es ist nur so, dass ich von dieser Geschichte kein Wort glaube. Du weißt, wo er ist. Und du wirst es mir sagen.«

Sofia wollte nicht lauschen, doch seit es geklingelt hatte, war es still geworden. Ihre Mutter hatte noch laut »Du!« gerufen, regelrecht geschrien hatte sie es, und es hatte auch jemand geantwortet. Ein Mann. Doch seitdem hörte sie niemanden mehr. Und die Tür vom Wohnzimmer war zu.

Das Mädchen kniff die Augen zu. Das Hähnchen roch mittlerweile nicht mehr so gut wie zu Beginn des Abends, dazu roch es zu sehr verbrannt, aber Sofia traute sich nicht, ihr Zimmer zu verlassen. Selbst dazu, nach ihrer Mutter zu rufen, fehlte ihr der Mut.

Und so verkohlte das Hähnchen weiter und Sofias Angst wuchs.

Dann hörte sie den Schrei ihrer Mutter. Er war nicht laut, doch in ihm schwang etwas mit, dass Sofia glauben ließ, dass sie sich verstecken müsste. Oder weglaufen. Sie klammerte sich an den Türrahmen, unentschieden, was zu tun, doch die Zeit drängte, denn die Wohnungstür lag näher am Wohnzimmer als an ihrem eigenen Zimmer.

Ihr Zimmer. Ein Bett mit einer Unterbettschublade, ein Schreibtisch auf vier Metallbeinen, ein Stuhl, ein Kleiderschrank und eine Spielzeugtruhe, zwar mit Deckel, doch viel zu voll. Nichts, das als Versteck taugte.

Sie spähte den Flur entlang. Ein Garderobenschrank mit Spiegel, ein kleiner Schuhschrank und viel zu viele Schritte bis zur Tür. Ihre Knie zitterten, sie klammerte sich fester an den Türrahmen, focht in ihrem Inneren einen schweren Kampf aus, lauschte auf das leise Weinen, das nach dem Schrei aus dem Wohnzimmer zu vernehmen gewesen war, doch dieses war längst verstummt und mit ihm der Hall des Schreis.

Stattdessen hörte sie etwas poltern, schwere Schritte, hörte das Quietschen der linken oberen Wohnzimmerschranktür und sah vor ihrem inneren Auge einen Mann den Schrank durchwühlen, auf der Suche nach … Sie schluckte, konnte sich nichts vorstellen, was jemand anderer hier suchen könnte, und trat mutig einen ersten Schritt in den Korridor.

Klirren, weiteres Poltern und erneutes Klirren. Und das Schweigen ihrer Mutter, welches ihr mehr Angst machte als alle Geräusche aus dem Zimmer. Sie machte zwei weitere Schritte, hatte beinahe den Garderobenschrank erreicht, doch auch der taugte nichts als Versteck.

Wieder schwere Schritte, lautes Krachen, mehrere Dinge fielen zu Boden, rumpelten dumpf, und sie stellte sich das Bücherregal vor, wie es umkippte und alle Bücher freigab.

Noch ein Schritt.

Sie war gleichauf mit dem Spiegel, als etwas gegen die Wohnzimmertür krachte. Gleich darauf wurde die Klinke heruntergedrückt und mit leisem Quietschen öffnete sich die Tür einen Spaltbreit.

Sofia hielt inne, spürte warme Nässe innen an den Oberschenkeln hinunterrinnen und zitterte. Im Spiegel neben ihr nahm sie eine Bewegung wahr, doch sie schaffte kaum den Kopf zu drehen, starrte stattdessen auf die Wohnzimmertür, die sich einen weiteren winzigen Spalt mehr öffnete.

Es war, als verginge die Zeit um sie herum viel langsamer als normal, einzig ihr Herz schlug schneller und lauter als je zuvor, so dass Sofia bereits Angst bekam, es könne ihr aus der Brust springen und entfliehen, noch ehe sie selbst einen Schritt tun könnte.

Wieder sah sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung, weniger flüchtig als beim ersten Mal, und sie wagte es endlich, kurz nachzusehen. Vielleicht aus kindlicher Neugier, vielleicht aber auch nur in dem Bestreben, jede Möglichkeit zur Flucht zu nutzen.

Sie sah sich selbst, ihre weitaufgerissenen Augen wirkten unnatürlich groß in ihrem schmalen Gesicht. Sie lächelte. Ihr Spiegelbild lächelte. Sie selbst schluchzte, denn durch den Anblick der Angst in ihrem Gesicht wurde diese greifbarer, realer. Wie konnte ihr Spiegelbild da lächeln?

Die andere Sofia trat näher, legte eine Hand mit der Handfläche zuerst an die Scheibe, mit der anderen winkte sie die Sofia auf dieser Seite des Spiegels zu sich.

Sofia erinnerte sich. An dieses kleine Mädchen im Spiegel, das den Tanz aus dem Kindergarten weniger gut konnte, dafür aber so viel niedlicher aussah in ihrem blauen Kleidchen, deren Locken ordentlicher lagen und die dabei einen größeren Strauß aus Gänseblümchen mit Fingern umklammerte, deren Nägel keine Trauerränder hatten. Das Schulmädchen, dessen Tornister dieses winzige bisschen blauer war und dessen Kleid lockerer um lange, dünne Beine fiel, die keine Schrammen verunzierten. Der blaue Fleck ums linke Auge, den sie sich am Morgen ihres siebten Geburtstages schlaftrunken an ihrem Kleiderschrank zugezogen hatte und der ihrem Spiegelbild gänzlich fehlte. Und nun dieses Lächeln, das keine Spuren von Angst trug, ein schmales Gesicht mit dunkelblauen Augen, in denen keine Sorge mehr zu finden war, und eine Hand, die Rettung verhieß.

Sofia trat näher und legte die eigene Hand ebenfalls auf den Spiegel, spürte das kühle Glas, durch das sie plötzlich hindurchglitt wie durch eine Wasseroberfläche, ertastete die Hand der anderen Sofia, die sich abrupt um ihre eigene schloss und an ihr zog, so gewaltig, dass sie schon drüben war, ehe sie mitbekam, dass sie sich bewegt hatte. Und als sie sich umdrehte, sah sie einen unförmigen, großen Schatten den Korridor durchstreifen auf der Suche nach ihr.

»Mama«, flüsterte sie noch, dann zog das andere Mädchen sie fort.

2. Lily

A

uch ohne ihre Freundin Jessy hätte Lily das Haus gefunden, in dem die Party stattfand. Selbst mit verbundenen Augen. Bereits am Anfang der Straße war die Musik zu hören gewesen und wurde mit jedem Schritt lauter. Lily wollte jetzt schon heim.

»Da vorne ist es«, sagte Jessy und wies auf ein grau verklinkertes, zweistöckiges Einfamilienhaus, das ein paar Meter von der Straße zurücklag und bei dem alle Fenster hell erleuchtet waren. Die umliegenden Häuser waren in Dunkelheit getaucht und Lily fragte sich, ob die Bewohner angesichts der zu erwartenden Lärmplage ausgeflogen waren.

»Scheint ’ne Mordsstimmung zu sein«, murmelte sie und wäre gern umgekehrt.

»Ja, oder?« Jessy hüpfte die nächsten Schritte, wie sie es bereits als kleines Kind getan hatte, wenn sie sich freute. »Und nicht mehr lange, dann haben wir auch unsere erste Party.«

»Ist ja nur die Kleinigkeit von einem Jahr. Geht ratzfatz.« Leider.

Als sie am Gartentor angekommen waren, blieb Lily stehen, doch Jessy hakte sie unter und zog sie mit sich.

Die Haustür war nicht verschlossen. Als Jessy sie öffnete, kam ihnen ein Schwall entgegen, der eine Mischung aus viel zu warmer, partymiefiger Luft und lautem Dröhnen war, das sich aus Musik und Stimmengewirr zusammensetzte. Und schon hatte Lily die Schwelle übertreten und befand sich mittendrin.

Im Korridor zogen Jessy und Lily die Jacken aus und warfen sie auf den Haufen, der sich in einem kleinen Nebenzimmer befand. Dann zog Jessy Lily mit sich, vorbei an den Menschen, die den Korridor bevölkerten. Es waren viel zu viele, die beieinanderstanden, im Takt der Musik schunkelten, Jungen und Mädchen, einige kaum älter als Lily, und alle ausnahmslos mit Bierflaschen in den Händen und nicht bereit, zur Seite zu treten, um die Neuankömmlinge vorbeizulassen. Lily berührte Arme und Beine, stieß gegen Bäuche und Brüste, versuchte sich kleiner zu machen, als sie war, und wollte weg. Am Ende des Korridors führte eine Holztreppe in den ersten Stock. Auch hier gab es zu viele Gäste, die auf den Stufen saßen oder lagen, noch mehr Leiber, die sie berühren müsste, doch Jessy schob sie nach links, weg von der Treppe und durch eine breite Tür in den Mittelpunkt der Party. Das Wohnzimmer war groß und nur spärlich möbliert. Vermutlich hatten die Bewohner vieles andernorts sicher verwahrt.

Überall standen sie in Grüppchen beieinander, saßen an den Wänden auf dem Fußboden oder lümmelten sich auf dem Sofa und den beiden Sesseln, hier mehr über- als nebeneinander, heftig knutschend und halb ausgezogen.

Lily wandte sich ab, wollte raus, doch nachkommende Gäste schoben sie weiter in den Raum hinein. Von Jessy war nichts mehr zu sehen. Erst da registrierte Lily, dass die Freundin sie schon nicht mehr an der Hand gehalten hatte, als sie das Wohnzimmer betrat. Na toll.

Die Musik war viel zu laut, doch das Stimmengewirr schien noch lauter zu sein, denn Lily spürte nur die Bässe, die in ihrem Inneren wummerten, im gleichen Takt wie ihr Herzschlag, und sie schloss die Augen, spürte, wie ihr schwindelte und die Kehle sich verengte. Jetzt bloß keinen Panikanfall bekommen. Sie atmete tief durch, schmeckte Schweiß, Parfüm, Zigarettenrauch, Bier und fettige Essensdünste und ihr Magen begann zu rumoren. Raus!

Sie drehte sich um und drängelte sich durch die Leiber hinter ihr zurück in den Korridor und nach links, an der Treppe vorbei in einen hellerleuchteten Raum. Die Küche. Schon besser.

Auf der Arbeitsplatte standen riesige Schüsseln mit Kartoffel- und Nudelsalat, zwei große Platten mit Frikadellen und auf dem Herd dampften mehrere Töpfe vor sich hin. Die leeren Gläser daneben erzählten von Würstchen, doch der Geruch hatte es Lily vorher schon verraten. Lily nahm sich eine Frikadelle, um ihrem Magen etwas zu tun zu geben.

»Hey«, sagte jemand hinter ihr und Lily drehte sich um.

»Hey.«

Er war groß, schmal und hatte grasgrüne Haare, die in alle Richtungen abstanden.

Lily nickte ihm zu und wandte sich wieder den Frikadellen zu. Sie wollte keine Unterhaltung. Dann schon lieber Frikadellen.

»Ich bin Dirk.« Er trat neben sie. Offenbar mochte er ebenfalls Frikadellen. »Aber alle nennen mich Toto.«

»Lily«, murmelte sie. Hier war es ruhiger als im Wohnzimmer, denn Toto hatte die Tür angelehnt, so dass man sich tatsächlich unterhalten konnte, ohne sich anzuschreien. Nur wollte Lily sich gar nicht unterhalten, was Toto jedoch nicht davon abhielt, weiterzureden.

»Lily, is’ ’n schöner Name.« Er strahlte sie an. »Ich kannte mal ’ne Lily. Damals in der Grundschule. Vielleicht auch im Kindergarten. Jedenfalls hieß die auch Lily. Oder Lisa. Oder Laura. Jedenfalls so wie du. Ja.« Seine Aussprache war schleppend, sein Blick glasig, seine Augen schielten leicht, was bei einem anderen vielleicht süß gewesen wäre. So aber …

Sie verdrehte die Augen. »Ja genau«, sagte sie nur. Jedes weitere Wort war verschwendet. Sollte er doch glauben, was er wollte.

»Krass.« Er starrte in seine Bierflasche. »Ich glaub, ich muss mal.« Der Rest seiner Worte verlor sich in der Menschenmenge, die plötzlich in die Küche strömte und durch die er sich kämpfen musste.

Lily biss sich auf die Lippen, um nicht laut loszulachen, und fragte sich, ob sie je erfahren würde, was er denn so dringend musste. Und ob es sie überhaupt interessierte. Kopfschüttelnd stellte sie sich auf die Zehenspitzen und versuchte in der Menge, die noch gewachsen zu sein schien, die einzigen Personen ausfindig zu machen, die sie hier kannte. Und derentwegen sie überhaupt auf dieser Party war.

»Zwecklos«, schrie jemand neben ihr, denn mit den Menschen war auch lautes Stimmengewirr in die Küche eingezogen.

»So klein bin ich auch nicht«, schrie sie zurück

»Das meine ich nicht. Sie sind vorhin knutschend die Treppe emporgestolpert.«

Lily stellte sich wieder normal hin und wandte ihr Gesicht dem Typen zu, der sie angeschrien hatte.

Er grinste frech, seine Schneidezähne standen ein winziges bisschen schief, er hatte verstrubbelte, dunkle Locken, ein Grübchen in seiner linken Wange und die blauesten Augen, die sie jenseits einer Kinoleinwand gesehen hatte.

»Woher willst du wissen, wen ich suche?« Es kratzte in ihrem Hals, sie merkte, wie sie allmählich heiser wurde. Dieser Ort war nicht für Gespräche gedacht.

Er nahm ihre Hand und zog sie mit sich, durch das Menschengewühl in der Küche in den Korridor, durch eine Tür unter der Treppe, hinter der Dunkelheit lauerte, doch noch ehe sie sich seinem Griff entziehen konnte, hatte er einen Lichtschalter betätigt und sie sah eine Treppe, die hinunterführte in diffuses Dämmerlicht. Sie blieb zögernd oben stehen. Noch immer hasste sie Keller, die nicht mit leistungsstarken Lampen ausgeleuchtet wurden. Außerdem wusste sie nicht, was er vorhatte, wer er war und … Sie fand ihn süß.

Er schloss die Tür und sperrte den Lärm aus.

»Viel besser«, seufzte sie.

Er zog seine Jacke aus, legte sie auf die oberste Stufe und setzte sich auf die eine Seite. Mit der Hand wies er auf die andere Seite und sah sie abwartend an.

Lily lächelte und setzte sich ebenfalls. Sie brauchte gar nicht hinunter in den Keller. Perfekt.

»Ich bin Robin«, sagte er, nahm wieder ihre Hand, nur, dass er sie dieses Mal schüttelte. »Philipp ist mein bester Kumpel und ich weiß, dass du Lily bist, Jessys Freundin. Das weiß ich, da ich dich noch niemals vorher auf einer dieser Partys gesehen habe. Und weil Philipp erzählt hat, dass du kommst. Und somit ist auch klar, nach wem du Ausschau gehalten hast.« Wieder dieses freche Grinsen.

»Falsch.« Sie genoss die Überraschung in seinem Gesicht. »Ich habe nach jemandem Ausschau gehalten, der mich rettet aus dieser Meute von …« Sie biss sich auf die Lippen, doch Robin brach in lautes Lachen aus.

»Toto – der Grünhaarige – hat scheinbar nicht lange gebraucht«, sagte er.

»Es war ja nicht nur er.« Sie zuckte die Achseln.

Robin nickte. »Somit hast du also nach mir Ausschau gehalten. Nun denn – lass uns hier verschwinden.«

Wieder nahm er ihre Hand, zog sie in die Höhe, klaubte seine Jacke von der Stufe und führte Lily durch die Tür zurück in den Korridor, durch die Küche zu einer weiteren Tür, die sie beim ersten Mal gar nicht bemerkt hatte, und die hinaus in den Garten führte.

Jäh durchfuhr sie ein Zucken, ihre Hand griff an ihre Hosentasche, doch ihr Handy war in ihrer Jackte, sie musste … gar nichts. Der Impuls war fort und sie konzentrierte sich auf das Gefühl von ihrer Hand in Robins. Es gefiel ihr.

Sie saßen auf einer alten Steinmauer und schauten hinaus auf den See.

»Ist das dein erster Besuch in Austadt?« Er hatte seine Jacke über ihre Schultern gelegt, als sie zu frösteln begonnen hatte, und hatte mit ihr schweigend die Stille genossen, auch wenn der Nachhall der Party noch in ihren Ohren dröhnte.

»Ja, und ich bin auch nur hier, weil Jessy partout nicht allein hierherfahren wollte. Dabei war sie schon zigmal ohne mich hier.«

»Sie haben gewettet.«

»Nee, ne?« Sie verdrehte die Augen. »Sag mir nicht, dass wir gerade Teil eines schlechten Films sind.«

»Nein, mich hatten sie überhaupt nicht auf dem Schirm.«

Sie runzelte die Stirn. »Wie jetzt? Ich denke, du bist Philipps bester Kumpel.«

Er lachte. »Das bin ich auch. Aber Jessy hat jemand anderen für dich ausgeguckt.« Er zuckte die Achseln.

Lily schüttelte den Kopf. »Nicht dein Ernst. Sag jetzt bitte nicht, dass Toto der Auserwählte war.«

»Gut, ich sag’s nicht«, sagte Robin und verschloss mit Daumen und Zeigefinger seinen Mund.

»Danke, dass du mich gerettet hast.« Sie rutschte auf der Mauer hin und her, auf der Suche nach einer bequemeren Sitzstellung. »Wer hat die Wette denn jetzt gewonnen?«

»Du.« Er sprang von der Mauer. »Definitiv. Toto ist ’n töfter Kumpel, vermutlich auch toll in Sachen Freundschaft Plus, aber ein miserabler Partner für dauerhafte Beziehungen. Und nicht dein Typ.« Er half ihr von der Mauer herunter, wofür sie dankbar war, denn ihr linkes Bein war eingeschlafen und nahm ihr einiges an Grazie.

»Ach ja?« Sie sah ihn nachdenklich an und kaute auf ihrer Unterlippe. »Wer ist denn mein Typ?«

»Na, ich.«

Ehe sie reagieren konnte, fühlte sie seine Lippen auf ihren, doch der Kuss war schneller vorbei, als sie entscheiden konnte, ob sie wütend sein sollte oder nicht.

»Komm«, sagte er, wieder ihre Hand ergreifend. »Hier in der Nähe gibt’s Burger und Kakao. Und ’ne Heizung.«

»Deine Jacke …«, begann sie, doch er winkte ab.

»Behalt sie. Es ist ja meine Schuld, dass du deine nicht mitnehmen konntest.«

Nach dem Besuch im Burgerrestaurant spazierten sie durch Austadts Straßen, Hand in Hand und schweigend, denn sie benötigten längst keine Worte mehr, um sich miteinander wohlzufühlen. Und als er sich vor Philipps Wohnungstür von ihr verabschiedete, da war sie es, die ihn küsste. Und nicht nur flüchtig.

Philip kratzte sich am Kopf und bekam kaum die Augen auf. »Hast du allein hergefunden? Gut«, murmelte er und verschwand wieder in seinem Zimmer.

Jessy verschränkte die Arme.

»Okay«, sagte sie und ihre Stimme zitterte vor unterdrücktem Zorn, »es hat dir auf der Party nicht gefallen, also bist du gegangen. Übrigens ohne deine Jacke.« Jessy wies auf die Jeansjacke, die an der Garderobe hing. »Ich war so frei, sie mitzubringen.«

»Danke.« Lily deutete in den Korridor, den sie nicht betreten konnte, da Jessy im Weg stand. »Darf ich vielleicht noch reinkommen oder soll das ganze Haus mithören?«

Jessy trat zur Seite und ließ Lily eintreten. Dann schloss sie die Tür, bemüht, dies leise zu tun. Als sie sich zu Lily umdrehte, verschränkte sie wieder die Arme.

»Hast du schon einmal von der segensreichen Erfindung eines Mobiltelefons gehört?«, fragte sie.

Lily nickte.

»Ach ja, du hast ja zum achtzehnten Geburtstag erst ein Neues bekommen. Dann hast du vermutlich noch nicht gelernt, damit umzugehen.«

»Doch, hab’ ich.«

»Glaub ich nicht, denn dann wüsstest du, was es bedeutet, wenn dir bei WhatsApp eine Ziffer in einem roten Kreis angezeigt wird.«

»Dann hab’ ich eine Nachricht. Oder mehrere. Je nach Zahl.« Lily biss sich auf die Lippen. Nach der Nacht mit Robin war sie zu aufgekratzt und zu gut gelaunt, um sich in irgendeiner Form schlecht zu fühlen.

»Dann sieh doch einfach mal nach.« Mittlerweile hatte Jessy nicht nur die Arme verschränkt, sondern klopfte mit dem Fuß auch noch dauernd auf den Boden.

»Kann ich gerne machen«, sagte Lily und ging zu ihrer Jacke. »Hoffentlich ist es noch da.« Sie öffnete den Reißverschluss der Innentasche und zog ihr Smartphone heraus. »Super, da bin ich echt froh. Ich habe nämlich glatt vergessen, es da rauszuholen.« Sie warf einen Blick hinüber zu Jessy, deren Wangen unvermittelt hochrot geworden waren, dann auf ihr Handy. »Oha, so viele Nachrichten. 95 allein von dir. Tut mir echt leid, dass du nicht auf die Idee gekommen bist, dass ich, die ich nun einmal gerne mein Handy in Jacken vergesse, es auch dieses Mal getan haben könnte. Kurzes Nachgucken hätte gereicht.« Sie zuckte die Achseln. »Können wir dann jetzt bitte schlafen?«

»Mensch, ich hab’ mir echt Sorgen gemacht.« Jessy ließ die Arme sinken und probierte ein kleines Lächeln.