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In seinem neuen Roman erzählt Frank Goosen voller Witz, Herz und Insiderwissen von einer aufmüpfigen Bochumer Jugendfußballmannschaft, einer ereignisreichen Saison in der Kreisliga und drei Männern, die von elf Teenagern mehr lernen, als sie je für möglich gehalten hätten. Förster hat mit Fußball nichts am Hut. Darum ist er erst einmal skeptisch, als sein Freund Fränge das Training einer Bochumer Jugendfußballmannschaft übernimmt und ihn bittet, ihm zu helfen. Er willigt ein – schließlich geht es darum, Fränges Beziehung zu seinem Sohn Alex, der auch in der Mannschaft spielt, zu kitten. Tatkräftige pädagogische Unterstützung erhalten sie von dem Lehrer Brocki, der schon bald zweimal die Woche mit ihnen auf dem Platz steht. Sie erkennen, dass sie die Aufgabe gewaltig unterschätzt haben: Die pubertierenden Jungs tanzen ihnen ganz schön auf der Nase herum, sie bekommen es mit meinungsstarken Spielereltern, dubiosen Konkurrenztrainern und scheuklappentragenden Schiris zu tun. Doch auf dem Rasen und in der Kabine wächst nach und nach eine Gemeinschaft zusammen, in der es um viel mehr geht als um den Abstiegskampf. Frank Goosen wurde mit acht Jahren bei seinem ersten Stadionbesuch fußballsozialisiert und war vier Jahre Jugendtrainer bei einem kleinen Verein in Bochum. Mit »Spiel ab!« hat er endlich den Fußballroman geschrieben, auf den alle sehnsüchtig gewartet haben.
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Seitenzahl: 348
Frank Goosen
Roman
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Titelseite
Über Frank Goosen
Über dieses Buch
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
zur Kurzübersicht
Frank Goosen ist mit seinen erfolgreichen Büchern, darunter »Liegen lernen«, »Sommerfest«, »Sweet Dreams – Rücksturz in die Achtziger« sowie den Fußballgeschichten »Weil Samstag ist«, seit vielen Jahren auch auf den Bühnen der Republik unterwegs. Einige seiner Bücher wurden für das Kino verfilmt und dramatisiert. Frank Goosen war vier Jahre Jugendtrainer bei einem kleinen Bochumer Verein und schreibt eine regelmäßige Kolumne für den kicker. Er lebt mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen in Bochum. »Spiel ab!« ist nach »Förster, mein Förster« (2016) und »Kein Wunder« (2019) der dritte Roman mit den Freunden Förster, Fränge und Brocki.
zur Kurzübersicht
Als sein Freund Fränge ihn bittet, gemeinsam mit ihm das Training einer Bochumer Jugendfußballmannschaft zu übernehmen, hält Förster ihn für verrückt. Er hat keine Ahnung von Fußball, von Jugendlichen eigentlich auch nicht. Doch er willigt ein – schließlich geht es auch darum, Fränges Beziehung zu seinem Sohn Alex, der in der Mannschaft spielt, zu kitten. Tatkräftige pädagogische Unterstützung erhalten sie von dem Lehrer Brocki, der schon bald zweimal die Woche mit ihnen auf dem Platz steht. Sie erkennen, dass sie die Aufgabe gewaltig unterschätzt haben: Die pubertierenden Jungs tanzen ihnen ganz schön auf der Nase herum, sie bekommen es mit meinungsstarken Spielereltern, dubiosen Konkurrenztrainern und scheuklappentragenden Schiris zu tun. Doch auf dem Rasen und in der Kabine wächst nach und nach eine Gemeinschaft zusammen, in der es um viel mehr geht als um den Abstiegskampf.
Fördervermerk
Widmung
Teil 1: Hinter dem Blau ist es unheimlich hell
1 Loyalität unter Idioten
2 Nirvana oder: Das riecht hier nicht nach Teen Spirit
3 Kinder und Betrunkene
4 Dorf der Verdammten
5 Blaue Stunde
6 Der Untote
7 Holzstück und Sechskantmutter
8 Die wilde Dreizehn
9 Oberwasser
10 Zitronen und Limetten
11 Triptychon des Friedens
12 Die rennen uns die Bude ein
13 Zwei Finger heißt mehr Strom
14 Pfeife
15 Nordkorea
16 Wim Thoelke
17 Funktürme
18 RoFrö66
19 Delikte am Menschen
20 Ihr spielt auf mich, dann geht ihr steil
21 Das Spiel hat siebzig Minuten
22 Nachspielzeit
Teil 2: Die verbindende Kraft des Breitensports
23 Kalter Fuß
24 Früh dran
25 Ich war ganz nah dran
26 Ey, da ist Blut!
27 Stormy Monday
28 Wo kommt denn jetzt der Nebel her?
29 Dr. Müllers Erotik-Shop
30 Traumpass
31 Bist du jetzt böse, Förster?
32 Gromos
33 Menotti
34 Kälter machen
35 Bad Luck
36 Freundschaftsspiel
37 Und als sie wieder am Platz der Spielvereinigung ankamen …
Teil 3: Auf dem Schuh sind das nur Millimeter
38 Irgendwas ist immer
39 Elftal
40 Keine Handbreit den Faschisten!
41 Inflation und Schönwetter
42 Das ist kein Bundesgesetz
43 Die Arbeit des Herrn
44 Hase oder Kaninchen
45 Da Vinci
46 Rausgehen und weghauen
47 Liveticker 1: Pferde und Apotheken
48 Freiluftsport
49 Liveticker 2: Der Strahl
50 Pep Guardiola
51 Liveticker 3: Alex läuft an
52 Irgendwann hat es klick gemacht
53 Der hat die Haare schön
54 Weltuntergang und Neugeburt
55 Im Netz
Nachbemerkung und Dank
Die Arbeit an diesem Roman wurde gefördert aus Mitteln der Corona-Soforthilfe des Landes NRW sowie durch ein Stipendium der Kunststiftung NRW.
Allen gewidmet,
die kleine Vereine
am Laufen halten
Ein Ball rollte auf die Straße, die Förster gerade überquerte, um in dem kleinen Bio-Supermarkt, der erst kürzlich hier im Viertel aufgemacht hatte, ein paar Sachen fürs Wochenende einzukaufen, und er dachte: Wenn ein Ball auf die Straße rollt, ist meist ein Kind nicht weit, das kann böse enden, denn Kinder denken oft nicht nach und rennen ihrem Ball hinterher, egal ob da ein Auto kommt oder nicht. Er hörte einen Schrei, und kurz darauf sah er zwischen zwei am Straßenrand abgestellten Wagen eine Frau, die ein vielleicht fünfjähriges Kind am Handgelenk hielt. Die Mutter schimpfte, das Kind fing an zu weinen, der Ball lag mitten auf der Straße, und es näherte sich ein Auto. Die Mutter nahm das Kind auf den Arm, schimpfte aber weiter. Förster trat auf die Straße, hob den Arm, und das Auto hielt an. Im Stadtpark hatte er mal gesehen, wie ein junger Mann seinen Fuß auf einen Ball gestellt, die Sohle rückwärts darüber gezogen, dann die Fußspitze unter den Ball befördert, ihn ein paarmal in die Höhe gekickt und schließlich gefangen hatte. Das hatte elegant ausgesehen und auch nicht sehr schwierig, also versuchte Förster das jetzt auch. Aber er bekam die Fußspitze nicht unter den Ball, sondern trat einfach nur dagegen, und der Ball rollte auf die andere Straßenseite unter ein parkendes Auto. Der Fahrer des Wagens, der wegen Förster hatte anhalten müssen, grinste und hob den Daumen. Der ganze Vorgang war Förster zwar unangenehm, weil er sich letztlich blamiert hatte, andererseits freute es ihn, dass der andere die Verzögerung gelassen nahm, denn manchmal regten sich die Leute ja über so etwas auf, als wären sie mit einer Schusswunde auf dem Weg zur Notaufnahme.
Förster machte Platz, damit der Mann weiterfahren konnte, dann kroch er unter das parkende Auto, um den Ball sicherzustellen. Er ging hinüber zu der Frau mit dem Kind auf dem Arm, das jetzt in tiefer Verzweiflung schluchzte und die Nase hochzog. Die Mutter schimpfte nicht mehr, sondern bedankte sich bei Förster, dass er den Ball gerettet hatte, und Förster sagte, das habe er gern getan.
»Ist doch alles gut«, sagte die Mutter und strich ihrem Kind, einem Jungen, über den Kopf. »Ich habe ihm schon tausendmal gesagt, dass er nicht einfach auf die Straße laufen soll. Aber, Kinder, Sie wissen schon. Er hat mit dem Ball gegen das Garagentor geschossen, immer wieder.« Die Mutter machte eine Kopfbewegung in Richtung der Einfahrt, vor der sie standen. »Wir wollten einkaufen gehen, aber ich hatte mein Geld in der Wohnung vergessen, also bin ich noch mal schnell rein, und als ich rauskomme … Na ja, ist ja noch mal gut gegangen.«
Fußball, dachte Förster nicht zum ersten Mal, kann sehr gefährlich sein, und während die Mutter sich noch einmal bei ihm bedankte, der Junge sich langsam beruhigte und nach dem Ball griff, den Förster ihm hinhielt, vibrierte das Handy in seiner Hosentasche, die Uli, stellte er mit einem Blick aufs Display fest, schob den virtuellen Regler im Display nach rechts, hielt sich das Handy ans Ohr und sagte: »Uli, was für eine Überraschung! Kann ich was für dich tun?«
Als die Uli sagte: »Nicht für mich, Förster, sondern für Fränge, wenn der seinen nächsten Geburtstag noch erleben will!«, wusste Förster, dass Fränges Beziehungsmanagement mal wieder suboptimal gelaufen war.
Das Café Dahlbusch war geöffnet, aber Fränge war nirgendwo zu sehen, dafür stand Peggy hinterm Tresen. Förster fand es erstaunlich, dass sie hier noch arbeitete, obwohl sie der Grund dafür gewesen war, dass die Uli sich vor einem Jahr von Fränge getrennt hatte. Fränge hatte mal gesagt, dass Peggy mittlerweile so etwas wie eine zweite Geschäftsführerin sei und er einfach nicht auf sie verzichten könne. Darüber hinaus laufe da aber nichts mehr.
Als Förster hereinkam, schäumte Peggy gerade Milch auf, und er fragte sich, wieso diese Milchaufschäumdüsen immer so laut düsen mussten wie ein Kampfjet. An den Tischen die übliche Samstagmittag-Klientel, Pärchen, deren Kinder zwischen den Stühlen herumwuselten, zum Glück alle ohne Ball, dachte Förster, da konnte nichts passieren, dazu ein paar Gestalten, die aussahen, als wäre das Frühstück ihre letzte Mahlzeit, bevor sie in ihre Särge sanken, um fit zu sein für die nächste Nacht.
Als Peggy mit der Schäumerei fertig war und die weiße Masse auf die zwei Schalen mit Kaffee verteilte, die auf dem Tresen standen, trat Förster näher und fragte sie, wo Fränge sei, und sie antwortete, das würde sie auch gerne wissen, hier sei der Teufel los, sie habe schon versucht, ihn anzurufen, aber da gehe nur die Mailbox ran (was Förster auch schon festgestellt hatte), eigentlich müsste sie mal hoch zu seiner Wohnung, aber sie komme hier nicht weg.
»Kein Problem«, sagte Förster, »ich werde es mal oben versuchen, aber ich muss dir sagen, dass er heute nicht arbeiten kann, selbst wenn er da ist.«
Peggy blies sich eine Strähne ihres pechschwarzen Haares aus der Stirn, und Förster konnte schon verstehen, warum sie im letzten Jahr für Fränge so eine Versuchung gewesen war, aber herrje, mit fünfzig musste man nun auch nicht mehr jeder Versuchung nachgeben. Fränge hätte wahrscheinlich entgegnet, dass er, als das mit Peggy losgegangen sei, noch neunundvierzig gewesen sei.
»Hat er wieder Mist gebaut?«, fragte sie. »Der ist bestimmt versackt. Das ist in den letzten Wochen immer schlimmer geworden.«
»Ich gehe mal nach oben«, sagte Förster, weil er das jetzt nicht mit Peggy diskutieren wollte.
Förster schob sich an ihr vorbei und ging durch die kleine Küche ins Treppenhaus. Nachdem Fränge Bäckerei Konditorei Café Dahlbusch (dass er nicht wusste, welchen Artikel man davorsetzen sollte, machte Förster wahnsinnig) von seinen Eltern übernommen hatte, hatte er die beiden Wohnungen im ersten Stock zusammengelegt und war dort mit der Uli eingezogen. Seine Eltern hatten ihm vorgeschlagen, doch lieber ihre eigene, von vornherein viel größere Wohnung im zweiten Stock zu nehmen, da sie ja in eine kleinere in einem anderen Stadtteil gezogen waren, aber Fränge hatte damals gesagt, das wäre, als würde man wieder in sein Kinderzimmer ziehen, egal wie viel man renovierte, da könne man auch gleich zurück in den Mutterleib. Förster hatte das verstanden, er selbst konnte sich auch nicht vorstellen, wieder in dem Flachdach-Bungalow zu leben, in dem er seine Kindheit und Jugend verbracht hatte und den seine Eltern vermieteten, seit sie fest in das Haus in Südfrankreich gezogen waren, das sie sich in den Neunzigern als Feriendomizil gekauft hatten.
Förster klingelte und wartete. Nichts passierte. Er klingelte noch einmal, dann klopfte er und legte ein Ohr an die Tür. Nichts. Er klingelte und klopfte erneut, diesmal lauter und ausdauernder, und schließlich verstieg er sich sogar dazu, »Aufmachen, Polizei!« zu rufen, worauf er eine Stimme von oben hörte, die rief: »Echt, Alter? Bullerei?«
Förster trat ans Treppengeländer und blickte nach oben, wo der Kopf von Lukas zu sehen war, dem IT-Studenten, der manchmal im Café Dahlbusch kellnerte und mit drei anderen in der alten Dahlbusch-Wohnung wohnte, weil Fränge meinte, eine Studi-WG im Haus sei eine feine Sache, nicht zuletzt weil das potenzielle, auch kurzfristig greifbare Arbeitskräfte für die Kneipe bedeutete.
»Nein, Lukas, alles in Ordnung.«
»Hallo, Förster. Ich dachte schon, ich müsste jetzt das ganze Dope ins Klo schmeißen.«
»Nicht nötig. Ich kriege nur den Fränge nicht wach. Aber vielleicht ist der auch gar nicht zu Hause.«
»Doch, doch. Der ist gegen sechs Uhr hier aufgetaucht, das war nicht zu überhören. Und ich glaube, der war nicht alleine.«
»Okay, dann wird er ja irgendwann aufmachen.«
»Hat mich gewundert, denn sonst kommt der immer alleine nach Hause. Voll wie ein Eimer, aber alleine. Manchmal hört man ihn schon im Hausflur weinen.«
»Danke für die Info, Lukas.«
»Wenn noch mal so was ist, sag lieber: Aufmachen, Feuerwehr. Polizei, da kriegt man ja einen Schreck fürs Leben!«
Drogenrazzia ist also schlimmer, als wenn das Haus in Flammen steht, dachte Förster, wandte sich wieder der Tür zu und rief: »Fränge, mach auf, ich weiß, dass du da bist!« Irgendwann ging dann die Tür auf und eine Frau in einem Nirvana-T-Shirt blinzelte ihn an. Mindestens vierzig Jahre Leben sowie die letzte Nacht hatten sich in ihren Gesichtszügen unter dem aschblonden Haaransatz verewigt.
»Förster, bist du das?«
Die kennt mich?, dachte er. Wieso kennt die mich?
»Was macht dein Vater? Wie geht es ihm?«
Mein Vater? Wieso kommt die jetzt mit meinem Vater?
»Du sagst ja gar nichts.«
»Das ist Fränges T-Shirt«, brachte er heraus.
»Ja«, sagte die Frau. »Ich war nie ein großer Nirvana-Fan.«
»Das ist alt, das Shirt«, sagte Förster, »nicht bloß auf Vintage gemacht oder so. Das hat der Fränge seit den Neunzigern.«
»Hab ich mir aus dem Schrank genommen, als er eingeschlafen war. Der hat ja nichts mehr mitbekommen. Ich wollte nicht in meinen Klamotten schlafen. Oder … ganz ohne. Ist nicht mein Ding. Du hast keine Ahnung, wer ich bin, oder?«
»Doch, doch«, sagte er, »ich komme nur gerade nicht drauf.«
»Kathrin. Borgemeister. Ich habe bei deinem Vater promoviert.«
Jetzt fiel es Förster wieder ein. Sein Vater war ganz begeistert von ihr gewesen, so sehr, dass Försters Mutter ihn damit aufgezogen hatte.
»Kathrin, genau!«, sagte Förster. »Ich erinnere mich noch …«
»An die Party, ja, ich weiß. Mann, war ich blau.«
»Du hast meinem Vater eine große Freude gemacht, als du zu Sympathy for the Devil so eskaliert bist.«
»Eskaliert? Förster, du hast ja deinen Finger am Puls der Zeit!«
Das läuft hier in eine völlig falsche Richtung, dachte er, ich bin nicht hier, um mit einer ehemaligen Doktorandin meines Vaters über die Rolling Stones oder über Jugendsprache zu plaudern, sondern um einen meiner zwei besten Freunde davor zu bewahren, von seiner Exfrau filetiert zu werden. Was nicht ganz stimmte, denn Fränge und die Uli hatten nie geheiratet, ganz abgesehen davon, dass ihr Zorn Fränge weniger zusetzen würde als die Enttäuschung seines Sohnes, denn dem hatte er für heute etwas versprochen.
»Ist dein Vater immer noch so ein beinharter Stones-Fan?«
»Ja, sicher. Ist denn der Hausherr zugegen?«
»Komm rein und überzeug dich selbst.«
Er ging gleich durch zum Schlafzimmer, das Fränge auch als Büro diente, stellte mit einem Seitenblick in die Küche fest, dass es dort aussah wie bei Oscar Madison vor dem Einzug von Felix Unger, The Odd Couple, dachte er, schöner Film, sollte man mal wieder anschauen, Jack Lemmon und Walter Matthau, ein unschlagbares Team, aber auch die TV-Version mit Jack Klugman und Tony Randall gefiel ihm, doch das war wieder so eine Gedankenschleife, die ihn vom Eigentlichen wegführte. Das Eigentliche lag bäuchlings, nur mit einer Unterhose bekleidet, in einem zerwühlten Bett mit grauer Bettwäsche und schwarzen Laken. Speichel hatte sich unter Fränges Mund auf dem Kopfkissen gesammelt.
»Ich habe auf dem Sofa geschlafen«, sagte Kathrin, die sich fix angezogen hatte und jetzt einen knielangen Rock und ein ärmelloses Top trug.
Der Kleiderschrank im Bauernhaus-Stil, den die Uli vor Jahren auf einem Flohmarkt erstanden hatte, musste ziemlich leer sein, die meisten von Fränges Klamotten schienen auf dem Boden zu liegen. Das Zimmer sah aus wie die Höhle eines sehr unordentlichen Teenagers, aber, dachte Förster, nach Teen Spirit riecht das hier nicht.
Es dauerte ewig, bis er Fränge wach bekam, und das Erste, was der sagte, noch bevor er die Augen aufschlug, war: »Du willst schon gehen? Ich dachte, wir drehen noch eine Runde!«
Kathrin Borgemeister lachte. »Wir haben doch schon die erste nicht gedreht!« Sie sah Förster an und fuhr fort: »Da ist nichts gelaufen. Er war zu blau. Außerdem hat er gesagt, er würde nie wieder eine andere Frau als seine eigene anrühren.«
Kathrin hob ihre Handtasche auf und sagte, Förster solle bitte seinen Vater von ihr grüßen. Dann verabschiedete sie sich, und erst jetzt hob Fränge die Lider, erblickte Förster und meinte, in der Nacht habe er besser ausgesehen, zarter irgendwie, auch blonder.
»Es ist Samstagmittag«, sagte Förster. »Sagt dir das irgendwas?«
»Nee«, stöhnte Fränge. »Wieso?«
»Alex? Fußball?«
Es dauerte noch ein paar Sekunden, bis Fränge die Tragweite der Information komplett erfasst hatte, dann saß er mit einem Mal kerzengerade im Bett, wurde schlagartig sehr blass, sprang auf, rannte ins Bad, übergab sich, kam zurück und sagte: »Du musst mich fahren!«
Förster hatte nichts anderes erwartet.
Förster fand, das mit dem Autofahren klappte immer besser. Jahrelang hatte er das nicht selbst getan, einfach weil er die Notwendigkeit nicht gesehen hatte, ein Auto zu besitzen, man konnte doch so vieles zu Fuß erledigen oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Aber seitdem Fränge seinen Führerschein hatte abgeben müssen, chauffierte Förster ihn ständig durch die Gegend, etwa wenn er für das Café Dahlbusch einkaufen musste oder seine Eltern besuchte, die etwas außerhalb wohnten, wo man mit dem Bus nicht gut hinkam.
Ein paarmal war Förster sogar mit dem Bulli gefahren, den Fränge sich letztes Jahr zugelegt hatte. Ständig redete er davon, dass er den umbauen lassen wollte, um damit mal ein paar Wochen oder sogar Monate zu verschwinden. »Ab durch die Mitte«, tönte Fränge immer wieder, aber bisher war da noch nichts passiert. Fränge war öfter mal abgehauen in seinem Leben. Ende der Achtziger hatte er im geteilten Berlin gelebt und gleich zwei Freundinnen gehabt, eine im Osten, eine im Westen, ein Konstrukt, das durch den von Fränge nicht gerade herbeigesehnten Mauerfall zusammengebrochen war. Anfang der Neunziger hatte es ihn nach New York gezogen, wo er etwas mit einer ziemlich bekannten Bildhauerin gehabt hatte, was wiederum die ebenfalls bildhauernde Uli schwer beeindruckt hatte, als er sie Jahre später kennengelernt hatte. Neben diesen großen Fluchten hatte es immer wieder kleinere gegeben. Mal war Fränge mit dem Rucksack allein durch Frankreich, Spanien und Portugal gereist, mal hatte er zwei Monate in einem Holzhaus in Schweden zugebracht. Nur das mit dem Bulli hatte er bisher noch nicht in Angriff genommen.
Der Bulli war nicht so leicht zu fahren, hatte Förster festgestellt. Es irritierte ihn, dass es vorne senkrecht runterging und nach hinten so viel Platz war, was das Einparken zu einem Abenteuer machte. Aber auch in dieser Disziplin machte Förster Fortschritte.
Jetzt also brachte er seinen Freund zu einem Fußballspiel seines Sohnes, das dieser komplett vergessen, verschlampt, versoffen hatte, was an sich noch keine Katastrophe gewesen wäre, aber solche Dinge waren ihm in den letzten Monaten immer wieder passiert. Fränge hatte, obwohl er es versprochen hatte, verschwitzt, Alex irgendwo abzuholen oder ihn irgendwo hinzubringen, war nur selten bei seinen Spielen gewesen und hatte schließlich sogar seinen Geburtstag verschludert. Mit einer kindlichen, aber auch in jedem einzelnen Moment ernst gemeinten Zerknirschtheit hatte er diese Versäumnisse Förster und Brocki gegenüber zugegeben, sich selbst beschimpft und Besserung gelobt, und während Förster ihn ein ums andere Mal getröstet hatte, hatte Brocki meist nur gemeint, das seien nichts als Worte, er, Fränge, müsse sich endlich mal am Riemen reißen und von diesem pubertären Trip, auf dem er seit der Trennung von der Uli unterwegs sei, wieder herunterkommen.
Fränge hatte den Kopf an die Scheibe der Beifahrertür gelegt und seine rot geränderten Augen mit einer Ray Ban verdeckt. Er seufzte und stöhnte und atmete schwer, was dem Klima in der Fahrgastzelle von Karl-Heinz, wie Fränge seinen Volvo nannte, nicht sonderlich bekam, aber zum Glück war noch Sommer, und Förster konnte die Scheibe auf der Fahrerseite herunterkurbeln, denn er musste den Kopf ja nirgendwo anlehnen, ihm ging es gut. Er hatte Monika angerufen und ihr die Situation erklärt. Sie war nicht begeistert, weil das die Pläne für ein gemeinsames Mittagessen über den Haufen warf, aber sie fand es andererseits gut, dass Förster seinen alten Freund nicht im Stich ließ, auch wenn der sich eine Peinlichkeit nach der anderen leistete.
»Ich weiß, dass ich es mal wieder ziemlich verkackt habe«, murmelte Fränge.
Förster sagte nichts.
»Fußball, das ist unser Ding. Wir gehen zusammen ins Stadion, ich sehe mir die Spiele seiner Mannschaft an, und mit mir kann er ganz anders darüber sprechen als mit der Uli. Das macht ja auch Spaß. Die Mannschaft ist im Kern schon ein paar Jahre zusammen, ich kenne die Mütter und die Väter, die sind alle in Ordnung, nicht so Spacken mit übertriebenem Ehrgeiz. Na gut, einer vielleicht, aber die anderen sind einfach froh, dass die Jungs sich bewegen und dass wir uns untereinander gut verstehen, also die Mütter und die Väter. Und wenn der Alex und ich über Fußball reden, dann steht nicht dieser verdammte Elefant im Raum, dass ich unsere Familie kaputt gemacht habe. Aber irgendwie, in den letzten Monaten …« Fränge seufzte. »In den letzten Monaten habe ich da irgendwie versagt. Ich habe die Spiele vergessen oder bin zu spät gekommen, und im Stadion waren wir auch nicht mehr. Ich glaube, ich fange erst so langsam an zu begreifen, wie sehr ich es verbockt habe.«
Fränge beugte sich nach vorne, durchwühlte das Handschuhfach, fand eine halbe Rolle Pfefferminzbonbons, schob sich eines in den Mund und legte den Kopf wieder gegen die Scheibe.
»Wie bist du eigentlich an Kathrin Borgemeister geraten?«, wollte Förster wissen.
»Die habe ich gestern im Loft getroffen.«
»Du weißt, was ich davon halte. Wir sagen noch Disco, und die, für die der Laden gemacht ist, sagen Club.«
Es war jetzt etwas mehr als ein Jahr her, dass Förster Fränge mal dorthin begleitet hatte. Er hatte sich nicht wirklich wohlgefühlt, war aber bis zum frühen Morgen geblieben, eine Art widerwillige Reminiszenz an alte Zeiten in den Neunzigern, als sie regelmäßig bis zum Tagesanbruch im Macao gewesen waren. Das gab es nicht mehr, in den Räumen war jetzt ein Lampengeschäft untergebracht, was Förster recht witzig fand, denn im Macao war es immer dunkel gewesen.
»Man ist so alt, wie man sich fühlt beziehungsweise wie man sich anfühlt, Förster! Und ich fühle mich immer noch super an. Meint die Kathrin auch.«
»Die wirkte nicht sonderlich begeistert. Heute früh hast du wohl nichts mehr auf die Reihe bekommen, hat sie gesagt.«
»Ich habe auf heute Mittag gebaut.«
Eine Weile schwiegen sie. Dann sagte Förster: »Kathrin meinte, du hättest gesagt, du würdest nie wieder eine andere Frau anrühren als deine eigene.«
»Kinder und Betrunkene sagen die Wahrheit. Da vorne kannst du parken.«
Das Gelände war durch eine rote Ziegelsteinmauer von der Straße abgegrenzt. Förster und Fränge gingen durch die breite Zufahrt, in der ein grünes halb geschlossenes Gittertor verhinderte, dass man hier einfach mit dem Wagen durchfuhr. Links ging es zum Vereinsheim der Spielvereinigung, einem einstöckigen länglichen Bau mit Satteldach. Vorgelagert standen zwei in den Vereinsfarben Grün und Weiß gestrichene Container, deren Türen offen standen. Rechts war eine kleine Turnhalle, die auch die Spielerkabinen beherbergte. Ein wolkenloser, sehr blauer Himmel spannte sich über einem erstaunlich satten Grün mit leuchtenden weißen Linien. Um den Platz herum standen sechs Flutlichtmasten mit je zwei Scheinwerfern. Hinter den Toren ragten Fangzäune aus braunem Metall auf. Eine Laufbahn aus rotem Tartan umgab das Spielfeld. Drei breite Stufen bildeten eine kleine Stehtribüne, die von einer langen Pappelreihe beschattet wurde. Vor den Kabinen erkannte Förster in lockeren Gruppen zusammenstehende Erwachsene, wahrscheinlich die Eltern der Spieler.
»Ich glaube, die sind schon fertig«, sagte Fränge. »Aber ich dachte, die C spielt immer erst um drei oder halb vier oder so. Wieso sind die denn schon fertig?«
»Keine Ahnung«, sagte Förster. Er war zum ersten Mal hier. Er hatte mit Fußball nichts am Hut. Immer wieder hatte Fränge ihn mit ins Stadion nehmen wollen, aber er hatte jedes Mal dankend abgelehnt.
Fränge stellte sich zu zwei rauchenden Frauen, und Förster folgte ihm. Die eine Frau war klein, trug Stiefeletten mit silbernen Nieten, eine ärmellose Bluse und enge, die Knöchel fest umschließende Jeans und hatte kurze weißblonde Haare. Die andere war einen ganzen Kopf größer, hatte dunkle schulterlange Locken, trug ein Depeche-Mode-T-Shirt und eine verwaschene Jeansjacke.
»Hallo, Mädels«, sagte Fränge, was Förster absolut unpassend fand, aber die beiden nickten nur. Dass Fränge verkatert war, war ihm plötzlich nicht mehr anzumerken.
»Das ist Arjana«, stellte Fränge die Blonde vor, »und das ist Luiza.«
»Wo bist du gewesen?«, fragte Arjana.
»Ich glaube, der Alex ist sauer«, sagte Luiza.
»Du hast gesagt, du holst ihn ab«, sagte Arjana.
»Ich weiß, ich habe es verbockt«, gab Fränge zu. »Das ist übrigens Förster.«
Die beiden Frauen strahlten plötzlich. »Ah, der berühmte Förster!«, sagte Arjana mit einem leichten Akzent, den Förster Richtung Osteuropa einordnete.
»Wir haben viel gehört«, meinte Luiza.
»Was erzählt Fränge denn über mich? Ich behaupte mal, das meiste ist gelogen.«
Arjana grinste. »Ich hoffe nicht.«
»Wieso war das Spiel denn so früh?«, wollte Fränge wissen. »Ich meine, letzte Saison waren die D, da ging das um zwei Uhr los, und ich dachte, die C, die spielt dann um halb vier.«
»Das war ein Freundschaftsspiel«, sagte Luiza. »Die haben abgemacht, dass es früher losgeht.«
»Das kann doch keiner wissen«, behauptete Fränge.
Luiza seufzte. »Ist jetzt auch egal. Das Spiel war schlimm. Keiner hat mehr Freude hier.«
Arjana trat ihre Zigarette aus. »Ich weiß nicht, ob Luan weitermacht.«
Eine der Türen des Kabinentraktes ging auf, und es erschienen etwa fünfzehn Jugendliche in schwarz-weißen Trainingsanzügen, und alle zogen Rollkoffer hinter sich her. Grußlos gingen sie an den Erwachsenen vorbei zur Straße und stiegen in einen Kleinbus, der mittlerweile vorgefahren war. Sie wirkten auf Förster höchst diszipliniert.
»Das waren die Gegner«, sagte Arjana. »Kommen mit den blöden Koffern und gehorchen wie Hunde. Die stellen sich für das Mannschaftsfoto auf wie Profis.«
Förster fragte, wie das Spiel ausgegangen sei. Arjana machte nur eine wegwerfende Handbewegung.
Aus einem der Container trat ein Mann, den Förster aufgrund seiner Aufmachung als Trainer der gegnerischen Mannschaft identifizierte. Er kam direkt auf sie zu, weil sie dem Ausgang am nächsten standen. Da Förster in seine Richtung schaute, wählte der Trainer genau ihn als Ansprechpartner aus.
»Sagt mal eurem Trainer, dass so etwas keinen Sinn macht! Solche Spiele bringen niemandem etwas. Uns nicht, weil wir nicht gefordert werden, und euch nicht, weil ihr keine Chance habt. Die Jungs sollen doch den Spaß nicht verlieren, verdammt noch mal!«
»Hast du ihm das auch schon gesagt?«, fragte Luiza.
»Ja, sicher, aber der hat mich nur angeguckt, als wollte er mir eine reinhauen.«
Kopfschüttelnd folgte der Mann seinem Team, und der Kleinbus fuhr ab.
»Das hört sich nach einer echten Packung an«, sagte Fränge. »Aber das war ja auch 09. Ist doch klar, dass wir gegen die die Hucke voll kriegen! Welcher Honk kommt denn auf die Idee, gegen 09 ein Freundschaftsspiel zu machen?«
Wie aufs Stichwort trat ein zweiter Mann aus dem Container. Er trug eine grün-weiße Trainingsjacke, war bestimmt eins neunzig und hatte lange Arme, die beim Gehen neben seinem Körper hin- und herschwangen, als seien sie nur locker in den Schultern eingehängt und drohten jeden Moment herauszufallen. Der geht, als wäre er gerade erst zusammengesetzt worden, dachte Förster.
Der Mann blieb vor der kleinen Gruppe stehen, sah auf den Boden und sagte: »Verdammte Scheiße!«
»Was ist los, Holger?«, fragte Fränge.
Holgers Blick wanderte über den rissigen Asphalt vor den Kabinen, hoch zum Himmel und dann rüber zum Platz. »Man kann verlieren«, sagte er. »Aber nicht so! Heute muss sich jeder Einzelne fragen, ob er wirklich alles für die Mannschaft gegeben hat. Diese verdammten Weicheier kotzen mich alle so an! Die können mich alle mal am Arsch lecken. Ich lasse mir das nicht länger bieten. Die sollen sich einen anderen Idioten suchen, die kleinen Wichser.«
»Mach mal halblang, Holger!«, sagte Fränge. »Du redest hier über unsere Kinder. Und überhaupt! Was hetzt du die 09er auf die? War doch klar, dass sie da auf die Fresse kriegen.«
Dieser Holger wich einen Schritt zurück, dann rotzte er auf den Boden und stapfte mit schlenkernden Armen Richtung Straße.
»Was für ein Vollidiot!«, stöhnte Fränge.
Diese Fußballwelt ist mir nicht nur fremd, dachte Förster, sondern zutiefst suspekt. Erwachsene, die Jugendliche nach einem verlorenen Spiel als kleine Wichser bezeichneten, da fehlen einem doch die Worte.
Kurz darauf kamen die ersten Jungs von der Spielvereinigung aus ihrer Kabine, keiner von ihnen trug einen Trainingsanzug, was Förster überaus sympathisch war, denn dieses Uniformierte, Disziplinierte, Glattgebügelte, das die anderen ausgestrahlt hatten, konnte einem doch regelrecht Angst machen, nicht umsonst waren Kinder, die sich nicht wie welche verhielten, ein beliebtes Thema in Horrorfilmen, Dorf der Verdammten fiel Förster ein, dieser Film aus den Fünfzigern oder Sechzigern, in dem es um lauter gleich aussehende Kinder mit weißen Haaren ging, die übernatürliche Kräfte hatten und deren Augen manchmal unheimlich aufleuchteten. Worum es genau ging, hatte er vergessen, aber ein modernes Remake, davon war er überzeugt, müsste man mit Kindern drehen, die in einheitlichen Trainingsanzügen herumliefen.
Ein Junge, der nur der Sohn des Trainers sein konnte, kam auf sie zu, vermied genau wie sein Erzeuger jeden Blickkontakt und fragte den Boden zu seinen Füßen: »Ist mein Vater schon weg?«
»Ist gerade raus«, sagte Arjana, und der Junge drehte sich zu den Kabinen um und brüllte: »Danke für nix, ihr Weicheier! Ihr könnt mich mal am Arsch lecken, ihr verdammten Opfer! Ich schreib euch aus Madrid!« Dann verließ er das Gelände mit dem gleichen ungelenken Gang wie sein Vater.
»Ist ein Arschloch«, sagte Arjana.
Luiza nickte. »Vater und Sohn, beide.«
Ein breitschultriger Junge mit dunklen Haaren kam auf Luiza zu. Sie wollte ihn umarmen, aber er entwand sich ihr und sagte: »Ich hör auf. Das war zu krass.« Dann erkannte er Fränge, und sein Gesicht hellte sich ein paar Grad auf, und er sagte: »Hallo, Fränge!« Ihm folgte ein etwas kleinerer Junge, der sich von Arjana widerstandslos umarmen und küssen ließ und dann ebenfalls mit einem Anflug positiver Stimmung Fränge begrüßte. Der erwiderte den Gruß, nannte den ersten Spieler Adnan, den zweiten Luan und sagte dann: »Leute, macht euch keinen Kopp! Die 09er sind kein Maßstab, gegen die hattet ihr keine Chance. Es ist doch der totale Wahnsinn, gegen die überhaupt ein Spiel zu machen, wenn man nicht unbedingt muss.«
»Das Training ist voll scheiße!«, sagte Adnan. »Zum Warmmachen müssen wir fünf Runden um den Platz laufen. Wer beim Training redet, läuft noch mal eine Runde. Und der Trainer meint, wir müssen gegen gute Mannschaften spielen, damit wir selber besser werden. Aber wenn wir dann verlieren, scheißt er uns zusammen und sagt, wir hätten uns nicht angestrengt. Ey, ich hab mich voll angestrengt, aber immer, wenn ich bei einem ankam, war der Ball schon weg.«
»Erzähl von letzter Woche«, sagte Luan.
»Ey, letzte Woche, ehrlich! Er meint, wir schießen nicht hart genug. Also Torschusstraining.«
»Ist ja erst mal nichts Ungewöhnliches«, meinte Fränge.
»Mit Medizinbällen!«
Förster war entsetzt. »Das ist doch Körperverletzung!«
Die beiden Jungs sahen ihn an.
»Das ist Förster!«, sagte Fränge.
»Der berühmte Förster!«, grinste Adnan.
»Habt ihr den Lehrer auch dabei? Den mit den karierten Hemden?«, wollte Luan wissen.
Damit war natürlich Brocki gemeint, der eine Vorliebe für kleinkarierte Hemden aus Funktionsmaterial hatte.
»Der muss Klausuren korrigieren oder so«, sagte Fränge.
»Fränge erzählt gerne von euch«, sagte Arjana.
»Wir gehen jetzt nach Hause«, sagte Luiza und legte ihrem Sohn eine Hand auf die Schulter.
»Yo Mann, wir müssen los«, sagte Adnan, und sie verabschiedeten sich von Fränge mit diesem speziellen Handschlag, bei dem man den Handballen des anderen umfasste, sodass es aussah, als wollte man ein Armdrücken beginnen.
»Du bist ja hier ein Star«, sagte Förster und blickte den Jungs und ihren Müttern nach. »Was hast du denen von Brocki und mir erzählt?«
»Die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit«, sagte Fränge, dessen Grinsen bei einem Blick über Försters Schulter jedoch in sich zusammenfiel.
Förster drehte sich um und sah Alex aus der Kabine kommen. Neben ihm ging ein Junge, der ein paar Zentimeter größer war und feuerrote Haare hatte. Alex zog eine große Tasche mit Rollen hinter sich her, und als er seinen Vater erblickte, änderte er die Richtung. Fränge wusste offensichtlich nicht, was er tun sollte. Hinübergehen und sich entschuldigen oder den Jungen in Ruhe lassen, weil eh alles zu spät war? Er entschied sich für eine dritte Möglichkeit und rief: »Hey Justin! Nicht mal du konntest was machen? Wenigstens eine Bude, den Ehrentreffer? Freistoß in den Winkel oder so?«
Justin hob kurz die Schultern. »Dafür muss man erst mal einen Freistoß in Tornähe bekommen.«
»So schlimm?«
»So schlimm.«
Alex zog Justin am Arm, und die beiden verließen das Gelände.
»Ich glaube, diesmal habe ich richtig Mist gebaut«, murmelte Fränge. »Die Summe macht’s. Heute war einmal zu viel.«
Förster wollte etwas Aufmunterndes sagen, aber es fiel ihm nichts ein. Er dachte: Ich bringe dich jetzt erst mal weg hier, weg vom Dorf der Verdammten.
Wie am Samstag üblich, war der Frühstücksansturm direkt in den Mittags- und Nachmittagsandrang übergegangen, jetzt aber herrschte die Ruhe vor dem Abendbetrieb, die blaue Stunde, dachte Förster, war aber versucht, sich selbst gleich zu korrigieren, denn die blaue Stunde hatte ja was mit der Dämmerung zu tun, wenn der Himmel sich bereits Richtung Nacht verfärbte, aber davon war weit und breit nichts zu sehen, es war gerade mal kurz nach fünf. Sie saßen vor dem Café Dahlbusch, während Lukas drinnen saubermachte. Förster und Brocki hatten Milchkaffee vor sich stehen, Fränge eine bereits zur Hälfte geleerte 1,5-Liter-Flasche Cola sowie eine große Packung Salzstangen. Er trug noch immer seine Sonnenbrille und sagte, Brocki solle sich mal nicht so aufregen, schließlich sei das nur ein Freundschaftsspiel gewesen.
»Null zu fünfundzwanzig?«, sagte Brocki. »Die andere Mannschaft hat das Spiel offenbar sehr ernst genommen.«
»Das waren die 09er«, sagte Fränge. »Gegen die hatten wir doch gar keine Chance!«
»Wieso sagst du wir?«, fragte Brocki. »Wer seinen Sohn so hängen lässt, darf doch nicht wir sagen.«
Fränge griff sich noch zwei Salzstangen, steckte sie in den Mund und spülte mit Cola nach.
»Es ist ja auch nicht das erste Mal«, fuhr Brocki fort. »Wie oft hast du ihn in den letzten Monaten versetzt? Kannst du das überhaupt noch zählen? Du hast sogar seinen Geburtstag vergessen!«
»Ja, richtet mich hin!«
»Das wird die Uli schon machen«, sagte Brocki. »Oder der Alex selber.«
Förster kannte dieses Geplänkel zwischen den beiden, das sich für Außenstehende manchmal wie ein Streit anhörte, tatsächlich aber nur der Ausdruck einer lebenslangen Freundschaft war, die zu gleichen Teilen auf der Gegensätzlichkeit zweier Charaktere und den gemeinsamen Erfahrungen, die sie seit ihrer Kindheit gemacht hatten, beruhte. Förster hatte die beiden erst auf dem Gymnasium kennengelernt. Das war jetzt auch schon einundvierzig Jahre her, aber trotzdem hatte er bisweilen immer noch das Gefühl, außen vor zu sein. Was nicht zuletzt mit der unterschiedlichen sozialen Herkunft zu tun hatte, wie Förster irgendwann klar geworden war. Er selbst war der Sohn eines habilitierten Spezialisten für amerikanische Geschichte mit einer lebenslangen Leidenschaft für eine flegelhafte britische Rockband namens The Rolling Stones, während Fränges Vater als Bäcker- und Konditormeister Kleinunternehmer gewesen war und Brockis Vater jahrzehntelang auf Stahlwerke malocht hatte, wie Brocki das heute noch ausdrückte. Brockis Eltern, die Brocks, waren um einiges älter gewesen als Försters und Fränges, hatten ihren Tilmann als Nachzügler bekommen, als die beiden anderen Söhne schon fast die Volljährigkeit erreicht hatten, und waren bereits verstorben, während das Ehepaar Dahlbusch nach der Aufgabe ihres Betriebes das Wandern für sich entdeckt hatte.
Fränge legte die Arme auf die Rückenlehne der aus farbig lackierten Latten bestehenden Holzbank und hielt das Gesicht in die Sonne.
»Du hast doch überhaupt keine Ahnung von Fußball, Brocki!«
»Um den Mist, den du baust, als Mist zu erkennen, muss ich doch keine Ahnung von Fußball haben!«
»Und Kinder hast du auch nicht.«
Förster hielt den Atem an. Das war ein Tiefschlag. Brocki hatte nur deshalb keine Kinder, weil er nur eine einzige Frau in seinem Leben wirklich geliebt hatte, die Silke, und die war bereits tot.
»Das war jetzt richtig scheiße«, sagte Förster.
Brocki schwieg. Fränge nahm erst die Arme von der Rücklehne und dann die Sonnenbrille ab und sah Brocki an. »Tut mir leid. Ehrlich. Förster hat recht, das war jetzt richtig scheiße. Dafür gibt es keine Entschuldigung.«
Okay, dachte Förster, das meint er ernst. Und weil die beiden sich seit fast fünfzig Jahren kannten, konnte Brocki die Bemerkung tatsächlich wegstecken. Er wartete allerdings ein paar Sekunden, damit Fränge das Ganze noch ein bisschen bereuen konnte.
»Immerhin habe ich früher Fußballbilder gesammelt«, sagte er dann.
»Aber du hattest keine Ahnung, wer die Spieler auf den Bildern waren.«
»Ich weiß aber noch, dass ich mal eine Tüte hatte, in der war zweimal Erich Beer drin.«
Fränge seufzte. »Erich Beer, mein Gott, wie lange habe ich nicht an den gedacht!«
»Warum auch?«, sagte Förster.
»Immerhin war der Nationalspieler«, sagte Brocki. »Der hat doch Länderspiele gemacht, oder?«
»Der war bei der Schmach von Córdoba dabei«, bestätigte Fränge, und weil Förster offenbar ein besonders fragendes Gesicht machte, erklärte er ihm, dass damit die Zwei-zu-drei-Niederlage der bundesdeutschen Nationalmannschaft gegen Österreich bei der Weltmeisterschaft 1978 gemeint war. Förster fand es komisch, dass man im Zusammenhang mit einem Fußballspiel von Schmach sprechen konnte.
»Der hatte schon mit Mitte, Ende zwanzig eine ganz hohe Stirn und Geheimratsecken«, meinte Brocki.
»Egon Köhnen von Fortuna Düsseldorf hatte mit Mitte zwanzig schon eine Glatze«, sagte Fränge.
»An den erinnere ich mich nicht«, sagte Brocki.
»Aber an den Beer, weil du den zweimal in einer Tüte hattest?«
»Das war Beschiss! Ich bin damals zum alten Jankowski gelaufen und habe das reklamiert, aber der hat mir nicht geglaubt. Der dachte, ich will mir eine Tüte für umsonst ergaunern.«
Schreibwaren Jankowski. Förster erinnerte sich dunkel.
»Der Jankowski war ein alter Nazi«, sagte Fränge und holte sein Handy heraus.
»Für dich war doch früher jeder ein Nazi, der nicht zur Begrüßung Rotfront gebrüllt hat«, sagte Brocki.
»Ich war immer für die Befreiung der arbeitenden Massen, das stimmt.« Fränge tippte etwas in sein Telefon und hielt es sich ans Ohr. »Lukas, bring mal eine Runde Weizenbier nach draußen, aber vergiss nicht, die Gläser vorher auszuspülen.« Fränge steckte das Telefon wieder weg.
Brocki war fassungslos. »Du hast gerade dadrinnen angerufen? In deinem eigenen Laden? Obwohl du direkt davorsitzt? Wie weit ist das? Zehn Meter? Bist du noch ganz gescheit?«
»Gescheit und schwach«, sagte Fränge. »Kein Alkohol ist auch keine Lösung, habe ich festgestellt. Cola und Salzstangen haben mich nicht nach vorne gebracht, also gibt es jetzt ein Konterbier. Außerdem hab ich Flatrate.«
»Wenn überhaupt hast du eine Flatrate«, sagte Brocki. »Das ist ja auch so eine neue Mode, die Artikel und Präpositionen wegzulassen. Das höre ich jeden Tag im Unterricht: Ey, kommst du nachher noch Bahnhof? Gehen wir noch Media Markt? Gib mal Ball! Und alles von Kindern, die mit Deutsch aufwachsen!«
»Da geht sie also wieder den Bach runter, die deutsche Leitkultur!«, höhnte Fränge.
»Die Sprache verlottert!«
»Wegen der ganzen Ausländer oder was?«
»Nicht wegen der ganzen und auch nicht wegen der halben und auch nicht wegen all der Ausländer, wie es grammatisch korrekt heißen müsste, sondern wegen WhatsApp. Und ich habe in meinen Klassen und Kursen keine Ausländer, sondern nur Deutsche mit unterschiedlichen Wurzeln. Aber mal eine andere Frage: Wie soll das denn jetzt weitergehen mit dem Alex und dir? Hast du einen Plan? Du musst doch was tun.«
»Ich weiß es noch nicht. Ich zerbreche mir die ganze Zeit den Kopf. Es muss mir was einfallen, was richtig Gutes. Ich weiß, dass ich da nicht mit einem großen Stoffteddy wieder rauskomme. Diesmal muss ich richtig liefern.«
»Immerhin scheint er die Tragweite des Problems richtig einzuschätzen«, sagte Brocki zu Förster.
Lukas kam und balancierte drei Weizenbier auf einem Tablett, und Förster fürchtete schon, das würde nicht gut gehen, aber er schaffte es, das Tablett auf dem Tisch abzustellen, ohne etwas zu verschütten.
»Übrigens, Brocki«, sagte Förster, »wenn du dir mal Zutritt zu Fränges Wohnung verschaffen musst, dann brüll im Hausflur nicht Polizei, sondern Feuerwehr.«
»Sehr witzig«, sagte Lukas, stellte die Biere vor sie hin und ging wieder hinein.
»Muss ich nicht verstehen, oder?«, fragte Brocki.
»Wenn der Polizei hört, kriegt der Angst um sein Dope«, sagte Fränge.
Brocki war entsetzt. »Der hat Drogen in seiner Wohnung? In deinem Haus?«
Fränge winkte ab. »Keine Drogen, nur Gras. Also eigentlich Futter für Kühe.«
»Wieso Weizenbier?«, wollte Förster wissen, der zugeben musste, auch schon daran gedacht zu haben, den Abend einzuläuten, auch wenn er eher Aperol oder Weißweinschorle im Sinn gehabt hatte.
»Es ist die blaue Stunde«, sagte Fränge.
»Na ja«, sagte Förster, »genau genommen spricht man von der blauen Stunde, wenn sich der Himmel wegen der nahenden Nacht zu verfärben beginnt, und das ist ja noch nicht der Fall.«
»Oh, der Dichter hat heute wieder Korinthen im Stuhl«, sagte Brocki grinsend.
Fränge hob sein Glas. »Es ist warm, der Sommer biegt auf die Zielgerade ein. Samstagabend in unserer Straße, wie Peter, der Maffay, einst sang, und da gibt es nichts Besseres als ein Weizenbier in der untergehenden Sonne. Tutti completti mit Präpositionen und Artikeln.«
Das leuchtete Förster ein, und auch Brocki hatte keine Einwände, sie stießen an und tranken ein Konterbier auf das Wohl von Erich Beer und Egon Köhnen, und Förster hatte jetzt einen Peter-Maffay-Ohrwurm.
Aus den Boxen kam Manic Monday von den Bangles, aber Monika sang Monday, Monday von The Mamas and the Papas, das zuvor gelaufen war, denn Förster hatte die Montagsplaylist chronologisch nach dem Erscheinungsjahr der Stücke geordnet, und nun ging bei ihm im Kopf einiges durcheinander, zumal Monika ihn vorhin noch gefragt hatte, ob er Susanna Hoffs, die Sängerin von den Bangles, früher attraktiv gefunden habe. »Wieso früher?«, hatte Förster zurückgefragt und den Blick, den sie ihm daraufhin zugeworfen hatte, nicht deuten können, und deshalb interpretierte er ihr Monday-Monday-Singen als kleine eifersüchtige Spitze, obwohl Monika für echte Eifersucht viel zu klug und zu selbstbewusst war, also wollte sie vielleicht auch nur die Tatsache ironisch kommentieren, dass sie mit einem Mann zusammenlebte, der Playlists für Wochentage zusammenstellte.
Förster sah ihr zu, wie sie an der modernen Kücheninsel mit der schwarz glänzenden Arbeitsplatte stand und den Salat zubereitete. Er hatte sich noch nicht an diese Wohnung gewöhnt. So großzügig und modern hatte er nicht mehr gewohnt, seitdem er aus dem Flachdach-Bungalow seiner Eltern ausgezogen war. Letztes Jahr im Herbst hatte Monika ihn gefragt, wie lange er denn noch in dieser winzigen Wohnung leben wollte, die er in den Achtzigern bezogen hatte, und darauf hatte Förster keine Antwort gehabt. Als er in den