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»Spiel des Lebens« ist Udo Jürgens' Geschenk an seine Fans. Im Bestseller »Der Mann mit dem Fagott« ließ er uns in die Geschichte seiner Familie schauen. Nun erzählt er in seinen Geschichten, welche Gefühle und Sehnsüchte ihn bewegten. Der Junge, der auf dem Balkon tanzt und davon träumt, ein Musiker zu sein. Der Maler, der sich im Café an seine Anfänge erinnert. Ein Trommler, der auf dem falschen Kontinent geboren ist. Sie alle sind Zaungäste im Spiel des Lebens, aber es bedarf nur wenig, ihnen ins Rampenlicht zu helfen. In sehr persönlichen Geschichten, die Udo Jürgens wie seinen Roman mit Michaela Moritz verfasste, greift er die Stimmung seiner Lieder auf und verdichtet sie zu einem »Spiel des Lebens«. »Nur wer offen ist und sich in sein Herz schauen lässt, wird sein Publikum berühren.« Udo Jürgens in einem Interview mit Rainer Holbe, Frankfurter Rundschau »Es gibt ein Thema, das alle Geschichten miteinander verbindet: Der unbedingte Wille, seine Träume bei allen Selbstzweifeln nicht zu verlieren, dranzubleiben, sie zu verwirklichen.« Christian Berkel
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Seitenzahl: 206
Udo Jürgens | Michaela Moritz
Spiel des Lebens
Geschichten
FISCHER E-Books
Blinkende Lichter, skurrile Töne, Schwaden vom Rauch Dutzender Zigaretten, manchmal der Klang von Münzen, die in größerer Zahl ins Ausgabefach fallen. Eine seltsame Mischung aus Lärm und konzentrierter Stille.
Ich betrete den Raum mit einer gewissen Scheu. Es ist eine fremde Welt, in der ich mich unsicher bewege. Ich gehöre hier nicht her, das ist mir in jeder Sekunde deutlich bewusst. Etwas ratlos schaue ich mich um. Allein der Bereich mit den Automaten scheint mir so groß wie die Bahnhofshalle einer Großstadt. Weiter hinten liegen die Bereiche mit den Spieltischen für Roulette, Black Jack, Poker. Ich werfe nur einen flüchtigen Blick dorthin und konzentriere mich dann wieder auf den Teil des Raumes, in dem ich mich befinde, versuche, das Gefühl der beklemmenden Fremdheit etwas abzuschütteln.
Jeder bleibt hier für sich, manche spielen an zwei Automaten gleichzeitig. Manche Spieler scheinen leise Selbstgespräche zu führen, Beschwörungsformeln, als hinge es von der Macht ihrer Gedanken oder Gebete ab, wie die Walzen in der »Slot Machine« sich drehen, als könnten sie den Lauf des Spiels beeinflussen, als hinge Sieg oder Niederlage von der Kraft ihrer Wünsche ab.
Ein Wink mit dem Finger bringt einen Kellner dazu, einen neuen Drink abzustellen. Gezahlt wird, ohne die Augen von der Maschine zu nehmen, als würde die Beobachtung der drehenden Walzen das Glück beeinflussen und ein Moment der Unaufmerksamkeit Pech nach sich ziehen.
Manch einer ist blass im Gesicht, Schweiß auf der Stirn, als ginge es um die ganze Existenz. Konzentrierte, angespannte Mienen, das Leben scheint nur aus diesem Moment, dieser Maschine und dem Augenblick der Hoffnung auf den Gewinn zu bestehen. An einer entfernten Ecke bricht Streit aus, ein Mann will einen anderen vom Automaten vertreiben, da er an »seiner« Maschine spiele und er ganz deutlich fühle, dass diese Maschine heute reif sei für den ganz großen Gewinn. Aus einer anderen Richtung erklingt das nicht enden wollende Rasseln einer Unmenge von Münzen, gefolgt von einem hemmungslos herausgebrüllten Jubelschrei. Der Mann lässt sich eine Plastikschale für die vielen Münzen geben. Wo so viel Glück war, muss einfach noch mehr sein. Heute ist sein Tag. Heute fordert er das Schicksal heraus. Münze für Münze verschwindet wieder im Schlitz des Automaten. Es winkt der ganz große Jackpot, das ganz große Geld, die Summe, die das eigene Leben verändern wird, ein für alle Mal.
Meine eigenen Ziele und Wünsche an das Leben in diesem Moment sind da erheblich bescheidener: Nur zehn Dollar zu gewinnen, das würde meinen Traum dieses Tages schon erfüllen. Nur zehn Dollar! Für mich ein unermessliches Vermögen! Ich versuche, das Schicksal ein wenig zu beschwören und auf meine Seite zu ziehen.
Noch nie zuvor habe ich ein Casino betreten – und dieses hier in Las Vegas ist riesig, laut, scheint seinen ganz eigenen Gesetzen zu gehorchen. Am Eingang hatte ich meinen Ausweis zeigen müssen, da man mir meine 23 Jahre nicht glaubte. Mit einem Stirnrunzeln ließ man mich schließlich passieren. Ein Junge irgendwo aus der fernen europäischen Provinz, dem man die leeren Taschen ansieht.
Seit Wochen schon bin ich mit vier Freunden unterwegs durch Amerika. In einem alten Ford Customline haben wir die Route 66 und andere gebührenfreie Highways von Ost nach West bereist. Wir schlafen immer unter freiem Himmel. Geld für Hotelzimmer oder Restaurants haben wir nicht. Wir waschen uns und unsere Kleidung in Bächen, Flüssen und Seen, an denen wir zufällig vorbeikommen, trocknen unsere Kleidung während der Fahrt an der Radioantenne oder über Nacht auf dem Autodach. Wir ernähren uns von Cornflakes, Milch und Schinken. Wir haben ausgerechnet, dass wir so mit unserem knappen Budget am längsten durchhalten. Das Auto haben wir für 700 Dollar erstanden und wollen es am Ende der Reise für vielleicht 500 Dollar wieder verkaufen. Es ist für diese Zeit unser Zuhause.
Die anderen vier Freunde haben wenigstens einen Schlafsack und eine Luftmatratze als Unterlage. Ich bin der Einzige, der ohne diese Annehmlichkeiten auskommen muss, aber das stört mich nicht sehr. Ich kann eigentlich überall schlafen, auf einer Bank, einer Steinmauer, wo auch immer und sei der Platz noch so eng – und als Kopfkissen genügen mir meine Schuhe. Meistens lege ich mich zum Schlafen auf die Rückbank des Wagens, lasse bei gutem Wetter eine Tür offen, damit ich die Beine ausstrecken kann. Ein Gefühl von grenzenloser Freiheit und Abenteuer. Wir brauchen wenig – und das ganze unermessliche Land unserer Träume steht uns dafür offen und will von uns entdeckt werden.
Ich entscheide mich für einen Automaten, der bisher von den anderen Spielern wenig beachtet wurde. Vielleicht wird er mir ja Glück bringen. Ich wiege die in 25-Cent-Münzen gewechselten fünf Dollar in meiner Hand, mein ganzes Spielkapital, nehme die erste, wünsche mir Glück, werfe sie ein, ziehe den Hebel. Die drei Walzen bewegen und drehen sich erschreckend kurz, blinken, kommen zum Stehen. Nichts passiert. Kein noch so leises Rasseln im Münzfach. Der erste Quarter ist verloren. Meine vier Freunde schauen durch den Eingang herein, drücken mir die Daumen. Ich lächle zurück, konzentriere mich wieder auf den Automaten. Bitte, bitte, bitte, nur zehn Dollar brauche ich. Hier und heute. Das muss doch zu schaffen sein …
Für mich ist es die erste große Reise meines Lebens.
Der Krieg liegt zwölf Jahre zurück. In meiner Heimat besteht die Welt aus Zonen, Wiederaufbau, der Suche nach Schuld und dem steinigen Weg aus den Trümmern der Geschichte. Die Musik der Zeit ist von harmlosen Sehnsuchtsliedern geprägt: Cowboylieder, Seemannslieder, Italienlieder, etwas anderes findet kaum statt. So etwas wie eine ernstzunehmende, zeitgemäße Unterhaltungsmusik, die das Lebensgefühl junger Menschen wie uns ausdrückt, Musik, wie ich sie liebe, bekommt man in den Radiosendern und auf heimischen Schallplatten so gut wie nicht zu hören. Die Musik, wie ich sie liebe, gibt es nur von amerikanischen, französischen, italienischen, britischen Musikern und laufen auf den Sendern der Alliierten, nicht in den großen Radioprogrammen meiner beiden Heimaten Deutschland und Österreich.
Ich suche als junger Musiker meinen Weg, den ich bisher nicht gefunden habe. Ich weiß, ich habe Talent, ich weiß, dass mein Leben der Musik gewidmet sein muss, etwas anderes kann ich mir nicht vorstellen, aber bisher habe ich nichts erreicht. Und ich habe nur eine vage Vorstellung von dem, was ich erreichen will, und dem Weg, den ich gehen muss, um es erreichen zu können.
Ich spiele amerikanische Swing-Nummern in irgendwelchen Clubs, was mich begeistert, oder nehme unsägliche Herz-Schmerz-Sehnsuchtslieder für Musikproduzenten auf, die mir immer wieder versichern, das sei auf Jahre hin das Einzige, was sich in Deutschland und Österreich verkaufen lasse – was mir überhaupt nicht entspricht. Für Musik, wie sie mir etwas bedeutet und Songs, die ich selbst komponiere, die mit meinem Lebensgefühl und der Gegenwart zu tun haben, scheint kein Platz zu sein.
Ich lebe von der Hand in den Mund, spiele in Lokalen für eine Mahlzeit und etwas Trinkgeld oder spare mir die kleine Gage mehrerer Abende lang zusammen, um mir die Schallplatten der amerikanischen Künstler zu leisten, die ich bewundere und verehre – Frank Sinatra, Nat King Cole, Sammy Davis Jr., Judy Garland. Das ist meine »Schule«.
Manchmal frage ich mich, wo ich in fünf, zehn oder zwanzig Jahren sein werde, ob ich dann immer noch durch die Bars und Kneipen tingeln werde, zunehmend frustriert, der ewig Begabte, aus dem nichts geworden ist und der anderen gefragt oder ungefragt immer nur die Geschichte zu erzählen hat, was er hätte erreichen können, wenn nicht … – ja, wenn was eigentlich nicht? – … wenn man ihn hätte eigene Songs singen lassen, wenn man ihm eine Chance gegeben hätte oder wenn er sich besser der Zeit und ihrer seltsamen Kultur hätte anpassen und das, was der Markt offensichtlich will, besser hätte bedienen können.
Oder werde ich die Musik irgendwann sogar aufgeben müssen und etwas ganz anderes versuchen? – Aber das kann ich mir noch weniger vorstellen, als für immer in irgendwelchen Lokalen zu spielen, wenigstens von Musik umgeben. Irgendwie … Ich weiß es einfach nicht.
Nur die allerwenigsten, die sich in diesem Beruf versuchen, schaffen es, das ist mir bewusst. Einer von Tausenden vielleicht, eher einer von Hunderttausenden oder Millionen. Die anderen bleiben im Mittelmaß oder geben irgendwann auf. In diesem ewigen Kampf ist die Niederlage tausendfach wahrscheinlicher als der Sieg – und trotzdem muss ich es versuchen, muss meinen Weg gehen, das spüre ich genau, so verrückt es auch sein mag. Wenn ich nur irgendwie auf Dauer davon leben könnte, hätte ich schon viel erreicht. Vielleicht 5000 DM mehr auf dem Konto zu haben, als ich zum Leben brauche, das ist das Maximum an Sicherheit, von dem ich träume. Doch meine Träume haben kein Sicherheitsnetz, das ist mir bewusst. Das ist die Kehrseite dieser totalen Freiheit.
Ich werfe meine nächste Münze in die Maschine, ziehe den Hebel – wieder verloren. Frustriert werfe ich nach – und siehe da: Zwei der Zitronen sind auf der gleichen Linie. – Ein kleiner Gewinn. Ich höre vier Münzen fallen, zähle nach, habe jetzt 6 Dollar und 25 Cent. Das ist nicht viel, aber mehr als die fünf, mit denen ich gekommen bin. Hoffnungsvoll werfe ich die nächste Münze ein.
Die Reise nach und durch Amerika, die ein Freund von mir im Rahmen eines internationalen Kulturaustauschs für Studenten organisiert hat, verschafft mir auch eine Auszeit, etwas Abstand und die Chance, herauszufinden, wohin mein eigener Weg mich führen soll, wie es weitergehen soll mit meinem Leben und meiner Musik.
Wie auch immer es für mich kommen mag, ich muss die Auszeit hier nutzen, um mir darüber klarzuwerden, wie ich die Weichen zu stellen versuchen werde, wenn ich zurück bin.
Die Maschine klingelt, blinkt, lädt mich ein, mein Glück erneut zu versuchen, bevor ich noch begriffen habe, dass ich die letzte Münze verloren habe. Und noch eine verloren. Dann gewinne ich wieder ein bisschen. Ich würde gern etwas Wasser trinken, doch ich wage es nicht, den Kellner danach zu fragen. Vielleicht kostet es Geld, und das würde dann von meinem wertvollen Spielkapital abgehen. Das riskiere ich natürlich nicht.
Der Mann ein paar Automaten weiter bekommt den dritten oder vierten Wodka innerhalb von fünfzehn Minuten. Er trinkt, spielt, gewinnt, verliert und scheint nichts davon wirklich wahrzunehmen. Ich freue mich über jeden Cent, den ich gewinne. Ich zähle mein aktuelles Kapital: 6 Dollar, 75 Cent, das läuft doch gar nicht so schlecht!
Amerika, das ist unser Traum. Das Ideal der Freiheit, der Demokratie – und eine Musik, die dieser Zeit und unserem Lebensgefühl entspricht. Für mich eine permanente Quelle der Inspiration, aber auch ein Land voller Gegensätze, die es zu verarbeiten gilt: Mutterland der Demokratie und gleichzeitig Land der Rassentrennung mit Trinkbrunnen und Toiletten für »Weiße« und anderen für »Farbige«, ein Land der grenzenlosen Chancen, aber auch der grenzenlosen Möglichkeiten, im Nichts zu versinken, ohne jegliche Hilfe zu bekommen. Ein Land der Freiheit und der Kontrolle, in der junge Leute unter 21 keinen Tropfen Alkohol trinken dürfen, aber Zehnjährige schon vor Gericht angeklagt werden können.
Und doch – Freiheit fühlt sich hier anders an als zu Hause. Ein Land voll Musik, ein Land der inspirierenden Gegenwart, der weltbeherrschenden Filme, ein Land aus Klängen und Ideen, die der Zeit entsprechen – und Musik als Jugendbewegung, als Mittel, sich auszudrücken und nicht nur als kraftlose Beschwörung eines verlogenen Glückes und einer Sehnsucht, die längst abgelebt ist wie in der Schlagermusik meiner Heimat.
Was wir in diesen Wochen erlebt haben, werde ich noch verarbeiten und begreifen müssen, und auch wenn es mir manchmal wie der pure Irrsinn erscheint, mit einem Budget von einem Dollar pro Person und Tag so eine Reise bewältigen zu wollen, fühle ich mich doch gleichzeitig unendlich reich, das alles hier erleben zu dürfen.
Die nächste Münze verschwindet im Einwurf, ich ziehe am Hebel, warte. Und tatsächlich: Ich verstehe zwar nicht, wieso, hab das System, nach dem man hier gewinnt oder verliert, noch immer nicht verstanden, hab nur begriffen, dass eine Reihe mit drei gleichen Symbolen wunderbar wäre und eine mit dreimal der Sieben das höchste der Gefühle, aber wie dem auch sei, es fallen einige Münzen in das Fach! Ich zähle nach, habe jetzt 8 Dollar und 75 Cent. Ich unterdrücke mühsam einen Freudenschrei! Ich muss nur noch 1 Dollar und 25 Cent gewinnen, dann kann ich mir heute Abend meinen Traum erfüllen. Den Traum schlechthin für einen jungen, musikbegeisterten Europäer: ein Konzert des großen, unvergleichlichen, von uns geliebten und verehrten Sammy Davis Jr. live erleben zu können.
Wir hatten das Plakat gesehen, als wir nach Las Vegas kamen, dann die meterhohe Ankündigung hier am berühmten »Sand’s«. Schon dies ein unfassbares Glücksgefühl: Sammy Davis Jr. wird heute Abend hier spielen und wir werden ganz in der Nähe sein!
Dann hatten meine vier Freunde eine Idee: wir könnten 5 Dollar von unseren eisernen Reserven nehmen, die wir für Notfälle dabei und bisher nicht angetastet hatten. Das wäre ein normales Tagesbudget für uns fünf und das Äußerste, was wir riskieren könnten. Damit könnte ich im Casino spielen und versuchen, das Geld für eine Stehplatzkarte zu gewinnen. Wir erkundigten uns: Ich bräuchte zehn Dollar dafür. Sollte ich verlieren, wären die fünf Dollar eben weg, aber den Versuch wäre es wert, so fanden alle. So eine Chance habe man nur ein Mal im Leben. Alle würden das Konzert gerne sehen, aber wenn es einer von uns sehen müsse, dann sei ich das. Ich könne dann den anderen ja davon erzählen. Und die Chancen, dass wir aus 5 Dollar 50 machen würden, damit wir alle ins Konzert gehen könnten, standen gleich null. Daher wurde mir eingebläut: Wenn du die zehn Dollar zusammen hast, dann hörst du auf, egal, was geschieht, auch dann, wenn du meinst, du hättest eine Glückssträhne. Das haben schon viele vor dir gedacht und dann alles verloren. Du spielst, bis du zehn Dollar hast und keine Minute länger – oder bis die fünf Dollar weg sind. Nachdenklich hatte ich genickt.
Sammy Davis Jr. – vermutlich war er schon ganz in unserer Nähe! Allein dieses Gefühl begeistert mich schon so sehr, dass ich mich beinahe fühle, als hätte ich die zehn Dollar bereits zusammen. Wie wunderbar würde es sein, dieses Konzert heute Abend zu hören! In meinem Kopf höre ich ihn schon seine großen, von mir so sehr geliebten Nummern spielen. »The Way You Look Tonight«, »You Are My Lucky Star«, »That Old Black Magic«, »Someone To Watch Over Me« … Beinahe sehe ich schon die Bühne, das Orchester, seine legendären Steppschritte, den Zigarettenrauch, in den gehüllt er manche Songs singen wird … Beinahe bin ich schon dabei. Was, wenn Sammy Davis Jr. irgendwann einen Song von mir in sein Repertoire aufnehmen würde. – Jugendliche Träumerei.
Der nächste Quarter, die nächste Chance – und die Enttäuschung. Wie wohl jeder andere, der jemals an so einem Automaten gespielt hatte, versuchte ich, zu erahnen, wie ich die Maschine positiv beeinflussen könnte: Langsames Ziehen am Hebel oder besser eine schnelle, ruckartige Bewegung? Einwurf der Münzen in kurzer Abfolge oder besser mit größeren Pausen? – Natürlich blieb die Maschine von meinen kläglichen Versuchen, sie positiv zu stimmen, völlig unbeeindruckt.
3 Dollar 25. Ich versuche, das bittere Gefühl hinunterzuschlucken und wieder an mein Glück zu glauben.
Ein Quarter, ein Zug am Hebel. Nichts. Verloren. Die Enttäuschung beginnt, Besitz von mir zu ergreifen. Die Hoffnung zerrinnt langsam. Die Vorstellung vom Konzert, live, ganz nah, verblasst. Ganz langsam löst sie sich auf. Aber noch habe ich zwölf Münzen und damit zwölf Chancen. Ich versuche, mich an einen letzten Rest von Zuversicht zu klammern, und rede mir ein, dass ein Spiel erst nach dem allerletzten Einsatz verloren ist. Doch ich werfe meine Münzen nun hektisch ein, zitternd, schon mit dem Gefühl des Verlierers, der sich mit aller Macht an die letzte Chance klammert, obwohl er weiß, dass es vergebens sein wird.
Nur noch drei Münzen in der Hand. Ich spüre kaum noch ihr Gewicht. Es geht um mehr als nur um eine Konzertkarte. Es geht um einen Traum, der zum Greifen nah schien und der nun mit jeder Münze, die in der Maschine verschwindet, unerreichbarer wird.
Der letzte Quarter. Nirgends steht geschrieben, dass es nicht auch genau diese letzte Münze sein kann, die das Blatt endgültig zum Guten wendet. Ich brauche einzig und allein diese lächerlichen, unerreichbaren, wichtigen, in diesem Augenblick für mich existentiellen, verdammten zehn fucking Dollar.
Ich wiege die letzte Münze lange in meiner Hand. Ich überlege, den Automaten zu wechseln. Aber was, wenn diese Maschine jetzt das Glück für mich bereithält und ein anderer es einsammelt, während ich auf den Automaten daneben oder eine Reihe weiter setze? – Nein, das geht nicht.
Ich schaue mir das Profil von George Washington auf diesem meinem letzten Quarter lange an, das Wort »Liberty«, das darüber prangt, den Adler auf der anderen Seite und hoffe, dass er mir Glück bringen wird.
Ich halte den Atem an, schließe die Augen, stecke den letzten Quarter in den Schlitz, höre ihn fallen, ziehe den Hebel ganz langsam, lasse ihn los, warte mit geschlossenen Augen. Das Geräusch der drehenden Walzen. Erschreckend kurz. Ich konzentriere mich, ich spüre die Spannung in meinem ganzen Körper. Nichts. Kein noch so leises Rasseln im Münzausgabefach. Rein gar nichts. Stille.
Für einen Moment ist es mir, als stünde die Welt still. Langsam öffne ich die Augen. Eine Zitrone, eine Pflaume, eine Sieben, aber keines der Symbole auch nur auf der Linie. Vorbei, verspielt.
Die Songs, die ich in mir schon gehört hatte, verklingen, das Bild der Bühne, des Orchesters in meiner Phantasie verblasst.
Tiefverschneit liegt die Stadt vor dem Fenster meines Hotelzimmers. Frühe Dunkelheit des Winters. Die Straßen und Geschäfte sind bereits weihnachtlich geschmückt. Auf dem Tisch meiner Suite steht ein Obstkorb, eine besondere Aufmerksamkeit des Hauses, gemeinsam mit einer edlen Flasche Champagner. Wann ist Luxus dieser Art für mich eigentlich zu etwas Gewohntem geworden? Wann habe ich mich daran gewöhnt, mit solchen Aufmerksamkeiten in den besten Hotels der Welt empfangen zu werden, mir teure Autos mit Chauffeur, maßgeschneiderte Anzüge, ein großes Haus leisten zu können?
Manchmal erscheint es mir fast unwirklich, wenn ich auf die beiden letzten Jahrzehnte zurückblicke. Lebensabschnitte, wie sie gegensätzlicher kaum sein könnten.
Ist es nicht erst wenige Monate her, seit ich von der Hand in den Mund lebte, von einem kleinen Engagement zum nächsten in irgendwelchen Lokalen tingelte, in winzigen Zimmern gemeinsam mit Freunden gewohnt, mir die Schallplatten der Musiker, die ich liebte, buchstäblich vom Mund abgespart habe?
Ist es nicht erst wenige Monate her, seit Plattenproduzenten in meiner Heimat sich weigerten, mich meine eigenen Songs aufnehmen zu lassen und ich schon ernsthaft darüber nachdachte, die Musik aufzugeben, weil einfach kein Weg für mich sichtbar war?
Dann auf einmal die Wende. Eine neue Zeit, ein Aufbegehren der Jugend in Deutschland, das verstaubte Strukturen aufgebrochen und auch eine neue Generation von Musikproduzenten, Musikern, Arrangeuren hervorgebracht hat. – Meine Chance und plötzlich mein Erfolg. Ein neuer Manager, der an mich und vor allem an meine Kompositionen glaubte und damit meine Karriere endlich ins Rollen brachte. Ereignisse, die sich überschlagen haben.
Wie von einem Orkan wurde mein Leben auf den Kopf gestellt und durcheinandergewirbelt. Alles, was vorher jahrelang nicht gelingen wollte, alles, worum ich mich zuvor vergeblich bemüht hatte, schien plötzlich zu gelingen und erst der Anfang von etwas noch viel Aufregenderem zu sein, als ich es mir jemals ausgemalt hatte. Im Spiel des Lebens war ich plötzlich von der Verliererseite auf der Gewinnerseite gelandet und musste lernen, das zu begreifen und mich in einem völlig neuen Leben zurechtzufinden. Wirklichkeit, die alle Träume übersteigt.
Plötzlich reiste ich atemlos weltweit meinen Liedern hinterher. Mega-Hits in Amerika, Japan und vielen anderen Ländern der Welt. Schallplatten, Konzerttourneen, Rastlosigkeit.
Weltstars wie Shirley Bassey, Nancy Wilson, Sarah Vaughan, Bing Crosby, Matt Monro, die meine Lieder aufnahmen.
Ein ganz neues Leben, Erfolg, der alles überragte, was ich mir je hatte erträumen können und der Versuch, bei all dem auf dem Boden zu bleiben, nicht abzuheben, die Verbindung zu dem jungen Mann nicht zu verlieren, der mit einem Dollar Tagesbudget durch Amerika reisen konnte, der im Auto schlief, sich an Bächen, Flüssen und Seen wusch, sich die neue Jeans nicht leisten konnte – und der frei war.
Aber ich habe auch die Bitterkeit nicht vergessen, die in dieser Freiheit lag. Die herbe Enttäuschung, als ich im Casino in Las Vegas all mein Glück beschwor, 5 Dollar aus unseren Notreserven in 10 Dollar, eine Stehplatzkarte für ein Konzert von Sammy Davis Jr., zu verwandeln – und verlor. Das Gefühl, den Traum vom Konzert begraben zu müssen, ist mir heute noch genauso präsent wie damals.
Genau wie das Gefühl, als ich ein paar Stunden nach meiner Niederlage versuchte, durch die geschlossenen Türen des Showrooms wenigstens doch noch etwas vom Konzert zu erlauschen. Leise drang die Musik nach draußen. Ich drückte mein Ohr an die gepolsterte Tür, sehe mich heute noch mit den Fingern schnippen und mit dem Fuß wippen im Takt der Musik. Für einen Moment konnte ich sogar einen Blick auf die Bühne erhaschen, als jemand den Saal verließ und die Tür für einige Augenblicke offen stand. Schnell war die Tür von einem Saaldiener wieder zugezogen worden. Irgendwann fiel ich jemandem auf, man fand es wohl sonderbar, dass sich ein junger Mann an den Türen zum Showroom herumdrückte, und forderte mich unmissverständlich auf, eine Konzertkarte zu kaufen oder an einen Spielautomaten zu gehen, einen Drink zu bestellen oder das Sand’s zu verlassen. Das Gefühl der Peinlichkeit und Scham, als ich mich davonschlich, habe ich nie vergessen.
Danach die schweigende Fahrt raus aus der Stadt, ein Schlafplatz irgendwo in der Wüste. Meine vier Freunde auf ihren Luftmatratzen, in Schlafsäcken um das Auto herum, ich wie immer auf der Rückbank, die Beine durch die offene Tür, Blick in die sternklare Nacht, Tausende von Lichtern über mir und das Gefühl, vollkommen verloren in der Welt zu sein. Alle anderen, mit denen ich unterwegs war, waren schon ein Stück auf ihrem Weg vorangekommen.
Mein Freund Herwig, der die Reise organisiert hatte, hatte ein Jura-Studium begonnen, er würde Anwalt werden, heiraten, Kinder haben, sein Weg war vorgezeichnet. Auch die anderen drei hatten schon ihr Berufsleben begonnen. Nur ich war bald Mitte zwanzig und hatte noch nichts vorzuweisen und keine Ahnung, wie ich etwas würde erreichen können. Alle hörten mich gern Klavier spielen, aber eine Perspektive schuf das nicht. Mich so an die Musik zu klammern, mir einzubilden, ohne Musik als Beruf sei ein erfülltes Leben für mich nicht vorstellbar, kam mir in jener Nacht wie eine Marotte, gar wie purer Irrsinn vor, als müsse ich mich zwingen, endlich erwachsen zu werden und mir die romantischen Ideen und Träumereien aus dem Kopf zu schlagen. Als wäre der Verlust der fünf Dollar, das nichtbesuchte Konzert so etwas wie ein Wink des Schicksals, der mir zeigte, dass mein Weg unter keinem guten Stern stand.
Und doch, ich fühlte es auch in jener Nacht ganz deutlich und musste mir das Gefühl gegen meinen Verstand zurückerkämpfen: Ich musste es weiter versuchen. Wenigstens kämpfen, nicht kampflos aufgeben. Ich werde große Lieder schreiben, versprach ich mir allen vernünftigen Gedanken und beklemmenden Gefühlen zum Trotz. Ich versprach es den Sternen über mir und Sammy Davis Jr., der irgendwo ganz nah und doch unerreichbar fern vermutlich gerade seine letzten Töne spielte. Splitter meines Lebens.
Zurück in der Gegenwart, in der die bittere Enttäuschung von damals eine Wunde in meiner Seele blieb, allem Erfolg zum Trotz.
Gutgekleidete Besucher drängen sich zum Eingang des Konzertsaals im Deutschen Museum, ein Saal, der mir vertraut ist, aber von der anderen Seite des Vorhangs aus. Heute komme ich durch den Vordereingang als Besucher und nicht durch den schmucklosen Bühneneingang, durch den ich vor meinen eigenen Konzerten den Saal hier schon einige Male betreten habe. Perspektivenwechsel.
Lächelnd taste ich nach meiner Eintrittskarte, die ich aber gar nicht vorzeigen muss. Sofort empfängt mich der Veranstalter, bietet mir Champagner und Häppchen an. Überall Plakate, die auf das heutige Konzert hinweisen. Zwar nicht drei Meter hoch wie damals am Sand’s, für mich aber mindestens genauso beeindruckend. – Zwei Jahrzehnte hat es gedauert. Heute kann ich mir den Traum von damals erfüllen.
Ein Konzert von Sammy Davis Jr.!