Spinnen - Jean-Henri Fabre - E-Book

Spinnen E-Book

Fabre Jean-Henri

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Beschreibung

In Jean-Henri Fabres poetischen Beschreibungen treten die Spinnen als lauernde Mörderinnen oder als Opfer spinnenjagender Wespen auf. Sie sind für ihn so abstoßend wie furchteinflößend, in ihrem Verhalten aber gleichermaßen anziehend und faszinierend. Begeistert von der Südfranzösischen Tarantel, der Schwarzen Witwe und der Kreuzspinne, beobachtet er gespannt deren Beutefang, ihre Paarung und Fortpflanzung wie auch Netzbau seiner häuslichen Nachbarn. Die Geometrie des Radnetzes der Kreuzspinnen veranlasst ihn zu philosophischen Überlegungen über mathematische Prinzipien in der Natur, während seine Familie fassungslos seinen Experimenten zusieht, mit denen er die vermeintliche Giftigkeit mancher Spinnenarten untersucht. Er bringt Licht in die Welt der im Verborgenen lebenden Tiere und so werden die Spinnen für ihn schließlich zu einem Sinnbild dafür, wie jeder Organismus in all seinen Teilen sich in den Organismus der von Gott geschaffenen Natur einfügt.

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Jean-Henri Fabre

SPINNEN

Herausgegeben und

mit einem Vorwort

von Michael Ohl

Aus dem Französischen

von Friedrich Koch

und Ulrich Kunzmann,

bearbeitet von Heide Lipecky

Mit Federzeichnungen

von Christian Thanhäuser

INHALT

MICHAEL OHL

»Meine dicke Nachbarin« – Fabres Spinnen

Unterhaltsame Taranteljagden

Die Wolfsspinne von Narbonne

Die Talente der Radnetzspinnen

Die Labyrinthspinne baut ein Fadengewirr

Der Auszug der Spinnen

Die zarte Kuppel der Wasserspinne Argyroneta

Durands Klotho

Eine Schlammarbeiterin jagt Netzspinnen

Die Arglist der Wegwespe und die Einfalt der Spinne

Die Geometrie der Spinnwebe

MICHAEL OHL

»Meine dicke Nachbarin«

In seinen zehnbändigen »Erinnerungen eines Insektenforschers«1 beschreibt Jean-Henri Fabre mit Hingabe das Verhalten zahlreicher Insektenarten, die er in seiner südfranzösischen Heimat beobachtet. Vom Heiligen Pillendreher über Grabwespen bis zur Schmeißfliege, Fabre zeichnet in seiner einfühlsamen Prosa das Verhalten von Insekten nach, die im Garten des Harmas, seines Anwesens in Sérignan-du-Comtat in der französischen Region Provence-Alpes-Côte d’Azur, vorkommen. Alles, was ihm auffällt, dokumentiert er mit großer Genauigkeit.

Es bleibt nicht aus, dass auch Spinnen Fabres Weg kreuzen. Eigentlich sind sie nicht Gegenstand der Arbeit eines Entomologen, und auch Fabre ist sich bewusst, dass Spinnen nicht zu den Insekten gehören. Eigentlich Grund genug, die Spinnen nicht zu beachten, aber Fabre schert sich wenig um die Grundüberzeugungen der Systematiker, die die Natur in starre Schubladen sperren: »Eine Spinne ist nach der Klassifizierung kein Insekt, und daher scheint die Epeira hier deplatziert. Pfui auf die Systematik! Dass sie acht und nicht sechs Beine und Lungensäcke statt Trachenröhren hat, ist für das Studium des Instinkts belanglos.«2 Fabre sieht im Phänotyp, der physischen Gestalt des Organismus, eine minderwertige, wenn nicht einschränkende Notwendigkeit der Existenz von Organismen3. Von wirklicher Relevanz aber sei die Biologie, die sich mit dem lebenden Organismus beschäftigt, die aber von den meisten Entomologen ignoriert werde: »Die Entomologie der Nomenklatoren macht enorme Fortschritte, sie überschüttet und überschwemmt uns. Die andere, die Entomologie der Biologen, die einzig interessante und beachtenswerte, wird derart vernachlässigt, dass die häufigste Spezies entweder keine Geschichte hat oder eine gründliche Revision des wenigen Vorhandenen nötig ist.«4 In seiner Ablehnung der systematisierenden Fachentomologen stellte sich Fabre auch gegen den »verehrten Meister« Pierre André Latreille (1762–1833), den von ihm so geschätzten »König der beschreibenden Entomologie«.5 Im Frankreich des 19. Jahrhunderts war die Zoologie und besonders die Entomologie geprägt von einer starken Tradition in der Morphologie und Systematik.6 Insbesondere der französische Zoologe und Entomologe Latreille dominierte die Systematik der Gliedertiere und besonders der Insekten, und sein Einfluss reichte weit über die Grenzen Frankreichs hinaus.7 Während sich frühere Autoren wie Carl von Linné und Johann Christian Fabricius (1745–1808) in ihren umfassenden Insektenklassifikationen auf nur wenige, ihrer Auffassung nach relevante Strukturen des Insektenkörpers beschränkten, konnte Latreilles Ansatz insofern als eklektisch gelten, als dass er die bestehenden Klassifikationssysteme in einem neuen, integrierenden System vereinigte.8 Nicht von ungefähr galt Latreille im 19. Jahrhundert als »Princeps Entomologiae«, als Fürst der Entomologie.9 Da für Fabre Klassifikationen willkürliche Einordnungen der Natur darstellen, gibt es keinen Anlass, das eine System der Organismen vor dem anderen zu bevorzugen. Spinnen reihen sich wegen ihres komplexen und leicht zugänglichen Verhaltens daher nicht nur exzellent in die Insektenbeschreibungen der »Erinnerungen« ein, sie mit zu berücksichtigen ist zugleich expliziter Ausdruck von Fabres Ablehnung einer starren, klassifikatorischen Naturbetrachtung.10 Dies gilt im Übrigen ebenso für den »grässliche[n] Skorpion, der Erstgeborene der Arachniden (Spinnentiere)«.11

Spinnen erscheinen in Fabres »Erinnerungen« in zweierlei Rollen, entweder als Akteure oder als Opfer. Als Akteure faszinieren sie Fabre durch ihre wundersamen Netzkonstruktionen und die raffinierten Paarungs und Beutefangstrategien. Als Opfer sind sie Beute der zahlreichen spinnenjagenden Weg- und Grabwespen. In beiden Rollen aber verkörpern sie für Fabre Schreckensgestalten, die im Gegensatz zu den im Sonnenlicht fliegenden Wespen in der Dunkelheit verborgen auf der Lauer liegen. Sei es die »Schwarzbäuchige Tarantel, die schreckliche Spinne, die eine Holzschneidebiene oder eine Hummel mit einem einzigen Hieb ihrer Waffe vernichtet«12, »die schreckliche Lycosa (Wolfsspinne), die Maulwurf und Sperling mit einem einzigen Biss tötet«13 oder »die scheußlich behaarte fette Gemeine Kreuzspinne«.14

Spinnen sind für Fabre abstoßend und furchteinflößend, zugleich in ihrem schauerlichen Äußeren und ihrem grausamen Verhalten anziehend und faszinierend. Fabres Texte schaffen es, die Kluft in dieser ambivalenten Wahrnehmung der Spinnen zu überbrücken. Den Schriftsteller Clemens J. Setz heilen sie von seiner Spinnenangst: »Das Erste, was ich von Fabre las, war eine englische Übersetzung seines Werks über Spinnen mit dem Titel ›The Life of the Spider‹. Es rührte mich zu Tränen und – auch dazu war also die Literatur fähig – heilte mich von den letzten Resten einer aus der Kindheit ins Erwachsenenalter verschleppten Arachnophobie. Wenig später fand ich eine Ausgabe von »Wunder des Lebendigen«, eine kleine Auswahl aus Fabres Werk, und hatte das Gefühl, einen geheimen Planeten entdeckt zu haben.«15

Bereits bei der Erkundung seines Harmas, seiner sehnsüchtig herbeigesehnten Insekten-Oase inmitten seines von hohen Mauern umzäunten Gartens, beschreibt Fabre die Spinnen in dieser Ambivalenz zwischen furchterregendem Räuber und Beute seiner Lieblingsstudienobjekte, der Wespen. »Auf dem Boden des Schlupfwinkels sieht man die wie Diamanten leuchtenden Augen der kräftigen Spinne; für die meisten ein entsetzlicher Anblick. Was für ein Wildbret und was für eine gefährliche Jagd für die Wegwespe!«16 Und zu seinem Entzücken findet Fabre die Spinnen nicht nur im Garten, sondern auch in seinem Haus, und selbst die spinnenjagenden Wespen haben einen Weg hineingefunden: »Noch dreister sind die Hautflügler; sie haben das Haus besetzt. […] Der Spinnenjäger schlüpft durch ein kleines Loch hinein, das bei geschlossenen Fensterläden offenbleibt. […] Das ist, obwohl die Liste unvollständig ist, eine ebenso zahlreiche wie erlesene Gesellschaft.«17

Spinnen als Beute von Wespen tauchen in beinahe jedem der zehn Bände der »Erinnerungen« auf. Erst in Band II aber widmet Fabre ein ganzes Kapitel der »Schwarzbäuchigen Tarantel«, die in den »Erinnerungen« immer wieder auftritt. Band IX ist beinahe ganz den Spinnen gewidmet. Bedauerlicherweise verzichtet Fabre weitgehend auf wissenschaftliche Artnamen, die er in seinen Texten verabscheut. Zum wissenschaftlichen Namen der Krabbenspinne Thomisus onustus schreibt Fabre beispielsweise: »Wenn dieser Name im Geist des Lesers kein Echo findet, so hat er doch wenigstens den Vorteil, Kehle und Ohr nicht zu beleidigen, wie dies für wissenschaftliche Benennungen allzu oft zutrifft, die eher wie Niesen und nicht wie artikulierte Sprache klingen. Da es üblich ist, Tiere und Pflanzen mit einem lateinischen Etikett zu ehren, respektieren wir wenigstens den klassischen Wohlklang, verzichten wir auf raue Expektorationen, die den Namen ausspucken, anstatt ihn auszusprechen.«18

Im Deutschen wird als Schwarzbäuchige Tarantel in der Regel die Wolfsspinne Hogna radiata bezeichnet, die aber keine Röhren gräbt, sondern nachts frei auf Beutefang geht.19 Fabres Schwarzbäuchige Tarantel dagegen baut eine eigene Wohnröhre, die der Autor als »architektonisches Kunstwerk« rühmt.20 Das Verhalten dieser »Stubenhockerin«21 ist recht typisch für Arten der Wolfsspinnenfamilie Lycosidae und erinnert stark an die berühmte Apulische Tarantel (Lycosa tarentula), der der Volksmund zu Unrecht große Giftigkeit nachsagt. In Fabres Region aber ist die Südfranzösische Tarantel (Hogna narbonensis) häufig,22 und es ist diese Art, die Fabre so ausgiebig beobachtet.

Unter Taranteln versteht man üblicherweise die großen Wolfsspinnen des Mittelmeergebiets, die unterschiedlichen Gattungen angehören. Die Weibchen können eine beachtliche Größe von bis zu 3 Zentimetern Körperlänge annehmen und gehören damit zu den größten Spinnen Europas. Taranteln bauen grundsätzlich Erdröhren, die sie mit Spinnseide auskleiden. Manche Arten, so wie die von Fabre beobachtete Hogna narbonensis, fertigen komplexe Eingänge aus verschiedenen Materialien.23

Die vermeintliche Giftigkeit, die manchen Spinnen nachgesagt wird, will Fabre nicht ohne Weiteres als Volksglauben abtun. Er zitiert eine Reihe von volkstümlichen Beobachtungen. So soll die Malmignatte, besser bekannt als Schwarze Witwe (Latrodectus tredecimguttatus), der »Schrecken der korsischen Bauern«24 sein. Nach Fabre sollen auch die Bauern nahe Avignon voller Entsetzen über die Schwarze Witwe reden, deren »Biss schlimme Folgen« hat.25 Die Tarantel wiederum, Lycosa tarentula, wurde von den Italienern »schlecht gemacht; ihr Biss rufe bei dem Betroffenen Zuckungen und Tanzwut hervor«, und das einzige Heilmittel sei Musik.26 Fabre, unsicher, ob er über diese Geschichten lachen oder sie ernst nehmen soll, hält es nicht für ausgeschlossen, dass der Volksmund richtig liegen könne. »Diese und andere Spinnentiere könnten, wenigstens zum Teil, ihren schrecklichen Ruf verdient haben.«27

Fabre ist nicht nur Beobachter, sondern auch Experimentator. Die in ihren Höhlen und Gespinsten lauernden Spinnen laden dazu ein, mit dem Zucken eines absichtlich in das Netz gehaltenen Grashalms die Empfindlichkeit ihrer Wahrnehmung zu überprüfen. Zugleich ist dies eine einfache Möglichkeit, die verborgene Spinne aus ihrer Höhle zu locken und zu fangen. Fabre nennt dies seine »recht unterhaltsamen Taranteljagden«28. Sobald die Spinne aus ihrer Wohnröhre schießt, verschließt Fabre hinter ihr den Eingang. »Von ihrer Freiheit verwirrt« kann er sie problemlos in eine Papiertüte nötigen. Erweist sich diese Methode des Spinnenfangs als erfolglos, wendet Fabre eine andere Technik an. Er sticht mit einem Messer von hinten in die Wohnröhre, »um sie von hinten anzugreifen und ihr durch diese Barriere den Rückweg abzuschneiden«.29 Eine andere Methode, eine Spinne aus ihrer Höhle herauszuholen, erfüllt Fabre selber mit Schaudern. Er bugsiert eine lebendige Hummel in den Höhleneingang, damit sich Spinne und Insekt begegnen. Sobald die Spinne die Hummel beißt und tötet, zieht er die Hummel mit einer langen Pinzette aus dem Gang. Die Tarantel aber will ihre Beute nicht hergeben, und »Wildbret und Jäger kommen an die Öffnung«30.

Mit den gefangenen Spinnen stellt Fabre verschiedene Experimente an. Er behauptet, dass sie, »so grauenhaft die Tarantel auf den ersten Blick auch wirkt, besonders wenn man bedenkt, wie gefährlich ihr Biss ist«, sich leicht zähmen lassen. So wird durch die Gewöhnung an ihren Halter eine Tarantel aus Spanien so zutraulich, dass sie angebotene Fliegen von Fabres Fingerspitzen nimmt.31

Fabre scheint besonders beeindruckt davon zu sein, dass die große Spinne vor noch größeren und gefährlichen Beutetieren nicht zurückschreckt. Er bietet den Spinnen die unterschiedlichsten Insekten an, besonders auch wehrhafte Bienen, Wespen und die Holzbiene, die größte europäische Biene. »Es ist ein Duell mit fast gleichrangigen Waffen. […] Welcher der beiden Banditen behält die Oberhand? Es ist ein Kampf Mann gegen Mann.«32 Immer ist die Spinne die Siegerin.

Fabre treibt letztlich seine Experimente so weit, die Giftigkeit der Südfranzösischen Tarantel auch an Wirbeltieren auszuprobieren. Er lässt eine Spinne in das Bein eines gerade flügge gewordenen Sperlings beißen. Trotzdem Fabres Töchter den Sperling füttern und ihn mit ihrem Atem in der hohlen Hand wärmen, stirbt der Vogel nach zwei Tagen. Der Tod des Sperlings, den Fabre wissentlich in Kauf nimmt, lastet schwer auf seinem Gewissen. Fabre lässt dabei erkennen,wie sehr seine Naturforschung in das Familienleben eingewoben ist: »Beim Abendessen war es zwischen uns irgendwie kühl. In den Augen der anderen lese ich stumme Vorwürfe wegen meines Experiments, ich spüre eine unausgesprochene Anklage wegen Grausamkeit. Der Tod des Sperlings hatte die ganze Familie betrübt. Auch ich hatte Gewissensbisse; das kleine Ergebnis, das ich erzielt hatte, schien mir teuer bezahlt.«33

Die familiäre Betroffenheit aber hält ihn nicht davon ab, kurze Zeit später einen Maulwurf in Gefangenschaft zu nehmen. Fabre lässt eine Tarantel in den weichen Maulwurfsrüssel beißen, und auch der Maulwurf stirbt nach 36 Stunden. Nach dem Tod des Sperlings und des Maulwurfs sieht sich Fabre in seiner Annahme bestätigt, dass der Biss einer Südfranzösischen Tarantel auch für einen Menschen nicht ungefährlich sein könnte.34

Viel häufiger erscheinen die Spinnen als Beute für die verschiedenen spinnenjagenden Wespen, die Fabre im Harmas beobachten konnte. Die Wespen jagen die Spinnen als Nahrung für ihre Larven. Sie lähmen sie mit dem Stich ihres Stachels und transportieren sie schließlich in ihr Nest. Die schlüpfenden Wespenlarven ernähren sich dann von der gelähmten Spinne. Fabre beobachtet, dass hier nun die Wespe im Grunde immer die Siegerin bleibt und die Spinne lähmt. Nach seinen Beobachtungen der Kämpfe zwischen Spinnen und großen und wehrhaften Beutetieren erscheint ihm die Überlegenheit der Wespen sonderbar: »Bei den soeben beschriebenen Fakten frappieren mich zwei Gegensätze: die Arglist der Wegwespe und die Einfalt der Spinne.«35 Im Experiment sperrt Fabre eine Wegwespe und eine Spinne der Gattung Segestria in einem Gefäß zusammen und konfrontiert sie so außerhalb ihres natürlichen Verhaltenskontextes miteinander. Am nächsten Morgen ist die Wespe tot. »Der Schlächter von gestern ist das Opfer von heute.«36 Fabre unternimmt weitere Versuche, indem er die Spinne mit verschiedenen Insekten zusammensperrt. Er ist sich der artifiziellen Versuchsanordnung bewusst und nennt sie selber »regelwidrige Zweikämpfe«37. Siegt die Wespe, löst die gelähmte Spinne nicht das natürliche Verhalten der Wespe aus. Ist die Spinne die Überlebende, nimmt sie das tote Insekt nicht als Nahrung an.

Bei der Beobachtung der spinnenjagenden Wespen dokumentierte Fabre penibel die Arten, die die Wespen eintragen. So öffnete er die Lehmzellen der Grabwespenarten der Gattung Sceliphron, die mit mehreren Spinnen unterschiedlicher Arten und Gattungen gefüllt sind. Er schlussfolgert, dass die »Schlammarbeiterin«, wie Fabre die Lehmwespe nennt, ein unspezifisches Beutespektrum hat und nahezu jede Spinne einträgt, »die in den Krug passt«38. Er findet mehrere Spinnenarten aus sechs verschiedenen Gattungen.

Beinahe zum Ende der zehnbändigen »Erinnerungen« widmet Fabre schließlich fast den ganzen Band IX den Spinnen und Spinnentieren. Inzwischen hat Fabre zahlreiche Beobachtungen zur Schwarzbäuchigen Tarantel zusammengetragen, und stellt sie hier im Detail vor. Nun nennt er die Südfranzösische Tarantel »Die Wolfsspinne von Narbonne«.

Große Bewunderung löst das Netz der radnetzbauenden Kreuzspinnen bei Fabre aus. Nachdem er ausführlich das Vorgehen eines menschlchen Vogelfängers geschildert hat, schreibt er: »In puncto ausgeklügelter Gemeinheit hält das Netz der Radnetzspinne den Vergleich mit dem des Vogelfängers stand; es übertrifft dieses sogar, wenn es uns, geduldig untersucht, die Hauptmerkmale seiner Vollkommenheit offenbart. Welch subtile Kunst, um über ein paar Fliegen herzufallen! Nirgendwo sonst im Tierreich hat das Nahrungsbedürfnis ein so gelehrtes Gewerbe inspiriert.«39

Über die Entstehung der »Erinnerungen« hinweg scheint Fabres Begeisterung für die Spinnen zu wachsen. Er lässt sich letztlich von der Beobachtung des Baus des Kreuzspinnennetzes genauso wenig ablenken wie von dem Bau eines Wespennestes. Auch das Feuerwerk des Kirchweihfestes in der Nähe des Harmas können weder ihn noch die Kreuzspinnen, die er beobachtet, ablenken. »Da ich mehr an Tierpsychologie als an einem pyrotechnischen Spektakel interessiert bin, verfolge ich mit der Laterne in der Hand die Tätigkeiten der Radnetzspinne. […] Heute können das blendende Licht der Feuerräder und das Bombardement der Knallfrösche die Spinne nicht von ihrer Webarbeit ablenken. Und was kümmerte es denn meine Nachbarin, wenn die Welt zusammenbräche! Wenn das Dorf in die Luft gesprengt würde, würde sie sich wegen einer solchen Lappalie nicht aufregen. In aller Ruhe würde sie an ihrem Gewebe weiterarbeiten.«40 Liebevoll nennt er die Eckige Kreuzspinne »meine dicke Nachbarin«.

Besonders den Bau des Radnetzes der Kreuzspinnen nimmt Fabre zum Anlass, die ihm wunderbar anmutenden Instinkthandlungen der Spinnen zu preisen. Ein ganzes Kapitel widmet er der Beschreibung und Analyse der Geometrie des Spinnennetzes und beschreibt es im Detail mit mathematischer Präzision. Insbesondere in der Spirale erkennt er ein allgemeines Prinzip in der Natur, das sich in der Bildung des Schneckengehäuses ebenso widerspiegelt wie in der Schuppenanordnung eines Kieferzapfens. In seinen mathematischen Erläuterungen offenbart Fabre den weitestgehend mechanistischen Kern seiner Faszination an der belebten Natur, nämlich die exakte Passung und Fügung von Verhalten und Körperbau. So schreibt er angesichts des zielgenauen Bisses der Südfranzösischen Tarantel in den Nervenknoten ihrer Beute, dass die spezifischen Verhaltensweisen der Spinnen, aber auch der Wespen und anderer Insekten, »die glänzende Bestätigung einer prä etablierten Ordnung der Dinge sind.«41 Weder könne dieses Verhalten zufällig entstanden sein, noch sei eine Herausbildung durch natürliche Selektion im Sinne Charles Darwins denkbar.42 Während sich die Beschreibungen des komplexen Verhaltens von Tieren bei allen mechanistischen Zusammenhängen des Wortes bedienen müssen, erschließen sich die Grundprinzipien des Radnetzes der Kreuzspinne erst durch die göttliche Sprache der Mathematik. Das dahinterliegende Prinzip ist von allgemeiner Bedeutung in der Natur, und so wird das Spinnenradnetz zu einem Paradebeispiel gegen eine evolutive Interpretation seiner Entstehung: »Und diese allgemeingültige Geometrie erzählt uns von einem Allgemeinen Geometer, dessen göttlicher Zirkel alles vermessen hat. Das ist mir als Erklärung für die logarithmische Kurve des Ammoniten und der Radnetzspinne lieber als ein Wurm, der sein Schwanzende ringelt. Vielleicht entspricht das nicht genau den heutigen Lehrmeinungen, doch es zeugt von einem höheren Gedankenflug.«43

Fabre ist ein Freund der Hautflügler, besonders der Wespen. Seinen Harmas erwirbt er, um Wespen zu beobachten, und er fragt sie in Gedanken: »Reicht das, meine lieben fleißigen Hautflügler, für das Unternehmen, eurer Geschichte gebührlich ein paar Seiten hinzuzufügen?«44