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Politik ist auch lustig. Das ist kein Scherz. Die lächerliche Seite der Macht, hier wird sie gezeigt. Europapolitik ohne Gähnen? Packen wir's an! Aus dem angeblich undurchsichtigen Dschungel wird hier ein idyllisches Gärtchen. In Brüssel wird unentwegt ein munteres Püppchentheater aufgeführt. Das beruhigt. Es macht keine Angst mehr. Keine der Personen ist erfunden. Was sie sagen, was sie tun, hier wird's nicht übertrieben. Das ist gar nicht nötig. Es ist auch so schon zum Schreien komisch. Der Autor kennt die Akteure alle persönlich. Es ist – bei allem Respekt – ein bedauernswertes Häufchen, das da in Brüssel Politik macht. Ludger Fischer bittet: »Seien Sie nachsichtig mit den Leuten, um die es hier geht. Ich bin es auch. Meistens.« Er berichtet darüber, dass Bauern nicht die Dümmsten sind, dass Tabakkonzerne in Brüssel eine fragwürdige Rolle spielen, dass einige Beamte den Überblick über ihren Alkoholkonsum verlieren und er glaubt, dass Lobbyisten meistens das Gute vertreten. Vorsicht! Ludger Fischer ist selbst Lobbyist. Es geht um angebliche Verbote für weichgekochte Eier, um krumme Gurken, um tiefe Dekolletees. »Und dann diese Treckersitzverordnung. Was sollte das denn?« Über so was können sich Europäer tierisch aufregen. Ludger Fischer kann sie aber beruhigen: »Bei der Treckersitzverordnung ging es gar nicht um den Sitz. Es ging um den Überrollbügel, der jährlich wenigstens zweihundert Bauern das Leben rettet.« »Ach so.« So wird EU-Politik leicht verständlich. Wer trotzdem darauf schimpfen will, findet auch dazu Anlass genug.
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Seitenzahl: 265
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Ludger Fischer
Ein lustiges Polittheater
Erste Auflage 2021© Osburg Verlag Hamburg 2021www.osburgverlag.deAlle Rechte vorbehalten,insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortragssowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Lektorat: Clemens Brunn, HirschbergKorrektorat: Mandy Kirchner, WeidaISBN 978-3-95510-257-9eISBN 978-3-95510-269-2
Kein Fitzelchen Fiktion
Der Chauffeur, der als Drogenkurier arbeitet, weil sein Auto ein CD-Kennzeichen hat und nicht durchsucht werden darf
Was ist eigentlich die Europäische Kommission?
Der Kommissionsbeamte, der lieber Pornodarsteller wäre
Ist der Europäische Rat der Europarat oder der Rat der Europäischen Union?
Der Ratsbeamte, der seinen Europafrust in Alkohol ertränkt und nebenbei die »Einheitliche Europäische Akte« erklärt
Europa-Abgeordnete sind nicht berühmt
Die meisten Abgeordneten kennen sich nicht so gut aus. Ihre Assis aber. Etwas
Immer mit »Ja« stimmen ist ganz schön blöd
Die gar nicht so fiesen Lobbyisten
Die dunkle Seite des Lobbyismus – Teil 1
Die dunkle Seite des Lobbyismus – Teil 2
Marlboro und Lucky Strike schlagen sich gar nicht gut in Brüssel
»Frau Prömel ist scheiße!«, oder: Die Europäische SchuleErste Stunde
Die Betrugsbekämpfungsbehörde OLAF
Fruchtfliegen und Schnapsdrosseln. Der Lobbyist für alle Fälle
Die selbsternannten Lobbykontrollierer
Arbeit muss nicht sinnvoll sein
Einmal wäre fast eine Verfassung für Europa zustande gekommen
Was verstand Günter Grass eigentlich von Politik?
Schnorrer, die auf jeder Veranstaltung auftauchen und so preiswert zu Propagandazwecken einzusetzen sind
Der Controller der Generaldirektion Wettbewerb, der Google und Amazon und Facebook und Apple und Microsoft mit Milliardenbeträgen bestraft (»Morgen platzt die Bombe, Ludger, morgen platzt sie«), was diese Konzerne schulterzuckend aus der Portokasse zahlen – oder einfach gar nicht
Wie wird man eigentlich Beamter bei der Europäischen Kommission?
Der Top-Consultant, der sich in seinem Kauderwelsch verhaspelt
»Frau Prömel ist scheiße!«, oder: Die Europäische SchuleZweite Stunde
Gerold, der in einem Thinktank arbeitet
Verordnungen zu weich gekochten Eiern, Gurkenkrümmung und Sonnenschein
Fahr los! Es ist rot!
Het Huis van de Europese Geschiedenis
Findest du es nicht schade, dass die Briten jetzt nicht mehr in der EU sind?
Der einheitliche europäische Elektrostecker
Braucht Bayern eine eigene Vertretung in Brüssel? Verbindungsbüros von Firmen, Provinzen, Verbänden
Tim, der Stinker, der eine beeindruckende Brüsseler Antikarriere hinlegte
Was ist eigentlich der »Ausschuss der Regionen«?
Liebe, Anerkennung, Zuneigung
Wünsche sind in der Politik unerwünscht
Neun norddeutsche Landfrauen in Brüssel
»Frau Prömel ist scheiße!«, oder: Die Europäische SchuleDritte Stunde
Und was macht der Wirtschafts- und Sozialausschuss?
Brüssel-Touristen, die »was bewirken wollen«
Die Kommissionsbeamtin, die mit ihrer Anti-Salz-Kampagne ganz Europa beglücken will – und natürlich scheitert
Die Babelfische von Brüssel
Die österreichische Kindergärtnerin, die kein richtiges Deutsch spricht
Das Europa der 27 Geschwindigkeiten
Schon Willy Brandt rief dazu auf: »Mehr Lobbyismus wagen!«
»Gefällt mir«-Klicks sind sehr gefährlich
Politikverdrossenheit
Kopernikus und die Europapolitik
Hans Magnus Enzensberger und die Kleinstaaterei
Was berichtet die Presse denn so aus Brüssel?
Die EU führt keine Kriege. Jedenfalls nicht in Europa
Jacques Brel und Stromae kommen nicht aus Brüssel
»Frau Prömel ist scheiße!«, oder: Die Europäische SchuleVierte und letzte Stunde
Das Europäische Parlament der Unternehmen
Kreislaufwirtschaft
Und dann bin ich auch noch Lehrer geworden
Ich kenne sie doch, die Leute, über die ich hier berichte: Riccardo und Adrian und Małgorzata und Frau Axl-Wummer. Die gibt es wirklich. So kreativ, dass ich mir die alle ausgedacht hätte, bin ich doch gar nicht. Ich habe bei dem, was ich von ihnen berichte, auch nicht übertrieben. Kein Fitzelchen. Ehrlich! Das ist gar nicht nötig. Die Geschichten aus Brüssel sind so schräg, dass sie sehr schnell für freie Erfindungen dieses »leicht überspannten Ludger« gehalten werden. Nur zu, Leute, nur zu! Ich kann’s vertragen. Ich weiß ja, dass ich nicht übertreibe.
Seit 20 Jahren lebe und arbeite ich in der europäischen Gesetzesfabrik, im Maschinenraum der EU-Politik. Da erlebt man so einiges. Wie ich hierhergekommen bin? Ich hab mal einen Bekannten eines Kollegen eines Freundes gefragt, ob es da nicht was Interessantes für mich zu tun gäbe in einer Stadt mit B. Ich dachte dabei an Bonn, Berlin oder Brüssel, nicht so sehr an Bochum, Bottrop oder Bamberg. Der hat mir empfohlen, mal nach Brüssel zu fahren und mich mit seinem Bekannten zu unterhalten. Und der so: »Was sind Sie, Ludger? Kunsthistoriker und Philosoph? Na prima! Bei uns machen Sie die Lebensmittel. Können Sie doch auch, oder?«
Konnte ich nicht. Deshalb habe ich gesagt: »Ja klar!« Als Kind wollte ich immer Koch werden, weil meine Omma mich immer mitschnippeln ließ, wenn Bohnen geschnippelt werden mussten. Wenn dieser Job also was mit Lebensmitteln zu tun hat, dachte ich, dann ist das für mich doch genau das Richtige.
Nach ein paar Tagen stellte sich raus, dass es nicht um Lebensmittel ging, sondern um Lebensmittelpolitik. Eigentlich nicht überraschend in Brüssel. Es ging auch nicht um Lebensmittelpolitik allgemein, sondern um die Interessen der kleinen Lebensmittelhersteller, der Bäcker, der Konditoren, der Metzger, der Eishersteller, solcher Leute. Die galt es, teilweise gegen die Interessen von UnileverNestléKraft, zu vertreten. Und natürlich gegen die Interessen von all den vielen UmweltVerbraucherTierschutzBauernWeißdergeierwas-Verbänden. Und gegen die nicht klar ausgesprochenen Interessen der Europäischen Kommission. Nach ein paar Monaten und Jahren stellte sich raus, dass ich das auch tatsächlich konnte. Dabei hat mir vielleicht mein Nebenfach-Studium der Politikwissenschaften etwas geholfen. Aber nicht viel. So wurde ich zum Lobbyisten. Das gefällt nicht allen. Vor allem meiner Tante Monika nicht. Über meinen Fight mit ihr über »die gar nicht so fiesen Lobbyisten« können Sie unten etwas lesen. Ich hoffe, Tante Monika ist mir deswegen nicht böse.
Ich betone es noch mal: Die Figur, von der ich hier berichte, ist nicht fiktiv, genauso wenig wie all die anderen. Solche Räuberpistolen könnte ich mir gar nicht ausdenken. In Brüssel aber muss man bloß Augen und Ohren offen halten und sie werden einem frei Haus geliefert. Der Knabe, um den es hier geht, heißt Adrian. Um Verleumdungsklagen aus dem Weg zu gehen, hat mir der Verlag empfohlen, ihn umzubenennen. Deswegen berichte ich ab sofort von »Raffael«. Raffael holt die Gäste der Vertretung vom Flughafen ab und fährt sie da wieder hin. Mit dem Taxi wär’s unkomplizierter, aber die Gäste der Vertretung haben Anspruch darauf, von einem Fahrdienst kutschiert zu werden. Manche, besonders die aus Südeuropa, bekommen sogar Polizeibegleitung mit Motorrädern und allem Pipapo. Raffael findet das übertrieben. Er muss dann immer besonders aufpassen, »sonst überfahre ich da noch mal einen von den Motorradbegleitbullen«.
Für seinen Fahrdienst stehen Raffael ein Dienstanzug pro Jahr und eine Dienstlimousine zur Verfügung. Er bedauert, dass ihm nicht auch eine neue Limousine pro Jahr zusteht, weil die, die er jetzt fährt, schon zehn Jahre alt ist. Damals war ihm das Vorgängermodell dieses Autos, gerade einmal zwei Monate alt, direkt vor der Nase weggeklaut worden, als er den Botschafter im Regen zur Haustür gebracht hatte. »Da muss irgendjemand diesen Dieben einen Tipp gegeben haben.« Raffael grinst. Seine Aufgabe ist es, seinen Chef und dessen Gäste in Brüssel von A nach B zu kutschieren, selbst wenn die zu Fuß schneller am Ziel wären. Mit diesem Dienstfahrzeug kann er überall parken, auch im Parkverbot. Er kann damit auch zu schnell fahren, selbst in der Innenstadt, wo er bloß dreißig Stundenkilometer fahren dürfte. Das liegt am CD-Kennzeichen. Das Corps Diplomatique ist weitgehend unantastbar. Außer den eigentlichen Diplomaten – etwa zweihundert Personen – haben auch viele Mitarbeiter von Botschaften und Vertretungen ein CD-Kennzeichen an ihrem Auto. Raffael schätzt, dass es etwa zweitausend Fahrzeuge sind.
Er findet so ein CD-Kennzeichen besonders deshalb praktisch, weil die Polizei sein Auto nicht einfach so durchsuchen darf. Dazu müssten ihm die Beamten einen richterlichen Beschluss zeigen, und so was hat Raffael in seiner gesamten Laufbahn noch nie gezeigt bekommen. »Die Bullen könnten mir so einen Wisch schon deshalb nicht zeigen, weil die mit ihren Wägelchen meinem Dreiliter-Geschoss einfach nicht folgen können. Mit 286 PS und 600 Nm Drehmoment bin ich in 6,3 Sekunden von 0 auf 100. Und bei 245 km/h Spitze sehen die bloß meine Rücklichter.«
Ich kann Raffael folgen. Deshalb sage ich ihm: »Ich kann dir folgen.«
Er staunt. Ich dagegen staune über Raffaels technisches Verständnis und auch über seine Vorstellung von Rechtsstaatlichkeit. Dass sein Schwager mit Drogen handelt, weiß in seiner Dienststelle keiner, und wenn ihm das jemand zum Vorwurf machen würde, könnte er immer noch die Sippenhaft-Keule aus der Tasche ziehen. »Da bin ich dann ganz schnell aus dem Schneider, aber ganz schnell!« Dass er mit diesem Schwager einen lukrativen Nebenerwerb vereinbart hat, weiß schon gar keiner. Seine Dienstlimousine darf ja keiner durchsuchen. Raffael kommt in Brüssel prima zurecht.
»Schatzi«, flötet meine Frau, »das ist ja alles noch viel schlimmer, als du es hier aufschreibst. Ich hab soeben mit der ehemaligen Sekretärin des Botschafters telefoniert. Die hat sich köstlich über deine Geschichte amüsiert und mir gesagt, dass der Wagen des Botschafters gleich zweimal geklaut wurde. Das erste Mal, als der Raffael den Botschafter nach Hause gefahren hat, und weil es geregnet hat, hat er den Botschafter mit dem Regenschirm bis zum Haus begleitet. Dabei hat er den Motor laufen lassen, und als er zurückkam, war der Wagen weg.«
»Genau das habe ich doch geschrieben.«
»Ja. Pass auf. Jetzt kommt’s! Dann wurde ein neuer Wagen angeschafft. Das musste natürlich ein noch stärkerer und schnellerer sein. Darauf bestehen die Chauffeure immer. Diesen neuen Wagen hat der Raffael dann vor der Garage abgestellt und den Autoschlüssel zufälligerweise im Erdgeschoss seines Hauses auf ein Tischchen gelegt, und zufälligerweise hat er dabei vergessen, die Haustüre zuzumachen, und da wurde ihm der Wagen vor seiner eigenen Haustür weggeklaut.«
»Nein!«
»Doch!«
»Und dann?«
»Dann war der Botschafter echt sauer und hat gesagt, in spätestens vierzehn Tagen sei der Wagen wieder da, sonst werde ein billigerer gekauft.«
»Und?«
»Nach vierzehn Tagen war der geklaute Wagen wieder da. Er war bloß, na ja, er war etwas beschädigt. In Luxemburg war ein Juweliergeschäft ausgeraubt worden. Die luxemburgische Polizei hatte daraufhin alle Parkplätze genau untersucht und genau diesen Dienstwagen auf dem Parkplatz eines Einkaufscenters direkt hinter der belgischen Grenze entdeckt. Die hatten den Wagen nämlich verfolgt und, weil sie nicht hinterherkamen, auch geschossen. Einer der Diebe konnte fliehen, der andere wurde bei der Aktion erschossen.«
»Du erzählst mir hier Räuberpistolen!«
»Genau! Danach wurde das Fahrzeug dem Botschafter zurückgegeben. Es waren mehrere Einschüsse in der Karosserie. Man hat das dann repariert, aber die Chauffeure haben sich geweigert, einen Wagen zu fahren, in dem einer erschossen worden ist. Also wurde wieder ein neues Auto gekauft. Im Nachhinein hat man festgestellt, dass der Wagen bis zu der Schießerei für mehrere Straftaten benutzt worden war, Tankstellenüberfälle, Zigarettenschmuggel, Drogentransporte, solche Sachen.«
»Die ganze Zeit mit CD-Kennzeichen?«
»Die ganze Zeit! Meine Gewährsfrau hat mir dann noch von einem Minister erzählt, dem wurden in zehn Jahren gleich drei Diplomatenwagen geklaut. Sie vermutet dahinter mafiöse Strukturen unter den Chauffeuren und Putzkommandos.«
»Werden da auch Leute erschossen?«
»Nicht ganz so schlimm, aber immer noch schlimm genug: Die Hilfskräfte sind auch für den Auf- und Abbau der Tische bei Veranstaltungen da. Das machen die während der Arbeitszeit, schreiben dann aber Extrarechnungen für diese Tätigkeit und lassen sich das schwarz bezahlen. Und das hast du doch sicher auch schon mal beobachtet: Wenn das Büfett ankommt, trifft man alle Chauffeure und Putzfrauen vor der Veranstaltung im Treppenhaus mit vollem Mund und Tupperdosen. Die zweigen sich da immer was ab.«
»Na ja, ich gönn’s ihnen.«
»Außerdem setzen die Chauffeure jeden neuen Mitarbeiter der Botschaft, der Nichtraucher ist, unter Druck, dass er ihnen das ganze Zigarettenkontingent überschreibt. Da hat der Raffael mal zigtausend Zigaretten über den steuerfreien Diplomateneinkauf bestellt.«
Ich frage nach: »Steuerfrei?«
»Ja doch. Diplomaten kaufen Schnaps, Champagner, Wein, Zigaretten, Parfüm und solche Sachen steuerfrei.«
»Aha! Warum?«
»Das ist eben so.«
»Aber die Steuer ist doch das Teuerste an diesen Sachen.«
»Eben. Die kriegen das praktisch umsonst. Und Autos und Fahrräder und Elektronikschnickschnack kriegen die auch steuerfrei.«
»Warum?«
»Das ist eben so. Und von diesem Privileg wollen die, die im Umfeld der Diplomaten arbeiten, natürlich auch profitieren.«
»Würde ich auch wollen. Deshalb gibt’s wohl auch niemanden, der diesen privilegierten Status jemals in Frage stellen würde, oder?«
»Das wagt keiner. Die politische Karriere wäre sofort beendet. Falls jemand, sagen wir mal durch einen Wechsel seiner Stellung, seinen Diplomatenpass verliert, empfinden diese Leute das wie eine Degradierung. Der ehemalige Chef der österreichischen Staatsholding und Kanzlervertrauter Thomas Schmid muss seit Mai 2021 bei seiner neuen Stelle mit einem Jahresgehalt zwischen 400 000 und 600 000 Euro auskommen. Was ihn aber am meisten schockiert, ist der mit dem Stellenwechsel verbundene Verlust seines Diplomatenpasses: ›Oh Gott, reisen wie der Pöbel.‹«
»Das hat der gesagt?«
»Das hat der sogar geschrieben. Zwar in einem Chat, aber öffentlich.«
»Aber die Karrieren von Drogenkurieren und Steuertricksern sind wahrscheinlich nicht gefährdet, oder?«
»Als man jetzt den Raffael darauf angesprochen hat, was er mit den ganzen Zigaretten macht, hat er behauptet, die würde er alle selbst rauchen. Das waren so ungefähr sechstausend am Tag.«
Ich sag’s ja: Raffael und seine Kollegen kommen in Brüssel prima zurecht.
Sehen wir uns die Behörde einmal an, von der immer berichtet wird, sie habe irgendetwas beschlossen. Tatsächlich beschließt die Europäische Kommission gar nichts. Sie schlägt bloß zur Beschlussfassung vor. Trotzdem ist sie die wichtigste aller Institutionen der EU. Ich weiß, dass sich Rat und Parlament und eine Reihe anderer Institutionen für viel wichtiger halten. Ich aber sage Ihnen: Lassen Sie sich von denen nichts vormachen! Die wichtigste Institution der Brüsseler Gesetzesmaschine ist die Europäische Kommission. Punkt. Bautechnisch ist die Kommission eine Behördenhaus-Schlange, die sich vom Schuman-Kreisverkehr mit dem Gebäude »Berlaymont« die gesamte »Gesetzesstraße« (die heißt wirklich so) und die parallel verlaufende Rue Joseph II bis zu der inneren Ringstraße beziehungsweise der »Allee der Künste«, Avenue des Arts, schlängelt.
In der Europapolitik gibt es, das muss man wissen, keine Kommissionen. Es gibt bloß die Kommission. Die Kommission ist keine Regierung. Sie entscheidet nicht. Sie schlägt zur Entscheidung vor. Damit ist sie formal aus dem Schneider, wenn mal was schiefläuft. Oberstes Gremium der Europäischen Kommission ist das Kollegium der Kommissarinnen und Kommissare. Das sind derzeit siebenundzwanzig Menschen. Vor dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU waren es achtundzwanzig. Einmal sollte das Kollegium der Kommissare verkleinert werden. Deshalb gibt es seit Juli 2013 mehr EU-Kommissare.
Und das kam so: Bis 2013 hatte jeder Mitgliedsstaat einen Kommissar. So ein Kommissar oder eine Kommissarin ist nicht einmal für den Staat tätig, der sie oder ihn benannt hat. Die Leute in den Staaten glauben das aber. Sie fühlen sich dann in Brüssel besser vertreten. Außerdem können die nationalen Regierungen auf diese Weise unbequeme Politiker loswerden. Die können dann zu Hause nichts Gefährliches mehr anstellen. Dann haben die EU-Staaten 2009 den Vertrag von Lissabon abgeschlossen. Künftig sollten nur noch zwei Drittel der Mitgliedsstaaten einen Kommissar stellen. Das klang nach Abspecken, Einsparung, Vereinfachung. Damals siebenundzwanzig Staaten geteilt durch drei, mal zwei macht achtzehn Kommissare. Das konnte jeder leicht ausrechnen. Und das hätte auch gereicht. 2013 wurde aber Kroatien Mitglied der EU. Das ist dann schon eine Rechenaufgabe, bei der man einen Taschenrechner zu Hilfe nehmen darf. Achtundzwanzig Mitgliedsstaaten durch drei, mal zwei, macht achtzehn Komma sechs, sechs, sechs Kommissare. Runden wir auf. Sagen wir neunzehn Kommissare. Tatsächlich wurden es dann doch achtundzwanzig Kommissare. Das lag daran, dass Irland dagegen war. Irland hätte bei Umsetzung des Zwei-Drittel-Beschlusses nämlich »seinen« Kommissar verloren. Dem Lissabon-Vertrag hatte das Land zwar zugestimmt, bei der Kommissarfrage stellte es sich aber quer. Man dachte dort, ohne »eigenen« Kommissar habe man weniger Einfluss in Europa. Man dachte falsch.
Die Kommissare leiten die Abteilungen der Kommission, etwa so, wie Minister ihre jeweiligen Ministerien leiten. Ein Kommissar ist etwa so mächtig wie ein Premierminister oder ein Kanzler eines europäischen Staates. An so einen Kommissar kommt man so gut wie nicht ran, außer er betritt in derselben Sekunde das Haus, in der man selbst eintrifft. Dann macht er einen kleinen Ausfallschritt, um eher an der Tür zu sein, hält sie freundlich auf, lässt Sie eintreten und schlüpft dann hinterher. Bodyguards sind keine zu sehen. Der Kommissar kommt zu Fuß. Auch die Kommissarinnen sieht man selten, außer man geht zum selben Empfang für italienisches Olivenöl, auf dem die Kommissarin als Festrednerin ein paar Worte zur Begrüßung spricht. Sie spricht immer frei, ohne vorbereitete Rede, ohne Konzeptkärtchen. Eine Kommissarin weiß, was sie zu sagen hat. Dazu braucht sie keine Spickzettel. Natürlich wird auf dem Empfang nur formal Olivenöl ausgeschenkt. Vorwiegend wird hervorragender Wein serviert. Am Schluss kann man der Kommissarin noch mit einer kleinen Plastiktüte aushelfen, weil sie auf dem Empfang drei kleine Fläschchen Olivenöl geschenkt bekommen und nichts zum Transportieren dabeihat: »Mange tak! Thank you very much!«
So ein Kommissar ist weitgehend unnahbar, außer er steht beim Sommerfest irgendeiner europäischen Region direkt vor Ihnen, löst sich, wenn er darum gebeten wird, aus der Menge und spricht seine mahnenden Worte über das europäische Projekt, das nicht leichtfertig aufgegeben werden darf. »Ach«, denkt man sich, »der kleine Knilch ist jetzt Kommissar für den digitalen Binnenmarkt!« Oder: »So, so, die ist jetzt Verkehrskommissarin! Die habe ich doch neulich noch in dieser Sandwichbude gesehen.« Wenn man dann Lust hat, kann man gleich ein persönliches Gespräch vereinbaren. »Nächste Woche? Ja gerne. Schicken Sie mir eine formlose Anfrage. Hier ist mein Kärtchen. Wen vertreten Sie noch?«
Die Europäische Kommission ist, wie gesagt, keine Regierung. Journalisten und Autoren, die der Kommission richtig an den Karren fahren wollen, schreiben trotzdem von einer »heimlichen Regierung«, die Wortspieler auch von einer »unheimlichen Regierung«. Über Jahrzehnte hinweg wurde den Kommissaren Inkompetenz, Faulheit und Vetternwirtschaft vorgeworfen. Solche Vorwürfe waren – das muss man zugeben – zum Teil berechtigt. Mit Pauschalvorwürfen gegenüber den jetzigen siebenundzwanzig Kommissaren wäre ich vorsichtiger, erst recht gegenüber den dreißigtausend Mitarbeitern in den Generaldirektionen. Da wären solche Vorwürfe unangemessen, haltlos, unnötig frech.
Es klingt auch nur knackig, wenn von »Eurokraten« die Rede ist. Das Wort suggeriert ein völlig falsches Bild von Kommissionsbeamten. Eurokraten, das behaupten Europakritiker, würden über die Bedürfnisse der Menschen in Europa entscheiden, ohne diese Bedürfnisse zu kennen. Wenn sie sie aber kennen würden, würden sie trotzdem gegen diese Bedürfnisse entscheiden. Was müssen das für miese Typen sein! Man muss automatisch an Kafka denken, wenn von Bürokratie und Bürokraten die Rede ist, oder an die fiesen Vogonen aus Per Anhalter durch die Galaxis. Freunde von Stabreimen sprechen von »gruseligen Gestalten in grauen Gängen, Ärmelschonern und Aktenschränken«. Man hört die Begriffe Moloch, Dschungel, Haifischbecken. Einer schrieb vom »Sanften Monster Brüssel«. Schon im Deutschen Reich behauptete Otto von Bismarck, es sei die Bürokratie, an der wir alle krankten. Der Mann hatte Chuzpe! Er selbst war es doch, der als Reichskanzler eine Bürokratie eingeführt hatte, wie man sie bis dahin nicht kannte. Über »Eurokraten« würde er sicher kein gutes Wort verlieren.
Einen richtigen Metaphernsalat mischen manche Blogger zusammen und halten »Eurokraten« für Leute mit einem Wasserkopf. Auf die Arbeiter in der Gesetzesfabrik Brüssel trifft das alles aber überhaupt nicht zu. Die meisten arbeiten ganz und gar nicht bürokratisch, was ja so viel heißt wie kleinkrämerisch, schematisch, haarspalterisch. Sie bereiten Gesetzestexte vor, arbeiten also der Legislative zu. Und als Exekutive wachen sie über deren korrekte Ausführung. Das Wort »Eurokraten« könnte falscher nicht sein, um Kommissionsbeamte zu beschreiben.
Der Niederländer Frits Bolkestein, von 1999 bis 2004 selbst EU-Kommissar, hatte auch eine unklare Vorstellung von Bürokratie: »Wenn weitere Aufgaben und Mitgliedsstaaten hinzukommen, wird das Ergebnis eine bürokratische Monstrosität sein – oder Chaos.« Das befürchtete Bolkestein vor dem Beitritt von zehn nord- und osteuropäischen Mitgliedsstaaten zur EU. Seine Aufgabe wäre es gewesen, dieses befürchtete Chaos zu verhindern. Chuzpe! Und zum Thema »Wasserkopf«: Die Beamten der Europäischen Kommission verwalten auch das Budget der EU. Für das Jahr 2020 waren das 175,5 Milliarden Euro. Seit 2021 gibt es, damit das Hickhack nicht jedes Jahr erneut losgeht, einen mehrjährigen Finanzrahmen bis 2027. Budget: 1,8 Billionen Euro. Eine Milliarde sind 1000 Millionen und eine Billion sind 1000 Milliarden. 1,8 Billionen sehen so aus: 1800000000000. Darin enthalten sind 750 Milliarden für ein Corona-Hilfsprogramm. Die muss man jetzt, weil es sich um ein Siebenjahresbudget handelt, wieder durch 7 teilen. Vom jährlichen Gesamtbudget aller EU-Mitgliedsstaaten, nämlich 6400 Milliarden, sind das schlappe 2,25 Prozent. Und wird das Geld etwa in Brüssel verprasst? Nein! Es fließt selbstverständlich zum allergrößten Teil in die Mitgliedsstaaten zurück. Nur 9,75 Milliarden schluckt die Verwaltung. Das sind sparsame 5,2 Prozent. Das ist tatsächlich eine sehr schlanke Verwaltung. Auch nach dem Beitritt der baltischen und der osteuropäischen Staaten ist die – im Gegensatz zu dem, was Kommissar Bolkestein befürchtete – noch immer weit von jeglicher Monstrosität entfernt.
Etwas bekannter als Frits Bolkestein war José Manuel Barroso. Vielleicht wissen Sie ja noch, wer das war. Barroso war immerhin über zwei Amtsperioden von 2004 bis 2014 Kommissionspräsident. 2002 war er noch Premierminister von Portugal. Damals hatte er noch ein sehr eigenwilliges Bild von der EU: »Stellen Sie sich ein großes Flugzeug vor. Sie gehen ins Cockpit, und niemand sitzt an den Instrumenten.« Stellen Sie sich einen mächtigen Staatenbund vor! Die Ministerpräsidenten müssen dessen Geschicke lenken. Barroso hätte als Premierminister Portugals in diesem »Cockpit« sitzen müssen! Schon zwei Jahre später, als Kommissionspräsident, sah er das natürlich ganz anders. Kritiker der EU sprechen, wie diese ahnungslosen Politiker, von einem bürokratischen Ungetüm, einer Machtmaschinerie, dem Raumschiff Brüssel, dem erwähnten Brüsseler Wasserkopf. Sie wissen wahrscheinlich selbst nicht, was sie damit meinen. Wenn eine übergeordnete Institution Gesetze in siebenundzwanzig Mitgliedsstaaten abschafft und durch ein einziges europäisches Gesetz ersetzt, dann handelt sie doch extrem antibürokratisch. So sehe ich das!
Hier noch zwei missglückte Metaphern: Die Kommission wird auch als »Hüterin der Europäischen Verträge« bezeichnet. Müssen Verträge gehütet werden wie Schafe? Andere nennen sie einen »Motor der Verträge«. Verträge und Gesetze müssen aber einfach eingehalten werden. Wenn nicht, werden sie verletzt oder gebrochen. So einfach ist das. Und das wird für die Staaten, die sie nicht einhalten, teuer. Sehr teuer. Da werden schon mal einige Millionen an Strafzahlungen fällig. Täglich.
Riccardo ist Beamter bei der Europäischen Kommission. Dass man ihn als Eurokraten bezeichnet, ist ihm egal. Schlimmer für ihn: sein Job befriedigt ihn nicht. Er wäre lieber Pornodarsteller. Das mit dem Pornodarsteller stellt er sich ganz leicht vor. Er glaubt, mit ausreichender Geilheit und einigermaßen gestähltem Körper – na ja, darüber lächelt er selbst – müsste das doch zu schaffen sein. Und entsprechendes Anschauungsmaterial habe er sich in den letzten Jahren ja ausreichend … also, das sei doch ganz natürlich und … na ja, das würde doch jeder … Er sei kein Spezialist, aber das traue er sich schon zu.
Er habe sich schon mal informiert, was da für Anforderungen gestellt werden, abgesehen von der normalen Missionarsstellung. Da gebe es die Positio aversa in Bauch- und Knielage, die Sitzhaltung in Cuissade und Croupade. »Die Positio obversa«, doziert Riccardo, »ist in Beugelage, Reithaltung und Strecklage schon fast Standard, genau wie die walchersche Hängelage.« Ich bin beeindruckt von seinem Fachwissen. Beim Tantra, vis-à-vis sitzend und seitlich, werde es für ihn wahrscheinlich etwas schwieriger, weil er doch diese Sache mit dem Rücken habe. Ich tue, als hätte ich das alles verstanden und als sei dieses Sexchinesisch für mich die natürlichste Sache der Welt. Es erinnert mich an einen Pennälerwitz, den wir zu machen pflegten, bevor wir die Freuden der geschlechtlichen Liebe selbst kennengelernt haben. Wir behaupteten, unsere liebste Sextechnik sei die, auf dem Kopf zu stehen und dabei mit den Füßen eine Lotusblüte zu formen. Darüber konnten wir uns als Pennäler köstlich amüsieren.
Zur Not, meint Riccardo, gebe es da ja auch Mittel. Nicht, dass er das nötig hätte, aber man wisse ja nie. »Und wenn die Kolleginnen dann auch mitziehen, also bei den Aufnahmen da, dann ist das sicher auch ganz nett, und vielleicht könnte sich daraus ja auch eine echte Freundschaft entwickeln oder mehrere. Wenn man mit den Damen schon so intim umgegangen ist, wäre das doch nur allzu natürlich, oder nicht?«
Riccardo hat nicht viele Freunde. Schon gar keine echten. Die Leute, die er kennt, wollen alle was von ihm, das weiß er ganz genau. Und die alten Freunde seiner Jugend in Rom, die verstehen gar nicht, was er hier in Brüssel macht. Aus eigener Erfahrung kann ich ihm zum Thema Pornodarsteller sagen: »Keine Ahnung!« Ich habe allerdings auch keine Ahnung, was an einem Job als Kommissionsbeamter so freudlos und unbefriedigend sein könnte, dass man oder frau eine Tätigkeit in der Pornobranche vorziehen würde. Die Jammerlappentour will ich ihm einfach nicht durchgehen lassen. Ich überreiche ihm ein Mitleidskärtchen. Diese Kärtchen habe ich mir selbst gemacht. Für Notfälle. Meine Mitleidskärtchen sind so groß wie ein Visitenkärtchen. Es steht aber was völlig anderes drauf, nämlich: »Ich habe selten einen Menschen getroffen, den das Leben so beutelt wie Sie. Bitte betrachten Sie diese Karte als Ausdruck meines tief empfundenen Mitleids.«
Riccardo macht damit genau das, was ich erwartet habe. Er zerreißt das Kärtchen, nennt mich ein herzloses Arschloch, berichtet dann aber ausführlich, warum die Arbeit in der Europäischen Kommission so frustrierend sei. Das Schlimmste sei das Pochen der Mitgliedsstaaten auf Subsidiarität. Damit kämen die Mitgliedsstaaten andauernd an, auch wenn sie genau wüssten, dass die Entscheidungsbefugnis bei einem Thema eben nicht bei den Nationalstaaten liege, sondern auf europäischer Ebene. Dabei hätten die Einzelstaaten mit guten Gründen dafür gesorgt – »bewusst und mit klaren Absichten, das sage ich dir!« –, die entsprechenden Kompetenzen auf die EU zu übertragen. Im Deutschen sei das auch ganz klar: »Subsidiarität« heiße die Verantwortlichkeit auf der jeweiligen politischen Ebene. Im Französischen, aber auch in seinem Land, erklärt mir Riccardo, verstehe man darunter Hilfsgelder oder Zuschüsse, eben Subsidien.
Andererseits seien es gerade regionale Politiker, die eine europäische Regelung anstrebten, um für die teilweise schmerzhaften Regelungen jemanden in Brüssel verantwortlich machen zu können. Die Kommission, sagt er, »è diventata il capro espiatorio«.
Ich muss nachfragen: »Der Capro was?«
»Espiatorio«, erklärt Riccardo, »der Bocksünder.«
»Der Sündenbock?«
»Genau! Der Schwarzpeter!«
»Der Schwarze Peter?«
»Genau!«
»Aber man kann doch nicht alle Kommissionsbeamten über einen Kamm scheren.«
»Genau«, bestätigt mir Riccardo, »wir sind doch nicht alle aus demselben Kamm geschnitzt.«
Ich geb’s auf, dem Italiener deutsche Redensarten beizubringen. Riccardo nennt mir für eine angebliche Überregulierung vorsichtshalber kein Beispiel aus seinem Land, sondern eines aus Deutschland. »Pass mal auf: Du kennst doch die Badewasserrichtlinie.« Ich kenne die Badewasserrichtlinie nicht. Mir schwant Schlimmes. Die Qualität des Wassers in meiner Badewanne wird zumindest nach meinem Aufenthalt darin nicht mehr ganz astrein sein. Das sage ich Riccardo natürlich nicht und tue gut daran. Es geht nämlich tatsächlich um die Badegewässerrichtlinie! Da hätte ich mich mal wieder schön blamiert. Dazu gibt mir Riccardo zum Glück keine Zeit: »Natürlich könnte die bayerische Staatsregierung in ihrer Weisheit auch ohne himmlische Eingebung festlegen, ob die Wasserqualität der Isar ausreicht, um darin zu baden.«
Ah, denke ich, darum geht’s, und sage: »Wenn der Dienstmann Alois die himmlische Botschaft nicht mal wieder verschlampt.«
»Wer?«, stutzt Riccardo. »Ein Alois hat bei uns nicht mitgearbeitet. Die europäische Richtlinie über die Qualität von Badegewässern gibt der bayerischen Regierung jedenfalls die Möglichkeit, die angeblich anonymen Strukturen in Brüssel für ihr Badewasser verantwortlich zu machen.« Riccardo erzählt mir dann noch, dass die deutsche und auch die bayerische Regierung aktiv an der Badegewässerrichtlinie mitgearbeitet hätten. Das würden die bloß nicht in jedem Bierzelt erwähnen. Da müssten stattdessen wieder die Bekloppten von Brüssel mit ihrer angeblichen Regelungswut den Kopf hinhalten. »Immerhin«, triumphiert er, »infizieren sich jetzt auch in Bayern weniger Menschen mit Kolibakterien. Das ist doch wohl eine einheitliche Regelung wert. Findste nich?« Die Badegewässerrichtlinie war Riccardos Hauptarbeitsfeld über drei Jahre. Und er habe sie durchgeboxt. Er!
Dasselbe gelte für Brandschutzregelungen: »Die gelten in dänischen Dörfern genauso wie in spanischen Städten.« Riccardo hat einen Hang zum Stabreim. Mit den Brandschutzregelungen habe seine Kollegin Gill vier Lebensjahre verbracht. Immer wieder müsse sie sich anhören, das sei überreguliert. Da rastet der sonst sehr beherrschte Kommissionsbeamte Riccardo richtig aus: »Überreguliert, überreguliert, überreguliert! Wenn ich das schon höre!« Beim nächsten Discobrand würde er den Hinterbliebenen gerne sagen, die Europäische Kommission habe da nichts überregulieren wollen. »Verstehst du jetzt, was ich meine, Ludger? Da werde ich doch lieber Pornodarsteller. Da ist wenigstens nichts überreguliert. Ich hab’s so satt!«
Wenn er da mal nur … also, ich kenne mich da ja nicht so aus … aber so ganz ohne Regeln geht’s da doch sicher auch nicht zu. Oder?
Es ist ganz einfach: Der Europarat ist nicht der Europäische Rat. Er ist aber auch nicht der Rat der Europäischen Union. Der Europarat ist ein Debattierclub, dessen Mitglieder glauben, sie könnten Politik beeinflussen. Kurz nach dem Krieg, 1948, betrieb ein gewisses »American Committee for a United Europe« die Gründung des Europarats, um – aufgepasst! – eine europäische Integration gegen den Ostblock zu betreiben. In den USA hielt man es für sinnvoll, den Krieg kalt weiterzuführen. Eiskalt. Die Geheimdienste OSS (Office of Strategic Services, zu Deutsch etwa »Amt für strategische Dienste«) und CIA (Central Intelligence Agency, der Auslandsgeheimdienst der Vereinigten Staaten) gründeten das erwähnte Komitee und dieses gründete den Europarat. Die Grundlage für das Genre der Spionagegeschichten und -filme war gelegt: Der Schakal, Der Spion, der aus der Kälte kam, Die Nadel sowie sämtliche Stories um einen gewissen James Bond haben hier ihre Quelle. Die Quelle sprudelt bis heute.
Aus den Stories lernen wir: Spione kümmern sich vorwiegend um sich selbst. Genau wie der Europarat. Darüber hinaus setzt er sich für Menschenrechte ein. Und für Demokratie. Und für Rechtsstaatlichkeit. Das ist alles sehr ehrenhaft. Sein Medium sind politische Appelle und Absichtserklärungen. Das ist alles sehr wirkungslos. Der Europarat ist formal und ideell nicht mit dem Europäischen Rat, nicht mit der Europäischen Kommission und nicht mit dem Europäischen Parlament verknüpft. Deshalb ist seine Arbeit so wirkungslos. Die Mitgliedsstaaten unterhalten trotzdem für diesen Europarat in Straßburg einen Europapalast. Das ist ein riesiges Gebäude mit einem riesigen Plenarsaal. In diesem Palast führt der Europarat Debatten, die niemanden interessieren und die völlig irrelevant sind. Haben Sie schon mal was von den Beschlüssen des Europarats gehört? Eben. Der Plenarsaal steht direkt gegenüber dem Plenarsaal des Europäischen Parlaments. Die beiden Säle können nicht gleichzeitig benutzt werden. Die Infrastruktur des kleinen Städtchens Straßburg lässt das nicht zu. Es gibt einfach nicht genug Unterbringungsmöglichkeiten für die Delegierten und die Assistenten beider Institutionen.
Warum schafft man diesen teuren und völlig nutzlosen Europarat nicht einfach ab? Dagegen spricht, dass die darin debattierenden alten Männer anderswo Schaden anrichten könnten. Ein Kenner des Europarats sagte mir: »Man sollte sie dort reden lassen, sonst gehen sie zu Hause ihren Frauen auf den Wecker.« Der Europarat hat derzeit 47 Mitgliedsländer, darunter Georgien, Armenien, Aserbaidschan, obwohl die nur zum Teil oder gar nicht in Europa liegen. Beobachterstatus haben unter anderem Israel, Kanada und Mexiko. Der Europarat hat schon 1950 die Europäische Menschenrechtskonvention ausgearbeitet. Einzelne Länder haben dieses Papier seitdem anerkannt, die EU als ganze nicht. Deutschland hatte bis Mai 2021 für ein halbes Jahr den Vorsitz im Europarat. Ist davon etwas nach Deutschland durchgesickert? Im März 2014 überfiel das Europaratsmitglied Russland die Halbinsel Krim, bis dahin ein Teil der Ukraine, ebenfalls Europaratsmitglied. Die Halbinsel wurde dem Staat Russland angegliedert. Russland befand als Aggressor mit über die Einsetzung von Beobachtungsmissionen in der Ukraine. Das macht die Arbeit dieser Institution nicht unbedingt glaubwürdiger. Seit der Besetzung der Krim ist der Europarat praktisch gelähmt.
In Brüssel spricht man vom »Rat« nicht, wenn man den Europarat meint, sondern den Europäischen Rat, das Organ der Staats- und Regierungschefs (und nur