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St. Petersburg. Eine Stadt in Biographien - Eine Stadt wird nicht nur von Gebäuden und Straßenzügen geprägt, die Identität von St. Petersburg entsteht erst mit den Geschichten seiner Bewohner. Denn was wäre die Stadt ohne Katharina II., Fjodor Dostojewski und Wladimir Lenin? 20 ausgewählte Biographien zeichnen ein lebendiges, historisches wie auch aktuelles Bild der Stadt. Die Porträts werden durch Adressen ergänzt, die eine Stadterkundung auf den Spuren der porträtierten Personen ermöglichen. Dieser Band umfasst Porträts von: Peter der Große, Bartolomeo Rastrelli, Michail Lomonossow, Katharina II., Alexander Puschkin, Fjodor Dostojewski, Peter Tschaikowsky, Ilja Repin, Carl Peter Fabergé, Nikolaus II., Grigori Rasputin, Wladimir Lenin, Sergej Diaghilew, Matilda Kschessinskaja, Kasimir Malewitsch, Anna Achmatowa, Vladimir Nabokov, Dmitri Schostakowitsch, Joseph Brodsky und Wladimir Kechman. Autorinnen: Eva Gerberding, Christiane Bauermeister
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Seitenzahl: 157
Christiane Bauermeister / Eva Gerberding
ST. PETERSBURG
Eine Stadt in Biographien
TRAVEL HOUSE MEDIA GmbH
Herausgegeben von Norbert Lewandowski
Christiane Bauermeister studierte Slawistik an der FU Berlin und nahm nach dem Studium einen Forschungsauftrag »Theater der russischen Avantgarde« an der Leningrader Universität wahr. Seit jenen Jahren hat sie die Faszination für die Stadt nicht mehr losgelassen. Sie arbeitet als freie Autorin und Journalistin in Berlin.
Eva Gerberding ist Expertin für russische Kunst und Literatur. Als Filmemacherin dreht sie Dokumentationen zu kulturellen und gesellschaftlichen Themen (u.a. für WDR, 3sat, ARTE) und hat auch für Museen begleitende Filme zu Ausstellungen gedreht. Außerdem schreibt sie Reisebücher.
Die Weißen Nächte des hellen nordischen Sommers lassen sie aufleuchten. Und eine verhangene Winterlandschaft gibt ihr einen eigentümlichen matten Glanz. St. Petersburg, die Schöne. Ein Traumbild, das lebt.
Eine Stadt wie St. Petersburg wird nicht nur von der Vielfalt ihrer historischen Gebäude und Straßenzüge geprägt, sondern auch von den Menschen, die hier geboren wurden, gestorben sind oder entscheidende Jahre an der Newa verbracht haben. Diese Figuren, ob historisch oder gegenwärtig, bestimmen das Flair und den Puls einer Stadt.
MERIANporträts beschreibt 20 Persönlichkeiten und lässt sie die Besucher wie individuelle Reiseführer durch die Vergangenheit und Gegenwart der Stadt begleiten. Sie führen uns durch die wechselvolle, oft leidgeprüfte Geschichte von St. Petersburg, zu ihren Kunst- und Kulturschätzen, und wir erleben Geschichten von autokratischen Herrschern, verzweifelten Dichtern, verliebten Künstlern und blindwütigen Revolutionären.
Natürlich ist es schwer, die »richtigen« 20 Personen auszuwählen. Vermutlich ist es sogar unmöglich, schließlich wurde der Takt der Stadt von weit mehr als 20 Menschen geprägt. Doch in der Summe soll die subjektive Auswahl ein unverwechselbares Kaleidoskop ergeben.
Wir begegnen Peter dem Großen und einem seiner weltfremden Nachfolger, Nikolaus II., staunen über die Lebensklugheit von Katharina der Großen. Alexander Puschkin und Anna Achmatowa lassen uns teilhaben an ihrer Dichtkunst, Peter Tschaikowsky und Dmitri Schostakowitsch an ihrer Musik, Kasimir Malewitsch an den Rätseln seines Schwarzen Quadrats. Wir wandeln auf den Spuren der Schriftsteller Dostojewski, Nabokov und Brodsky. Und sind gefangen von den Mythen um Lenin und Rasputin. Am Ende steht St. Petersburg vor uns wie eine Filmkulisse – eine real existierende Fata Morgana. Ein fernes Traumbild. Und doch so lebendig.
Ohne ihre Bewohner wäre die Stadt eine andere. Ohne Katharina II., Dostojewski und Lenin … wäre St. Petersburg nicht St. Petersburg.
Farbige Kästchen mit Ziffern 1 und farbige Buchstaben-Ziffern-Kombinationen (▶D 3) verweisen auf die Orientierungskarte.
1672–1725
Kein Herrscher des Riesenreichs hat den Nerv der russischen Mentalität so sehr getroffen wie dieser Mann. Er öffnete das Zarenreich Richtung Westen und machte St. Petersburg zu seiner Hauptstadt.
Der Zar sitzt aufrecht auf einem sich aufbäumenden Pferd und hält seinen Arm schützend über das Land, vor ihm die Newa (▶A 1, 4/5–K 1), hinter ihm die mächtige Isaakskathedrale (▶C 5). Als Feldherr und Sieger wollte Katharina die Große ihn verewigt sehen, als sie 1782 das bronzene Denkmal vom Franzosen Étienne Falconet errichten ließ.
»Wie ehern ist des Reiters Stirn,
Wie machtvoll seiner Hand Gebärde,
Was für Gedanken wälzt dies Hirn,
Und welche Kraft steckt in dem Pferde!«
So dichtete Alexander Puschkin in seinem Poem »Der eherne Reiter«. Jedes russische Schulkind kennt die Verse auswendig. Die Geschichte ist schaurig: Die Braut eines armen Beamten ertrinkt im Hochwasser. Fluchend steht der Bräutigam am Denkmal und gibt Zar Peter die Schuld, weil er die Stadt an diesem unwirtlichen Ort errichten ließ. Da steigt der riesige Reiter wütend von seinem Sockel und hetzt den Mann durch das nächtliche St. Petersburg. Das Gedicht hat der Beliebtheit des Denkmals nicht geschadet. Im Gegenteil: Das Wahrzeichen der Stadt ist Fotokulisse für Brautpaare, die sich hier treffen und Blumen niederlegen.
Alles begann mit einem Segelboot, mit dem der 16-jährige Prinz Peter auf der Moskwa schipperte. Auf diesem kleinen Kahn, den er später das »Großväterchen der russischen Flotte« nannte, träumte er von einer Kriegsmarine und einem eisfreien Zugang zum Meer. 1700 ging Peter das Wagnis ein und erklärte der Ostseegroßmacht Schweden den Krieg. Drei Jahre später eroberten seine Truppen die Festung Nyenschanz am Finnischen Meerbusen. »Als sie die Küste erreicht hatten«, schreibt Orlando Figes in »Nataschas Tanz. Eine Kulturgeschichte Russlands«, sei Peter vom Pferd gestiegen: »Mit dem Bajonett stach er zwei Streifen Torf und legte sie in Form eines Kreuzes auf den sumpfigen Boden. Dann sprach Peter: ›Hier soll eine Stadt entstehen‹.« Der Legende nach flog bei diesen Worten ein Adler über seinen Kopf.
Am 27. Mai 1703, dem Gründungstag der Stadt, wurde acht Kilometer flussaufwärts der erste Spatenstich für die Peter-und-Paul-Festung23 (▶D 1) getan. Peter wählte als Ort die Haseninsel im Newa-Delta, die nur 600 Meter lang und 360 Meter breit ist.Schon 1704 war die erste Festung aus Holz fertig, 1706 wurde sie mit Steinmauern gesichert – kein militärisches Bollwerk, sondern ein Gefängnis. Erster Insasse war Peters ungeliebter Sohn Alexej. Er wurde des Landesverrats bezichtigt und gefoltert. Er starb 1718 an den Folgen der Tortur.
Um die Entstehung seiner Stadt zu kontrollieren, ließ Peter sich eine einfache Holzhütte mit zwei kleinen Zimmern ans Ufer der Newa bauen, in der er einige Jahre lebte. Viele Legenden ranken sich um diesen Ort. Demnach betätigte er sich gern als Lotse, stellte sich als »Piter« vor und lud so manchen Kapitän zum Essen ein. Später wurde das Häuschen auf Wunsch von Katharina der Großen mit Mauern umbaut. Seit 1930 ist hier ein Museum, das Haus Peters des Großen, eingerichtet, das den bescheidenen Lebensstil des Zaren dokumentiert.
Im Prinzip sprach fast alles gegen die Gründung einer Stadt an diesem Platz: das sumpfige Newa-Delta, das feuchte Klima, die Randlage im Russischen Reich. Doch der hünenhafte und willensstarke Herrscher war durch nichts aufzuhalten. Hier sollte sein »Fenster zum Westen« entstehen. Der Zar ließ Architekten aus Deutschland, Italien, Frankreich und der Schweiz kommen. »Als Bewunderer Amsterdams wollte er das nasse Element zähmen. Peter hatte sein Paradies gefunden«, schreibt sein Biograf Henri Troyat. Da hieß die junge Stadt noch nach holländischer Art »Sankt-Pieter-Burgh«, erst später wurde sie auf deutsche Art »St. Petersburg« genannt und von den Einwohnern zärtlich »Piter«. Allerdings nicht nach ihrem Erbauer, sondern nach deren Schutzpatron Simon Petrus.
Seine Stadt hat Peter mit Gewalt und unter Einsatz vieler Menschenleben aus dem sumpfigen Boden stampfen lassen. Der Gesandte Friedrich Christian Weber schrieb am 3. Februar 1718: »Es wird in diesem Reich alles mal ein Ende mit Schrecken nehmen, weil die Seufzer so vieler Millionen Seelen wider den Zaren zum Himmel steigen.« Zehntausende Zwangsarbeiter schufteten jahrelang unter schwersten Bedingungen. Ihre Unterkunft und Verpflegung war so miserabel, dass sich Krankheiten ausbreiteten, an denen um die 30000 Arbeiter zugrunde gingen.
Im Sommer des Jahres 1709 schlug Peters Armee die Schweden vernichtend in der Schlacht von Poltawa. Das war für ihn Anlass, die neu gegründete Siedlung drei Jahre später zur Hauptstadt zu machen. »Peter, der seit jeher eine besondere Liebe für das Meer hegte, war von der breiten, schnell strömenden Newa […] besonders angetan«, schreibt Orlando Figes. So befahl Peter seinem Schweizer Lieblingsarchitekten Domenico Trezzini, gegenüber seinem ersten Wohnhaus am anderen Ufer der Newa einen Sommerpalast28 (▶G 2) mit 14 Zimmern im holländischen Stil zu errichten.
Der auf einer Insel liegende Palast ist umgeben von einem Sommergarten. Der Park, der nach Peters Wunsch den Park von Versailles an Schönheit übertreffen sollte, beeindruckt die Besucher noch heute. Geometrisch angelegt, wurde er mit antiken Marmorskulpturen aus Italien geschmückt. Im Winter verschwinden sie in Holzkästen. Heute ist der Palast ein Museum und der Sommergarten nicht nur der älteste Park der Stadt, sondern auch der schönste. Frisch renoviert wurde er 2012 neu eröffnet: Die 91 italienischen Skulpturen strahlen wieder in reinstem Weiß, sie wurden aus Carraramarmor neu gefertigt. Die Originale stehen nun im Museum im gegenüberliegenden Michaelsschloss (▶G 3).
Russland hatte sich mit dem Sieg über Schweden einen Zugang zur Ostsee gesichert, was das Prestige des Landes erheblich steigerte. Nach dem Ende des Großen Nordischen Kriegs 1721 war das russische Imperium geboren. Der Senat verlieh Peter den Titel Kaiser von ganz Russland, »Peter der Große«. Und groß war er in der Tat: Die Angaben schwanken zwischen 2,01 Meter und 2,15 Meter.
»Despotisch, zügellos, starrsinnig, archaisch wild – man hat Peter die verschiedensten Etiketten angehängt«, schreibt der Schriftsteller Daniil Granin in seinem Roman »Peter der Große«. Brutalität war dem 1672 in Moskau geborenen Thronfolger, Sohn des Zaren Alexei Michailowitsch, schon früh vertraut – durch grauenvolle Szenen, die sich vor seinen Augen abspielten, als Angehörige seiner Familie von Strelitzen, der Palastgarde des Kreml, ermordet wurden. Aber er war auch rastlos, energisch und wissbegierig.
»Ein Mann von nüchternem Verstand, wenn auch zu erschreckenden Trunkexzessen neigend, betrachtete er jedes Land, das er betrat, lediglich als eine Fortsetzung des Raumes«, schrieb Joseph Brodsky über den Zaren, der 1697 als 25-Jähriger für über ein Jahr inkognito als Unteroffizier in den Westen reiste. Er machte sich mit europäischer Lebensart, Technik und Wissenschaft vertraut. Für die Dauer seiner Abwesenheit setzte er einen Regentschaftsrat ein. Nach dieser Reise wollte er Russland aus seiner politischen Isolierung herausführen und die starren Traditionen durchbrechen, koste es, was es wolle.
Der Zar war erfinderisch im Erschließen neuer Geldquellen und belegte alles Mögliche mit Steuern. Russen, die auf ihre traditionellen Bärte nicht verzichten wollten, mussten eine Bartsteuer zahlen. Peter ließ auch die langen Kaftane und Mäntel kürzen. Den Städtern wurden praktischere westliche Kleider verordnet. Auch Verwaltung und Militär wurden modernisiert und mit dem 1. Januar 1700 der russische Kalender dem westeuropäischen angepasst. Seinem Hofstaat befahl er, schleunigst von Moskau nach St. Petersburg umzuziehen.
Der Krieg gegen Schweden hatte für St. Petersburg einen weiteren Vorteil: Das Bernsteinzimmer kam in die Stadt. Dieses märchenhafte Meisterwerk war ein Geschenk seines Bündnispartners, des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm I. Die kostbare Wandverkleidung wurde in Kisten verpackt und nach Petersburg verschickt und lagerte in Peters Sommerpalast. Erst seine Tochter, Zarin Elisabeth, ließ sie 1743 in den Winterpalast, Teil der heutigen Eremitage8 (▶D 3), einbauen. Zwölf Jahre später wurde das Bernsteinzimmer demontiert und im Sommerpalast in Zarskoje Selo wieder eingerichtet.
Peter der Große konnte nicht ahnen, für wie viel Ärger und Verwirrung dieser Schatz sorgen würde. 1941 hatten deutsche Truppen den Katharinenpalast erobert und das Bernsteinzimmer ins Königsberger Schloss gebracht. Dort verschwand es spurlos. Ist es nach britischen Luftangriffen verbrannt oder wurde es erneut demontiert und irgendwo versteckt? Jedenfalls ist seit 2003 eine originalgetreue Nachbildung im Katharinenpalast zu besichtigen.
Peter der Große starb am 8. Februar 1725 mit 52 Jahren an einer verschleppten Blasenerkältung in Verbindung mit einer Leberatrophie. Das Blasenleiden hatte er sich drei Monate zuvor zugezogen, als er ins eiskalte Wasser des Lachta-Sees gesprungen war, um die Insassen eines gekenterten Bootes zu retten. Bei seinem Tod zählte die neue Hauptstadt etwa 70000 Einwohner.
St. Petersburg stand für die Modernisierung des Russischen Reichs. Im Laufe von 200 Jahren wurde ein Stadtensemble geschaffen, das einer glanzvollen Residenz entsprach und das staatliche, gesellschaftliche und geistige Zentrum des Riesenreichs bildete. Peter hinterließ der Staatskasse keine Kopeke Schulden und eine Reihe von Reformen, die Russland nachhaltig prägen sollten. Seine Vision war Realität geworden …
Petrowskaja Nab. 6, Petrograder Seite
▶ Metro: Gorkowskaja
Sadowaja Ul. 7, Puschkin (Zarskoje Selo)
www.tzar.ru
▶ Elektritschka: Detskoje Selo
25 km südlich von St. Petersburg
Troizkaja Pl., Petrograder Seite
www.spbmuseum.ru
▶ Metro: Gorkowskaja
Nab. Kutusowa 2, Zentrum
www.museum.ru/M126
▶ Metro: Gostiny Dwor
1700–1771
Auf den Lieblingsarchitekten der Zarin Elisabeth I. geht der »Petersburger Barock« zurück – Prachtbauten wie das Smolny-Kloster, der Katharinenpalast und das Winterpalais sind einzigartig auf der Welt.
Es ist Zeit,/mit Kugeln/Museumswände zu böllern./Und Raffael ist vergessen?/Auch Rastrelli nicht erschossen?/Den Weißgardisten/findet ihr hier./Schnell an das Wändchen!« »Rastrel« heißt auf Deutsch: Erschießung. Und mit dem Erschießen hatte es das futuristische Großmaul, der Dichter Wladimir Majakowski. Bis er sich 1930 dann selbst erschoss. Nach der Oktoberrevolution waren ihm und seinen Freunden die prachtvollen und verschwenderisch ausgestatteten Prachtbauten Rastrellis ein Dorn im Auge, denn sie symbolisierten die Herrschaft des verhassten Zaren, der verhassten Aristokratie, des verhassten Klerus. Nach Meinung der proletarischen Revolutionäre gehörten sie alle an die Wand gestellt.
Es war der kaiserliche Hof- und Lieblingsarchitekt der Zarin Elisabeth I., Francesco Bartolomeo Rastrelli, der der Stadt das »türkisblau-weiße« Antlitz verliehen hat, das fortan als »Petersburger Barock« bezeichnet werden sollte. Andrei Bely schwärmt in seinem Roman »Petersburg« von »azurnen Mauern in einem Schwarm weißer Säulen«. Unter Rastrellis Leitung entstanden in der jungen Metropole Bauwerke, die höchste Aufmerksamkeit erregten. Mit dem Katharinenpalast in Zarskoje Selo, dem Smolny-Kloster und dem Winterpalast, heute Teil der Eremitage8 (▶D 3), steht St. Petersburg in einer kulturellen Reihe mit den Baudenkmälern westeuropäischer Städte wie Paris oder London. Die Besonderheiten an Rastrellis Werken ergeben sich aus der Mischung von altrussischen Formen und Traditionen mit den Stilelementen des europäischen Barock. Das von ihm benutzte Gold kontrastierte er gern mit kühlen Farben, setzte Licht- und Schatteneffekte ein und spielte mit den Spiegelbildern seiner Bauten in den Flüssen und Kanälen der Stadt. Der Traum Peters des Großen von einer »Kapitale in einem Guss« scheint durch Rastrellis Bauten verwirklicht.
Bartolomeo Rastrelli wurde 1700 in Paris geboren. Sein Vater, der Bildhauer Carlo Rastrelli aus Florenz, war ein bekannter Künstler und entwarf Skulpturen für den Hof des Sonnenkönigs Ludwig XIV. Carlo Rastrellis Ruf drang bis zu Zar Peter I., der ihn und seinen Sohn 1715 nach St. Petersburg einlud.
Peter schickt Francesco erst einmal auf Reisen. In Italien soll er lernen, was es mit der Antike und der Renaissance auf sich hat. Zwei Jahre später kehrt er nach St. Petersburg zurück und wird unter der Zarin Anna Iwanowna zum Hofarchitekten ernannt, für ein Jahresgehalt von 1200 Goldrubeln zuzüglich einer Wohnung mit Personal. Für diese Zarin baut Rastrelli aber nicht in St. Petersburg, sondern plant im Kurland für den Favoriten Annas, den baltischen Herzog Ernst Johann von Biron, unter anderem ein Schloss.
Durch eine Palastrevolution mithilfe ihrer ergebenen Leibgarde kommt Elisabeth I. am 25. November 1741 auf den russischen Thron. Als Tochter von Zar Peter dem Großen fühlt sie sich als die legitime Erbin. Sie ist lebenslustig und allen Vergnügungen zugetan. In Zarskoje Selo bewohnt sie zwar noch den bescheidenen Palast, den ihre Mutter Katharina I. hatte bauen lassen. Doch schon bald wird dieser einem barocken Prunkbau von Rastrelli weichen, den sie in Erinnerung an ihre Mutter Katharinenpalast nennt. Berüchtigt sind ihre ausschweifenden Abendgesellschaften, die oft bis in die Morgenstunden dauern und mit einem üppigen Frühstück enden. Wer die Festivität vorzeitig verlässt, wird von der Zarin eigenhändig gezüchtigt.
Elisabeths Hang zum Luxus ist legendär. Die spätere Zarin Katharina II., die Große, wird in ihren Memoiren bemerken, dass bei einem Brand im Moskauer Annenhof an die 4000 Kleider der Kaiserin in Flammen aufgingen. Nur in die Baugeschehen greift Elisabeth wegen ihrer mangelnden Bildung nie ein, sie vertraut ihrem Hofarchitekten Rastrelli. Dem wird 1742 erst das Gehalt verdoppelt, dann wird er mit der Umgestaltung des Winterpalais, des Katharinenpalasts in Zarskoje Selo, dem Ausbau der Residenz in Peterhof und mit dem Bau des Smolny-Klosters beauftragt.
Dass das Bauen im sumpfigen Delta der Newa (▶A 1, 4/5–K 1) Schwierigkeiten mit sich bringt, dass man dem rauen Klima und dem Hochwasser trotzen muss, damit hatte Bartolomeo Rastrelli durchaus gerechnet. Dass aber die entsprechende Behörde, die Baukanzlei, die noch von Peter I. gegründet worden war, ihm Steine in den Weg legen würde, das hat er nicht für möglich gehalten. Die Baukanzlei begegnet dem »inostrannye«, dem Fremden, mit tiefem Misstrauen. Sie kürzt ihm die Zahl der benötigten Handwerker und weist ihm minderqualifiziertes Personal zu. Wegen der ständigen Reibereien beschwert sich Rastrelli schließlich bei Hofe. Elisabeth interveniert und ebnet ihrem Hofarchitekten den Weg zur aufwendigen Gestaltung des Winterpalais, koste es, was es wolle.
Als »Repräsentant der zaristischen Herrschaft« solle ein neues Winterpalais an der Newa erbaut werden, »zum alleinigen Ruhm des allrussischen Imperiums«, rechtfertigt Elisabeth ihre Pläne. Aber sie benötigt weitere Gelder für den Luxusbau, und die Kassen sind leer. Doch was kümmern Elisabeth die Staatsfinanzen? Es geht immerhin um ihr Ansehen und ihre Macht. So erhöht sie kurzerhand die Salzsteuer, und am Ufer der Newa entsteht in den Jahren 1754 bis 1762 ein prächtiger Neubau aus Stein. Die Vorgängerbauten lässt sie einfach abreißen, Rastrelli hat nun freie Hand. Das Winterpalais wird die Krönung seines Schaffens.
In den Weißen Nächten, wenn die Sonne nur für kurze Zeit untergeht, scheinen die goldgrünen Fassaden im Wasser der Newa zu schweben. Trotz seiner ungeheuren Größe sind die Proportionen des Palasts ausgewogen, er birgt in seinem Inneren an die 1000 Zimmer, rund 2000 Türen, 2000 Fenster und mehr als 120 Treppenhäuser. Sogar Astolphe Louis Léonor Marquis de Custine, der berühmte französische Reiseschriftsteller und Diplomat, der sonst kein gutes Haar an der Stadt Peters ließ, zeigte sich von diesem Prachtbau beeindruckt.
Eine Gefahr droht beim Bau des Palasts: Die Uferbefestigungen können der gewaltigen Last des halbfertigen Bauwerks kaum widerstehen und drohen mit ihm in die Newa zu stürzen. Rastrelli hat eine geniale Idee: Er will alle Uferkais der Newa und der Kanäle mit Granit befestigen. Elisabeth bewilligt 1755 diese Pläne, der benötigte Granit wird aus Finnland in die Stadt geschleppt. Alexander Puschkin kann zu Recht behaupten: »Die Newa hüllte sich in Stein,/Die Wasser überspannen Brücken,/Und dunkel-grüne Gärten schmücken/Der Inseln malerische Reihn. […] Ich liebedich, du Schöpfung Peters,/Ich lieb die strenge, gerade Pracht,/Der Newa majestätisch Fließen,/Ihr Ufer in Granit gebracht.«
Rastrelli weiß vor lauter Arbeit nicht mehr, wo ihm der Kopf steht. In seiner Not bildet er selbst Architekten aus. Nur so kann er die kaiserlichen Ansprüche und Aufträge bewältigen. Sein Familienleben allerdings leidet stark darunter. Mit seiner Frau, einer gebürtigen Gräfin aus Wales, hat er mehrere Töchter, die alle bis auf eine im Kindesalter sterben.
Zarin Elisabeth ist in den 50er-Jahren des 18. Jahrhunderts erst Ende 40, aber deutlich ermattet und ihres Amtes müde. Auch ihr zweiter Favorit, Graf Schuwalow, hat sich den jüngeren Damen des Hofes zugewandt. Elisabeth denkt an die Endlichkeit und will sich in ein Kloster zurückziehen. Aber noch ist sie die prunksüchtige Kaiserin und beauftragt ihren Lieblingsarchitekten mit dessen Bau. Die Zarin hat sich für das Kloster die Gegend um eine ehemalige Teerfabrik – »Smolny« heißt auf Russisch Teer – ausgesucht, im Newa-Knie am östlichen Stadtrand.