Stationen der Gefühle - Gabriele Jack - E-Book

Stationen der Gefühle E-Book

Gabriele Jack

4,9

Beschreibung

Vor über dreißig Jahren hatte Tanja Andi kennengelernt und sich in ihn verliebt, ohne zu ahnen, dass der zwölf Jahre ältere Mann ein vorbestrafter Zuhälter ist. Für Andi dagegen war die Begegnung anfangs nur ein Spiel - doch schon bald musste er erkennen, dass er viel mehr für das Mädchen empfand, als er sich eingestehen wollte. Während einer Bahnfahrt denkt die 50-jährige Tanja an ihre Jugendliebe zurück. Die Erinnerung an eine ebenso komplizierte wie leidenschaftliche Beziehung wird wieder wach.

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Inhaltsverzeichnis

Heute

Damals

Heute

Damals

Heute

Damals

Heute

Damals

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Damals

Heute

Damals

Heute

Damals

Heute

Damals

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Damals

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Damals

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Damals

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Damals

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Damals

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Damals

Heute

Damals

Heute

Damals

Heute

Heute

Fröstelnd trete ich von einem Fuß auf den anderen. Obwohl ich den Kragen schon so hoch wie möglich gezogen habe, findet der eisige Wind trotzdem hier und da ein Schlupfloch unter die Jacke. Ich bin froh, dass ich mich für eine warme Hose und Stiefel entschieden habe.

Hoffentlich kommt der Bus bald; ungeduldig blicke ich die Straße hinauf. Eigentlich müsste er doch schon in Sicht sein. Ich versuche, mich noch besser vor der Kälte zu schützen.

»Halt, bitte leg nicht auf«, unterbricht eine aufgeregte Stimme meine Gedanken. Ich habe die zierliche Frau an dem öffentlichen Telefon gar nicht bemerkt.

»Aber ich dachte, du liebst mich«, ruft diese jetzt in die Sprechmuschel.

Nicht schön, diese neuen Telefone ohne Häuschen. Man ist dem Wetter ausgesetzt und jeder kann auch noch mithören. Es berührt mich unangenehm, unfreiwillig Zeuge eines so intimen Gesprächs zu werden.

»Es ist doch auch dein Kind!« Ich höre die Verzweiflung in der Stimme. »Hallo?! Jan! Bist du noch da?«

Dann legt die junge Frau langsam auf. Sie hat mir den Rücken zugewandt, aber an ihren zuckenden Schultern ist zu erkennen, dass sie weint.

Endlich kommt der Bus und zischend öffnen sich die Türen.

Unentschlossen stehe ich an den Stufen.

»Was is’ nu? Woll’n Se da Wurzeln schlagen?«, knurrt der Busfahrer genervt.

»Einen Moment bitte«, rufe ich ihm zu und trete kurz entschlossen zu der jungen Frau. »Haben Sie nicht auch auf den Bus gewartet?«, frage ich sanft. »Kommen Sie, sonst fährt er ohne Sie los und Sie müssen noch länger in der Kälte stehen.«

Die Frau bringt ein zittriges Lächeln zustande und folgt tatsächlich der Aufforderung. Mechanisch steigt sie ein und setzt sich schweigend hin. Ich nehme ebenfalls Platz und reiche ihr ein Papiertaschentuch. Um irgendetwas zu sagen, mache ich meiner Abneigung gegen die neuen öffentlichen Telefone und das Wetter Luft und gebe meiner Freude darüber Ausdruck, dass ich diesem für ein paar Tage entfliehen kann.

Meine Sitznachbarin schaut gleichgültig aus dem Fenster. Ich bemerke jedoch, dass sie das Papiertaschentuch mit beiden Händen zerpflückt.

Inzwischen hat sich der Bus wieder in Bewegung gesetzt. Schaukelnd fährt er die schmale Straße entlang, ohne den von dünnem Eis bedeckten Pfützen ausweichen zu können.

Wenn es doch nur richtig Winter wäre, mit Schnee und zugefrorenen Teichen, auf denen man Schlittschuhlaufen kann, wünsche ich. Dieses Matschwetter ist wirklich schrecklich. Ich freue mich auf München.

»Meine Freundin hat am Telefon gesagt, dass in München dicker Schnee liegt«, sage ich zu meiner Sitznachbarin.

Ein junger Mann auf dem Fußweg kann gerade noch zur Seite springen, um einer schmutzigen Wasserfontäne auszuweichen.

»Einfach so, als wäre all die Zeit nichts wert. Dieses gemeine Miststück! Was soll ich denn jetzt bloß machen?«, bricht es aus der jungen Frau heraus.

Einige Fahrgäste blicken neugierig herüber.

Während sie leiser weiterspricht, treten ihr erneut Tränen in die Augen. »Ich hab doch noch nicht mal eine Ausbildung, bin mitten im Studium.«

Die letzte Haltestelle vor dem Hauptbahnhof befindet sich an einer Schule, die Bustüren öffnen sich und eine Gruppe lärmender Kinder poltert herein. Ohne darauf zu achten, dass ihre Ranzen und Rucksäcke nicht gegen die Köpfe oder Schultern der übrigen Fahrgäste stoßen, laufen sie durch den Gang und quetschen sich auf die hinteren Sitzbänke. Ungerührt fährt der Busfahrer wieder an und wer von den Schülern noch keinen Platz ergattert hat, muss irgendwo Halt finden oder stürzt johlend auf die Schulkameraden.

Vorsichtig berühre ich den Arm meiner Nachbarin: »Haben Sie Lust, im Bahnhofscafé etwas Warmes zu trinken, oder haben Sie es eilig? Ich muss noch einige Zeit auf meinen Zug nach München warten.«

Zögernd, aber doch offensichtlich dankbar, nimmt die junge Frau das Angebot an.

Vom Bus bis in das Bahnhofsgebäude ist es nur ein kurzer Weg.

Stimmengemurmel und schlechte Luft schlagen uns entgegen, als wir das Café betreten. Unwillkürlich verziehe ich das Gesicht. Zwei Ventilatoren drehen sich träge an der nikotinvergilbten Decke. Obwohl schon seit längerer Zeit Rauchverbot in Restaurants besteht, hängt hier immer noch der alte Mief im Mobiliar und in der Luft. Mich stört dieser Geruch viel mehr als früher, als ich selbst noch geraucht habe. Aber hier ist es wenigstens warm.

Wir suchen uns einen freien Tisch, hängen unsere Jacken über einen Stuhl und nehmen Platz. Kaum sitzen wir, erscheint auch schon die Bedienung.

»Was darf’s denn sein?«

Wir bestellen beide einen heißen Kakao.

Während ich kurz darauf den wärmenden Becher mit beiden Händen umschließe und sachte puste, schaue ich meine Begleiterin nachdenklich an.

»Gibt es denn niemanden, der Sie unterstützen könnte, sodass Sie Ihr Studium abschließen können?«

Ich bemerke die feinen Spuren von Traurigkeit in ihren Augen, den Kummer im Gesicht der jungen Frau, und stelle mir deren Verzweiflung vor. »Vielleicht Ihre Mutter oder eine Freundin?«

»Ich hab im Spätsommer vorletzten Jahres hier in Hamburg angefangen zu studieren. Mein Vater lebt schon lange nicht mehr und meine Mutter wohnt in der Nähe von Bremen. Sie arbeitet dort. Sie unterstützt mich finanziell, aber das reicht längst nicht. Vor ungefähr einem Jahr war ich auf der Suche nach einem Job, um mir ein wenig Geld dazuzuverdienen. Jan bot mir an, stundenweise für seine kleine Firma zu arbeiten. Ich sollte anfallenden Schreibkram und einfache Bürodienste erledigen.«

Sie blickt aus dem Fenster und es scheint so, als würde sie die vorbeieilenden Passanten gar nicht wirklich wahrnehmen.

»Da ich vormittags an der Uni bin, ging ich immer erst am späten Nachmittag in die Firma. Die anderen hatten dann meistens schon Feierabend. Dadurch kam es oft vor, dass Jan und ich alleine im Büro waren.« Sie schaut stumm vor sich auf den Tisch und atmet geräuschvoll aus, als würde sie einem schweren Gedanken nachhängen. »Okay, ich wusste, dass er verheiratet ist, aber er erzählte mir von einer kaputten Ehe, davon, dass seine Frau keine Kinder haben wollte und er schon lange an Scheidung denke. Na ja, und eines Abends kamen wir uns dann eben näher. Er war so liebevoll und einfühlsam. Er sagte, dass ich etwas ganz Besonderes für ihn sei – pah.« Sie macht wieder eine Pause, wobei sie um Fassung ringt. »Fast jeden Tag waren wir zusammen, es war eine wundervolle Zeit. Ich dumme Gans hab ihm einfach geglaubt.«

Nun kann sie die Tränen nicht mehr zurückhalten und verbirgt ihr Gesicht schluchzend in den Händen.

Voll Mitgefühl schweige ich und meine Gedanken wandern fort.

Ich habe mich einmal ähnlich gefühlt wie diese Fremde, die wenigstens 20 Jahre jünger ist als ich. Damals ist die junge Frau wohl noch nicht mal auf der Welt gewesen, überlege ich und hebe meine Tasse an die Lippen. Der Kakao ist inzwischen lauwarm geworden.

»Und jetzt weiß ich nicht, was ich tun soll.« Die Stimme bringt mich zurück in die Gegenwart und an den Tisch. »Ich dachte, er freut sich, dass wir ein Baby bekommen. Er sagte doch, dass er so gerne Kinder gehabt hätte, dass er sich immer noch jung genug fühle, Vater zu werden.« Leidenschaftlich fährt sie fort: »Immer bei sich haben wolle er mich. Ich sei wie ein Frühlingstag für ihn. Er wolle mich niemals verlieren. – Alles Lügen!«

Ich spüre, wie sich meine Gesichtsmuskeln anspannen, weil ich die Zähne zusammenbeiße. Warum nur wiederholen sich immer diese Gefühlsdramen?

Vertrauen wird missbraucht. Naivität wird ausgenutzt.

»Aber was hat er denn nun genau gesagt, als Sie ihm von der Schwangerschaft erzählten?«, frage ich behutsam.

Dieses Mal kommt die Antwort prompt, auch wenn die junge Frau weiterhin vor sich hinblickt, als würde sie mit sich selbst sprechen.

»Ich solle mir bloß nicht einbilden, dass ich ihm ein Kind anhängen könne. Außerdem riet er mir, seine Frau aus dem Spiel zu lassen, sonst würde er zu anderen Mitteln greifen. Und ich solle mal über eine Abtreibung nachdenken. Um das Finanzielle würde er sich dann schon kümmern.«

»Haben Sie denn auch einen Grund für seine Haltung erfahren?«

Ohne auf meine Frage einzugehen, spricht die junge Frau weiter, doch in ihre Stimme mischt sich jetzt Entschlossenheit. »Ich lasse mir nicht drohen! Andere Frauen haben ihre Kinder auch alleine groß gekriegt.«

Es ist spürbar, wie ihre Stimmung mit einem Mal umschlägt, wie sich Kraft und Energie in ihr ausbreiten.

Unverhofft sieht sie mir in die Augen. Es ist, als nehme sie mich erst jetzt richtig wahr. »Ich heiße übrigens Anna.« Auf ihrem Gesicht deutet sich ein Lächeln an. »Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben. Das war echt nett, aber es wird schon irgendwie weitergehen. Wir schaffen das notfalls auch alleine.« Sie legt die Hand auf ihren Bauch. »Das wäre doch gelacht. Also nochmals, danke. Vielleicht sieht man sich mal.«

Damit steht sie auf, nimmt ein Portemonnaie aus ihrem Rucksack, steigt über meine Reisetasche hinweg und geht zum Tresen, um ihren Kakao zu bezahlen. Dann kommt sie zum Tisch zurück. Überrascht über den abrupten Aufbruch ergreife ich die Hand, die sie mir reicht. Sie zieht ihre gefütterte Wildlederjacke an, hängt den Rucksack über die Schulter und geht ohne ein weiteres Wort Richtung Ausgang. Bevor sie das Café verlässt, dreht sie sich noch einmal um und lächelt.

Ich winke ihr zu: »Tschüss, und alles Gute.«

Hinter der jungen Frau schließt sich langsam die Tür.

Nach diesem plötzlichen Abschied bleibe ich nachdenklich auf meinem Stuhl sitzen. Zurückgelehnt, mit übereinandergeschlagenen Beinen, halte ich meinen leeren Becher in den Händen und beobachte durch die Glastür, wie sich die schlanke Gestalt unter die anderen Menschen mischt. Dann nehme ich mit Bedauern erneut das trübe Januarwetter wahr. Gestern ist es noch so schön gewesen. Ich habe mit meinem Mann einen langen Spaziergang an der Ostsee unternommen.

Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass mein Zug erst in einer guten halben Stunde fährt.

»Würden Sie mir bitte noch einen Kakao bringen?«, rufe ich einer vorbeieilenden Kellnerin zu.

Zum Glück sind es nur noch wenige Wochen, bis man auf die wärmende Frühlingssonne hoffen kann.

Die Begegnung mit der jungen Frau weckt die Erinnerung an ein Kapitel in meinem eigenen Leben. Aus heutiger Sicht ein kurzer Abschnitt, aber damals ist es eine Fülle prägender, tiefgehender Ereignisse und schwerer Entscheidungen gewesen.

Ist das wirklich schon mehr als ein viertel Jahrhundert her?

Langsam wandern meine Gedanken zurück zu jenem Abend, an dem mein Leben eine neue Richtung genommen hat.

Ich sehe mich fröhlich plaudernd und bei meiner Freundin eingehakt die Straße entlang schlendern.

Damals

Den ganzen Tag schon war es ungewöhnlich warm für die Jahreszeit und die Menschen genossen den milden Frühlingsabend.

In den zahlreichen Straßencafés nutzten die Besucher jede Möglichkeit, draußen zu sitzen.

»Na ihr beiden Hübschen, ganz allein unterwegs um diese Zeit?«

Überrascht drehten sich die Mädchen um, sie hatten fast schon das Kino erreicht. Die tiefe, wohlklingende Stimme gehörte einem gut aussehenden Mann. Er mochte etwa Ende zwanzig sein und war zweifellos eindrucksvoll: groß, dunkelhaarig, braun gebrannt.

Schlagfertig sagte Tanja: »Ja, wir können nämlich schon selbst auf uns aufpassen.«

Caro stieß sie mit dem Ellenbogen unauffällig in die Seite und trat vorsichtig einen Schritt zurück. Doch der Mann blickte Tanja nur belustigt an.

Stattdessen antwortete sein Begleiter mit einem Augenzwinkern: »Na ja, ist nicht die feinste Gegend für kleine Mädchen.«

Caro drängte Tanja weiter. Sie hatte ihrer Freundin zum 17. Geburtstag einen Kinogutschein geschenkt. Wenn der Film, den sie sich ausgesucht hatten, auch in einem anderen Kino gelaufen wäre, hätten sie sich wohl dorthin entschieden, denn dies hier war tatsächlich ein recht zwielichtiges Viertel von Hamburg.

In der Nähe eines großstädtischen Hauptbahnhofs trieb sich meistens allerhand Gesindel herum. Man konnte Junkies beobachten, die mit rot unterlaufenen Augen Reisende um ein paar Groschen anbettelten, und in manch einer Ecke lag ein Obdachloser und schlief seinen Rausch aus.

Außerdem drückten sich Mädchen mit superkurzen Miniröcken und hochhackigen Stiefeln in schmuddeligen Hauseingängen herum. Sie boten sich vorbeischlendernden Männern an, indem sie sich einfach bei ihnen einhakten oder anzügliche Bemerkungen machten.

Alles in allem eine völlig andere Umgebung, als die beiden Teenager sonst gewohnt waren. Aber gerade dieser Kontrast war besonders spannend.

Sie kannten nur das Leben am Stadtrand in einem Mehrfamilienhaus mit großzügigen Eigentumswohnungen. Alles wirkte sauber, geordnet und unschuldig.

»Ins Kino wollt ihr also. Habt ihr Mäuschen denn vielleicht Lust, danach noch was mit uns zu trinken? Oder müsst ihr dann schnell ins Bettchen?«

Die hellblauen Augen des großen Dunkelhaarigen blitzten vergnügt provozierend.

Tanja und Caro schauten sich an. Um 23.00 Uhr sollten sie zu Hause sein, es war ein bisschen knapp. Doch schon antwortete Tanja, Caros Zögern ignorierend: »Okay, um halb zehn ist der Film zu Ende. Wenn ihr dann da seid, gehen wir noch mit. Aber nur für ’ne halbe Stunde!«

In der Dunkelheit des Kinosaals rutschten die Mädchen tief in die Sessel, steckten ihre Köpfe zusammen und redeten mehr über ihre spannende Begegnung, als dem Inhalt des Liebesdramas zu folgen.

»Glaubst du, dass sie tatsächlich auf uns warten, Caro?«

»Weiß nicht, kann schon sein. Aber findest du nicht, die beiden sind ein bisschen alt für uns? Wer weiß, was das für Typen sind? Vielleicht hätten wir besser gar nicht mit ihnen reden sollen.«

»Na ja, stimmt schon, aber ist doch egal. Sie werden uns schon nichts tun. Ich finde, dass sie echt gut aussehen?«

»Ruhe dahinten!«, rief eine ungeduldige Stimme aus der Dunkelheit.

»Allerdings, das ist es ja gerade. Wer weiß, was die hier in so einer Gegend machen«, flüsterte Caro etwas leiser.

»Aber wir sind doch nicht alleine mit denen, sondern gehen nur was trinken. Dann müssen wir sowieso nach Hause. Es kann doch gar nichts passieren«, versuchte Tanja die Skrupel ihrer Freundin zu zerstreuen.

Obwohl alles stimmte, was Tanja sagte, war Caro mulmig zumute, als sie aus dem Kino auf die Straße traten. Trotzdem war sie, genau wie ihre Freundin, neugierig und gespannt, und als die Unbekannten tatsächlich auf der anderen Straßenseite warteten, warf auch sie ihre Bedenken über Bord.

Die Mädels fühlten sich sehr erwachsen, als sie Whisky-Cola bestellten. Tanja unterhielt sich lebhaft, während Caro sich in dem Raum umblickte.

Das halbrunde rote Plüschsofa, auf dem sie saßen, war schon etwas abgewetzt und auf dem Tisch sah man, trotz des Schummerlichtes, noch die klebrigen Abdrücke der Gläser früherer Gäste.

Einer der beiden Männer stand auf und ging zu dem Musikautomaten, der sich in der gegenüberliegenden Ecke befand. Er warf ein paar Groschen ein, wählte einige Musikstücke und verschwand dann Richtung Toiletten. Noch bevor er wiederkam, erklang ein Hit der Gruppe ABBA aus der Jukebox.

Tanja und Caro fühlten sich geschmeichelt, von den beiden Männern eingeladen zu werden und genossen das aufregende Gefühl, mit ihnen hier zu sitzen. Dabei vergaßen sie die Zeit.

Als Caro einen Blick zur Uhr warf, bekam sie einen Schreck. »Jetzt müssen wir aber wirklich los, Tanja! Es ist schon nach halb elf«, drängte sie.

Sie verabschiedeten sich von ihren Begleitern und liefen eilig zum Bahnhof.

Auf dem Weg überlegten sie, wie sie ihre Verspätung erklären könnten. Außer einer ausgefallenen Bahn fiel ihnen nichts Glaubwürdiges ein.

»Da vorne ist eine Telefonzelle. Wir sollten wenigstens mal anrufen.« Caro steuerte auf das gelbe Telefonhäuschen zu. »Hast du noch zwei Groschen?«

Tanja zuckte mit den Schultern und kramte in ihren Taschen. »Leider nicht, aber sonst sind wir doch immer pünktlich. Es wird schon nicht so schlimm werden.«

»Hast du ’ne Ahnung«, entgegnete Caro. »Mein Vater ist da so was von engstirnig.«

Gegen Viertel vor zwölf waren sie endlich zu Hause.

»Ich drück die Daumen, dass er nicht zu sehr ausflippt«, Tanja drückte Caro kurz zum Abschied.

Ihre eigenen Eltern saßen noch beim Fernsehen und sahen einen Spielfilm, als sie nach Hause kam. Sie warfen ihr zwar einen vorwurfsvoll fragenden Blick zu, als sie am Wohnzimmer vorbeihuschen wollte, aber es gab keinen Ärger. Sie waren nicht ganz so streng wie der Nachbar und Tanja hielt sich meistens an Abmachungen und Uhrzeiten.

»Tut mir leid«, murmelte sie eine Entschuldigung, während sie ihre Jacke an die Garderobe hängte. »Ich bin müde und geh gleich ins Bett. Gute Nacht.«

In ihrem Zimmer schaltete sie die Nachttischlampe an, schlug das Bett auf und zog die hellgrünen Vorhänge zu. In dem gedämpften Licht strahlte der Raum Behaglichkeit aus. Sorgfältig legte sie ihre Jeans über die Stuhllehne. Als sie den Pullover über den Kopf zog, bemerkte sie, dass er extrem nach Rauch roch. Daraufhin nahm sie auch die Hose und warf beides in den Wäschekorb.

Nachdem sie im Bad fertig war, schlüpfte sie in ihren Lieblingspyjama, legte sich ins Bett und kuschelte sich an ihren großen Plüschhund.

Obwohl sie inzwischen ziemlich müde war, fiel es ihr schwer, abzuschalten.

Zum Abschied hatte Andi, der große Dunkle, ihr ein Küsschen auf die Wange gegeben und geflüstert: »Morgen um vier.

U-Bahn Rathausmarkt?!«

Sollte sie wirklich hingehen?

Sie würde alleine mit ihm sein. Was sollte sie tun, wenn er plötzlich zudringlich würde?

Sie beruhigte sich, indem sie sich sagte, dass sie dann schließlich sofort verschwinden könnte, da sie auf keinen Fall mit zu ihm nach Hause gehen wollte.

Caro würde dieses Mal nicht mitkommen, da ihr der Freund von Andi nicht besonders gefiel. Schade, fand Tanja. Aber sie konnte ihre Freundin verstehen, der Typ war irgendwie unangenehm.

Bald gewann die Müdigkeit doch die Oberhand und das Letzte, was sie dachte, war: »Was soll mir schon passieren?«

»Also, ich bin nach der Musikschule noch mit dir unterwegs. Nur falls jemand fragt.« Auf Caro war Verlass. Was war schon Gitarrenunterricht gegen eine Verabredung mit diesem Mann?! Tanja schwindelte ihrer Mutter trotz schlechten Gewissens vor, dass sie sich nach dem Gitarrenunterricht noch mit Caro bei einer weiteren Freundin zum Lernen treffen wolle.

Normalerweise plauderte sie mit ihrer Mutter gerne beim Mittagessen. Es war die gemeinsame Zeit, die sie pflegten, seit Tanja immer mehr ihre eigenen Wege ging. Doch an diesem Tag war sie auffallend schweigsam und hatte es eilig loszukommen.

»Ich fang heute etwas früher an, weil ich nachher noch Bio mit Caro und Biggi üben muss«, warf sie ihrer Mutter zu, als sie sich den letzten Bissen in den Mund schob und dabei schon vom Platz erhob. In Wahrheit hatte sie den Musikunterricht abgesagt.

Rasch machte sie sich zurecht und zog sich etwas anderes an. Sie musste unauffällig nach draußen kommen, sonst würde ihre Mutter sich über ihr Aussehen wundern. Es ergab sich ein günstiger Moment, als die Mutter im Bad mit der Wäsche beschäftigt war. Geschwind huschte Tanja zur Wohnungstür, rief ein kurzes »Tschüss« und verließ das Haus. Sie klingelte schnell bei Caro und übergab ihr die Gitarre zur Aufbewahrung.

Während der Fahrt malte sie sich das Wiedersehen mit Andi aus. Wie würde der Nachmittag werden? Wo würden sie hingehen und wie ist es wohl, mit ihm allein zu sein? Worüber könnten sie reden? Ob er ihr heute noch genauso gefiel wie gestern? Und sie ihm? Insgeheim wunderte sie sich etwas, dass Andi sich überhaupt für sie interessierte. So ein Mann konnte doch jede haben. Und dazu der Altersunterschied.

Noch könnte sie einfach wieder umkehren.

Aber das tat sie nicht, sondern fuhr mit klopfendem Herzen die Rolltreppe hoch. Sie hielt es nicht für ausgeschlossen, dass er gar nicht da sein würde.

Doch Andi wartete bereits. Um die breiten Schultern hatte er locker einen blauen Pulli geworfen, der fast die Farbe seiner Augen traf. Das weiße taillierte Hemd steckte in einer perfekt sitzenden dunkelblauen Stoffhose mit weitem Schlag, dazu trug er Schuhe mit Plateausohlen, was ihn noch etwas größer machte.

Der Mann legte offenbar viel Wert auf sein Äußeres.

Auch Tanja hatte mit Bedacht ihre Kleidung gewählt. Sie wusste, was ihr stand und dass sie den braunen Wildlederrock gut tragen konnte, der für den Geschmack ihrer Mutter gerne zehn Zentimeter länger hätte sein können. Die neuen Knautschlackstiefel passten toll dazu, fand Tanja.

Ihr junges Gesicht hatte sie mit etwas Puder mattiert und ein wenig Rouge gewählt. Zartbraunen Lidschatten aufgetragen und mit Kajalstift ihre braunen Augen betont. Alles dezent, aber effektvoll. Sie fand, dass sich viele ihrer Freundinnen zu stark schminkten.

»Hallo, du bist bei Tag ja noch hübscher als bei Nacht«, begrüßte Andi sie charmant und beugte sich etwas herab, um ihr einen zarten Kuss auf die Wange zu geben.

Tanja hätte gerne möglichst cool auf das Kompliment reagiert, stattdessen lächelte sie nur verlegen. Sie hatte das Gefühl, völlig verkrampft zu wirken, und versuchte, sich zu entspannen.

Zum Glück schlug Andi einen Spaziergang vor. »Fürs Erste«, wie er sagte, dabei legte er wie selbstverständlich einen Arm um sie. Tanja war nicht klein, aber er überragte sie noch um einen Kopf.

Sie überlegte kurz, was er wohl mit »Fürs Erste« meinte, doch Andi lenkte sie schon Richtung Alster.

Viele Menschen nutzten das schöne Wetter, sie erledigten Einkäufe, flanierten durch die Straßen oder saßen in den Cafés, die schon draußen Tische und Stühle stehen hatten.

Während Tanja und Andi den Sandweg entlang schlenderten, redeten sie über Belanglosigkeiten, über die Menschen, die ihnen begegneten, über die Segler auf dem Wasser und über die Läden in der Gegend.

»Du gehst doch sicher auch so gerne shoppen wie alle Mädchen, stimmt’s?«

Tanja lachte: »Ja klar, aber mein Taschengeld reicht meistens nicht.«

»Kannst du dir nicht nebenbei was verdienen?«

»Ich gebe Nachhilfe in Deutsch. Mehr Zeit hab ich nicht übrig. Ich muss mich oft um unser Pferd kümmern. Reiten, putzen, Stall ausmisten und so. Aber manchmal übernimmt das mein Vater.«

»Ich hab Lust, essen zu gehen«, wechselte Andi das Thema. »Worauf hast du denn Appetit?«

»Ich weiß nicht. Eigentlich ist es mir egal«, antwortete sie. »Du kennst dich hier in der Gegend bestimmt besser aus als ich.«

Tanja war immer noch angespannt und es schien ihr völlig nebensächlich, in welchem Restaurant sie jetzt essen würden.

Für ihn war es scheinbar selbstverständlich, dass sie als Paar auftraten. Oder ging er mit jedem Mädchen Arm in Arm spazieren und küsste sie einfach, obwohl er sie noch gar nicht richtig kannte? Das machte man doch eigentlich nur, wenn man sehr vertraut miteinander war.

Sie selbst war noch nicht so weit, es ging ihr alles zu schnell. Ihr fehlte die langsame Annäherung, das Kennenlernen. Was wusste sie denn von ihm?

»Okay. Wie wär’s mit Italienisch? Ich kenne da ein nettes Lokal in der Nähe vom Gänsemarkt.«

»Ja, gerne«, sagte sie schlicht.

Sie bogen in eine Seitenstraße und standen kurz darauf vor einem Lokal. Andi hielt ihr die schwere, dunkle Holztür auf. »Da wären wir.«

An der Garderobe nahm er ihr die Jacke ab. Seinen Pulli warf er über die Stuhllehne, nachdem sie sich einen Tisch am Fenster ausgesucht hatten.

»Bist du öfter hier?«, wollte Tanja gerade wissen, als der Kellner kam. Er begrüßte Andi so freundschaftlich, dass ihre Frage sich damit beantwortet hatte. Er brachte ihnen die Speisekarten und wechselte die heruntergebrannte Kerze auf dem Tisch. »Darf ich euch schon etwas zu trinken bringen?«, erkundigte er sich dabei.

Andi sah einladend zu Tanja hinüber.

»Ich glaube, ich nehme ein Mineralwasser«, wandte sie sich direkt zu dem Kellner.

»Oh, wie aufregend«, scherzte Andi und ergänzte die Bestellung: »Für mich ’n Bier.«

Während der nächsten Minuten vertieften sie sich in die Speisekarte. Als sie sich entschieden hatte, blickte sich Tanja ein wenig um. Man hatte den Raum zu einer Art Gewölbe gestaltet. Ein gemauerter Rundbogen teilte ihn in zwei Hälften. Von den Wänden war der elfenbeinfarbene, raue Putz abgebröckelt und das darunter liegende Mauerwerk kam wie zufällig zum Vorschein. Auf Deckenlampen war ganz verzichtet worden und in den dunkleren Ecken spendete stattdessen hier und da ein Wandleuchter angenehmes Licht. Die wenigen Tische waren fein eingedeckt.

Schön hier, dachte Tanja gerade, als die Getränke kamen und Andi nun ebenfalls von der Karte aufschaute. Sie fühlte sich langsam wohler in seiner Gesellschaft.

»Habt ihr euch was ausgesucht?« Der freundliche Kellner war wieder an den Tisch getreten.

»Ich nehme einmal Saltimbocca und vorher eine große Antipastiplatte mit zwei kleinen Tellern.« Er blickte zu Tanja. »Du magst doch auch, oder?«

»Oh ja, gute Idee und anschließend hätte ich gerne Lasagne.«

»Auf diesen Nachmittag«, Andi hob sein Glas und blickte Tanja so direkt in die Augen, dass sie fürchtete, gleich rot zu werden. Rasch hob sie ihr Schnapsglas an die Lippen.

Während des Essens verflog Tanjas Verlegenheit mehr und mehr. Vielleicht war daran der Apfelkorn schuld, den Andi einfach bestellt hatte. »Gegen so ’n lütten Anmacher ist doch nichts einzuwenden. Mit Wasser stoße ich nicht an«, lautete seine Erklärung.

Sie plauderte aus ihrem Leben.

»Die Schule nervt mich im Moment extrem. Ich hab die Versetzung in die 11. Klasse gerade noch geschafft«, gab Tanja zu. »Mein Vater war ganz schön sauer, als er mein Zeugnis sah. Aber ansonsten sind meine Eltern eigentlich ganz okay, nur dass sie sehr konservativ sind. Ich darf zum Beispiel in den Ferien nicht mit meinen Freundinnen nach Frankreich fahren. Da könnten wir ja Jungs kennenlernen«, sie verdrehte die Augen, »und dann könnte ja wer weiß was passieren«, fuhr sie übertrieben betonend fort. »Caros Eltern sind der gleichen Meinung. Nur Tinas Eltern sehen das etwas lockerer.«

Sie erzählte auch von ihrem älteren Bruder und dass er in Berlin studiere. »Jura! Papas ganze Hoffnung. Schließlich soll ja später jemand die Kanzlei übernehmen. Am liebsten wäre es ihm, wenn wir daraus einen Familienbetrieb machen würden, aber ich weiß noch gar nicht, ob ich das will.«

Andi betrachtete das Mädchen, das ihm lebendig ihren Alltag schilderte. Er bemühte sich, aufmerksam zuzuhören.

Manchmal lächelte er amüsiert, aber er sagte nicht viel.

Obwohl ihn scheinbar interessierte, was sie erzählte, hatte Tanja den Eindruck, als schweiften seine Gedanken zeitweise vom Thema ab. Er beobachtete, wie sie ihre dunkelblonden Haare immer wieder hinter das Ohr strich, wenn sie ihr bei ihrer lebhaften Erzählweise ins Gesicht fielen.

Jetzt merkte sie, dass er lange auf ihren Mund schaute. Irritiert wischte sie sich über die Lippen.

»Es müsste schön sein, ihn zu küssen«, sagte er lächelnd.

»Oh, ich weiß nicht.« Ist das peinlich, dachte sie verzweifelt und versuchte schnell das Thema zu wechseln.

»So, nun weißt du fast alles über mich, aber von dir weiß ich noch gar nichts. Was machst du denn so? Zur Schule gehst du ja wohl nicht mehr. Wo wohnst du überhaupt?«

Sie ahnte natürlich nichts von seinen Gedanken, aber ihr war durchaus aufgefallen, dass er sehr schweigsam war.

Überrascht über die plötzliche Aufforderung antwortete er unbestimmt: »Ach weißt du, da gibt es gar nicht so viel Spannendes. Ich bin in Bremen aufgewachsen. Die Schule hab ich nach der mittleren Reife verlassen. Danach habe ich eine Lehre zum Maler und Lackierer gemacht. Meine Eltern sind früh gestorben. Als ich 14 war, starb mein Vater an Krebs.«

Während er sprach, kämmte er mit einer Hand ab und zu sein volles, dunkles Haar und ließ den Blick durch den Raum wandern. Er wirkte auf einmal ruhelos. »Fünf Jahre später ist ihm meine Mutter dann leider gefolgt. Ich hab danach ein paar Jahre mit meiner älteren Schwester zusammengewohnt. Mit 22 bin ich nach Hamburg gekommen und da lebe ich nun seit sieben Jahren.« Es klang emotionslos, einfach aufgezählt.

»Und wo arbeitest du?«

»Bis vor Kurzem war ich bei einer kleinen Firma beschäftigt. Ich suche gerade was Neues«, war seine knappe Antwort.

Mehr kam nicht. Er sagte nichts über das, was er tagsüber tat und wie er lebte, aber Tanja mochte auch nicht nachbohren.

Sie blickte auf ihre Uhr, schon wieder war es später als sie dachte.

»Ich muss bald los, meine Eltern denken, dass ich mit Caro für eine Bioarbeit übe. Außerdem sollte ich wirklich wenigstens noch mal ins Buch gucken, damit ich morgen nicht ganz ahnungslos bin.«

Andi winkte dem Kellner: »Ich möchte zahlen!«

Als Tanja ihr Portemonnaie aus der kleinen dunkelbraunen Umhängetasche holte, winkte Andi ab: »Lass mal, ich mach das schon.«

»Das brauchst du nicht.«

»Ich möchte aber.«

Sie zögerte. »Na gut, Dankeschön.« Während sie ihr Geld wieder einsteckte, überlegte sie trotzdem, ob es richtig war, sich einladen zu lassen.

Andi reichte ihr die Jacke: »Jetzt ist es sicher kühler als vorhin.«

»Hoffentlich reicht dir dein Pullover«, erwiderte sie.

»Mir ist warm genug«, er legte wieder seinen Arm um sie. »Ich bring dich noch und warte mit dir auf den Zug.

Willst du mit der U-Bahn zum Hauptbahnhof fahren oder gehen wir das Stück?«

»Wenn wir es in 25 Minuten schaffen, können wir gerne gehen«, antwortete Tanja.

»Das reicht allemal!«

Beim Abschied zog Andi Tanja an sich und gab ihr einen zärtlichen Kuss. Sie spürte seine Lippen auf ihrem Mund und seine Zunge versuchte, sich vorzutasten. Gleichzeitig nahm sie seinen Duft wahr, ein Gemisch aus einem herben Eau de Toilette und seinem eigenen Körperduft.

Nach diesem Kuss schob er sie sanft von sich, weil er sie auf keinen Fall überrumpeln wollte. »Deine Bahn kommt.«

(»Zu gerne hätte ich etwas mehr Zeit gehabt und dich mit in mein Zimmer genommen, aber deine offensichtliche Unerfahrenheit ließ mich unsicher werden.« Das sollte er ihr später einmal erzählen.)

Ihr wurde schwindelig vor Überraschung und sie hatte damit zu tun, ihren Herzschlag wieder zu beruhigen.

»Gibst du mir deine Telefonnummer, dann rufe ich dich mal an?«, fragte Andi.

»Ach so, ja natürlich.« Eilig kritzelte sie die Nummer auf einen Zettel. »Also, dann tschüss.«

Es waren nur wenige Fahrgäste im Abteil, sodass sie gleich einen Platz fand. Erleichtert ließ sie sich auf den Sitz fallen und versuchte, ihre Gefühle in den Griff zu bekommen.

Die Freundschaften, die sie bisher mit Jungs hatte, waren eher als Schwärmereien zu bezeichnen. Nur einmal war sie wirklich verliebt gewesen. Trotzdem hatten die zärtlichen Berührungen ihres Freundes von damals nicht annähernd das bei ihr ausgelöst, was sie eben empfunden hatte.

Der Abend zog noch einmal vor ihrem geistigen Auge vorüber, bis sie mit einem Blick aus dem Fenster überrascht feststellte, dass sie schon an der nächsten Station aussteigen musste. Sie stand auf, zog den Reißverschluss an ihrem Blouson zu und ging zur Tür, während der Zug in den Bahnhof einfuhr.

Andi meldete sich schon am nächsten Nachmittag. Tanja ging ihm nicht aus dem Kopf. Sie war sehr jung, eigentlich zu jung für ihn, aber gerade das reizte ihn auch. Die Frauen, mit denen er sonst zusammen war, langweilten ihn oft nach kurzer Zeit. Die meisten waren oberflächlich, manchmal erschienen sie ihm dem Leben gegenüber wie abgestumpft. Tanja war so frisch, so neugierig und natürlich.

Als er ihr das nach ein paar Wochen erzählte, gab sie zu, dass auch ihre Gedanken sich pausenlos um ihn drehten und sie gebetet hatte, dass er anrufen möge.

Caro betrachtete das Ganze mit Skepsis. Außerdem fühlte sie sich inzwischen vernachlässigt.

»Kannst du auch noch an was anderes denken?« Sie blickte von der Seite auf das mit Herzchen bekritzelte Schulheft ihrer Freundin. »Du solltest lieber mal ein bisschen zuhören, wir schreiben nächsten Montag nämlich Physik.«

Tanja versuchte, trotz der verbrauchten Luft im Raum, weiter dem Unterricht zu folgen. Tatsächlich hatte sie wieder mal kaum etwas mitbekommen. Es war ihr nicht möglich, sich zu konzentrieren.

Caro und sie sahen sich fast nur noch in der Schule. Dafür traf sie sich so oft wie möglich mit Andi. Sie gingen spazieren oder ins Kino und hin und wieder auch essen, jedoch niemals in seine Wohnung, die angeblich ganz in der Nähe des Hauptbahnhofes sein sollte.

Tanja hatte sich daran gewöhnt, dass Andi bezahlte, wenn sie irgendwo einkehrten. Ihre Einwände ließ er nicht gelten. »Mach dir keine Gedanken, das geht schon in Ordnung.« Augenzwinkernd setzte er hinzu, dass sie sich dadurch zu nichts verpflichten würde.

Je besser sie sich kennenlernten, desto mehr glaubte Tanja, dass Andi es wirklich ernst mit ihr meinte und nicht nur eine Bettgeschichte suchte. Es waren schöne Begegnungen, geprägt von Harmonie und Zweisamkeit.

Anfangs hatte sie es noch für Rücksicht gehalten, dass Andi sie nicht in seine Wohnung mitnahm. Doch inzwischen würde sie gerne endlich sein Zuhause kennenlernen, aber sie mochte nicht drängen. Ohnehin hatte sie gemerkt, dass Andi es gar nicht schätzte, wenn sie zu viel nachfragte. Als sie zum Beispiel seine genaue Adresse wissen wollte, wich er aus, deutete jedoch an, dass er auf der Suche nach einer neuen Wohnung sei und sie es sofort erfahren werde, wenn er eine gefunden habe.

Irgendwann fragte sie ihn, warum er eigentlich kein Auto habe. Jeder in seinem Alter hatte doch eins.

»Ich brauch’ keins«, war seine knappe Begründung.

Das Thema Jobsuche schnitt sie aus Furcht vor einer weiteren ungeduldigen Reaktion lieber nicht an.

Es wird sich schon alles aufklären, beruhigte sie sich, wenn ihr einiges komisch vorkam. Sie wollte das Vertrauen, das sie entwickelte, nicht durch Vermutungen belasten. Naiv und verliebt, wie sie war, verdrängte sie aufkommende Zweifel einfach. Schließlich war Andi ihr keine Rechenschaft schuldig.

Heute